Säureherz von ambertree ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Der Wind wehte durch die Kronen der Laubbäume und fegte deren Blätter über den Pfad. Das Rascheln der Büsche, welches er verursachte, wurde vom Prasseln des Regens und dem entfernten Läuten von Kirchenglocken begleitet. Während die Farben der Pflanzen satt strahlten, sorgte ein grauer Himmel für tristen Kontrast. Eine Böe trieb die herabgefallenen Blätter zu einer Holzbank und ließ sie gegen ein Paar rote Pumps wehen. Die Trägerin der Schuhe, durchnässt vom Sommerregen, ließ die schwere Luft durch ihre Lungen strömen. Mit jedem Windstoß atmete sie den Duft des warmen Regens ein, welcher an diesem bisher schwülen Tag ihr weißes Kleid begoss. Das vormals saubere Kleidungsstück war vom Wirken des Wetters gezeichnet. Vereinzelte Spaltfrüchte waren von den Bäumen geweht worden und fanden ihren Weg auf den gewebten Stoff. Während Regentropfen über ihr Gesicht perlten und der billige Mascara von ihren Wimpern bis zum Kinn floss, hörte sie Schritte. Seit mehreren Minuten hatte sie ihre Augen geschlossen und sich in ihren Gedanken verloren, doch das sich nähernde Geräusch beförderte sie in die Realität zurück. Als der Lautstärkepegel der Schritte seinen Höhepunkt erreichte, öffnete sie die Augen und sah, dass sich zu ihren Stöckelschuhen ein Paar Springerstiefel gesellten. Kapitel 1: In's Blaue --------------------- Der seichte Februarwind wehte an diesem Vormittag durch das weit geöffnete Fenster und schwängerte Kassandras Schlafzimmer mit Kälte. Jede Brise fuhr über die Bettdecke unter welcher ihr schlanker Körper ruhte. Durch halb geschlossene Augen ruhte ihr Blick auf der schneeweißen Tapete, ohne einen Punkt zu fixieren. Wie so oft war sie im Bett liegen geblieben, nachdem sie von den Geräuschen der Stadt geweckt wurde. Begleitet von der wachsenden Lautstärke hat der Tag langsam aber stetig den Raum erhellt. Im Kontrast zum Aktiv-Werden ihrer Umwelt lag sie seit Stunden, nahezu bewegungslos, gedankenverloren im Bett. Das Zeitgefühl kam ihr, durch ihre mentale Abwesenheit, wieder einmal abhanden. Als ihr Körper einen tiefen Atemzug benötigte, wurde sie aus ihrem apathischen Zustand gerissen. Bevor sie sich erhob, schloss sie noch einmal die Augen und ließ die inhalierte kalte Luft aus ihren Lungen strömen. Als sie den Flur der ausgekühlten Wohnung betrat, um in das Badezimmer zu gehen, perlte kalter Schweiß von ihrer Haut. Während sich die Zahncreme beim Putzen der Zähne in Schaum zu wandeln begann, schaute Kassandra in den Spiegel. Der strenge, schwarze Pagenschnitt war durch das nächtliche Herumwälzen im Bett unstrukturiert. Sowohl der Pony, als auch das auf Kinnlänge geschnittene Haupthaar gaben ihrem Gesicht nicht den Rahmen, mit dem sie für gewöhnlich die Wohnung verließ. Nachdem sie die üblichen Hygienerituale nach dem Aufstehen hinter sich gebracht hatte, ging sie durch das teuer ausgestattete Wohnzimmer. Vorbei an den Schränken und Vitrinen aus dunklem Pinienholz, dem großen LED-Fernseher und der Couchgarnitur. Üblicherweise blieb sie bei letzterer täglich, nach dem Verlassen des Bettes, stehen um aus dem großen Fenster dahinter zu schauen, welches einen Blick auf die Außenwelt gewährte. Doch an diesem Tag vermied sie dieses Ritual und begab sich gleich zur Küche. Während die daraufhin eingeschaltete Kaffeemaschine vor sich hinarbeitete und aromatischen Duft verbreitete, stellte die Übermüdete schon Milch und Zucker bereit. Nachdem sie den aufgebrühten Kaffee in eine motivlose Tasse gefüllt, ihn mit den bereitgestellten Zutaten verfeinerte und eine Schachtel Zigaretten von der Theke nahm, öffnete Kassandra die Glastür zum Balkon. Die kalten Temperaturen ließen sie sogleich frieren als sie über die Schwelle und nachfolgend, barfuß, in den Schnee trat. Scharf zog sie die frische Luft durch die Nase, was ein dezent brennendes Gefühl in dem Organ hinterließ. Begleitet von den Geräuschen, welche elf Stockwerke tiefer auf der Straße zu vernehmen waren, stellte sie die heiße Tasse auf den schneebedeckten Tisch. Innerhalb weniger Sekunden schmolz das gefrorene Wasser, durch die Hitze, und um den Behälter herum kam feuchtes Holz zum Vorschein. Von der Bank daneben fegte sie das weiße Produkt der Wetterumstände mit der Hand weg. Statt mit dem Mantel, der in der Küche an einer Stuhllehne hing, die Auswirkung der Kälte auf ihren Körper zu mildern, legte sie ihn auf die feuchte Bank und setzte sich, lediglich im weißen Nachthemd bekleidet, an den Tisch. Die Hände um die Tasse gelegt, betrachtete sie den grauen Himmel. Der duftende Dampf des Kaffees vermengte sich mit Winterluft und den Abgasen der Stadt. Als sie sich, nach einem ersten Schluck des Getränks, ein Zigarette anzündete, hörte sie die Stimmen von Schulkindern. Trotz dessen dass sie weit unter ihr miteinander Worte wechselten verstand sie, durch die für Kinder typisch laute, enthusiastische Kommunikation, jeden Satz. »..nur wenn du mich in dein Team wählst!«, rief ein Junge. »Du versaust das doch wieder! Wenn Nele dabei ist, vielleicht! Sogar Mädchen spielen besser als du!«, kam belustigt die Antwort von seinem scheinbaren Gesprächspartner zurück. »Du bist 'n Mädchen! Und außerdem ist sie nicht da! Los komm schon..« Die Rufe der beiden Jungs wurden durch eine Vielzahl anderer Stimmen begleitet, welche nur verschwommen zu vernehmen waren. Kassandra wusste nicht wie spät es war. Seit Jahren lebte sie nur in den Tag hinein. Die Dreißigjährige interpretierte das Gehörte als Gespräch unter Grundschülern, welche auf dem Weg zum Sportunterricht waren. Ein Indiz darauf, dass der Tag seine vierzehnte Stunde noch nicht erreicht hatte. Als sie weiter in den trostlosen Himmel blickte, kamen Erinnerungen an ihre eigene Schulzeit hoch. Die Gedanken verdrängend, öffnete sie den Mund und ließ den Zigarettenrauch austreten ohne auszuatmen. Jedem Schluck Kaffee folgte ein Zug an der Zigarette. Indessen verfärbte sich ihre Haut zu einem leichten Blau und sie begann zu zittern. Statt sich in die Wohnung zu begeben, bewegte sie sich keinen Millimeter sondern ließ einen sanften Windstoß durch ihr Haar fahren. Ihre Apathie wurde plötzlich unterbrochen als die Türklingel läutete. Vor Überraschung zuckte ihr Körper kurz, woraufhin sie die Augen leicht zusammenkniff. Ein weiteres Klingeln. Entnervt seufzend trat sie, mit nassen Füssen, in die Wohnung und ging langsam zur Wohnungstür. Sie schaute durch den Türspion um kurz darauf ihre Stirn an die Tür zu lehnen. »Jetzt mach schon auf, ich hab' nicht ewig Zeit.« Jennifer saß auf der Couch und wartete auf Kassandras Antwort. Sie hatte ihren Mantel aufgehangen, was ihre ältere Schwester mit einem frustrierten aber kaum hörbaren Schnauben quittierte. Es sollte scheinbar kein kurzer Besuch sein. »Kessi, was stimmt denn nicht?