Dunkler als schwarz von Leira (Shinichi x Ran) ================================================================================ Tag 1 - Kapitel 1: Der Status Quo --------------------------------- TAG 1 KAPITEL 1 – DER STATUS QUO Es war bereits dunkel, als er heimkam. Die Nacht war hereingebrochen über London, die Sonne vor etwa zwei Stunden untergegangen, die Luft des überhitzten Tages aber immer noch lauwarm und abgasgeschwängert. Das Leben in der Großstadt war noch nicht im Geringsten zur Ruhe gekommen; und würde es auch nicht wirklich – selbst in den ganz frühen Morgenstunden, wenn die meisten Einwohner schliefen, rührte sich in irgendwelchen Ecken und Winkeln noch Leben, blinkte das eine oder andere Licht einer Reklame oder eines Nachtclubs. Und dann, wenn die Sperrstunde auch diese Etablissements zur Ruhe zwang, dann standen die Ersten bereits wieder auf und machten sich auf ihren Weg zur Arbeit. Wie jeden Tag. Ihn würde das auch heute nicht interessieren, so wie es ihn noch nie interessiert hatte. Er lebte in dieser Stadt, aber sie lebte neben ihm, an ihm vorbei. Ohne hinzusehen zielte er mit seinem Schlüssel auf sein Auto, sah es aus den Augenwinkeln kurz orangerot aufblinken, das Zeichen, dass die Zentralverriegelung die Türen geschlossen hatte. Er hatte Glück gehabt heute, mit dem Parkplatz. Meistens fand er keinen mehr in der Nähe, wenn er um diese Uhrzeit nach Hause kam. Hinter ihm rauschte der Feierabendverkehr, ein beständig fließender, nie abreißender Strom aus gelblichen, oder auch leicht violetten und grellroten Lichtern. Ungeduldiges Hupen, das reißende Geräusch des an den Karosserien zerrenden Windes und das Brüllen mehr oder minder störungsfrei arbeitender Automotoren drang an seine Ohren, aber er nahm es gar nicht wahr. Auch das trommelfellzerfetzende Gekreische einer quietschenden Bremse tangierte ihn nicht. Langsam schritt er den kurzen Weg durch den mickrigen Vorgarten des Appartementhauses im viktorianischen Stil zur Haustür entlang, stieg die drei ausgetretenen Stufen zur Haustür empor, und war mit den Gedanken doch ganz woanders. Heute waren wieder Menschen gestorben. Einen davon hatte er gesehen. Er wusste, das Gros der Leute, die jetzt gerade nach Hause fuhren, verschwendete keinen Gedanken daran. Daran, dass heute jemand gestorben war. Solange es einen nicht persönlich betraf… dachte man nicht daran. Der Tod war ein Abstraktum, für den normalen Menschen; man schob den Gedanken weg von sich, klammerte ihn aus dem Leben aus und interessierte sich nicht dafür, nicht, bevor man es musste. Ein Schutzmechanismus, der einen leben ließ, Leben überhaupt erst möglich machte – alles andere würde einen auf die Dauer den Verstand kosten. Er merkte, dass er immer noch schwitzte, unangenehmer, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, in seinem Kopf pochte es, und erst jetzt wurde ihm gewahr, wie schnell sein Puls immer noch ging… und er ahnte, dass er es heute nicht geschafft hatte, seine Arbeit im Büro zu lassen. Heute nicht. Sie folgte ihm in seine Wohnung, schlenderte hinter ihm her, ohne Eile, sie wusste, er würde ihr nicht entkommen… der Fall von heute hing an seinen Fersen wie sein Schatten. Er wusste das, als er mit zitternden Fingern die Haustür aufsperrte. Er fühlte es, als er mit weichen Knien die Treppe nach oben ging, weil sein Herz immer noch viel zu schnell und viel zu heftig gegen seinen Brustkorb hämmerte. Das Haus kam ihm kühl und ablehnend vor, die knarzenden, dunklen Holzstufen, die bei jedem Tritt laut seufzten und ächzten, und das schmiedeeiserne Geländer, die ihm, als er hier eingezogen war, wegen ihres Altbaucharmes noch so zugesagt hatten, schienen ihm wie der Weg in ein Grab; dabei ging es eigentlich bergauf, nicht bergab, im hellgelb gekachelten Treppenhaus mit den fast allgegenwärtigen Arts-and-Crafts Motiven. Und ganz und gar nicht abstreiten konnte er es, als er sich, endlich in seiner Wohnung im zweiten Stock angekommen, seinem eigenen Spiegelbild gegenüberstand. Blasser Teint, abgespannte Gesichtszüge, unter seinen Augen der erste Anflug dunkler Ringe – und in ihnen ein Ausdruck, der ihn selbst schaudern machte. Verdammt, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Genau genommen ist aber wohl genau das passiert. Er wischte sich den Film kalten Schweißes von seiner Stirn, fragte sich, was passiert war mit ihm - er konnte sich kaum erklären, warum ihm dieser Fall so zusetzte. Er war es doch gewohnt, diese Dinge prägten seinen Alltag – sein Leben. Der Tod sah ihm fast täglich ins Gesicht, und er schaute zurück, nickte ihm zu, und tat seine Arbeit. Er arbeitete für New Scotland Yard, im Kriminaldezernat, Kapitalverbrechen waren sein Geschäft. Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung, und eigentlich kam er ganz gut klar damit. Er hatte die nötige Routine, die Erfahrung und die Nerven dafür. Eigentlich. Gut, er konnte es sich vielleicht in etwa ausmalen, warum es diesmal anders war, aber es war einfach… sinnlos. Es war hirnrissig. Unlogisch. Und das waren alles Eigenschaften, die auf ihn nicht im Geringsten zutrafen – für gewöhnlich. Nur eine Ausnahme gab es – hatte es immer gegeben. Mit kalten, tauben Fingern drehte er den Wasserhahn auf, hielt seine Hände darunter und merkte erst jetzt, wie sie zitterten. Aller Logik zum Trotz machte ihn der Gedanke an das, was er heute gesehen und erlebt hatte, gerade seine Existenz zur Qual. Er konnte dieses Bild nicht vergessen, diese gebrochenen, blauen Augen in diesem porzellanweißen Gesicht, die glänzend dunkelbraunen Haare wie ein Schleier um ihren Kopf gelegt, es sah fast aus, als hätte man jedes Haar einzeln sortiert und platziert, in Szene gesetzt wie für ein Fotoshooting. Ähnlich gestaltet war ihr ganzer Körper; sie trug ein Kleid aus schwarzer Seide, Naturseide, handgenäht. Die Falten waren kunstvoll drapiert, ihre Lippen hatte man rot angemalt, sorgfältig und akkurat - und mit jeder Nuance, die ihr Gesicht durch den Blutverlust weißer geworden war, hatte das Rot wohl mehr geleuchtet. Ihre Hände waren auf ihrer Brust überkreuzt worden, zwischen ihren Fingern hielt sie ein Stiefmütterchen, neben ihr auf dem Boden lag ein Porträt, ein Ölbild. Es trug ihre Züge – und auch ihr zweidimensionales Ich hielt in ihren schlanken, weißen Fingern ein gelbviolettes Stiefmütterchen. Und es war noch frisch, die Farbe noch lange nicht trocken. Ein junges Mädchen in der Blüte ihrer Jahre, schön, makellos. Tot. Und nirgendwo ein Tropfen Blut. Makaber. Sie hatte im Hyde-Park gelegen, unter einem Baum ans Ufer des Serpentine-Lakes gebettet, im Gras. Es war ein idyllisches Plätzchen, halb verborgen vom saftig grünen Laub an den knorrigen Zweigen der Büsche. Der Hund eines Spaziergängers hatte sie gefunden. Dann waren sie gekommen und hatten mit Plastikband großzügig den Fundort abgesperrt und die Spurensicherung in ihren weißen Astronautenanzügen bei ihrer Arbeit beobachtet. Sie war etwa einen Tag lang tot, soviel hatte ihm der Gerichtsmediziner sagen können. Keine Tatwaffe, keine Spuren, nichts. Der Tatort war ebenfalls ein anderer, das hatten sie schon angenommen, ja… Schließlich war sie ja verblutet und hier war kaum ein Tröpfchen zu finden. Der junge Mann seufzte, versuchte Luft zu holen und das Wattegefühl in seinen Ohren zu vertreiben, griff sich an die Stirn, hinter der es zu pochen begann. Er hatte nichts dagegen tun können. Niemand hatte sie vermisst, bis jetzt, kein Mörder versetzte diese Stadt in Angst und Schrecken- bis jetzt. Er hoffte, dass es ein Einzelfall blieb. Und dass sie ihn bald dingfest machen konnten. Blinzelnd starrte er ins Deckenlicht der Badezimmerlampe, dann drehte er das Wasser noch weiter auf, fing es mit beiden Händen auf und wusch sich so gründlich das Gesicht, dass er dabei sein Hemd gleich mit durchnässte. Kurzerhand zog er es aus und schleuderte es in eine Ecke, ehe er ein paar Schlucke des eiskalten Leitungswassers trank, um den faden Geschmack aus seinem Mund zu bekommen. Unwillig starrte er in das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte; er hatte sich weder an den Anblick gewöhnt, noch mochte er die Person, die ihm aus den Tiefen des Spiegels ansah. Er konnte sich selbst nicht ausstehen. Dann drehte er sich um und öffnete das Fenster. Kühle Nachtluft wehte ihm um die Nase. Ein lautloser Seufzer entwich seinen Lippen, dann verließ er das Badezimmer. Gerade, als er seinen Wohnraum betrat, klingelte das Telefon. Er begann zu fluchen, erwog die Möglichkeit, den Anrufer zu ignorieren; dann trat er einen Schritt zurück in seinen handtuchgroßen Flur und hob doch ab, zog das Gerät am Kabel mit auf das kleine cremefarbene Sofa, dass neben einem Tisch, einem Schreibtisch, drei Stühlen und einem Schrank die Einrichtung seines „Wohnzimmers“ ausmachte. „Kudô?“, seufzte er in den Hörer, hoffte, das Gespräch kurz halten zu können, begrub diese Hoffnung allerdings sofort wieder, als er hörte, wer am anderen Ende der Leitung war. „Shinichi, wie schön, dass du auch mal wieder einen Anruf entgegennimmst.