Between the Lines von Karo_del_Green (The wonderful world of words) ================================================================================ Kapitel 13: Das geheime Leben der Worte --------------------------------------- Kapitel 13 Das geheime Leben der Worte Schnellen Schrittes und ohne zu antworten, gehe ich auf den Biotechnologen zu. Ich schwanke einen Sekundenbruchteil zwischen mehreren Reaktionsmöglichkeiten. Ignorieren. Explodieren. Erklären. Ich entscheide mich für dämlich. Mein vorhersehbarer Versuch, Kain das Buch aus der Hand nehmen, wird sofort vereitelt. Er schiebt es hinter seinen Rücken und macht dazu noch ein tadelndes Geräusch. Die Klischeehaftigkeit ist so deutlich und klar, dass ich mir wünsche, ich könne sie nehmen und dem Schwarzhaarigen um die Ohren hauen. „Erspar mir diese lästige Nervengymnastik“, gebe ich deutlich überstrapaziert von mir. Doch Kain scheint es zu reizen. Er richtet sich auf und beugt sich zu mir. Die feine Note seiner Ingwerbonbons schlägt mir entgegen. Im nächsten Moment sehe ich, wie eine der Süßigkeiten in seinem Mund von links nach rechts wandert. Mein Puls steigt. Unaufhörlich. Ich taste unwillkürlich über meine Hosentasche, suche nach den Zigaretten. Die Packung drückt sich merklich zusammen, ohne, dass ich einen Inhalt erfühlen kann. „Das machst du also, wenn du tagelang in deinem stillen Kämmerlein hockst“, raunt er mir amüsiert zu. Ich will ihn aus dem Zimmer bugsieren. Irgendwie. Gern auch in mehreren Teilen. „Ich redigiere nur.“ Sekundenschlaf der Denkleistung. Phänomenal. So viele Möglichkeiten und ich entscheide mich für die hohle Variante. Da hätte ich auch gleich sagen können, dass ich eine Wassermelone trage. Kain ist deutlich ins Gesicht geschrieben, dass er mir eher geglaubt, dass ich im Halbschlaf Schweine dressiere. Er weiß, dass ich schreibe und auch wie. Immerhin konnte er halbe Passagen des einen Textes rezitieren. Ich kriege Gänsehaut bei dem Gedanken. Die Tatsache, dass ich jetzt ein Stück aufsehen muss, macht alles nur noch schlimmer. Er zieht den Roman wieder in unser Blickfeld und schaut auf den Buchrücken. Direkt auf den Autorennamen. „Quincey Bird? Robin Quinn? Spatz, willst du deine Aussage nochmal revidieren?“ Das Grinsen in seinem Gesicht wird immer breiter. Ich verfluche Brigitta, die mir dieses Pseudonym aufgedrückt hat und mich selbst, weil ich tatsächlich geglaubt habe, dass ich das verheimlichen kann. „Was willst du schon wieder hier?“, gebe ich von mir und kann ich mir ein genervtes und etwas frustriertes Knurren nicht verkneifen. Hat er mich gerade Spatz genannt? „So viele versteckte Talent. Ich bin begeist…“ „… und ich gelangweilt. Du hast hier drin nichts verloren“, unterbreche ich sein Gesäusel und schaffe es, meine Stimme dabei halbwegs ruhig zu halten. Eine gigantische Meisterleistung, denn ich verspüre das dringende Bedürfnis zu schreien, zu toben, grün anzulaufen und alles, samt Kain kurz und klein zu schlagen. Sein Rauswurf in Kleinteilen wird immer wahrscheinlicher. Er hebt abwehrend die Hände in die Luft und deutet zu Jeffs Bett. „Ich wollte nur die Sauerei entfernen. Ich bin in der Nacht mehrmals am Laken festgeklebt." Sein erst angewidertes Gesicht wandelt sich schnell in ein erheitertes. Irgendwie verstörend. Ich komme nicht umher zum Bett zusehen und festzustellen, dass er bis auf die Decke alles vollständig neu bezogen hat. Jeffs Lieblingsbezüge mit einem blau-violett gestreiftes Muster. Ich kriege Kopfschmerzen. Kain geht auf Jeffs Bett zu, legt mein Buch auf dem Nachttisch ab und beschäftigt sich mit dem Reißverschluss der Bettdecke. Er greift zwei Ecken und beginnt das Innenleben ordentlich im Bezug zu verteilen. „Du und Liebesgeschichten! Unglaublich.“ Er klingt wahrhaftig ungläubig. Ich murre nur. „Aber hey, ich kenne Leute mit weitaus skurrileren Hobbies und deine Pornos sind ja auch nicht ohne“, flötet er amüsiert, während er das Kissen aufschüttelt. „Verrecke!