«, fragte die schlanke Frau und strich sich ihre langen schwarzen Haare hinters Ohr. »Wir machen uns Sorgen. Du meldest dich nicht, beantwortest keine Nachrichten, gehst nie ans Telefon..«, fügte sie nach einer weiteren ausbleibenden Antwort hinzu. Die Angesprochene wendete ihren gedankenverlorenen Blick nun ihrer Schwester zu. »Ich habe mich noch nie gemeldet«, beantwortete sie, mit verrauchter Stimme, verspätet die Frage. »Aber du hättest wenigstens gratulieren können! Wir erwarten ja nicht einmal mehr dass du an den Familienfeiern teilnimmst. Aber ein Anruf wäre doch das Mindeste. Es ist schon ganz schön traurig dass du nicht einmal unserer Mutter zum Geburtstag gratulierst.«, sprach die Jüngere, als sie gleichzeitig zum Fenster ging um es zu schließen. Erst nachdem sie sich ihrer Gesprächspartnerin wieder zuwandte, sah sie dass selbige sich eine Zigarette anzündete. »Musst du unbedingt in der Wohnung rauchen?« »Nein.«, kam als knappe Antwort zurück, woraufhin eine Rauchwolke Kassandras Mund verließ. Nach einem langsamen Kopfschütteln, richtete Jennifer ihre braunen Augen auf die nassen Fußspuren. »Ich weiß nicht was mit dir los ist, aber...« Die Ansprache ignorierend fiel die Genervte ihr ins Wort. »Was willst du eigentlich hier?« Mit einem wütenden Blick durchsuchte ihre Schwester daraufhin ihre Tasche. Kurz darauf wurden zwei Plastikbehälter unsanft auf den Tisch gelegt. Der Geruch des konservierten Essens drang durch das Wohnzimmer. »Ich wollte dir nur deine Portion von der Feier vorbeibringen, bevor es schlecht wird. Den Müll den du deiner Gesundheit jeden Tag antust, kann man ja Keinem anbieten.« Ihre kurzhaarige Verwandte lächelte, aus dem Impuls von Schuldgefühl, einen kurzen Moment. Doch so schnell das Lächeln kam, so schnell verschwand es auch wieder. Sie erhob sich und ging in den Flur um ihre Geldbörse aus der Jackentasche zu holen. Bei der Rückkehr in den Sessel, zählte sie die Geldscheine in ihrer Hand und warf sie auf den Tisch, noch bevor sie sich wieder setzte. So unregelmäßig Jennifers Besuche waren, so regelmäßig war ihr Portemonnaie beim Abschied gefüllt. Mit zusammengezogenen Brauen saß selbige vor den Scheinen und fragte brüskiert nach dem Grund. »Was soll das denn jetzt?«, begann sie ihrer Entrüstung Stimme zu verleihen. »Weißt du was? Ich bin es leid! Nur weil du frustrierte Schachtel nicht mit deinem Leben zurecht kommst, musst du es nicht an Allem und Jedem auslassen!« Der gelangweilte Blick der Beschuldigten sprang von den dreihundertfünfzig Euro zu Derjenigen, die ihre Stimme gegen sie erhob. Mit einem »Dann mach doch was du willst! Bleib doch einfach weiter hier sitzen, verbarrikadiere dich noch länger und halt dich für was Besseres! Ich habe es satt!« würgte diese jede weitere Konversation ab, stand abermals auf und ging zu Tür, nicht ohne das Geld vorher einzustecken. Kaum hatte sie sich mit ihrem Mantel bekleidet, wollte sie hinausstürmen. Doch sie sah noch einmal zu ihrer Schwester, wie sie, ihr teilnahmslos den Rücken zugewandt, noch immer rauchte und ihr Blick in Richtung Fenster gerichtet war. »Du hast dich kein bisschen verändert.«, sprach sie nun in ruhigem, vorwurfsvollem Tonfall und wandte sich ab um die Tür zu öffnen. »Ich werde mich niemals ändern.«, vernahm sie als Antwort und schloss die Tür hinter sich Es vergingen mehrere Minuten bis Kassandra sich, nach dem herbeigesehnten Abschied, aus dem Sessel erhob. Kurz hielt sie die Fernbedienung für den Fernseher in der Hand, legte sie aber ohne Benutzung wieder auf den Tisch. Im Raum stehend umfasste sie, mit überkreuzten Armen, ihre Hüfte als würde sie sich selbst umarmen. Für mehrere Minuten verharrte sie in dieser Stellung. Mit gesenktem Kopf und teilnahmslosen Blick schaute sie auf das Laminat des Wohnzimmers. Während Kälte ihren Körper ummantelte, die Geräusche von Automotoren und Leben, trotz geschlossenem Fenster, in ihr Gehör drangen, stand sie ohne Regung in ihrem leblosen Wohnzimmer. Auch als sie spürte dass sich Tränen anbahnten und ihre Augen glasig wurden, blieb sie, einer Skulptur gleich, bewegungslos. Nur langsam lösten sich ihre Arme von ihrem Becken. Mit gesenktem Kopf drehte sie sich, wie in Zeitlupe, in Richtung Flur. Wie so oft, wenn ihre Gedanken und Emotionen sie übermannten, bewegte sie sich wie in Trance. Einen Schritt vor den anderen setzend, ging sie in das Badezimmer. Trotz dessen dass ihre Schultern herunterhingen als würde das Gewicht der Welt auf ihr lasten, schien sie durch ihre langsamen, sanften Bewegungen zu schweben. Sie vermied es einen Blick in den Spiegel zu werfen als sie sich davor entkleidete. Bevor sie die Dusche betrat, starrte sie wie betäubt auf die weißen Fliesen. Erst als das heiße Wasser über ihren Körper prasselte, kam sie wieder aus ihrem emotionalen Dunstschleier. Während Dampf den Spiegel beschlagen ließ, wurde Kassandras Blick immer klarer. Wie bei einem Patienten, welcher aus einer Narkose erwacht und seine Umwelt wahrnimmt, weiteten sich ihre Augen. Ihre nassen Haare ließen warme Tropfen auf ihre Schultern und das Schlüsselbein perlen. Spuren auf der blassen Haut hinterlassend, bahnte sich das Wasser seinen Weg bis zu ihrer Hüfte. Nachdem sie aus der Duschkabine getreten ist und sich getrocknet hatte, ist sie sofort in ihr Schlafzimmer gegangen um den Kleiderschrank zu öffnen. Während die Tropfen hier ihren unbekleideten Körper umspielten, holte sie mehrere Kleidungsstücke aus den herausgezogenen Schubladen und Schranktüren. Nach kurzer Zeit lagen gebügelte Hosen neben knitterfreien Hemden, zusammengefalteter Unterwäsche und sortierten Strumpfhosen auf dem Bett. Sobald sie sich mit einer schwarzen Anzughose und einem weißen Hemd über der Unterwäsche eingekleidet hatte, packte sie die verbliebene Kleidung in ihren schwarzen Koffer. Mit Föhn und Glätteisen frisierte sie, wieder im Bad, ihre Haare. Mit Lippenstift und Lidschatten in einem kräftigen Rot, den dunkel nachgezeichneten Konturen ihrer Augen und dem strengen Pagenschnitt herausgeputzt, packte sie Kosmetik- und Hygieneartikel ebenfalls in den Reisebehälter. Bevor sie ihre schwarze Lederjacke mit dem weißen Kunstfellkragen vom Kleiderhaken nahm, stattete sie sich mit der zuvor bereitgelegten Krawatte und einem ebenfalls schwarzen Jackett aus. Den Griff der Wohnungstür mit der Hand umschlossen, hielt Kassandra einen Moment inne. Aber statt sich noch einmal umzusehen, verließ sie ihre Behausung, betrat den Hausflur und schloss die Tür. Während der trübe Himmel sie durch die Fenster beobachtete und das Treppenhaus mit seiner Trostlosigkeit füllte, leiteten sie graue Wände zum einem der Fahrstühle. Als sie den schweren Koffer abstellte und die Taste betätigte um zur Tiefgarage zu kommen, nahm sie den muffigen Geruch der Kabine wahr und rümpfte die Nase. In der fünften Etage stoppte der Aufzug, bevor sich die Türen für eine Frau mittleren Alters und einem jungen Mädchen öffneten. Die Frau stürmte in den Fahrstuhl, wobei sie das Kind, scheinbar ihre Tochter, ruppig mit sich zog. Dem Mädchen liefen die Tränen über die geröteten Wangen, als es hilflos hinterherstolperte. Die Türen schlossen sich. »Du brauchst gar nicht zu heulen, junge Dame!