“ Yukiko Kudô hatte sich ihren genervten Unterton nicht verkneifen können. „Mama, du weißt, warum…“ Shinichi seufzte erneut, setzte sich in den Schneidersitz, verzog das Gesicht und war froh, dass sie ihn nicht sehen konnte. Seine Mutter. Die hatte ihm gerade noch gefehlt. „Weil du keine Zeit hast, schließlich musst du arbeiten, du vielbeschäftigter Detective – mein Lieber, diese Ausrede lass ich langsam nicht mehr gelten, und…“ Plötzlich hielt sie inne. „ – du hörst dich erschöpft an.“ Ihre Stimme war binnen Sekundenbruchteilen von genervt zu besorgt geschwankt. „Geht’s dir nicht gut?“ Sie stand zuhause in ihrer Villa in Los Angeles auf dem Balkon, schaute auf die Stadt, die unter ihr in der Mittagshitze scheinbar bewegungsunfähig, wie paralysiert, ausgebreitet lag und den Atem angehalten zu haben schien. Yusaku trat auf die Terrasse, bemerkte den leicht beunruhigten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht seiner Frau, zog fragend eine Augenbraue hoch und bot ihr dann eine von zwei Tassen Kaffee an, die er gerade aufgebrüht hatte. Sie nahm ihm eine Tasse ab, trank jedoch nicht. Shinichi seufzte, überlegte, ob er ihr sagen wollte, was Sache war, oder besser nicht. Eigentlich hatte sie ja Recht; er ging wirklich selten ans Telefon, und er kam immer mit seiner Arbeit als Entschuldigung an. Andererseits stimmte es auch, er hatte wirklich viel zu tun, in seinem fünften Jahr hier in London… Nach allem was passiert war, hatte er nicht lange überlegen müssen, damals… er hatte seine Sachen gepackt, und sich in den Flieger gesetzt, schließlich war nach allem, was passiert war, Tokio für ihn gelaufen. Nachdem er mit Hilfe des FBI die Schwarze Organisation zerschlagen und das Gegengift gegen das Apoptoxin mehr oder minder „gefunden“ hatte, stand ihm nichts mehr im Wege. Er war gegangen, er hatte einfach nicht bleiben können. Ständig konfrontiert zu werden mit dem, was er erreicht hatte - und was er nicht hatte verhindern können – wäre nicht zu ertragen gewesen. Er ertrug es jetzt noch kaum, Jahre später und tausende Meilen entfernt. Nein. Er hatte nicht nur nicht bleiben können… er wollte es auch nicht. Und er würde auch nie zurückkehren. Nie wieder zurück, nie wieder. Nie wieder. Er hatte gute Referenzen bekommen, da konnte er wirklich nicht meckern; das FBI hatte ihm ein hervorragendes Empfehlungsschreiben verfasst, auf seine Bitte hin – nachdem er es geschafft hatte, durch extremes Pauken seinen Abschluss noch zu schaffen, hatte er seinen Entschluss gefasst, und durchgezogen. Schließlich war er nach London aufgebrochen, in die Stadt Sherlock Holmes‘ und hatte im Yard angefangen. Seine hervorragenden Englischkenntnisse halfen ihm hier sehr; und auch sein nicht zu verachtendes Vorwissen. Sein Start war trotzdem kein leichter gewesen; er war neu, und Ausländer, ohne Studium, aber bestrebt, bei der Kriminalpolizei, noch dazu in die Mordkommission, zu arbeiten. Seine Kontakte hatten ihm zwar diese eine Tür geöffnet, aber den Rest hatte er selber schaffen müssen, und er hatte hart gearbeitet… was hieß, dass ihn auch zuhause massig Arbeit erwartet hatte, in Form von Büchern. Er hatte sich durchgebissen, sein Kriminalistikstudium neben der Ausbildung im Yard mit Auszeichnung durchgezogen und nach fünf Jahren hatte man ihn als festes Mitglied dieser Einheit angestellt, man hörte ihn an, wenn er sprach. Man erkannte, was er konnte, und das hatte ihm auch seinen Spitznamen im Yard eingebracht, nachdem seinen Vornamen dort ohnehin keiner aussprechen konnte… Sherlock Holmes. Ein bitteres Lächeln kroch auf seine Lippen. Sherlock, ja. So nannten sie ihn. „Shinichi?“ Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. „Bist du noch dran?“ „Ja!“, antwortete er schnell, seufzte. „Es… es geht mir gut, du brauchst dir keine Sorgen machen. Es war nur… ein harter Tag heute. Das ist… das ist alles.“ Yukiko seufzte ins Telefon, was an Shinichis Ohr als lautes Rauschen ankam. „Denkst du nicht, du mutest dir zu viel zu? Solltest du nicht mal wieder… oder überhaupt mal… Urlaub nehmen?“ „Ich brauch viel zu tun. Und nein. Ich will keinen Urlaub, Mama. Ich brauch keinen. Urlaub bringt mich ins Grab. Mein Kopf braucht Arbeit.“ „Ja, das sagst du immer.“ Sie schaute genervt in ihre Tasse Kaffee. „Hast du was… ich meine…“ „Nein.“ Er seufzte, legte sich dann langsam der Länge nach auf sein Sofa, streckte seine Füße aus. „Nein, ich hab nichts von ihnen gesehen, die Handvoll, die noch rumläuft, traut sich anscheinend nicht aus ihrem Loch.“ Die Schauspielerin warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, als dieser sie an sich zog. „Shinichi, ich denke wirklich, du solltest…“ „Entweder wechseln wir das Thema, Mama, oder ich leg auf. Das ist mein Ernst. Du weißt das.