“, entfährt es mir laut. „Ach komm, das ist toll. Wie lange bist du schon ein professioneller Schreiberling?“ Kain klingt ehrlich interessiert, doch wenn er glaubt, dass ich jetzt unbedarft meine Lebensgeschichte vor ihm ausbreite, hat er sich geschnitten. „Es geht dich nichts an und du würdest es auch nicht verstehen.“ „Versuch es zu erklären. Ich bin schlauer, als du denkst…“. Kain faltet die neubezogene Decke einmal zusammen und legt sie seltsam sorgfältig auf dem Bett ab. Das Kissen folgt, aber geworfen. Er sieht mich an und greift dann erneut zum Roman. Blätternd kommt er auf mich zu. Diesmal nehme ich es ihm aus der Hand. Ohne Gegenwehr. Er darf es nicht lesen. Niemals. Ich will es nicht. Ich lege das Buch zu den anderen Exemplaren auf meinem Schreibtisch und bleibe dort stehen. Erst jetzt bemerke ich, dass Brigitta doch nicht das kitschige Coverbild verwendet hat. Es ist das Dezente. Auch sie nimmt oft Rücksicht auf mich. Egal, wie strapazierend meine Allüren sind. Den ersten dieser Liebeskatastrophen veröffentlichte ich anderthalb Jahre nach dem Abitur. Mittlerweile sind es fünf Bücher. Meine damalige Deutschlehrerin steckte mir Brigittas Visitenkarte zu, nachdem sie wochenlang fruchtlos auf mich eingeredet hat. Sie nannte es eine Überlegung. Ich nannte es Zeitverschwendung. Ich trug das Pappteil monatelang mit mir rum, bis ich irgendwann eine Mail von Brigitta im Posteingang fand. Sie hatte einige meiner Kurzgeschichten zugesendet bekommen. Ihre Nachricht war prägnant und deutlich. Kein Geschwafel und auch kein Geschmeichel. Von vornherein stellte sie klar, dass es sich um einen Jugendbuchverlag handelte und wenn ich interessiert sei, Romantik von mir verlangte würde. Sie sei sich sicher, dass ich das könne. Damals kannte sie mich noch nicht persönlich, sondern nur meine schriftlichen Ergüsse. Ich bin sicher, dass sie eine solche Absolutheit vermieden hätte, hätte sie gewusst, was für ein anstrengender, mürrischer Giftzwerg ich bin. Romantik. Liebe. Zweisamkeit. Schon damals verursachte der Gedanke daran ein ironisches Mischgefühl in mir. Auch heute noch. Brigitta nannte es einen Versuch und ich kann mir nicht erklären, wie es sie letztendlich geschafft hat, dass ich angefangen habe, diesen Kram zu schreiben. An unsere erste Begegnung habe ich so gut wie keine Erinnerungen. Wir trafen uns in einem Café. Sie wollte mir den Verlag vorstellen und mich kennenlernen. Am nächsten Tag erwachte ich mit Kopfschmerzen und beginnender Zahnfäule in meinem Elternhaus. Es fühlte sich an, wie das Hochschrecken nach einer heftigen Party mit massig süßen Cocktails. Caipirinha. Pina Colada. Totaler Blackout. Sie bestellte uns eine dieser absurden Zuckerbomben, die sie bei fast jedem unserer Treffen in sich hineinkippt. Ein extra großer Latte Macciato mit Sahne und Karamell. Ersatzweise Vanille. Sie versetzte mir den ultimativen Zuckerschock und förderte damit meine temporäre Amnesie. Vielleicht habe ich es auch einfach nur verdrängt, weil ich mir selbst nicht erklären kann, wieso ich trotz jeglichen Widerwillens Liebesgeschichten schreibe. Sicher bin ich mir nur, dass ihre Bekanntschaft meine akute und tiefgründige Diabetesangst begründet. Dennoch ist meine Lektorin zugegebenermaßen das Beste, was mir passieren konnte. Die Tantiemen und die Verkaufsanteile finanzieren mir das Studium. In der Hinsicht bin ich sorgenlos. Das ist viel wert. Außerdem fragt sie nie danach, warum ich so bin, wie ich bin. Sie ist unkompliziert. Sie sagt, was sie denkt und fasst mich nur bedingt mit Samthandschuhen an. Das gefällt mir. Es ist das, was ich brauche. Wahrscheinlich, weil sie mein erstes Buch kennt. Auch darauf hat sie mich nie angesprochen und das danke ich ihr doppelt. Mein Autorendasein hat viele gute Seiten und ich möchte es nicht mehr missen. „Weiß Jeff, dass du sowas schreibst?