«, leitete die gestresste Frau eine Maßregelung ein. Dem Verhalten des Kindes nach zu urteilen, war dieser schon eine vorausgegangen. Kassandra sah in eine der verspiegelten Wände der Fahrstuhlkabine um sich subtil und unentdeckt das Kind anzusehen. »Weißt du überhaupt was wir uns für Sorgen gemacht haben? Wie soll ich das deinem Vater erklären? Das kannst du ihm ja am besten selbst erzählen.« Schniefend klammerte sich das Kind an seinem Rucksack fest. Ihre Mutter unterbrach ihre Schimpftirade für einen Moment und sprach mehr zu sich selbst. »Den ganzen Tag rackern wir uns ab und sie macht was sie will..« Mit einem glasigen Blick und Triefnase schaute das Kind nun seine Mutter an, die den Blick kalt erwiderte. »Haben wir dich so erzogen? Muss ich dich jeden Morgen persönlich zur Schule bringen oder wie stellst du dir das vor? Sei froh, dass dein Vater nicht benachrichtigt wurde!«, wurde die Schulschwänzerin nun gemaßregelt. Der Ansprechpartner wurde nun gewechselt als die Frau das Wort an Kassandra richtete. »Könnten Sie bitte auf die Erdgeschossetage für uns drücken?« Diese reagierte nicht, sondern schaute weiter im Spiegel das Kind an. »Sind sie taub?«, fragte die wütende Mutter rhetorisch. Zum zweiten mal ignorierte Kassandra sie und sah dem Mädchen direkt in ihr verheultes Gesicht. Dieses weitete die Augen, während die Lippen zitterten. Nachdem die Schwarzhaarige dem Kind aufmunternd zulächelte, kam sie der Bitte der Mutter nach. Sobald die Türen sich öffneten, stieg die Frau schnellen Schrittes aus dem Aufzug. Ihre Tochter lief stolpernd hinterher. Da die Türen noch einige Sekunden geöffnet waren, konnte Kassandra sehen wie die kleine Schülerin die Hand ihrer Mutter ergriff. Letztere verlangsamte daraufhin ihr Schritttempo und kniete sich anschließend, zu ihrem Sprössling gewandt, hin. Der wütende Gesichtsausdruck schwand als ihre Tochter sie umarmte. Im Aufzug stehend, beobachtete Kassandra das Schauspiel mit schwerem Herzen. Die Türen schlossen sich und der letzte Blick den sie vernahm, war eine Mutter die ihrem Kind die Tränen trocknete. In der Tiefgarage angekommen ging sie, mitsamt des schweren Koffers, zu dem ihr zugewiesenen Parkplatz. Ihren Wagen hatte sie sich vor zwei Jahren zugelegt, genutzt wurde er allerdings selten. Ihre Wohnung verließ sie höchstens für Einkäufe und da der Supermarkt direkt gegenüber des Wohngebäudes lag, war es unnötig die Besorgungen mit dem Auto zu transportieren. Als sie ihr Gepäck verstaut hatte und sich daraufhin hinter das Steuer setzte, legte sie den Hinterkopf an die dafür vorgesehene Lehne. Der Schlüssel steckte bereits, wartend den Motor zum Starten zu bringen. Die Fahrerin griff in ihre Jackentasche und öffnete das, sich darin befindende, Brillenetui. Ohne einen Gedanken zu verschwenden warf sie den Wagen an, nachdem sie ihre Sehschwäche mit Hilfe der Brille ausglich. Beiläufig schaltete sie das Radio ein, während sie aus dem Untergrund fuhr. Das weiße Rauschen, aufgrund fehlender Funkverbindung, wandelte sich in die euphorische Stimme eines Werbesprechers als sie die Garage verließ. »...sich für uns entscheiden. Denn mal unter uns: Wer reist schon einfach so ins Blaue?« »Frustrierte Schachteln, die nicht mit ihrem Leben zurecht kommen.«, antwortete Kassandra dem Radio, welches seinen Monolog fortführte. Kapitel 2: Nächstes mal ----------------------- Vor dem Fenster waberte noch Dunkelheit als Adrian, um sechs Uhr, den vorausgegangenen Abend Revue passieren ließ. Die Fingerkuppen seiner linken Hand wiesen noch immer die Abdrücke der Stahlsaiten auf. Mit den Jahren waren sie, durch die Hornhaut, beinahe wie betäubt. Was ihm mehr zu schaffen machte, war seine Kehle. Der exzessive Konsum von Tabak und Alkohol forderte allmählich seinen Tribut. Als wäre seine Luftröhre mit einem dickflüssigen Mantel aus Teer überzogen, fiel ihm an manchen Tagen das Atmen schwer. Zu diesem Problem gesellten sich, in diesen Stunden, auch Heiserkeit und ein unbarmherziger Juckreiz in seinem Hals. Zu verdanken hatte er dies dem Umstand, dass er sich allein aus Prinzip nicht mit Gesangstechniken auseinandersetzen wollte. Somit reizte jede Probe, jede Aufnahmesession und jeder Auftritt seine ohnehin schon lädierte Gesundheit. Zwar spürte er die Auswirkungen seines Lebensstils in diesem Moment, doch mit den Gedanken war er woanders. Vor seinem inneren Auge sah er noch immer das Lichtgewitter, welches für Sekundenbruchteile den Club erhellte. Den Großteil der Auftritte verbrachte er damit sich auf sein Gitarrenspiel und den röhrenden Gesang zu konzentrieren. Oftmals verlor er im Rausch der Klänge und blitzenden Farben den Bezug zur Realität. Vor Jahren noch klang die Band lediglich wie die Summe ihrer einzelnen Teile. Durch ständige Proben und Herzblut aber, waren die vier Mitglieder eine Einheit geworden. Etwas das nur sie selbst nachvollziehen konnten. Für die Dauer eines Songs schien es, als würden sie in einer höheren Bewusstseinsebene schweben. Wie im Rausch, von der Welt entfernt, spürten sie, dass die Musik geradezu aus ihnen herausströmte. Das Dauerfeuer der Bassdrum in den Eingeweiden, die klirrenden Gitarrensoli in den Ohren, der warme Bass in den Kniekehlen. Sie spürten jeden Ton. Als sie in dieser Nacht ihre Zugabe beendeten und verschwitzt im Backstageraum verschwanden, hatte Adrian seinen Entschluss schon gefasst. Schwer atmend, als wäre er einen Marathon gelaufen, sackte er in der ledernen Couch zusammen. Sein platinblonder, strohiger Pony bedeckte das Gesicht, während das blutrot gefärbte, hüftlange Haupthaar an seinem Rücken klebte. Nach über zwei Stunden auf der Bühne sahen die Musiker aus, als wären sie soeben aus einer Sauna gekommen. Drei Minuten später waren noch die Forderungen des Publikums nach einer Zugabe zu hören. Doch statt zum dritten mal an diesem Abend auf die Bühne zu gehen, öffnete Isa das erste Bier. Die große Bassistin mit dem orangenen Sidecut, lächelte in die Runde. »Ich bin komplett im Eimer«, bemerkte sie, bevor sie den ersten Schluck nahm. Die Piercings an ihrer Unterlippe klirrten geräuschvoll an der Glasflasche. Nach einigen Sekunden Stille fügte sie »War doch geil, jetzt lasst uns anstoßen«, hinzu. Statt dabei in die Runde zu schauen, blickte sie auf Charly. Der hagere Gitarrist ließ sich selten auf Rauschzustände ein. »Lass mich noch kurz entspannen«, erwiderte er mit erschöpfter Stimme und geschlossenen Augen. Der fensterlose Raum wurde kurz darauf von einem süßlichen Duft erfüllt, der ihn aufmerksam werden ließ. Mit skeptischen Blick aber belustigtem Lächeln schaute er zu Noah. »Alter. Sitzt der Assi da hinten und zieht einen durch..