Säureherz von ambertree ================================================================================ Kapitel 3: Kirby ---------------- »..fahren Sie weiterhin vorsichtig. Weiter geht’s mit dem besten Musikmix«, tönte das Autoradio. Bevor der Jingle des Senders erklingen konnte, schaltete sich automatisch die CD ein, welche zuvor von den Nachrichten unterbrochen wurde. Der monotone Beat eines Achtziger-Jahre-Wave-Songs dröhnte durch Kassandras Gefährt. Es begann bereits zu dämmern. Vor ihrer Windschutzscheibe wich das natürliche Licht des Tages dem künstlichen der anderen Fahrzeuge. Die roten Strahlen der Fahrer vor ihr leuchteten ihr entgegen, während die entgegenkommenden Scheinwerfer, auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, weiße Lichtkegel vor sich hertrieben. Seit Stunden war sie schon auf der Autobahn unterwegs. Die trockene Luft und die ständige Konzentration auf den Verkehr forderten ihr allmählich eine Pause ab. Während sich eine Gitarrenmelodie mit Delayeffekt aus den Boxen spielte, versuchte Kassandra das Hinweisschild zu lesen, welches sie in wenigen Metern passieren würde. Mit zusammengekniffenen Augen streckte sie ihren Kopf in Richtung des Beifahrerfensters. Trotz dessen dass die Schrift des Wegweisers groß und deutlich war und sie ihre Brille trug, konnte sie nicht lesen was sie ihr vermitteln sollten. Seit der Zeit in der Fahrschule hatte sich ihre Sehrkraft immer weiter verschlechtert. Der mangelnde Schlaf schwächte den ersten ihrer fünf Sinne zusätzlich. Ihr Navigationsgerät, welches vergessen auf der Kommode in der Wohnung lag, hätte sie gut gebrauchen können. Als sie das Tempo drosselte, hielt sie weniger nach Verkehrsschildern als nach anderen möglichen Informationsquellen für ihren ungefähren Aufenthaltsort Ausschau. Ein buntes Leuchten am dunklen Himmel, löste einen Impuls in ihr aus. Je näher sie dem Leuchten entgegen kam, desto mehr konnte sie es mit einer Erinnerung assoziieren. Sie orientierte sich weiterhin an ihrem Fixpunkt, wechselte die Spur und nahm die nächste Ausfahrt. An der Raststätte angekommen, blieb sie im Auto sitzen. Der Cursor auf dem Display ihres Smartphones blinkte, bereit Eingaben zu verarbeiten. Doch die Finger der Besitzerin rührten sich nicht. Stattdessen las sie nochmals die eingegangene Nachricht, welche sie beantworten wollte. »Tut mir leid wegen dem was ich da gesagt habe. Es fällt mir immer noch schwer damit umzugehen aber vielleicht kannst du uns auch etwas entgegenkommen. Lass dir das Essen schmecken.« Kassandra dachte an die begonnenen aber wieder verworfenen Antworten, welche sie ihrer Schwester zukommen lassen wollte. Einem »Nein, mir tut es leid. Ich..«, folgte ein »Entgegenkommen? Ausgerechnet ihr bittet mich darum, dass..« Nun schaute sie weiter auf Jennifers Nachricht und dachte daran ein simples »Danke.« zu schreiben. Dieser Absicht wurde nicht nachgegangen als sie das Gerät seufzend auf den Beifahrersitz legte. Ihr Körper agierte beinahe automatisch und öffnete die Fahrertür. Dem Abschließen des Autos folgte der Gang in Richtung der helfenden Lichtquelle. Diese war das große Werbeschild eines Schnellrestaurants, dass weit oben an einem Mast hing. Es war nicht der einmal der Hunger der sie in das Schnellrestaurant trieb. Zwar bereute sie es, das Essen der Familienfeier in der Wohnung gelassen zu haben aber der primäre Grund für den Besuch war ein anderer. »Was darf's sein?«, fragte die Bedienung, als Kassandra an der Reihe war. »Zwei Cheeseburger, bitte.