“ Kain lässt nicht locker, reißt mich aus den Gedanken, als er plötzlich neben mir am Schreibtisch steht. Lächelnd lässt er seine Finger über das Cover des Buches wandern. Das gleichmäßige Intervall meines Herzschlags nimmt wieder zu. Ich möchte nicht, dass er diesen Schund von mir liest. Ich möchte nicht, dass er diese Seite von mir kennt. Meine Bücher machen mich verletzlich. „Können wir das bitte lassen…“ Mein Blick fällt auf das von Kain erschaffene Kartenset, welches noch immer auf meinem Schreibtisch ruht. Ich strecke meine Hand nach einer Karte aus, doch bevor ich sie berühren kann, tauchen Kains Finger in meinem Blickfeld auf. Sie legen sich direkt auf meine. „Rede doch einfach mit mir…“ Ich spüre, wie mein Herz einen Satz macht und dann heftig gegen meinen Brustkorb prallt. Laut. Unbarmherzig. Ich will es nicht. „Musst du nicht deine Rothaarige ficken gehen?“ „Ist das dein Ernst?“ Er zieht seine Hand zurück. „Verzeih, ihr nennt das ja eine DVD gucken…“, setze ich bissig nach. „Richtig und nicht nötig, ich bin gestern bei so einen Idioten aus der Biochemie gelandet“, bellt er mir entgegen und wir funkeln uns an. Wieder rieche ich Ingwer und einen Hauch Zitrone. Mein Herz rast. „Wird das jetzt jedes Mal so laufen?“, fragt er zähneknirschend. „Ich bin nicht derjenige, der sich durch die Fachschaft fickt…“, gebe ich prompt als Antwort. „Meine Damen und Herren, heute singt für sie: das Niveau!“ Kains Blick verdunkelt sich und er beginnt währenddessen, übertrieben zu klatschen. „Ach komm, dass liegt schon lange unterm Bett und weint“, erwidere ich unbeeindruckt. „Was ist dein Problem verdammt? Es tut mir ja leid, wenn du andauernd das Gefühl hast, ich würde es darauf anlegen, deine gut gehütete Privatsphäre zu verletzen.“ Eine weitere Fahrt mit der Retourkutsche. Er zieht meine übertriebene Bedachtheit in den Kakao, indem er das Gutgehütet in imaginäre Gänsefüßchen setzt. Er kann mich mal. Von oben. Von Unten. Kreuzweise. „Himmel, Robin, ich mache es nicht mit Absicht. Jedenfalls nicht immer. Abgesehen davon bist du derjenige, der jedes Mal unfair und verletzend wird.“ Kains Stimme schwankt zwischen Sarkasmus und Enttäuschung. Das Schlimmste ist, dass er Recht hat. Ich verstehe selbst nicht, warum ich andauernd auf solche primitiven Abwehrreaktionen zurückgreife. Wahrscheinlich, weil es Kain in so kurzer Zeit geschafft hat, mir derartig nahzukommen und das kann ich schlecht verkraften. Bisher war jeder sehr zufrieden damit, nicht allzu viel mit mir zu tun zu haben. Ich bin eben ein Arsch erster Güte und werde es auch immer sein. „Geh sterben. Bitte!“, schlage ich vor, kämpfe erneut mit dem Aufkommen meiner erschreckend hartnäckigen Primitivität. Darwin lässt grüßen. Bald finde ich mich auf einem Baum wieder, damit ich mich in Ruhe lausen kann. „Lass es mich einfach lesen“, bittet der Schwarzhaarige. Ich sehe entgeistert auf. „Nein“, sage ich deutlich. „Komm schon,…“, setzt er wieder an. „Wieso bist du so hartnäckig?“, fahre ich ihn an. Ich verstehe es einfach nicht. „Warum bist du so stur?“, gibt er ohne Verzögerung retour. „Ich will einfach nicht, dass du das liest. Es geht dich nichts an.“ Allein der Gedanke daran, was Kain beim Lesen und danach von mir denken könnte, vaporisiert das Blut in meinen Adern. Obwohl ich längst darüber stehen sollte. Ich schaffe es nur nicht. Ich höre bereits die Blutplättchen platzen und spüre meine Fingerspitzen kribbeln. „Du veröffentlichst es. Jeder kann es lesen…“ Guter Einwand. Treffer. Versenkt. Ich ignoriere es und schwimme händeringend in Kampfstellung zurück. „Ja, aber niemand weiß, dass die Bücher von mir sind.“ Mein Einspruch ist ebenso gut, gibt aber leider mehr preis, als mir lieb ist. „Bücher?