« Der gemeinte Drummer, mit dem schwarzen Haar, setzte einen unschuldigen Blick auf. Statt zu antworten, ließ er seine Augen in alle Richtungen schnellen und unterdrückte ein Lachen. Während Isa laut losprustete, schüttelte Charly grinsend den Kopf. »Ich glaub' das war echt 'n gutes Ding, heute«, warf Noah in die Runde als er den Joint an Isa weitergab. »Wir bringen immer gute Dinger«, fügte diese hinzu und atmete den zuvor inhalierten Rauch aus. Von den vier Bandmitgliedern war sie die Optimistin. Während ihre männlichen Kollegen oftmals an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelten, nahm sie jede Krise locker. Nicht nur einmal gab es deswegen Diskussionen mit Adrian, welcher mit seinem Perfektionismus dafür sorgte dass der Band einige Auftritte entgingen. Charly, der ihm nähesten stand, vermittelte für gewöhnlich zwischen den beiden gegensätzlichen Persönlichkeiten. Der soeben beendete Gig kam nur zustande weil er ohne Adrians Wissen zugesagt hatte. »Ach komm, gelohnt hat es sich doch«, hörte der erschöpfte Sänger eine tiefe Stimme neben sich. Der Strippenzieher lächelte ihm gutmütig zu. »Ohne unsere Prinzessinnen hätte das Publikum doch gar nichts zum Gaffen.« Isa und Adrian waren schon immer der Blickfang für die Zuschauer gewesen. Mit ihrer figurbetonten Lederkleidung und dem aufwendigen Make Up, schufen sie einen Kontrast zu Noah und Charly, die mit ihrer zerissenen Kleidung und den besprayten Motorradjacken aussahen, als kämen sie von einem Straßenkrieg. Ironischerweise wirkte Adrian femininer als seine Kollegin, was nicht selten zu angespannten Situationen führte wenn ihm ein betrunkener Zuschauer, nach einem Konzert, unsittlich berührte. Auch wenn Adrian nicht antwortete und stattdessen müde auf den Boden starrte, hatte Charly recht. Sie waren an diesem Abend die dritte von fünf Bands, welche im Club spielten. Während die Zuschauer, bei den zwei Gruppen vor ihnen, verhalten reagierten, forderten sie bei den vier Punks Zugaben. »Vielleicht kriegen wir jetzt endlich mal was geschissen«, sprach Charly nochmals seinen Sänger an. Mit heiserer Stimme gab dieser ein »Selbst wenn es so wäre«, als Antwort. Kraftlos beugte er sich nach vorn um ein Bier zu öffnen. Während Isa und Charly nachdenkliche Blicke austauschten, griff Noah nach der Flasche der Bassistin und sprach an den Sänger gerichtet: »Mach dir doch nicht wieder Gedanken. Ich weiß, es war nicht alles perfekt aber wir haben jetzt vielleicht endlich mal 'nen Lauf. Wenn ich daran denke was wir früher für 'ne Kacke gebaut haben..« Als der Drummer seine Ansprache mitten im Satz ausklingen ließ, begann Isa zu lachen. Einige Stunden später, während die letzte Band des Abends ihr Set beendete, standen die vier Kumpel vor Charlys Transporter. Die Instrumente, welche sie soeben darin verstaut hatten, sollten nun in den Proberaum zurückgebracht werden. Bevor der langhaarige Gitarrist den Motor anließ, fragte er nochmals ob seine Freunde sein Angebot ausschlagen wollten. »Seid ihr sicher dass ich euch nicht mitnehmen soll? Nicht dass ihr wieder irgendwo besoffen auf die Schnauze fallt und euch den Arsch abfriert..« »Geht schon klar, Mama. Wir gehen noch 'ne Runde saufen und nehmen den Bus«, antwortete Isa, angetrunken und stoned. »Jedem Erfolg sollte ein Absturz folgen«, fügte Noah scherzend hinzu. Charly ging auf den Halbkreis seiner drei Musikerkollegen zu, um diesen zu vervollständigen. Als sie sich zum Abschied in den Armen lagen, wurden Adrians Augen feucht. Das Gekicher der Bassistin, Charlys Fürsorge und das zufriedene, benebelte Grinsen des Drummers jagten ihm einen Schauer über den Körper. Mit geneigtem Kopf sprach er in die Runde. »Danke dass ihr das mit mir durchgezogen habt..« Nach einem Moment der Stille fragte Noah trocken »Werden wir jetzt alle sentimental?« Der Wind wehte kalt um die Punks, welche sich in den Armen lagen. »Mach dir keinen Kopf, Prinzessin« wandte Charly das Wort an Adrian, bevor er sich an die Gruppe richtete. »War 'n geiles Ding! Ich muss los. Passt auf euch auf, ihr Penner!« Als sich der Transporter vom Parkplatz des Clubs entfernte und sich die beiden Rhythmusinstrumentalisten, mit roten Augen, auf den Weg in die nächste Kneipe machen wollten, schaute Adrian in den Nachthimmel. Keine Wolke war zu sehen. Nur der Mond blickte auf ihn herab, während sich klirrende Kälte über die Stadt legte. Die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke vergraben, drehte Noah sich noch einmal zum Sänger um. »Ey, Alter«, begann er und lenkte den Blick des Angesprochenen auf sich. »Du kommst eh wieder nicht mit, oder?« Adrian lächelte ihm zu. Der Schlagzeuger holte eine Zigarettenschachtel aus seiner Innentasche um selbige dem Wortkargen in die Hand zu drücken. Mit einem »Dann mach dir wenigstens alleine 'ne schöne Nacht«, unterstrich er seine Geste. Während Isa sich schon von den beiden entfernte, bedankte Adrian sich mit einer weiteren Umarmung, welche zugleich als Abschied diente. »Bis später«, fügte er hinzu und bekam als Antwort den Humor des Schwarzhaarigen zu spüren. »Bis später«, äffte dieser ihn nach und streckte ihm, als Kontrast zu seinem Lächeln, den Mittelfinger entgegen. Als der Gedanke an Noahs Abschied die Erinnerung an den Abend abschloss, ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. Verstaubte Regale, Bandposter, zwei E-Gitarren, Spinnennetze, ein alter Fernseher. Vor ihm stand eine gepackte Reisetasche. Langsam erhob er sich von der Couch, atmete einmal tief durch und schaute auf sein altes Handy. Neben der Uhr, welche ihm verdeutlichte dass er sich auf den Weg machen sollte, zeigte das Display auch eine ungelesene SMS an. Ein Grinsen zog sich über sein müdes Gesicht, als er las von wem sie kam. Isa hatte ihm schon vor einigen Stunden geschrieben. »Der bengel is am tresen eingepennt! Hat dauernd was von irgendwem ausegeben gekrigt der unsere mukke mag. Nächstes mal kommst du mit!« Statt das Handy einzustecken, legt er es auf den Tisch und schwang die Reisetasche über seine rechte Schulter. »Nächstes mal.