“ Er wusste, er klang harsch, und er konnte sich das wenig begeisterte Gesicht seiner Mutter bildlich vorstellen. Das Problem war, dass er sie ja verstehen konnte; wahrscheinlich hatte sie Recht, und er hätte Urlaub nehmen sollen. Endlich einmal. Aber er konnte einfach nicht. Er wollte nicht in die Verlegenheit kommen, Zeit zum Nachdenken zu haben, denn dann würde er, das wusste er, unweigerlich in Erinnerungen und Selbstvorwürfen enden. Er würde in Tokio enden. Und deshalb arbeitete er lieber, blieb geistig bei seinen Fällen, in der Gegenwart, genau hier… er lebte im Augenblick, nicht in der Vergangenheit und auch nicht in der Zukunft. Nie wieder in der Zukunft. Keine Wünsche, keine Hoffnungen, keine Träume, keine Pläne. „Du bist furchtbar.“ Sie seufzte entnervt. „Kommst du uns wenigstens bald mal besuchen, Shinichi?“ „Ich seh, was ich einrichten kann.“ „Nichts, wie ich dich kenne.“ Yukiko lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, seufzte entnervt. „Du ruinierst dein Leben, Shinichi. Du kannst dir das nicht ewig vorwerfen. Denkst du nicht, fünf Jahre Strafe sind genug, musst du dich wirklich zu lebenslänglicher Einzelhaft verurteilen? Du hast, weiß Gott, genug gelitten, du…“ Shinichi schluckte, starrte an die Decke seiner Wohnung, bemerkte eine Spinnwebe in einer Zimmerecke, strich sich gedankenverloren über den Bauch, hielt inne, als seine Finger vernarbtes Gewebe spürten. „Das ist meine Sache, Mama. Und ich sagte, ich leg auf, wenn du das Thema nicht wechselst.“ Sie lächelte bitter. „Du solltest zurückgehen und die Sache in Ordnung bringen. Du weißt, es wird dich nie in Ruhe lassen, du kannst das nicht vergessen… wie willst du in deinem Leben je glücklich werden, wenn…“ Langsam setzte er sich auf, starrte missmutig auf das Telefon. „Einen schönen Tag noch, Mama, grüß Vater von mir. Genießt das schöne Wetter, in L.A. sollt ihr ja ne Affenhitze haben...“ Er legte auf, um kurz darauf das Telefon neben der Gabel abzulegen, massierte sich die Schläfen. Ihm war bewusst, dass das gemein gewesen war, aber er hatte sie immerhin zweimal gewarnt. Und er wollte nicht darüber reden. Er wollte einfach nicht über sein Leben, erst recht nicht über sein vergangenes, reden. Sie würde ihm das verzeihen, das wusste er. Weil sie es ihm immer verziehen hatte. Ein kurzes Lächeln huschte über Shinichis Lippen. Vielleicht sollte er wirklich mal versuchen, zumindest ein verlängertes Wochenende frei zu nehmen. Sie machte sich ja nur Sorgen… und leider, das musste er gestehen, zu Recht. Sie hatte mit allen Punkten ihrer Anklage Recht. Er war damals abgehauen, richtiggehend geflohen, nur seine Eltern wussten überhaupt, wo er war. Niemandem hatte er etwas gesagt und zu keinem pflegte er noch Kontakt. Er hatte sich aus ihrer aller Leben gestrichen; restlos, bewusst, und endgültig. Er hatte nie gedacht, einmal aus solchen Gründen in die Stadt seines Idols zu gehen… sich vielmehr nach London zu flüchten. Es stimmte, die Schwarze Organisation war besiegt, bis auf eine Handvoll, die sich seinem Zugriff entzogen hatte, vor ungefähr fünf Jahren… leider befanden sich unter dieser Handvoll auch Gin, Bourbon und der Boss. Man hatte keine Spur von ihnen, und ihm war es, so ehrlich war er sich gegenüber, reichlich egal. Er ging morgens außer Haus, ohne sich hektisch umzusehen und kam abends heim, ohne in den Schatten der Nacht einen ihrer Schatten zu sehen. Es war ihm schlichtweg gleichgültig. Wenn sie ihn kriegen sollten, dann war dem wohl so. Seinem Schicksal konnte man nicht entrinnen. Yukiko starrte auf den Hörer des schnurlosen Telefons in ihrer Hand, seufzte leise. Sie war sich bewusst gewesen, dass er ernst machen würde, mit seiner Drohung. Genauso, wie er immer ernst gemacht hatte damit. Nichtsdestotrotz versuchte sie es immer und immer wieder… schließlich war er ihr Sohn und sein Glück lag ihr am Herzen. Und dass er seit fünf Jahren unglücklich war, lag auf der Hand, und beschäftigte sie. Yusaku nahm ihr das Telefon ab, legte es auf den Balkontisch. Yukiko warf ihm einen kurzen Blick zu, dann stellte sie ihren Kaffee auf die Balkonbrüstung, presste sie sich Zeige- und Mittelfinger ihrer Hände an ihre Schläfen, atmete gepresst aus, auf ihren Zügen ein höchst missvergnügter, genervter Ausdruck. Sie schloss die Augen und atmete wieder tief ein. Yusaku schlürfte seinen Kaffee, schaute seine Frau konsterniert an. „Yukiko, müssen eure Telefonate immer so enden?“ Sie öffnete ihre Augen wieder, schaute ihn anklagend an. „Was heißt hier, müssen? Warum siehst du mich dabei immer so an? Er legt auf, nicht ich!