“ Er betont die Mehrzahl besonders erstaunt. Ich habe mich gerade selbst versenkt und das ist deutlich an meinem Gesicht abzulesen. Wahrscheinlich auch an der Tatsache, dass mein Kopf verräterisch nach unten kippt. Meine Synapsen machen schon wieder Urlaub. „Wovor hast du eigentlich Angst? Das ich durch das Lesen erkenne, dass du bei Weitem nicht der griesgrämige Idiot bist, den du allen vorspielst? Zur Information, dass weiß ich längst“, setzt er nach. Nun sehe ich doch auf. „Du irrst dich! Und verschwinde endlich! Geh zu der Rothaarigen oder zu Sina oder wohin auch immer“, sage ich und klinge wie ein Idiot. Diese Aussage kommt einem Armutszeugnis gleich und obwohl mein Inneres rebelliert, spüre ich, wie ich mich mehr und mehr darüber ärgere, dass er das mit der Fachschaft nicht abstreitet. Um mir nicht noch mehr Blöße zugeben, deute ich meine dumme Ausführung abschließend zur Tür. Kain sieht mich resigniert an. „Blondinen sind nicht mein Fall und sie steht übrigens auf dich, du Blödmann!“, klärt er mich auf und ich beiße die Zähne zusammen. Und wenn schon. Ich will, dass er geht. Sein Interesse irritiert mich. Seine Intension ist mir ein Rätsel. Selbst seine Anwesenheit bringt mich durcheinander. Er solle nicht hier sein. Ohne es zu merken, greife ich nach einer der bemalten Karten, die neben meiner Tastatur liegen. Es ist die Vier. Kain nimmt sie mir aus der Hand. „Nicht nötig…“ Nur ein Flüstern. Ich kriege Gänsehaut, als sich sein warmer Atem über meinen Hals arbeitet und das sanfte Brummen seiner Worte mein Ohr trifft. Das Aroma von Ingwer und das Wissen darum, wie sich das erregende Kitzeln auf meiner Zunge anfühlt. Die Süße auf meinen Lippen. Seine warmen Finger treffen auf meine kalten. "Hör auf damit!“ „Womit?“ „Mit diesem verständnisvollen, scheinheiligen Interesse. Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich brauche das nicht", knalle ich ihm entgegen. Jeff macht es auch ständig. Fürsorge. Verständnis. Diese elendige Behutsamkeit. 12 Jahre habe ich gebraucht, um ihn in mein Leben zu integrieren und noch immer funktioniert es nicht hundertprozentig. Ich kann es einfach nicht. Kain diese Chance zu geben, kommt einer Unmöglichkeit gleich. Und dennoch hallen in meinem Kopf noch weitere Fragen. Warum macht er es? Aus welchen Grund legt er sich so für mich ins Zeug? Was verspricht er sich davon? Warum? Die Fragen spreche ich nicht aus. Stattdessen wiegele ich von vornherein ab. Glanzleistung. Kain sieht mich getroffen an. Er streicht sich über die Lippen, über die Stirn. Fahrig. Enttäuscht. Ich sehe, wie sich sein Mund öffnet und schnell wieder schließt. Er macht einen Schritt zurück, sieht auf die Karte mit der Vier. „Okay, weißt du, wir vergessen die Karten. Ich vergesse die Bücher und… lass uns auch die Sexgeschichte streichen. Ich will keinen Streit und keine weiteren Diskussionen. Die habe ich dank Merena zur Genüge und wahrscheinlich auch die nächsten 100 Jahre noch.“ Kain greift nach den restlichen Karten auf dem Tisch. Er zerreißt eine nach der anderen und lässt sie in den Papierkorb fallen. Ich sehe ihm schweigend dabei zu. Wieso enttäuscht es mich? „Du kannst deine Schutzschilde ganz beruhigt wieder runterfahren.“ Kains Hand legt sich in meinen Nacken. Die plötzliche Hitze verursacht mir Gänsehaut, die derartig intensiv ist, dass ich für einen Moment die Augen schließe. Ich spüre mein schlagendes Herz so deutlich, dass ich nicht weiß, was ich davon halten soll. Das Gefühl in meiner Brust nimmt ein seltsames Ausmaß an. Mit dem Zugehen der Tür lasse ich mich auf meinen Stuhl fallen, ziehe die Beine in den Schneidersitz und lehne mich zurück. Nun habe ich meine Ruhe. So, wie ich es andauernd nach außen brülle. Ich verhindere nicht, dass ich mich mit dem Stuhl drehe und letztendlich in die Richtung von Jeffs Bett blicke. Festgeklebt. Der Gedanke daran treibt mir die Schamesröte ins Gesicht. Zum Glück erst jetzt. Doch auch das komische Gefühl