« Noch einmal schaute er durch das Zimmer. Das Lächeln war verschwunden als er das Licht ausschaltete und die Wohnungstür hinter sich schloss. Der Weg zum Hauptbahnhof war nicht weit aber die Wetterumstände machten ihn dennoch nicht angenehm. Die Stadt war in das orangene Licht der Straßenlaternen und die Dunkelheit des Februar getaucht. Unheilvoll schien sich der Himmel auf den Beton zu drücken. Mit einer Zigarette im Mundwinkel, stapfte Adrian durch den Schnee, wobei der Wind ihm in das geschminkte Gesicht blies. Selbst unter seinem Kapuzenpullover und der schweren, mit Bandpatches verzierten Lederjacke, fror er. Die Verkehrsgeräusche an diesem jungen, dunklen Wintermorgen, nahm er kaum wahr. Als er am Ziel ankam, hatten sich dort bereits mehrere Personen eingefunden. Der Parkplatz des Bahnhofes war in den Geruch von Abgasen gehüllt. Während sich einige seiner künftigen Mitreisenden von ihren Lieben verabschiedeten, musterten andere ihn argwöhnisch. Nach einem letzten Zug an der Zigarette, begab er sich zur Fahrertür des Fernbusses, an welcher sich eine kleine Schlange bildete. »Lange Reise«, entgegnete ihm der Fahrer lächelnd, als Adrian ihm sein Ticket reichte. Auf diesem war der Abfahrt- und der Zielort gedruckt, woraus hervorging dass der müde Musiker einmal quer durch das Land reisen würde. Als der letzte Mitreisende sein Ticket vorzeigte und daraufhin das Gepäck verstaut wurde, suchte sich Adrian einen Platz im Bus. Zu seinem Glück waren an diesem Tag nur Wenige im Begriff, das Transportmittel zu nutzen, was ihm eine Sitzreihe für ihn allein bescherte. Schon kurz nachdem die Fahrgäste Platz nahmen, startete der Fahrer den Motor um die Reise zu beginnen. Daraufhin folgte die obligatorische Einweisung, welche der Mann mittleren Alters durch das Mikrofon verlauten ließ. »So, dann kommen wir ja pünktlich weg«, begann er seine Ansprache. »Ich muss euch gleich darauf hinweisen, dass im Bus Anschnallpflicht herrscht. In letzter Zeit gab es viele Kontrollen und wer erwischt wird, darf einmal kräftig in sein Portemonnaie langen.« Adrian kam der Anforderung träge nach. Sobald der Gurt eingerastet war, lehnte er seinen Kopf an das beschlagene Fenster. Das Gemurmel seiner Mitfahrer drang dumpf in die Gehörgänge, während seine Augen langsam zufielen. Das letzte was er wahrnahm, waren die verschwommenen Konturen hinter dem Fenster. Kapitel 3: Kirby ---------------- »..fahren Sie weiterhin vorsichtig. Weiter geht’s mit dem besten Musikmix«, tönte das Autoradio. Bevor der Jingle des Senders erklingen konnte, schaltete sich automatisch die CD ein, welche zuvor von den Nachrichten unterbrochen wurde. Der monotone Beat eines Achtziger-Jahre-Wave-Songs dröhnte durch Kassandras Gefährt. Es begann bereits zu dämmern. Vor ihrer Windschutzscheibe wich das natürliche Licht des Tages dem künstlichen der anderen Fahrzeuge. Die roten Strahlen der Fahrer vor ihr leuchteten ihr entgegen, während die entgegenkommenden Scheinwerfer, auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, weiße Lichtkegel vor sich hertrieben. Seit Stunden war sie schon auf der Autobahn unterwegs. Die trockene Luft und die ständige Konzentration auf den Verkehr forderten ihr allmählich eine Pause ab. Während sich eine Gitarrenmelodie mit Delayeffekt aus den Boxen spielte, versuchte Kassandra das Hinweisschild zu lesen, welches sie in wenigen Metern passieren würde. Mit zusammengekniffenen Augen streckte sie ihren Kopf in Richtung des Beifahrerfensters. Trotz dessen dass die Schrift des Wegweisers groß und deutlich war und sie ihre Brille trug, konnte sie nicht lesen was sie ihr vermitteln sollten. Seit der Zeit in der Fahrschule hatte sich ihre Sehrkraft immer weiter verschlechtert. Der mangelnde Schlaf schwächte den ersten ihrer fünf Sinne zusätzlich. Ihr Navigationsgerät, welches vergessen auf der Kommode in der Wohnung lag, hätte sie gut gebrauchen können. Als sie das Tempo drosselte, hielt sie weniger nach Verkehrsschildern als nach anderen möglichen Informationsquellen für ihren ungefähren Aufenthaltsort Ausschau. Ein buntes Leuchten am dunklen Himmel, löste einen Impuls in ihr aus. Je näher sie dem Leuchten entgegen kam, desto mehr konnte sie es mit einer Erinnerung assoziieren. Sie orientierte sich weiterhin an ihrem Fixpunkt, wechselte die Spur und nahm die nächste Ausfahrt. An der Raststätte angekommen, blieb sie im Auto sitzen. Der Cursor auf dem Display ihres Smartphones blinkte, bereit Eingaben zu verarbeiten. Doch die Finger der Besitzerin rührten sich nicht. Stattdessen las sie nochmals die eingegangene Nachricht, welche sie beantworten wollte. »Tut mir leid wegen dem was ich da gesagt habe. Es fällt mir immer noch schwer damit umzugehen aber vielleicht kannst du uns auch etwas entgegenkommen. Lass dir das Essen schmecken.« Kassandra dachte an die begonnenen aber wieder verworfenen Antworten, welche sie ihrer Schwester zukommen lassen wollte. Einem »Nein, mir tut es leid. Ich..«, folgte ein »Entgegenkommen? Ausgerechnet ihr bittet mich darum, dass..« Nun schaute sie weiter auf Jennifers Nachricht und dachte daran ein simples »Danke.« zu schreiben. Dieser Absicht wurde nicht nachgegangen als sie das Gerät seufzend auf den Beifahrersitz legte. Ihr Körper agierte beinahe automatisch und öffnete die Fahrertür. Dem Abschließen des Autos folgte der Gang in Richtung der helfenden Lichtquelle. Diese war das große Werbeschild eines Schnellrestaurants, dass weit oben an einem Mast hing. Es war nicht der einmal der Hunger der sie in das Schnellrestaurant trieb. Zwar bereute sie es, das Essen der Familienfeier in der Wohnung gelassen zu haben aber der primäre Grund für den Besuch war ein anderer. »Was darf's sein?«, fragte die Bedienung, als Kassandra an der Reihe war. »Zwei Cheeseburger, bitte.« antwortete sie mit emotionsloser Stimme. Der gestresste aber um Freundlichkeit bemühte Angestellte reichte ihr das Fastfood nachdem er die Bezahlung einkassiert hatte. Mit der verpackten Nahrung in den Händen passierte sie eine dreiköpfige Familie als sie einen freien Einzelplatz ansteuerte. Dabei hörte sie das Glucksen des Jungen, der sich mit einer Actionfigur beschäftigte. Bevor sie den ersten Cheeseburger auspacken wollte, nachdem sie sich gesetzt hatte, lehnte sie ihre Ellenbogen auf den Tisch und sah zu der kleinen Familie. Der Vater, ein Mann Anfang dreißig, sprach zu seinem Sohn. »Iss doch erst mal, bevor alles kalt wird.« Mit einem Kichern quittierte der pausbäckige Junge die Aufforderung seines Vaters und hielt diesem sein Spielzeug entgegen. »Wenn du so stark werden willst, musst aber noch 'n bisschen essen, du Held.«, animierte er das Kind lächelnd. Die Mutter schalte sich nun ebenfalls in das Gespräch ein. »Aber nicht sowas Ungesundes. Sonst wird das nichts mit den Muskeln. Dann torkelst du höchstens wie ein dicker Pinguin.