« antwortete sie mit emotionsloser Stimme. Der gestresste aber um Freundlichkeit bemühte Angestellte reichte ihr das Fastfood nachdem er die Bezahlung einkassiert hatte. Mit der verpackten Nahrung in den Händen passierte sie eine dreiköpfige Familie als sie einen freien Einzelplatz ansteuerte. Dabei hörte sie das Glucksen des Jungen, der sich mit einer Actionfigur beschäftigte. Bevor sie den ersten Cheeseburger auspacken wollte, nachdem sie sich gesetzt hatte, lehnte sie ihre Ellenbogen auf den Tisch und sah zu der kleinen Familie. Der Vater, ein Mann Anfang dreißig, sprach zu seinem Sohn. »Iss doch erst mal, bevor alles kalt wird.« Mit einem Kichern quittierte der pausbäckige Junge die Aufforderung seines Vaters und hielt diesem sein Spielzeug entgegen. »Wenn du so stark werden willst, musst aber noch 'n bisschen essen, du Held.«, animierte er das Kind lächelnd. Die Mutter schalte sich nun ebenfalls in das Gespräch ein. »Aber nicht sowas Ungesundes. Sonst wird das nichts mit den Muskeln. Dann torkelst du höchstens wie ein dicker Pinguin.«, scherzte sie. »Pinguine sind doof!«, kicherte der Junge und fügte »Niemand mag blöde Pinguine!«, hinzu. Sein Vater wandte sich grinsend an seine Frau: »Niemand..… ….mag Pinguine!«, flüsterte Jennifer aggressiv. Mit zusammengezogenen Augenbrauen und angespanntem Kiefer sah sie ihre Schwester an. Kassandra umklammerte ihr Stofftier. Der Plüschpinguin mit dem roten Schnabel wurde vor Jennifers Blicken geschützt. Die gestreifte Skimütze auf seinem Kopf war, wie der Schal um seinen Hals, mit Nähten befestigt. Jedoch waren einige davon über die Jahre gerissen, weswegen die Kopfbedeckung nicht mehr richtig befestigt war. »Jetzt ist aber gut, Jenny!«, ermahnte Antonio seine Tochter. Es war heute nicht das erste mal, dass sie ihre Abneigung gegen das Kuscheltier aussprach. Die Jüngere der Mädchen starrte ihn mit großen Augen an. »Warum nehmt ihr sie immer in Schutz?«, beschwerte sie sich fragend. Mit einem frustrierten Seufzen, einen Hamburger in der Hand haltend, sah Britta ihren Mann genervt an. Dieser wandte sich nun an beide Kinder. »Hier wird niemand bevorzugt. Vertragt euch und esst.« »Aber«, setzte Jennifer an. Ihr Widerspruch wurde sogleich von ihrer Mutter unterbrochen. »Jenny! Sei jetzt still und iss!« Einige der Tischnachbarn blickten zu der Familie herüber. Antonio nickte heftig. Allerdings war es kein Akt der Zustimmung. Denn zeitgleich wandte er seiner Frau sein Gesicht zu und schaute sie mit aufgerissenen Augen an. »Ja, genau das ist es. So stellt man sich den Urlaub vor«, ließ er sarkastisch verlauten. Britta ließ ihre Hände sinken und warf ihrem Gatten einen wütenden Blick zu. »Kinder, packt zusammen. Wir gehen.«, zischte sie mehr gebietend als bittend. »Bitte«, sprach Antonio langgezogen und rollte mit den Augen. Seine jüngere Tochter ließ frustriert ihre Schultern sinken. Bis auf Kassandra erhob sich die Familie von ihren Plätzen. »Man, jetzt komm endlich«, wurde sie von einer entnervten Jennifer aufgefordert. Mit unsicher wirkender Mimik stand Kassandra auf, legte ihren Pinguin auf den Tisch und griff zögerlich nach ihrem Cheeseburger. Ihre Mutter war schon auf direktem Wege zum Ausgang des Raststättenrestaurants. Vor den Türen wehte der starke Wind weggeworfene Pappbecher und Plastikverpackungen über den Asphalt. »Was ist denn?