bleibt. Ich habe ihm Unrecht getan und das war mir schon bewusst, nachdem ich meinen Vorwurf ausgesprochen habe. Mit Jeff geht es mir jedes Mal genauso. Doch ich bin mir sicher, dass ich es bei Kain nicht mit einem neuen Pullover ausbügeln kann. Will ich es überhaupt? Ein Teil in mir flüstert Nein, der andere schreit lauthals Ja. Nach einer Weile sinnfreiem Rumgestarre drehe ich mich wieder zurück zu meinem Schreibtisch. Ich sehe zu den Buchexemplaren, nehme mir das Oberste, lasse meinen Blick über das Covern wandern, über den Titel und schmunzele. Ich blättere es einmal durch und habe sofort ein paar Stellen, die ich am liebsten ausbessern würde. So ist es eigentlich immer, weshalb ich es vermeide, die Bücher nach der Veröffentlichung zu lesen. Ich brauche immer einen gewissen Abstand. Irgendwann lese ich es und blende dabei aus, dass die geschriebenen Worte meine eigenen sind. Ich kann von Glück sagen, dass mir Brigitta viel Freiraum lässt und meistens eher wenige Veränderungen wünscht. Auch nimmt sie während des Schreibprozesses wenig Einfluss auf mich und vertraut darauf, dass ich die Geschichten nicht vollkommen in den Sand setze. Bisher hat es gut funktioniert. Andere Verlage sind wesentlich komplizierter. Oft hört man, dass gerade die ersten Romane mehrere Male vom Schriftsteller umgeschrieben werden müssen, bevor sie bei Verlegern und Konsortium ihr Einverständnis bekommen. Entmutigend und irgendwie auch entmündigend. Andererseits ist der Druck, der heutzutage in diesem Business herrscht, gewaltig. Printmedien sterben aus und das merkt vor allem das Verlagswesen. Dabei gibt es kaum etwas schöneres, als ein frisch gedrucktes Buch in seinen Händen zu halten. Das Papier unter den Fingern zu spüren und zu merken, wie sich der Herzschlag erhöht, wenn man voller Vorfreude die ersten Seiten aufschlägt. Bei meinen eigenen Büchern ist es genauso. Ich habe Glück. Mehr oder weniger, schließlich bin ich dazu gezwungen, über rosafarbene Herzen und schlicht unrealistische Beziehungen zu schreiben. Es gibt schlimmeres, aber das würde ich niemals laut aussprechen. Vor etwa einem Jahr hat auch Jeff eines meiner Bücher gefunden. Ihm konnte ich plausibel erklären, dass ich es für Lena gekauft habe. Meine Zielgruppe wäre sie. Zum Glück habe ich noch nie einen meiner Romane bei ihr gefunden. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde. Wahrscheinlich mit akutem Herzversagen. Ich drehe mich ein weiteres Mal zu dem leeren, frisch bezogenen Bett meines Mitbewohners und seufze schwer. Meine Gedanken wandern zurück zu dem Schwarzhaarigen. Wir sollen es beide vergessen. Wie ernst waren seine Worte? Vergessen scheint unmöglich. Allein die Erinnerungen sorgen dafür, dass meine Lenden ein Eigenleben führen. Das Äffchen in meinem Kopf schlägt die Schellen und dreht sich im Kreis. Meine eigene Unzurechnungsfähigkeit macht mich ganz verrückt. Was will ich eigentlich? Meine Ruhe? Den Sex? Der Sex ist fantastisch. Das Äffchen macht einen Looping. „Fuck!“, fluche ich lautstark und lasse meinen Kopf ein paar Mal auf die Tischplatte fallen. „Reiß dich zusammen!“, sage ich und richte mich auf. Ich räume die die neuen Bücher unter mein Bett, greife mir ein paar frische Klamotten und ein neues Handtuch. Kaltes Wasser wird mir jetzt gut tun. Nach einer langen Dusche mit ausführlicher und dringend benötigter Ganzkörperpflege bin ich derartig glatt und sauber, dass ich Satinbettwäsche als Rutsche benutzen könnte. Obwohl es erst kurz nach acht Uhr ist, lege ich mich ins Bett, wälze mich so lange umher, dass ich mich in der Bettdecke verheddere und schalte irgendwann aus Frust Jeffs Fernseher an. Seltsame Quizshows. Mord und Totschlag. B-Movies. Ich greife nach meinem Handy, als in einem Film Haie aus einem Tornado hüpfend Menschen angreifen. Nun ist es halb 10. Ich lasse mich berieseln bis ich einschlafe. Es