«, scherzte sie. »Pinguine sind doof!«, kicherte der Junge und fügte »Niemand mag blöde Pinguine!«, hinzu. Sein Vater wandte sich grinsend an seine Frau: »Niemand..… ….mag Pinguine!«, flüsterte Jennifer aggressiv. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und angespanntem Kiefer sah sie ihre Schwester an. Kassandra umklammerte ihr Stofftier. Der Plüschpinguin mit dem roten Schnabel wurde vor Jennifers Blicken geschützt. Die gestreifte Skimütze auf seinem Kopf war, wie der Schal um seinen Hals, mit Nähten befestigt. Jedoch waren einige davon über die Jahre gerissen, weswegen die Kopfbedeckung nicht mehr richtig befestigt war. »Jetzt ist aber gut, Jenny!«, ermahnte Antonio seine Tochter. Es war heute nicht das erste mal, dass sie ihre Abneigung gegen das Kuscheltier aussprach. Die Jüngere der Mädchen starrte ihn mit großen Augen an. »Warum nehmt ihr sie immer in Schutz?«, beschwerte sie sich fragend. Mit einem frustrierten Seufzen, einen Hamburger in der Hand haltend, sah Britta ihren Mann genervt an. Dieser wandte sich nun an beide Kinder. »Hier wird niemand bevorzugt. Vertragt euch und esst.« »Aber«, setzte Jennifer an. Ihr Widerspruch wurde sogleich von ihrer Mutter unterbrochen. »Jenny! Sei jetzt still und iss!« Einige der Tischnachbarn blickten zu der Familie herüber. Antonio nickte heftig. Allerdings war es kein Akt der Zustimmung. Denn zeitgleich wandte er seiner Frau sein Gesicht zu und schaute sie mit aufgerissenen Augen an. »Ja, genau das ist es. So stellt man sich den Urlaub vor«, ließ er sarkastisch verlauten. Britta ließ ihre Hände sinken und warf ihrem Gatten einen wütenden Blick zu. »Kinder, packt zusammen. Wir gehen.«, zischte sie mehr gebietend als bittend. »Bitte«, sprach Antonio langgezogen und rollte mit den Augen. Seine jüngere Tochter ließ frustriert ihre Schultern sinken. Bis auf Kassandra erhob sich die Familie von ihren Plätzen. »Man, jetzt komm endlich«, wurde sie von einer entnervten Jennifer aufgefordert. Mit unsicher wirkender Mimik stand Kassandra auf, legte ihren Pinguin auf den Tisch und griff zögerlich nach ihrem Cheeseburger. Ihre Mutter war schon auf direktem Wege zum Ausgang des Raststättenrestaurants. Vor den Türen wehte der starke Wind weggeworfene Pappbecher und Plastikverpackungen über den Asphalt. »Was ist denn?«, fragte ihr Vater, nunmehr besorgt als genervt, als er das Zögern seiner Ältesten bemerkte. »Ich muss mal«, antwortete sie schüchtern. Antonio stemmte die Hände in die Hüfte aber sein Gesichtsausdruck vermittelte Ratlosigkeit. Eine junge Frau, die mit ihrem Sohn am Nachbartisch saß, lächelte ihm aufmunternd zu und nickte als wollte sie ihm einen Anstoß geben. »Nun also«, er pausierte, »komm Kleines, das schaffen wir schon.« Jennifer stand die Fremdscham im Gesicht geschrieben. Für sie war es unbegreiflich dass man mit 7 Jahren nicht ohne Begleitung auf eine öffentliche Toilette gehen wollte. Zu allem Überfluss bat ihr Vater sie noch um einen Gefallen. »Jenny, könntest du bitte schon mal alles zu Mama bringen? Wir kommen gleich nach.« Sie öffnete bereits den Mund um zu widersprechen aber ließ nur ein Schnauben erklingen. »Danke«, sprach der Familienvater mit warmer Stimme, als sie unter den Blicken der anderen Gäste das halb verzehrte Essen und den Pinguin einsammelte. Kassandra drehte sich mehrmals um und wollte zurückgehen. »Kirby?« Doch ihr Vater redete auf sie ein: »Wir haben das doch besprochen.« Widerwillig ließ sie sich ohne ihr Stofftier zu den Toiletten begleiten. Antonio strich sich über seinen Dreitagebart als er vor der Damentoilette wartete. Er war unsicher ob sein kleines Mädchen alleine zurecht kommen würde. Dass es ihr nicht an Selbstständigkeit, sondern viel mehr an sozialer Kompetenz mangelte, war noch immer ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke für ihn. Bisher hatte er die Erziehung seinen Sprösslinge Britta überlassen. Als Geschäftsmann war er selten zu hause und bekam von seiner Familie dementsprechend wenig mit. Als Jennifer ein Jahr nach Kassandra das Licht der Welt erblickte, hatte er sich vorgenommen mehr für seine Familie da zu sein. Doch stellte er immer wieder erneut fest wie viel er verpasste. Wie schnell die Mädchen aus ihren Strampelanzügen wuchsen, ihre ersten Schritte gingen. Im Nachhinein wäre er sogar gerne dabei gewesen als sie weinten weil ihnen die ersten Zähne wuchsen. Sein schlechtes Gewissen und die Sehnsucht zu seinen Lieben währte jedoch nie lange. Wieder daheim, verlor er schon nach kurzer Zeit das Interesse. Oft stellte er sich schlafend wenn er morgens neben seiner Frau erwachte. Dabei zögerte er das Aufstehen solange hinaus bis Britta die Mädchen in den Kindergarten brachte. Die Tage an denen seine Frau sich, nach dem Absetzen der Kinder, mit einer Freundin zum Kaffee traf waren ihm die liebsten. Brittas Freundin hatte ihr zwar zur Scheidung geraten, nachdem sein Vergehen, vor drei Jahren, ans Tageslicht kam, aber zumindest hatte er ein paar Stunden Ruhe. Die guten Vorsätze immer wieder aufs Neue vergessend, beschäftigte er sich nur auf Aufforderung mit seiner Familie. Wenn Jennifer ihn fragte ob er mit ihr ein Rennen auf der Carrera-Bahn abhalten würde, welche er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, tat er es meist um schnellstmöglich wieder seine Ruhe zu haben. Er ignorierte auch die Bedenken seiner Frau was das Verhalten der Erstgeborenen betraf. Seines Erachtens nach war sie einfach ein stilles Kind. Und weil ihm das gerade recht war, verschwendete er keinen weiteren Gedanken daran. Wenn Jennifer mit ihrem Spielzeug spielte, versank ihre Schwester in Tagträumen und blickte ins Leere. Freunde hatte sie keine. Erstmalige Sorgen traten ein weil Kassandra sehr spät zu sprechen anfing und keinerlei Interesse an ihrer Umwelt zeigte. Antonio war lediglich der Meinung, dass seine Gattin überinterpretierte. Bis ihn ein Ereignis an einem Spätnachmittag aus seiner Teilnahmslosigkeit zwang. Während Britta das Abendessen zubereitete und er vor dem Fernseher saß, hörte er plötzlich ein markerschütterndes Kreischen aus dem Kinderzimmer. Erschrocken sprang er aus seinem Sessel und lief zum Zimmer der Schwestern. Nachdem er die Tür aufgerissen hatte, wusste er gar nicht was dort vor sich ging. Er sah nur Jennifer, mit vor Angst aufgerissenen Augen, im Zimmer stehen. In der Hand Kassandras Stofftier. Sie blickte in die Richtung aus der das Schreien kam. Als Antonio seinen Blick ebenfalls auf die Quelle des Lärms lenkte, wich er instinktiv einen Schritt zurück. Seine ältere Tochter schlug um sich wie ein Berserker. Jennifers geliebte Carrera-Bahn zerfiel in ihre Einzelteile als Kassandra mit einer Kraft darauf einschlug, die für die Verständnisse ihres Vaters nicht von einer Fünfjährigen kommen konnte. Er war so überfordert dass er nicht wusste was er tun sollte. Zuerst zu Jennifer eilen, die vollkommen neben sich stand oder zu Kassandra, welche gerade im Begriff war sich selbst unter dem schweren Bücherregal zu begraben an dem sie, außer sich vor Wut, rüttelte. Erst als seine Ehefrau an ihm vorbeilief und die Tobende zurückzog, fand er wieder seine Fassung. Er wollte ihr gerade zur Hilfe eilen als sie ihm zurief: »Der Pinguin! Gib ihr den Pinguin!