“ Konzentriert bewegte sie ihre Finger im Kreis, massierte ihre Schläfen, ließ dann ihre Hände langsam sinken. „Er weiß doch, dass er dieses Problem nur verdrängt, Yusaku. Ich meine, was macht er in London? Warum klärt er das nicht ein für alle Mal, und geht nach Hause… geht hin, wo er hingehört… wo seine Freunde sind, wo sein Leben ist… nach Tokio.“ Sie seufzte. „Er kann doch nicht einfach zulassen, dass dieser eine Fehler damals sein ganzes Leben zerstört… Das kann er doch nicht ernsthaft wollen…!“ Sie schaute ihn fragend an, ihre blauen Augen verfolgten aufmerksam jede Regung in seinem Gesicht. „Anscheinend kann er aber genau das, Yukiko. Ich hab… es dir damals gesagt, ich sag es dir heute… ich wüsste nicht, wie ich reagiert hätte, an seiner Stelle…“ „Aber er läuft weg!“ Sie trat einen Schritt zurück, schaute ihn empört an. „Manchmal ist wegzulaufen die einzige Wahl, die man hat.“ Der Kriminalromanschriftsteller schaute sie ernst an. „Er konnte nicht anders. Du weißt, wie es ihm ging, nachdem…“ Yukiko biss sich auf die Lippen, nickte langsam. „Ja, weiß ich… Aber ich bin einfach der Ansicht, dass es eine andere Lösung gegeben hätte, als die, die er gewählt hat. Es hätte einen anderen Weg gegeben, er hätte…“ Yusaku seufzte, fuhr sich über sein Gesicht. „Versteh doch, Yukiko. Es gab für ihn keinen anderen Weg, keine andere Wahl. Es ist sein Leben… wenn er denkt, dass er es nur so führen kann, wenn er denkt, dass er allen, die ihm etwas bedeutet haben, nicht mehr unter die Augen treten kann, wenn er der Ansicht ist, dass sie alle besser dran sind ohne ihn, dann… dann muss er tun, was er glaubt, tun zu müssen. Und wenn es… ein Weglaufen vor seinem Schicksal ist. Es ist sein Leben… wir haben nicht das Recht, es ihm vorzuschreiben. Den Weg muss er allein gehen, er ist erwachsen. Und bevor er nicht einsieht, dass er sich irrt, wird er nichts anders machen. Und das weißt du auch, Yukiko. Hör auf, dich mit ihm zu streiten.“ Damit ging er zurück ins Haus, zurück zu seinem Manuskript, das auf seinem Schreibtisch ungeduldig auf ihn wartete. Yukiko starrte ihm hinterher, auf ihrem Gesicht war deutlich ihr Unmut und ihre Ablehnung zu sehen. Shinichi, wie kannst du nur… warum tust du dir das an? Sie sah die Sache ganz anders. Zwar musste sie sich eingestehen, dass auch sie seinerzeit alle Kontakte aufgegeben und alle Brücken nach Tokio abgebrochen hatten; allerdings waren sie ohnehin schon seit Jahren mit einem Bein in den Staaten gestanden, und das ziemlich fest. Nach den Ereignissen war es nicht schwer gewesen, alle anderen Beziehungen einschlafen zu lassen; wenn sie auch zugeben musste, dass sie den Professor vermisste, und sie wusste, Yusaku ging es ebenso. Und auch Eri hätte sie gern dann und wann wieder getroffen, aber das – war gänzlich unmöglich, und das wusste sie. Shinichi hatte sich von allen abgewandt und aus Loyalität zu ihrem Sohn hatten sie diesen Schritt mitvollzogen. Allerdings, das wusste sie, war es ihm so viel schwerer gefallen als ihnen; Shinichi war in Tokio viel mehr, viel intensiver daheim gewesen als sie es waren, sie, und Yusaku. Er hatte sich gewehrt, mit Erfolg, als er damals hätte mitkommen sollen – er wollte nicht weg aus Tokio, weg von seiner Schule, vom Professor, von… ihr. Bis zu jenem Tag, als er nach Hause gekommen war, nach diesen Tagen des Schreckens. Nach diesem Desaster. Du warst nie wieder der Gleiche. Wie hättest du das auch sein können, nach allem, was du erleben musstest. Yukiko strich sich über die Oberarme, fühlte die kleinen Härchen sich aufstellen; ihre Fingerspitzen kribbelten, ihr Magen wurde flau, als sie die Bilder wieder vor Augen sah, so ungeheuer deutlich. Ihr Sohn in dieser Nacht… Es war ein Wunder, dass er überhaupt heimgekommen war. In dieser Nacht… als alles endete, und alles anfing. Das Ende der Organisation hatte sich zu seiner persönlichen Katastrophe entwickelt - er hatte sie zwar bezwungen, aber gewonnen hatte er nichts. Er war kein Sieger gewesen. Nein. Ein Verlierer. Wohl der Größte in diesem Spiel. Du hast alles verloren, Shinichi… alles, wofür du gekämpft hast, wofür du gelebt hast. Ich bin dir dankbar, dafür, dass du dich nicht gänzlich aufgegeben hast, danach, allerdings fürchte ich, du tatest das nicht für dich… du wolltest nur noch weiteres Leid vermeiden. Unseres. Yukiko erschauderte unwillkürlich, fing an zu frösteln trotz dieser tropischen Hitze, die herrschte - der Gedanke an seinen Anblick, als er vor der Haustür gestanden hatte, in jener Nacht, war grauenhaft. Einfach schrecklich, entsetzlich, furchterregend. Und das jetzt noch, trotz der warmen und hellen Umgebung und trotz der fünf Jahre, die seither verstrichen waren. Es war bereits dunkel