dauert ewig. Das Wochenende habe ich so viel Ruhe, dass es mir fast auf den Geist geht. Die beiden blonden Männer tauchen nur sporadisch auf, winken, grinsen und sind so schnell verschwunden, dass ich mich nicht mal aufregen kann. Frustrierend. Nur am Samstagabend während Jeffs dramatischer Klamottensuche versuchen mich beide abwechseln davon zu überzeugen, dass ich sie auf die Footballparty begleiten soll. Warum Abel darauf beharrt, ist und bleibt ein Mysterium. Für ihn bin ich allenfalls eine Bremse für Libido und Spaßfaktor. Ich liebäugle einen Moment damit, zu zusagen, nur um zu sehen, wie sich der dummquatschende Blonde den Rest des Abends ärgert. Es kribbelt mir in den Fingerspitzen und unter der Zunge. Ich lasse mich nicht dazu hinreißen. Jeff zieht sich den x-ten Pullover über. Weinrot oder Bordeaux, wie er lauthals berichtigt, als Abel erklärt, dass er das rot hübsch findet. Hübsch? Rot ist rot. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass er den eben schon mal angehabt hat. Ihre Argumentationen werden mit jedem Kleidungsstück, welches Jeff probiert, farbenfroher. Viele betrunkene Leute. Abel. Nutzlose Konversationen und dazu noch das überdrehte Testosteron von Sportlern. Erschießt mich lieber gleich. Es fehlt nur noch, dass sie sich Cheerleaderlike hinstellen und mir ´Megaparty´ buchstabieren. Mit Pompons und passenden Dress wohlgemerkt. Das Bild in meinem Kopf lässt mich dämlich grinsen. Wenigstens verzichtet Jeff diesmal auf scheinevolutionäre Gesellschaftstheorien und appelliert stattdessen an meinen juvenilen Sexualtrieb. Heiße Mädels, denen ich alles erzählen könne, schließlich verstehen sie kein Wort von dem, was ich sage. Verlockend, aber nein. Leckere, hemmungennehmende Cocktails. Ich kriege schon bei dem Gedanken daran Kopfschmerzen. Da meine Primitivität diese Woche seltsame Ausmaße angenommen hat, ist es seltsam passend. Einen weiteren Pullover später, habe ich meinen Jahresvorrat an Neins aufgebraucht und bin dem Bedürfnis, aus Jeff ein Bloody Bambi zu machen, erschreckend nahe gekommen. Abel beginnt aus einem mir unerfindlichen Grund dämlich zu lachen und ich zücke innerlich die Flinte. Mein alter Schulkumpan versichert mir ein weiteres Mal, dass die Party der Renner wird und ich vertraue meinem Urinstinkt und nehme die Beine in die Hand. Ein Hoch auf den primitiven Fluchtreflex. Ich greife mir ein Päckchen Zigaretten und verschwinde an den blonden Nervzwergen vorbei nach draußen. In den Gängen des Wohnheims ist es ungewöhnlich ruhig. Niemand sitzt im Foyer. Nur Micha hängt in seinem Kabuff und telefoniert. Ich stecke meinen Kopf durch die Tür, sehe, wie er unentwegt mit den Augen rollt und mich bei einer phänomenalen Linksdrehung bemerkt. Er macht keine Anstalten, sein Telefonat zu unterbrechen. Scheint ebenso wenig erpicht darauf zu sein, dem Anrufer weiter zu zuhören. Sicher seine Mutter. Ich rufe ihm nur das Wort Post zu und Micha verdeutlicht mir mit Händen und Füßen, dass ich sie mir einfach nehmen soll. Mit einem schlichten Nimm wären mir seine 5 minütigen Körperverrenkungen erspart geblieben. Ich gehöre nicht zu den mit Glück gesegneten Individuen. In meinem Postfach entdecke ich zwei Briefe. Einer schreit deutlich Rechnung und der andere ist ein mit Luftpolsterfolie ausstaffierter Umschlag. Kein Absender. Die Schrift kommt mir bekannt vor. Ich ahne böses. Ich nehme beides mit nach draußen zur Bank, zünde mir eine Zigarette an und öffne zuerst das seltsame Päckchen ohne Absender. Den Inhalt schüttele ich mir in die Hand. Ein gehäkeltes Wollpüppchen mit kaputten Jeans und gelben T-Shirt fällt mir in den Schoß. Handtellergroß. Braunes Haar. Auf dem Shirt ist eine Zigarette abgebildet. Ich betrachte die kleine gehäkelte Version meiner Selbst. Aus dem runden Gesicht starren mir zwei große türkisfarbene Augen entgegen. Blaugrün ist wahrscheinlich nicht so leicht zu häkeln. Ich greife das Briefchen erneut und ziehe einen Zettel hervor. 