« Schnell riss er der geschockten Jennifer das Plüschtier aus der Hand, eilte zu seiner rasenden Tochter und hielt es ihr vor das Gesicht. Britta konnte das Kind kaum bändigen. Hilflos stotterte Antonio seine Frau an: »Was soll..?« Bevor er aussprechen konnte, schnellte Kassandras Hand hervor und schnappte sich das Stofftier. Ihr Schreien verstummte. Keuchend hielt sie es vor sich und starrte in die braunen Plastikaugen. Ihr Atem wurde ruhiger. Langsam aber stetig. Ihre Mutter lockerte den Griff. Das Mädchen hob zögernd ihren zweiten Arm und umfasste den Kopf des Pinguins sanft mit der Hand. Zart drückte sie ihn an ihren Brustkorb. Sie sah ihrem Vater in die fassungslosen Augen. Dann begann sie zu weinen. Schluchzend und wimmernd. Ein lang leidender Ton entsprang ihrem Hals. Antonio wurde wieder in das Hier und Jetzt gerissen als er sein kleines Mädchen so vor sich sah. »Oh Gott! Kind!« Er schloss sie in die Arme und drückte sie fest. Aber Kassandra sträubte sich, drängte ihn weg und blieb weinend, mit Kirby im Arm, vor ihm stehen. Hilfesuchend blickte der Familienvater seiner Frau ins Gesicht. Dabei merkte er nicht wie Jennifer das Zimmer verließ und sich zitternd auf die Couch im Wohnzimmer setzte. Bei der Erinnerung an diesen dunklen Nachmittag fuhr er sich durch das schwarze Haar, welches er seinen Kinder vermacht hatte. Er dachte an die Folgen. Die Erklärung die sie den Polizisten gaben, welche von den Nachbarn gerufen wurden. Kassandra hatte die Beamten nicht beachtet. Auf Fragen reagierte sie nicht. Nur dank Jennifer, welche den Sachverhalt so präzise erklärte wie es ihr möglich war, ließen sie sich überzeugen, dass die Eltern ihre Kinder nicht misshandelten. Das Interesse am Wohl der Familie wurde aber lediglich zügig abgearbeitet. Einer der Gesetzeshüter ermahnte das schluchzende Mädchen sogar deutlich zu sprechen und sich zusammenzureissen. Als kein Verdacht auf häusliche Gewalt festzustellen war, hakten die Beamten den Vorfall als das trotzige Verhalten eines Kleinkindes ab. Jennifer hatte in dieser Nacht zu viel Angst um sich das Zimmer mit Kassandra zu teilen. Sie schlief im Bett der Eltern neben ihrer Mutter ein, welche ihr den Kopf kraulte um sie zu beruhigen. Der Mann des Hauses saß indessen an der Bettkante seiner Ältesten. Noch während die Polizisten ihre Angehörigen befragt hatten, hatte diese sich die Zähne geputzt, verschwand daraufhin im Kinderzimmer, schaltete das Licht aus und legte sich mit dem Kuscheltier zur Ruhe. Antonio versicherte sich dass das Kind tief schlief bevor er ihr langes Haar streichelte. Dann begann auch er leise zu schluchzen. »Soll ich einmal nach ihr sehen?« Die Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Neben ihm stand die Frau vom Nachbartisch. Antonio, erschrocken, ließ etwas zu lange auf seine Antwort warten, was die junge Dame lächeln ließ. Als sie ihm vor wenigen Minuten den nötigen Anstoß gegeben hatte, war sie ihm nicht weiter aufgefallen. Doch nun, als sie sich gegenüberstanden, sah er etwas genauer hin. Sie wirkte nicht nur durch ihre blonde Kurzhaarfrisur jünger als Britta. Auch das freundliche Lächeln und die hohe Stimme ließen ihn für einen Moment sein Kind vergessen. »Entschuldigung?«, hakte sie nach. Antonio schüttelte kaum merkbar seinen Kopf, als er sich ertappt fühlte. »Oh, Danke. Das wäre sehr nett«, lächelte er verlegen. Als sie an ihm vorbeiging und die Tür zur Toilette öffnete, erwischte er sich dabei wie sein Blick auf ihrem Gesäß landete. Dabei bemerkte er nicht Jennifer, welche beim Verlassen des Restaurants die Szenerie beobachtete. Ihm entging dass sie das Gesicht verzog als die junge Frau sich noch einmal, lächelnd, zu ihm umdrehte. Gerade als die junge Dame den Blick abwandte, schob Kassandra sich an ihr vorbei. »Ach, da ist sie ja schon«, merkte die Hilfsbereite an. Antonio hielt Kassandra die Hand hin aber die wollte nur an ihm vorbei. »Papa, wo ist Kirby?« »Kleines, warte mal«, hielt er sie an. Der Schnürsenkel an ihrem rechtem Schuh war offen. Die Reaktion des Mädchens auf seinen Fingerzeig blieb aus. »Papa. Wo ist Kirby?« Während er sich zu ihr herunterbeugte, sprach er: »Das haben wir doch besprochen. Weißt du noch?« Kassandra blickte regungslos in sein Gesicht. »Kirby braucht manchmal etwas Zeit für sich.« Damit befolgte er den Tipp von einem der zahlreichen Experten, welche das Kind begutachtet hatten. Antonio befand diese Sitzungen für überflüssig und peinlich. Aber bevor er Ärger mit seiner Frau bekam, ließ er sich darauf ein. Zwar wusste das Ehepaar noch immer nicht was mit Kassandra nicht stimmte, aber insbesondere Britta war für alles offen was das Verhalten ihres Kindes regulieren könnte. Mit Sätzen wie diesem versuchten sie Kassandra den Plüschpinguin langsam abzugewöhnen, auch wenn Antonio es noch immer für zweifelhaft befand. »Jenny hat ihn schon in das Auto gebracht. Und jetzt mach bitte deine Schuhe zu.« Kassandra atmete enttäuscht aus und begab sich auf die Knie um der Bitte ihres Vaters Folge zu leisten. Als sie aus der Tür traten, wechselte der Geruch von erhitztem Fett zu dem von Treibstoff. Gegen den Wind ankämpfend, eilte Kassandra schnell zum Familienauto. Dort angekommen öffnete sie die Tür und sah Jennifer fragend an. Diese lächelte und zuckte mit den Schultern. Während Kassandra, bei immer noch geöffneter Tür, nervös ihren Rucksack durchwühlte, setzte Antonio sich an das Steuer. Kaum hatte er Platz genommen, sprach ihn Britta mit provozierendem Ton an. »Und? Hast du was Interessantes gesehen?« Ihr Mann erwiderte die Frage mit einem irritiertem Gesichtsausdruck. »Was?«, fragte er verwirrt. Ohne ihn anzusehen forderte sie ihn mit einem »Denk mal scharf nach« zu einer Stellungnahme auf. »Ich habe keine Ahnung was du willst«, antwortete er genervt. »Was ich will? Vielleicht zuallererst, dass mein Mann nicht jedem Rock hinterherjagt, der ihm über den Weg läuft!« Als es ihm dämmerte, sah er in den Rückspiegel um Jennifer in die Augen zu blicken. Die jedoch, schaute nur gelangweilt aus dem Fenster. Jedoch bildete Antonio sich ein, ein unterdrücktes Grinsen zu sehen. »Britta, das ist doch jetzt nicht dein Ernst« entgegnete er, doch sie schnitt ihm schon das Wort ab bevor er ausgesprochen hatte. »Mein Ernst?!