«, fragte ihr Vater, nunmehr besorgt als genervt, als er das Zögern seiner Ältesten bemerkte. »Ich muss mal«, antwortete sie schüchtern. Antonio stemmte die Hände in die Hüfte aber sein Gesichtsausdruck vermittelte Ratlosigkeit. Eine junge Frau, die mit ihrem Sohn am Nachbartisch saß, lächelte ihm aufmunternd zu und nickte als wollte sie ihm einen Anstoß geben. »Nun also«, er pausierte, »komm Kleines, das schaffen wir schon.« Jennifer stand die Fremdscham im Gesicht geschrieben. Für sie war es unbegreiflich dass man mit 7 Jahren nicht ohne Begleitung auf eine öffentliche Toilette gehen wollte. Zu allem Überfluss bat ihr Vater sie noch um einen Gefallen. »Jenny, könntest du bitte schon mal alles zu Mama bringen? Wir kommen gleich nach.« Sie öffnete bereits den Mund um zu widersprechen aber ließ nur ein Schnauben erklingen. »Danke«, sprach der Familienvater mit warmer Stimme, als sie unter den Blicken der anderen Gäste das halb verzehrte Essen und den Pinguin einsammelte. Kassandra drehte sich mehrmals um und wollte zurückgehen. »Kirby?« Doch ihr Vater redete auf sie ein: »Wir haben das doch besprochen.« Widerwillig ließ sie sich ohne ihr Stofftier zu den Toiletten begleiten. Antonio strich sich über seinen Dreitagebart als er vor der Damentoilette wartete. Er war unsicher ob sein kleines Mädchen alleine zurecht kommen würde. Dass es ihr nicht an Selbstständigkeit, sondern viel mehr an sozialer Kompetenz mangelte, war noch immer ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke für ihn. Bisher hatte er die Erziehung seinen Sprösslinge Britta überlassen. Als Geschäftsmann war er selten zu hause und bekam von seiner Familie dementsprechend wenig mit. Als Jennifer ein Jahr nach Kassandra das Licht der Welt erblickte, hatte er sich vorgenommen mehr für seine Familie da zu sein. Doch stellte er immer wieder erneut fest wie viel er verpasste. Wie schnell die Mädchen aus ihren Strampelanzügen wuchsen, ihre ersten Schritte gingen. Im Nachhinein wäre er sogar gerne dabei gewesen als sie weinten weil ihnen die ersten Zähne wuchsen. Sein schlechtes Gewissen und die Sehnsucht zu seinen Lieben währte jedoch nie lange. Wieder daheim, verlor er schon nach kurzer Zeit das Interesse. Oft stellte er sich schlafend wenn er morgens neben seiner Frau erwachte. Dabei zögerte er das Aufstehen solange hinaus bis Britta die Mädchen in den Kindergarten brachte. Die Tage an denen seine Frau sich, nach dem Absetzen der Kinder, mit einer Freundin zum Kaffee traf waren ihm die liebsten. Brittas Freundin hatte ihr zwar zur Scheidung geraten, nachdem sein Vergehen, vor drei Jahren, ans Tageslicht kam, aber zumindest hatte er ein paar Stunden Ruhe. Die guten Vorsätze immer wieder aufs Neue vergessend, beschäftigte er sich nur auf Aufforderung mit seiner Familie. Wenn Jennifer ihn fragte ob er mit ihr ein Rennen auf der Carrera-Bahn abhalten würde, welche er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, tat er es meist um schnellstmöglich wieder seine Ruhe zu haben. Er ignorierte auch die Bedenken seiner Frau was das Verhalten der Erstgeborenen betraf. Seines Erachtens nach war sie einfach ein stilles Kind. Und weil ihm das gerade recht war, verschwendete er keinen weiteren Gedanken daran. Wenn Jennifer mit ihrem Spielzeug spielte, versank ihre Schwester in Tagträumen und blickte ins Leere. Freunde hatte sie keine. Erstmalige Sorgen traten ein weil Kassandra sehr spät zu sprechen anfing und keinerlei Interesse an ihrer Umwelt zeigte. Antonio war lediglich der Meinung, dass seine Gattin überinterpretierte. Bis ihn ein Ereignis an einem Spätnachmittag aus seiner Teilnahmslosigkeit zwang. Während Britta das