'Meine Rache wird fürchterlich sein' steht mit deutlich femininer Handschrift darauf. Über den Is prangen kleine Herzchen. Ich sollte meiner Schwester erklären, dass man es für eine wirksame Drohung bei Punkten oder Strichen belassen sollte. Gruseliger wäre es, wenn sie einzelne Buchstaben aus der Zeitung ausgeschnitten hätte. Andererseits hat ihre Version etwas Psychopathisches. Punkt für sie. Ich wiederhole die Worte laut und komme nicht umher zu lachen. Lena ist eine Marke für sich. Statt mich mit nervigen Anrufen zu terrorisieren, schickt sie mir ein Voodoopüppchen. Erschreckenderweise kann ich mir gut vorstellen, wie sie der Puppe lachend kleine Nadeln in den stoffigen Bauch treibt und dabei Black Sabbat hört. Oder Taylor Swift. Da würde ich mich nicht festlegen. „Unfassbar theatralisch", murmele ich lächelnd vor mich hin. „Und wer schwört dir fürchterliche Rache? Eine deiner Verflossenen?" Die vertraute Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich wende mich erschrocken dem anderen Mann zu und packe das Püppchen sofort zur Seite. Kain lächelt und lässt sich in diesem Moment neben mir auf die Bank nieder. Er trägt eine engsitzende schwarze Jeans und eine Lederjacke. Die habe ich noch nie bei ihm gesehen. Seine Hände schiebt er in die Jackentasche und blickt gen Himmel. Es beginnt zu nieseln. „Meine Schwester“, sage ich knapp. „Du hast eine Schwester?", fragt er ungläubig. Eine solche Reaktion bekomme ich öfter. Kain hält mich für den Stereotyp eines Einzelkindes. Er ist nicht der Erste und wird auch nicht der Letzte sein. „Ja. Sie ist jünger, nerviger und auch gruseliger als ich", kommentiere ich. Den Beweis liefert die Voodoopuppe. „Ich mag sie schon jetzt." Toller Kommentar. Ich blicke auf das kleine Abbild meiner selbst und ziehe an meiner Zigarette. „Und wie sieht ihre Rache aus?", fragt er und ich sehe dabei zu, wie sein Knie gegen meines tippt. „Vielleicht spucke ich demnächst Nadeln und Blut“, antworte ich trocken und ziehe die Schultern zuckend nach oben. Das Lächeln in Kains Gesicht bleibt, wird nur einen Tick fragender. Ich halte ihm zur Erklärung mein Voodoo-Ich hin. „Oh, der ist ja süß…“ Er nimmt mir die Puppe aus der Hand, dreht und wendet sie mehrere Male. Die Ärmchen wackeln. Die Beine baumeln. Kain kichert übertrieben und beginnt dann, mit dem Zeigefinger über den kleinen Stoffbauch zu streichen. Mein linker Rippenbogen fängt an zu kitzeln. Mein Bein zuckt. Ich nehme ihm die Puppe schnell wieder aus der Hand und rauche den letzten Rest meiner Zigarette auf, um die aufkommenden Gefühl zu betäuben. Der Stummel landet auf dem Boden. Ich werfe einen kurzen Blick zum Müllereimer, doch trotz des mahnenden Echos in meinem Kopf ignoriere ich das Glühen und lasse sie liegen. „Kommst du mit zur Party?“, fragt Kain, lehnt sich zurück und legt seinen rechten Fuß auf dem Knie ab. Ich angle nach einem zweiten Glimmstängel, stecke ihn mir zwischen die Lippen, als Kains Finger eine der Rippen trifft, die eben noch so intensiv geprickelt haben. Das durchdringende Gefühl kehrt augenblicklich zurück. Ich denke darüber nach, dieselben Argumente hervorzubringen, die schon bei den beiden Blondinen nicht gefruchtet haben und lasse es sein. Bevor ich antworte, zünde ich die Zigarette an, nehme einen Zug. Der ausgestoßene Rauch verschmilzt mit den grauen Himmel. „Nein.“ Kain sieht mich an, nickt und lehnt sich danach zurück. Er neigt seinen Kopf nach hinten, schließt die Augen und lässt sich die feinen Regentropfen ins Gesicht rieseln. „Schade. Kriege ich wenigstens eine Entschuldigung?“ Seine Miene bleibt entspannt, doch seine Lippen verziehen sich zu einem neckischen Grinsen. Ich zucke unwillkürlich etwas zusammen. „Wofür?