« schrie sie mehr als zu fragen. Als sie ihren Blick zu ihm wenden wollte, sah sie ein Kind mit wehendem Zopf, das auf die Ausfahrt der Raststätte zurannte. Augenblicklich riss sie die Tür auf und sprintete los. Ihr Gatte, verwirrt von ihrer Aktion, blieb mit einem irritiertem Gesichtsausdruck zurück. Sobald er realisierte was vor sich ging, stürmte er ihr hinterher. Vor sich hörte er die aufgeregte Britta schreien: »Kessi!« Kassandra rannte ihrem Stofftier hinterher, das der Wind gerade über die Ausfahrt fegte. Mehrmals schlug es auf, rotierte um die eigene Achse und schrammte über den Boden. Durch das Aufprallen und Schlittern über den Asphalt, war es verschmutzt und seine Mütze hatte sich vollends gelöst. Seine Besitzerin lief so schnell sie konnte aber es war schon zu weit entfernt. »Kirby!«, schrie sie ihm hinterher. Kurz bevor sie auf die Ausfahrt rennen konnte, packte sie eine Hand fest an der Schulter und riss sie zurück. Sie wäre mit dem Hinterkopf auf den Boden geschlagen, hätte ihre Mutter sie nicht davor bewahrt. Wild strampelnd versuchte Kassandra sich zu befreien um weiter die Verfolgung aufzunehmen, aber Brittas Griff war zu stark. Sie konnte nur noch erkennen wie ihr Liebling über die Ausfahrt wehte und in einer flachen Grube verschwand. Indessen kam Antonio bei seiner Frau an, die Kassandra nun grob hinter sich herzog, ohne ein Wort zu sagen. Die Wut sparte sie sich für ihren Ehemann auf. »Bist du noch ganz dicht?! Schafft du es nicht einmal für fünf Minuten auf dein Kind aufzupassen?!«, schrie sie außer sich und ging mit stampfenden Schritten zurück zum Auto. Der Beschuldigte versuchte sich zu erklären. »Hättest du mir nicht wieder so eine Szene gemacht, wäre es gar nicht dazu gekommen!« Ruckartig blieb Britta stehen. »Szene?! Gibt du mir gerade die Schuld dass du alles nimmst was sich anbietet?!« Er widersprach vehement: »Mein Gott! Es war nur ein einziges mal! Wie oft willst du mir das noch vorwerfen?!« »Spinnst du?! Reicht es nicht dass du mich betrügst?! Musst du auch noch unsere Kinder in Gefahr bringen weil du jeder dahergelaufenen Tussi schöne Augen machst?!« Während ihre Eltern sich auf dem Parkplatz lauthals stritten, versuchte Kassandra noch immer sich loszureißen. Außer sich und überfordert mit der Situation, zerrte ihre wütende Mutter sie zu sich und steuerte wieder das Fahrzeug an. Antonio sah ihnen hinterher. Er beobachtete wie Britta das strampelnde Kind unsanft in den Sitz drückte, sie anschnallte und sich danach auf den Beifahrersitz setzte. Jennifer schaute betreten zu Boden und legte still den Gurt an. Besorgt sah sie zu ihrer Schwester, welche noch immer nicht still saß und nach ihrem Kuscheltier schrie. In Jennifer kam das schlechte Gewissen hoch. Nach dem Verlassen des Restaurants, hatte sie Kirby in ihrer Wut absichtlich fallen lassen. Mit zusammengepressten Lippen senkte sie den Kopf. Antonio setzte sich hinter das Steuer und schloss die Tür. Bis auf das Schreien von Kassandra war es still. »Schatz, es tut mir leid. Ich wollte das wirklich nicht«, versuchte der Familienvater seine Frau zu beschwichtigen. »Kirby!«, schrie Kassandra durch den Wagen. Ihre Schwester presste sich in den Sitz und schloss die Augen. Britta sprach ruhig aber vorwurfsvoll: »Das habe ich schon einmal gehört.« »Kirby!« »Das war etwas anderes. Ich war einsam und egoistisch. Ich weiß, das ist keine Rechtfertigung aber hier geht es doch um die Kinder. Das lässt sich doch nicht vergleichen.« »Kirby!« »Dann versuche auch nicht es zu rechtfertigen! Dass du mich damals schon hintergangen hast, ist beinahe unverzeihlich! Aber dass du als Vater noch weiter versagst, das ist einfach..« »Kirby!« »Jetzt halt endlich den Rand, da hinten!« Ruckartig drehte Antonio seinen Oberkörper herum. Er holte aus. Ein lauter Knall ging durch das Fahrzeug. Die Knöchel seiner Hinterhand trafen auf ihren rechten Wangenknochen und den Kiefer. Ihr Kopf prallte durch die Wucht an das Fenster. Stille. Britta massierte ihr Schläfe. »Fahr los.« Antonio blickte resignierend durch die Windschutzscheibe. Es vergingen weitere lautlose Sekunden bis er auf ihre Aufforderung reagierte. Der Motor wurde gestartet und das Auto setzte sich in Bewegung. Jennifers Hals zog sich zusammen, ebenso wie ihr Magen. Sie sah nach links, wo Kassandra gerade ihren Kopf hob. Die Augen glasig, die Wange rot. Die Jüngere bewegte zögerlich ihren Arm. Tränen stiegen ihr in die Augen als sie ihre Hand leicht auf die ihrer Schwester legte. »Tut mir leid«, flüsterte sie. Kassandra drehte sich zu ihr, mit regungslosem Gesichtsausdruck. Statt ihre Hand wegzuziehen, drehte sie Handinnenfläche nach oben und erwiderte zum ersten mal Jennifers Geste. Als Kassandra aus ihrer Erinnerung zurückkehrte war der Platz der dreiköpfigen Familie so kalt wie die Burger vor ihr. Langsam stand sie auf, nahm das Essen abermals in die Hand und ging gedankenverloren zum Ausgang. »Bis zum nächsten mal«, verabschiedete sie der junge Mann an der Kasse. Als Antwort bekam er ein melancholisches Lächeln. Zurück im Auto sah sie in den Spiegel, den sie aus ihrer Handtasche holte. Unter dem Make Up und der Schminke gruben sich die tiefe Augenringe in die Haut. Während sie sich eine Zigarette anzündete, fuhr sie vom Parkplatz auf die Ausfahrt. Dabei blickte sie in den Graben. »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie. »Hey!Aufwachen!« Adrian öffnete verschlafen die Augen. Der Busfahrer rüttelte zaghaft an seiner Schulter. Als er bemerkte dass der geschafft aussehende junge Mann wach ist, sprach er erneut. »Tut mir leid aber ich habe jetzt Pause. Steigst du bitte aus? Wir fahren in einer halben Stunde weiter.« Der Erwachte strich sich die Haare aus dem Gesicht und antwortete: »Ja. Sorry.« Als er aufstand und den Bus verließ, sah er den dunklen Himmel. Wie lang er geschlafen hatte war ihm unbekannt. Die Dunkelheit könnte sowohl noch immer den Morgen als auch schon den Abend repräsentieren. »Könnten Sie mir bitte meine Tasche geben? Ich würde hier aussteigen.« Der Fahrer sah ihn verwirrt an. »Hier? Du wolltest doch bis zur Endstation..« »Kleine Planänderung, sorry«, antwortete Adrian mit einem Lächeln. Mit skeptischen Blick stieg der etwas korpulente Mann ebenfalls aus. »Naja, musst du ja wissen.« Nachdem er sich seine Reisetasche über die Schulter schwang und dem Busfahrer eine gute Fahrt wünschte, überquerte er den Busbahnhof. Hochhäuser, ein Fernsehturm,beleuchtete Werbetafeln. Es war windstill. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)