Abendessen zubereitete und er vor dem Fernseher saß, hörte er plötzlich ein markerschütterndes Kreischen aus dem Kinderzimmer. Erschrocken sprang er aus seinem Sessel und lief zum Zimmer der Schwestern. Nachdem er die Tür aufgerissen hatte, wusste er gar nicht was dort vor sich ging. Er sah nur Jennifer, mit vor Angst aufgerissenen Augen, im Zimmer stehen. In der Hand Kassandras Stofftier. Sie blickte in die Richtung aus der das Schreien kam. Als Antonio seinen Blick ebenfalls auf die Quelle des Lärms lenkte, wich er instinktiv einen Schritt zurück. Seine ältere Tochter schlug um sich wie ein Berserker. Jennifers geliebte Carrera-Bahn zerfiel in ihre Einzelteile als Kassandra mit einer Kraft darauf einschlug, die für die Verständnisse ihres Vaters nicht von einer Fünfjährigen kommen konnte. Er war so überfordert dass er nicht wusste was er tun sollte. Zuerst zu Jennifer eilen, die vollkommen neben sich stand oder zu Kassandra, welche gerade im Begriff war sich selbst unter dem schweren Bücherregal zu begraben an dem sie, außer sich vor Wut, rüttelte. Erst als seine Ehefrau an ihm vorbeilief und die Tobende zurückzog, fand er wieder seine Fassung. Er wollte ihr gerade zur Hilfe eilen als sie ihm zurief: »Der Pinguin! Gib ihr den Pinguin!« Schnell riss er der geschockten Jennifer das Plüschtier aus der Hand, eilte zu seiner rasenden Tochter und hielt es ihr vor das Gesicht. Britta konnte das Kind kaum bändigen. Hilflos stotterte Antonio seine Frau an: »Was soll..?« Bevor er aussprechen konnte, schnellte Kassandras Hand hervor und schnappte sich das Stofftier. Ihr Schreien verstummte. Keuchend hielt sie es vor sich und starrte in die braunen Plastikaugen. Ihr Atem wurde ruhiger. Langsam aber stetig. Ihre Mutter lockerte den Griff. Das Mädchen hob zögernd ihren zweiten Arm und umfasste den Kopf des Pinguins sanft mit der Hand. Zart drückte sie ihn an ihren Brustkorb. Sie sah ihrem Vater in die fassungslosen Augen. Dann begann sie zu weinen. Schluchzend und wimmernd. Ein lang leidender Ton entsprang ihrem Hals. Antonio wurde wieder in das Hier und Jetzt gerissen als er sein kleines Mädchen so vor sich sah. »Oh Gott! Kind!« Er schloss sie in die Arme und drückte sie fest. Aber Kassandra sträubte sich, drängte ihn weg und blieb weinend, mit Kirby im Arm, vor ihm stehen. Hilfesuchend blickte der Familienvater seiner Frau ins Gesicht. Dabei merkte er nicht wie Jennifer das Zimmer verließ und sich zitternd auf die Couch im Wohnzimmer setzte. Bei der Erinnerung an diesen dunklen Nachmittag fuhr er sich durch das schwarze Haar, welches er seinen Kinder vermacht hatte. Er dachte an die Folgen. Die Erklärung die sie den Polizisten gaben, welche von den Nachbarn gerufen wurden. Kassandra hatte die Beamten nicht beachtet. Auf Fragen reagierte sie nicht. Nur dank Jennifer, welche den Sachverhalt so präzise erklärte wie es ihr möglich war, ließen sie sich überzeugen, dass die Eltern ihre Kinder nicht misshandelten. Das Interesse am Wohl der Familie wurde aber lediglich zügig abgearbeitet. Einer der Gesetzeshüter ermahnte das schluchzende Mädchen sogar deutlich zu sprechen und sich zusammenzureissen. Als kein Verdacht auf häusliche Gewalt festzustellen war, hakten die Beamten den Vorfall als das trotzige Verhalten eines Kleinkindes ab. Jennifer hatte in dieser Nacht zu viel Angst um sich das Zimmer mit Kassandra zu teilen. Sie schlief im Bett der Eltern neben ihrer Mutter ein, welche ihr den Kopf kraulte um sie zu beruhigen. Der Mann des Hauses saß indessen an der Bettkante seiner Ältesten. Noch während die Polizisten ihre Angehörigen befragt hatten, hatte diese sich die Zähne geputzt, verschwand daraufhin im Kinderzimmer, schaltete das Licht aus und legte sich mit dem Kuscheltier zur Ruhe. Antonio versicherte sich dass das Kind tief schlief bevor er ihr langes Haar streichelte. Dann begann auch er leise zu schluchzen. »Soll ich einmal nach ihr sehen?