geworden, die Dämmerung längst hereingebrochen. Shinichi, oder sollte man sagen, Conan, war seit Tagen verschwunden. Seit acht langen Tagen, spurlos, wie vom Erdboden verschluckt. Wir alle hatten erst spät erfahren, worauf du aus gewesen warst – du hast uns erst in deinen Plan eingeweiht, als du musstest, wenige Tage vorher. Als du uns brauchtest, um Dinge in die Wege zu leiten, die außerhalb deines Einflussbereichs lagen. Du hattest keinen Hinweis hinterlassen, wohin genau du gegangen warst, du wusstest es ja selber nicht – du sagtest nur, du würdest dich schon melden, wenn du Hilfe bräuchtest. Wir sollten uns um sie kümmern… um Ai, hinter der sie her waren wie der Teufel hinter der unschuldigen Seele, so dicht auf ihren Spuren… so dicht. Du ahntest, dass sie wussten, wer sie war – und du hattest befürchtet, dass auch deine Identität längst kein Geheimnis mehr war. Und wenn dem so war, dann würden sie nicht nur Ai in ihre Finger bekommen wollen, nein, dann würden sie auch dich endlich umbringen wollen – denn tot solltest du schon längst sein. Tot, Shinichi. Auf keinen Fall wolltest du, dass wir dich suchten, dir folgten und dabei in Gefahr gerieten. Du hattest das FBI eingeweiht, hattest Ran und ihren Vater auf eine kurze Urlaubsreise geschickt, Conan damit entschuldigt, dass er mit seinen Verwandten ein paar Tage in Tokio verbringen würde; du hattest mit unserer Hilfe Ai und den Professor nach Sapporo geschafft, alles geregelt und geklärt, bis nur noch du allein übrig warst. Und dann hast du die Bombe platzen lassen, diese Lawine losgetreten, von der du wusstest, dass sie dich mitreißen würde. Shinichi… Hätte ich gewusst, dass… das dein Plan war, ich… Aber lass mich raten… egal, was ich gesagt oder getan hätte, es hätte dich nicht aufgehalten. Yukiko schluckte, als sie ihren Gedanken nachhing. Du dummer Junge! Warum hast du das getan… du wusstest doch, worauf du dich einlässt, warum hast du dir nicht helfen lassen? Warum musstest du versuchen, das allein zu schaffen… Du kannst nicht alles allein bewältigen, du kannst uns nicht alle beschützen, Shinichi, du bist nur ein Mensch, und du warst damals auch nur ein Mensch… Ein sehr junger Mensch, noch dazu. Ein Mensch, der unter unglaublichen Druck stand, und der unfassbare Angst haben musste… Nur hast du uns auch das alles… nie gesagt. Du sagtest, das wäre dein Kampf, das ginge uns nichts an – würdest du ihn verlieren, wolltest du ihn allein verlieren, nicht wahr? Wenn jemand zu Schaden kommen sollte, dann nur du. Aber so lief das nicht, nicht wahr? So lief das nicht. Und das hattest du nicht bedacht, als du… Blicklos ruhten ihre Augen auf der in der Hitze wie tot daliegenden Stadt zu ihren Füßen, als sie die Ereignisse revuepassieren ließ. Shinichi hatte sich gestellt. Die genauen Hintergründe dieser Tat, das Warum und Wieso und Weshalb hatte er ihnen nie so wirklich erzählt; sie wusste, es hatte etwas mit Shiho zu tun gehabt, sie waren durch ein gewisses Video in Zugzwang geraten. Sie selber hatte mitbekommen dürfen, wie sehr sie hinter der kleinen Chemikerin her gewesen waren, bei der Fahrt mit dem Bell Tree Express. Und das war wohl auch der Moment gewesen, wo er auf ihn aufmerksam geworden war, ihn verstärkt beobachtet hatte. Bourbon. Moris seltsamer Lehrling, Toru Amuro. Er hatte ihn unter seiner Nase gehabt, und ihm musste aufgefallen sein, wovor so viele blind ihre Augen verschlossen hatten… Conan Edogawa war kein normaler Junge. Shinichi musste das bemerkt haben, und er hatte gehandelt, bevor der Boden unter seinen Füßen zu brennen angefangen hatte, und zwar in dem er einfach schnurstracks hineingerannt war, in diese Hölle, mit nichts weiter bewaffnet als einem Becher Wasser, wie es schien. Von all diesen Dingen hatte er ihnen, ihr und Yusaku, kaum etwas erzählt. Er hatte ihnen… ohnehin so gut wie nichts erzählt. Fakt war, eines Nachts hatte er beschlossen, oder beschließen müssen, dass es nicht so weiterging wie bisher. Er hatte die Môris verlassen, sich von Ai das Gegengift besorgt, das sie hatte, hatte sie und den Professor mit ihrer Hilfe außer Landes gebracht und war in den Krieg gezogen. Was er sich antat damit, hatte er wissen müssen. Du hast den Kampf aufgenommen, gegen die Dämonen deines Lebens, gegen die schwarzen Schatten der Nacht, gegen die, die ihre Kreise langsam immer enger um dich und die, die du liebtest, gezogen hatten. Wir waren blind, wir waren taub… wir haben alle davon nichts bemerkt, aber du… du schon. Du wusstest, auf was du achten musstest, du wusstest die Zeichen richtig zu deuten. Und als dir der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, die