« Die Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Neben ihm stand die Frau vom Nachbartisch. Antonio, erschrocken, ließ etwas zu lange auf seine Antwort warten, was die junge Dame lächeln ließ. Als sie ihm vor wenigen Minuten den nötigen Anstoß gegeben hatte, war sie ihm nicht weiter aufgefallen. Doch nun, als sie sich gegenüberstanden, sah er etwas genauer hin. Sie wirkte nicht nur durch ihre blonde Kurzhaarfrisur jünger als Britta. Auch das freundliche Lächeln und die hohe Stimme ließen ihn für einen Moment sein Kind vergessen. »Entschuldigung?«, hakte sie nach. Antonio schüttelte kaum merkbar seinen Kopf, als er sich ertappt fühlte. »Oh, Danke. Das wäre sehr nett«, lächelte er verlegen. Als sie an ihm vorbeiging und die Tür zur Toilette öffnete, erwischte er sich dabei wie sein Blick auf ihrem Gesäß landete. Dabei bemerkte er nicht Jennifer, welche beim Verlassen des Restaurants die Szenerie beobachtete. Ihm entging dass sie das Gesicht verzog als die junge Frau sich noch einmal, lächelnd, zu ihm umdrehte. Gerade als die junge Dame den Blick abwandte, schob Kassandra sich an ihr vorbei. »Ach, da ist sie ja schon«, merkte die Hilfsbereite an. Antonio hielt Kassandra die Hand hin aber die wollte nur an ihm vorbei. »Papa, wo ist Kirby?« »Kleines, warte mal«, hielt er sie an. Der Schnürsenkel an ihrem rechtem Schuh war offen. Die Reaktion des Mädchens auf seinen Fingerzeig blieb aus. »Papa. Wo ist Kirby?« Während er sich zu ihr herunterbeugte, sprach er: »Das haben wir doch besprochen. Weißt du noch?« Kassandra blickte regungslos in sein Gesicht. »Kirby braucht manchmal etwas Zeit für sich.« Damit befolgte er den Tipp von einem der zahlreichen Experten, welche das Kind begutachtet hatten. Antonio befand diese Sitzungen für überflüssig und peinlich. Aber bevor er Ärger mit seiner Frau bekam, ließ er sich darauf ein. Zwar wusste das Ehepaar noch immer nicht was mit Kassandra nicht stimmte, aber insbesondere Britta war für alles offen was das Verhalten ihres Kindes regulieren könnte. Mit Sätzen wie diesem versuchten sie Kassandra den Plüschpinguin langsam abzugewöhnen, auch wenn Antonio es noch immer für zweifelhaft befand. »Jenny hat ihn schon in das Auto gebracht. Und jetzt mach bitte deine Schuhe zu.« Kassandra atmete enttäuscht aus und begab sich auf die Knie um der Bitte ihres Vaters Folge zu leisten. Als sie aus der Tür traten, wechselte der Geruch von erhitztem Fett zu dem von Treibstoff. Gegen den Wind ankämpfend, eilte Kassandra schnell zum Familienauto. Dort angekommen öffnete sie die Tür und sah Jennifer fragend an. Diese lächelte und zuckte mit den Schultern. Während Kassandra, bei immer noch geöffneter Tür, nervös ihren Rucksack durchwühlte, setzte Antonio sich an das Steuer. Kaum hatte er Platz genommen, sprach ihn Britta mit provozierendem Ton an. »Und? Hast du was Interessantes gesehen?« Ihr Mann erwiderte die Frage mit einem irritiertem Gesichtsausdruck. »Was?«, fragte er verwirrt. Ohne ihn anzusehen forderte sie ihn mit einem »Denk mal scharf nach« zu einer Stellungnahme auf. »Ich habe keine Ahnung was du willst«, antwortete er genervt. »Was ich will? Vielleicht zuallererst, dass mein Mann nicht jedem Rock hinterherjagt, der ihm über den Weg läuft!« Als es ihm dämmerte, sah er in den Rückspiegel um Jennifer in die Augen zu blicken. Die jedoch, schaute nur gelangweilt aus dem Fenster. Jedoch bildete Antonio sich ein, ein unterdrücktes Grinsen zu sehen. »Britta, das ist doch jetzt nicht dein Ernst« entgegnete er, doch sie schnitt ihm schon das Wort ab bevor er ausgesprochen hatte. »Mein Ernst?!« schrie sie mehr als zu fragen. Als sie ihren Blick zu ihm wenden wollte, sah sie ein Kind mit wehendem Zopf, das auf die Ausfahrt der Raststätte zurannte. Augenblicklich riss sie die Tür auf und sprintete los. Ihr Gatte, verwirrt von ihrer Aktion, blieb mit einem irritiertem Gesichtsausdruck zurück. Sobald er realisierte was vor sich ging, stürmte er ihr hinterher. Vor sich hörte er die aufgeregte Britta schreien: »Kessi!« Kassandra rannte ihrem Stofftier hinterher, das der Wind gerade über die Ausfahrt fegte. Mehrmals schlug es auf, rotierte um die eigene Achse und schrammte über den Boden. Durch das Aufprallen und Schlittern über den Asphalt, war es verschmutzt und seine Mütze hatte sich vollends gelöst. Seine Besitzerin lief so schnell sie konnte aber es war schon zu weit entfernt. »Kirby!«, schrie sie ihm hinterher. Kurz bevor sie auf die Ausfahrt rennen konnte, packte sie eine Hand fest an der Schulter und riss sie zurück. Sie wäre mit dem Hinterkopf auf den Boden geschlagen, hätte ihre Mutter sie nicht davor bewahrt. Wild strampelnd versuchte Kassandra sich zu befreien um weiter die Verfolgung aufzunehmen, aber Brittas Griff war zu stark. Sie konnte nur noch erkennen wie ihr Liebling über die Ausfahrt wehte und in einer flachen Grube verschwand. Indessen kam Antonio bei seiner Frau an, die Kassandra nun grob hinter sich herzog, ohne ein Wort zu sagen. Die Wut sparte sie sich für ihren Ehemann auf. »Bist du noch ganz dicht?! Schafft du es nicht einmal für fünf Minuten auf dein Kind aufzupassen?!«, schrie sie außer sich und ging mit stampfenden Schritten zurück zum Auto. Der Beschuldigte versuchte sich zu erklären. »Hättest du mir nicht wieder so eine Szene gemacht, wäre es gar nicht dazu gekommen!« Ruckartig blieb Britta stehen. »Szene?! Gibt du mir gerade die Schuld dass du alles nimmst was sich anbietet?!« Er widersprach vehement: »Mein Gott! Es war nur ein einziges mal! Wie oft willst du mir das noch vorwerfen?!« »Spinnst du?! Reicht es nicht dass du mich betrügst?! Musst du auch noch unsere Kinder in Gefahr bringen weil du jeder dahergelaufenen Tussi schöne Augen machst?!« Während ihre Eltern sich auf dem Parkplatz lauthals stritten, versuchte Kassandra noch immer sich loszureißen. Außer sich und überfordert mit der Situation, zerrte ihre wütende Mutter sie zu sich und steuerte wieder das Fahrzeug an. Antonio sah ihnen hinterher. Er beobachtete wie Britta das strampelnde Kind unsanft in den Sitz drückte, sie anschnallte und sich danach auf den Beifahrersitz setzte. Jennifer schaute betreten zu Boden und legte still den Gurt an. Besorgt sah sie zu ihrer Schwester, welche noch immer nicht still saß und nach ihrem Kuscheltier schrie. In Jennifer kam das schlechte Gewissen hoch. Nach dem Verlassen des Restaurants, hatte sie Kirby in ihrer Wut absichtlich fallen lassen. Mit zusammengepressten Lippen senkte sie den Kopf. Antonio setzte sich hinter das Steuer und schloss die Tür. Bis auf das Schreien von Kassandra war es still. »Schatz, es tut mir leid. Ich wollte das wirklich nicht«, versuchte der Familienvater seine Frau zu beschwichtigen. »Kirby!