Verantwortung und die Angst um das Leben aller anderen zu groß, da hast du deinen Entschluss gefasst. Anders kann ich es mir nicht vorstellen; du bist und warst kein Mann, Shinichi, der zu unüberlegten Handlungen tendiert. Du wägst ab, bedenkst, fällst einen Entschluss und handelst. Es musste einen Grund gegeben haben, warum du deine Deckung fallen ließest, warum du nach ihnen gesucht, sie provoziert hast. Du hast wohl geahnt, dass die Organisation langsam ihre Schlinge um deinen Hals zog, immer enger – und um die Hälse aller, die dir etwas bedeuteten, und deshalb bist du gegangen; hast die Initiative ergriffen, bevor du zu sehr in Zugzwang gerietest, und damit ins Hintertreffen. Was er tatsächlich getan hatte, hatte ihr am nächsten Tag einen Schrei des Entsetzens entlockt – Shinichi hatte eine Email verfasst, hatte haarklein dokumentiert was mit ihm passiert war, wie das Gift wirkte, hatte über Verbrechen erzählt, die auf das Konto der Organisation gingen, und hatte damit angegeben, die Undercover-Agents des FBI und der CIA, Sherrys Aufenthaltsort und die Kontaktdaten des Bosses zu kennen – und die Organisation aufgefordert zu kommen, und ihn zu holen, wenn sie erfahren wollten, was er wirklich wusste. Dieses Video hatte er dreimal versandt, jedoch nur zweimal waren die Empfänger offen – einer war versteckt. Einmal an das FBI, an Agent James Black. Einmal zur Polizei, zu Händen Juzo Megurés. Und einmal an die Email-Adresse des Bosses. … und wenn Sie nicht wollen, Anokata, dass ich Ihre Emailadresse weitergebe und damit ihr schwarzes Antlitz ans Tageslicht ziehe, dann lassen Sie die Finger von Menschen, die Sie nichts angehen und wenden sich vertrauensvoll.. an mich. Mit den freundlichsten Grüßen, Shinichi Kudô alias Conan Edogawa Er hatte hineingestochen, in dieses Hornissennest, und zwar mitten ins Herz, in die Kammer der Königin. Und die Hornissen waren zum Angriff ausgeflogen. Sie hatte nur geschrien, als sie, in einem Hotel in Sapporo sitzend, wo sie mit dem Professor und Ai eine Erfindermesse besuchte, ihre Emails las – Meguré hatte Yusaku informiert und sie und ihr Mann benutzten denselben Account. Sie ahnte, was er damit hatte bezwecken wollen, und das hatte auch funktioniert. Sie waren gekommen, aus ihren Löchern, und hatten ihn geholt. Ihn, den sie für eine lästige Zecke gehalten hatten… und der sich zu einer waschechten Bedrohung gemausert hatte. Er wusste zu viel, viel mehr, als sie geahnt hatten. Und aufgrund seines Berichtes ahnten Sie, dass er immer noch mehr wusste, als er verlauten ließ. Er provozierte sie, das wussten sie. Und sie waren neugierig geworden, auf diesen Kerl. Yukiko hatte gewusst, dass er es zu Ende bringen hatte wollen. Deshalb hatte er sie ja schließlich um Hilfe gebeten. Dass er es jedoch auf diese Art und Weise machte, hatte sie nicht in ihren kühnsten Träumen geahnt. Shinichi war danach tagelang verschwunden, spurlos. Und als sie alle dachten, er wäre tot, ermordet worden, da bekamen sie den Hinweis. Nicht von ihm. Und nicht sie alle. Es war nur ein kleiner Brief, handgeschrieben, in einem Kuvert ohne Absender, der in Rans Jackentasche gesteckt hatte, eines Tages. Ich hab ihn gesehen, wir alle haben ihn gelesen. Wenn du ihn jemals lebend wiedersehen willst… Ran, die ohnehin aufgelöst vor Sorge war um dich, hatte ihn gelesen und ohne Nachzudenken gehandelt. Ran… Kogorô hatte den Brief durch Zufall gefunden, als er verzweifelt nach seiner nun ebenfalls verschwundenen Tochter gesucht hatte. Es war ein hinterhältiger Appell gewesen an ein Mädchen, das verliebt war. Sie hatten deine Schwachstelle gefunden, und sie ahnten ihre, und sie nutzten das gnadenlos aus. Kogorô war ausgeflippt, und wärst du da gewesen, Shinichi … Sie lächelte bitter. Wir kennen ihn, er liebt seine Tochter, und damals hätte er dir wohl den Hals umgedreht, hätte er dich in die Finger gekriegt. Dein Vater war wütend deswegen, dass Kogorô es wagte, dir für alles die Schuld in die Schuhe zu schieben – schließlich war es ja nicht deine Schuld, dass Ran sich in dich verliebt hat, nicht wahr? Und außerdem… bist du ja aus dem gleichen Grund in diese Gefahr geraten. Weil du sie schützen wolltest. Wie konntest du ahnen, dass diese Teufel euch gegeneinander ausspielen würden? Wie grausam ist das… Wie entsetzlich muss das für dich gewesen sein… Nun, wie dem auch sei, Yusaku und Kogorô wären wohl auch kurz davor gewesen, sich die Köpfe einzuschlagen, wäre Kommissar Meguré nicht dazwischen gegangen, und auch dieser Mann vom FBI, Mr James Black. Es war auch an diesem Abend, als sie sie endlich bekamen – die Adresse vom Hauptquartier. Du hattest deine Schuldigkeit für das FBI getan, Shinichi. Und sie kamen, um dich zu holen, dich und Ran, zu retten, was noch zu retten war. Viel war das nicht. Wir warteten daheim, darauf,… dass ihr kommen würdet. Du, und Ran. Und dann… ist alles so furchtbar schief gelaufen. Yukiko wusste bis heute nicht vollständig, was eigentlich passiert war. Sie erinnerte sich nur an diesen Abend, als er vor ihrer Haustür stand, ihr Sohn. Schlotternd, bleich, vom Regen durchnässt. Als Oberschüler, nicht als Knirps; Conan hatte seine Existenz beendet. Sie hatte den Blick in seinen Augen gesehen, der ihr durch Mark und Bein gegangen war, dieser Ausdruck namenlosen Entsetzens und unfassbarer, unbändiger Schuld. Ein Anblick, der sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte – und der ihr noch heute einen Knoten im Hals bescherte. Sie hätte weinen können, vor Angst, Schmerz, Mitgefühl und Erleichterung ihn zu sehen, aber sie hatte es nicht getan. Etwas an ihm hielt sie davon ab. Und bevor sie es gesehen hatte, hatte sie es gerochen – das Blut. Dieser beißende, ekelhaft metallische Gestank von geronnenem Blut. Als er dann näher getreten war, hatte sie es auch gesehen – rot waren seine Hände, seine Arme, sein Oberkörper, rot, verklebt, von dunkelrotem, angetrockneten Blut. Blut, das nicht seins war, denn er – er war unverletzt. Und sie hatte sie gesehen, die feuchten Spuren auf seinen Wangen, die ihre Bahnen durch sein dreckiges Gesicht gezogen hatten. Shinichi hatte geweint. Absolut lautlos, stumm, aber unaufhörlich. Und spätestens da hatte sie gewusst, dass etwas Entsetzliches passiert war. Und dass ihr Sohn, obgleich nun körperlich der Alte, nie wieder der sein würde, der er einst gewesen war. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, Shinichi. Man sah dir an, du standst unter Schock… dann kam dein Vater, und zog dich in die Eingangshalle, und alles, was im trüben Licht der Eingangstür schon zu sehen gewesen war, wurde hier nur umso deutlicher. „Shinichi, was ist passiert?“ Yusakus Stimme war leise, aber bestimmt. Du sahst ihn nicht an, deine Augen stierten seltsam glasig und unfokussiert auf einen Punkt irgendwo vor ihm in der Luft. „Shinichi?“ Du gabst keine Antwort, schienst zu keiner Regung fähig. „Shinichi!“ Yusaku hatte dich an den Schultern gepackt, nicht fest. Du hast ihn nur angesehen - in deinen Augen namenloser Schmerz. Dann sagtest du diesen einen Satz… nur diesen einen Satz. „Ran ist tot.“ Wie sie an jenem Abend gestorben ist, in deinen Armen nämlich, Shinichi… weil sie dir eine Falle stellten… … wussten wir nur aus den Träumen, die dich quälten Nacht für Nacht, Tage, Wochen, Monate danach. Du hofftest, wir würden es nicht hören. Und du wusstest, wir taten es doch. Du hast nie freiwillig mit uns darüber geredet, herausgefunden, was passiert war, haben wir dennoch. Es war unübersehbar. Und irgendwann musstest du reden, früher, als dir lieb war. Du hast mit uns am nächsten Tag Japan verlassen, ohne Rückfahrkarte. Es gab kein Zurück für dich. Und auch jetzt gibt es immer noch… nach so langer Zeit… kein Zurück für dich. Yukiko seufzte, umklammerte ihren Kaffee mit beiden Händen, spürte die wohlige Wärme an ihren Fingern. Fühlte langsam wieder die Sonne auf ihrer Haut, hatte das Gefühl, wieder warm zu werden, ganz so, als würde sie auftauen. „Shinichi, so kann das nicht weitergehen.“, murmelte sie leise. „Wüsste Ran, was du veranstaltest, denkst du, sie wäre glücklich darüber?“ Unwillig zog sie die Augenbrauen zusammen, dann drehte sie sich brüsk um. Sie hatte einen Entschluss gefasst. „Yusaku, wir fliegen nach London. Buch uns einen Flug, ich geh packen.“ Ihr Mann hob ruckartig den Kopf, konnte ihr nur mehr verwirrt hinterher schauen, als sie die Treppe in den ersten Stock geräuschvoll hochstieg. Dann schüttelte er ergeben den Kopf, rief die Internetbuchungsseite der Airline seines Vertrauens auf und tat, wie ihm geheißen. Gegen Yukiko kam er in der Sicht ohnehin nicht an. Ein zynisches Grinsen huschte ihm über die Lippen. Freu dich, Sohnemann. Du bekommst Besuch. ________________________________________________________________________________________________ Tja, Leute - das wars! Kapitel eins! Wie immer würde ich mich freuen, wenn ihr einen Kommentar hinterlässt - jeden Autor interessiert schließlich brennend, was seine Leser über sein Werk denken. Geladen wird wöchentlich, wahrscheinlich Donnerstag/Freitag. Ich wünsch euch viel Spaß und viel Freude daran, die Geschichte ist nicht kurz... Beste Grüße, Eure Leira Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)