«, schrie Kassandra durch den Wagen. Ihre Schwester presste sich in den Sitz und schloss die Augen. Britta sprach ruhig aber vorwurfsvoll: »Das habe ich schon einmal gehört.« »Kirby!« »Das war etwas anderes. Ich war einsam und egoistisch. Ich weiß, das ist keine Rechtfertigung aber hier geht es doch um die Kinder. Das lässt sich doch nicht vergleichen.« »Kirby!« »Dann versuche auch nicht es zu rechtfertigen! Dass du mich damals schon hintergangen hast, ist beinahe unverzeihlich! Aber dass du als Vater noch weiter versagst, das ist einfach..« »Kirby!« »Jetzt halt endlich den Rand, da hinten!« Ruckartig drehte Antonio seinen Oberkörper herum. Er holte aus. Ein lauter Knall ging durch das Fahrzeug. Die Knöchel seiner Hinterhand trafen auf ihren rechten Wangenknochen und den Kiefer. Ihr Kopf prallte durch die Wucht an das Fenster. Stille. Britta massierte ihr Schläfe. »Fahr los.« Antonio blickte resignierend durch die Windschutzscheibe. Es vergingen weitere lautlose Sekunden bis er auf ihre Aufforderung reagierte. Der Motor wurde gestartet und das Auto setzte sich in Bewegung. Jennifers Hals zog sich zusammen, ebenso wie ihr Magen. Sie sah nach links, wo Kassandra gerade ihren Kopf hob. Die Augen glasig, die Wange rot. Die Jüngere bewegte zögerlich ihren Arm. Tränen stiegen ihr in die Augen als sie ihre Hand leicht auf die ihrer Schwester legte. »Tut mir leid«, flüsterte sie. Kassandra drehte sich zu ihr, mit regungslosem Gesichtsausdruck. Statt ihre Hand wegzuziehen, drehte sie Handinnenfläche nach oben und erwiderte zum ersten mal Jennifers Geste. Als Kassandra aus ihrer Erinnerung zurückkehrte war der Platz der dreiköpfigen Familie so kalt wie die Burger vor ihr. Langsam stand sie auf, nahm das Essen abermals in die Hand und ging gedankenverloren zum Ausgang. »Bis zum nächsten mal«, verabschiedete sie der junge Mann an der Kasse. Als Antwort bekam er ein melancholisches Lächeln. Zurück im Auto sah sie in den Spiegel, den sie aus ihrer Handtasche holte. Unter dem Make Up und der Schminke gruben sich die tiefe Augenringe in die Haut. Während sie sich eine Zigarette anzündete, fuhr sie vom Parkplatz auf die Ausfahrt. Dabei blickte sie in den Graben. »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie. »Hey!Aufwachen!« Adrian öffnete verschlafen die Augen. Der Busfahrer rüttelte zaghaft an seiner Schulter. Als er bemerkte dass der geschafft aussehende junge Mann wach ist, sprach er erneut. »Tut mir leid aber ich habe jetzt Pause. Steigst du bitte aus? Wir fahren in einer halben Stunde weiter.« Der Erwachte strich sich die Haare aus dem Gesicht und antwortete: »Ja. Sorry.« Als er aufstand und den Bus verließ, sah er den dunklen Himmel. Wie lang er geschlafen hatte war ihm unbekannt. Die Dunkelheit könnte sowohl noch immer den Morgen als auch schon den Abend repräsentieren. »Könnten Sie mir bitte meine Tasche geben? Ich würde hier aussteigen.« Der Fahrer sah ihn verwirrt an. »Hier? Du wolltest doch bis zur Endstation..« »Kleine Planänderung, sorry«, antwortete Adrian mit einem Lächeln. Mit skeptischen Blick stieg der etwas korpulente Mann ebenfalls aus. »Naja, musst du ja wissen.« Nachdem er sich seine Reisetasche über die Schulter schwang und dem Busfahrer eine gute Fahrt wünschte, überquerte er den Busbahnhof. Hochhäuser, ein Fernsehturm,beleuchtete Werbetafeln. Es war windstill. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)