“, frage ich und sehe erst weg, als sich Kains Gesicht sich zu mir wendet. Ich fühle mich ertappt. Er beugt sich wieder nach vorn. Das intensive Braun seiner Augen durchdringt mich. Es entfesselt etwas in mir, was ich nicht definieren kann. Jedes Mal. Es ist besser, wenn ich nicht mit zu diesen Partys komme. Wer weiß, welche Dummheiten ich noch anstelle. Alkohol und diese eigenartige Schwäche für den Schwarzhaarigen sind eine ganz schlechte Kombination. Unsere erste gemeinsame Nacht resultierte genau aus diesen Elementen. Ich nehme einen neuen Zug und puste den Rauch in den nächtlichen Himmel. Als ich wieder auf die Kippe schaue, sehe ich, wie sie von meine in Kains Finger wandert. „Was kommt jetzt? Eine Ermahnung an Gesundheit und Vernunft?“, frage ich in der Annahme, dass gleich die obligatorischen Moralsprüche folgen. Nichts. Stattdessen nimmt er einen Zug und beugt sich zu mir. Er stoppt nur wenige Zentimeter vor mir, bläst den Rauch langsam an mir vorbei. „Nein, ich habe mich nur gefragt, wie du wohl ohne das Raucharoma schmeckst.“ Der Rauch in meinem Mund wird bitter und ich spüre, wie sich mein Puls zum Marathon aufmacht. Im Sprint. Selbst die Synapsen in meinem Kopf beginnen mit dem Cheerleading. „Was…Warum…“, setze ich an, doch die aufgehende Eingangstür lässt mich abbrechen. Jeff und Abel kommen aus dem Wohnheim geschlendert. Er hat sich wohl endlich für ein geeignetes Oberteil entschieden. Wahrscheinlich für das, was er vorher schon zweimal an hatte. Sie halten Händchen. Jeff löst die Verbindung, als sie bei uns ankommen und Kain lehnt sich wieder zurück. Ich folge seine Bewegung und sehe weg, als ich merke, dass sein Blick noch immer auf mir ruht. Seine warmen Augen fahren mein Gesicht ab. Suchend. Deutlich ist zu erkennen, wie sehr es in seinem Kopf arbeitet. „Hey Kain. Kommst du gleich mit?“, fragt Abel, während Jeff auf die Zigarette in Kains Hand sieht. Er gibt sie mir nicht wieder, sondern lässt sie zu Boden fallen und drückt sie aus. „Jo, auf geht´s, Männer.“ Damit springt er förmlich auf. „Letzte Chance, Robin…“, flötet Abel, wackelt mit den Augenbrauen und liefert mir nur noch einen weiteren Grund abzulehnen. Mein Mitbewohner mustert mich aufmerksam. Zwischen den Teilen seiner geöffneten Jacke blitzt der rote Pullover durch. Weinrot. Nein, Bordeaux. Ich stehe auf, vermeide es, nochmal zu Kain zu sehen. „Nicht mal gegen Bezahlung…“, antworte ich, schiebe die kleine Voodoofigur in die Hosentasche und verschwinde zurück ins Wohnheim. Micha telefoniert noch immer. Diesmal bin ich mir sogar relativ sicher, dass ich das Wort Mama höre. Der schadenfreudige Gesichtsausdruck begleitet mich bis nach oben. Selbst nachdem ich auf Sina und Kati treffe, die aufgetakelt und kichernd an mir vorüberstöckeln. Keine Party ohne die beiden. Unbewusst sehe ich ihnen nach. Direkt in Sinas lächelndes Gesicht. Ich bin so schnell um die Ecke verschwunden, dass ich einen Preis für Amateurzauberei bekäme. Als das weiße Kaninchen, was im Hut verschwindet. Vor meinem Schreibtisch leere ich meine Taschen, lege Lenas wenig ernstgemeinte Drohung neben meinen Bildschirm ab und fördere einzelne Kaugummipapiere und alte Fahrscheine zutage. Der andere Brief landet auf den Stapel ungelesener Post, der sich langsam gen Decke türmt. Der Müll landet im Papierkorb, wo mein Blick auf die zerrissenen Karten fällt. Ich hole den Plastikbehälter hoch, stelle ihn auf die Tischplatte und sammele die einzelnen Bestandteile heraus. Jede Karte ist sorgsam einmal in der Mitte zerrissen. Eine Chance. Das waren Kains Worte gewesen. Ich habe sie ihm nicht gewährt. Wie ernst sind seine Worte? Mit kalten Fingern streiche ich mir durch die Haare. Ich krame eine alte, überdimensionale Strickjacke aus dem Schrank, in die ich mich zweimal einwickeln kann. Sie ist warm und kuschelig. Mein Handy beginnt zu summen, als ich mich vor dem Schreibtisch niederlasse. Zwei neue Nachrichten. Jeff und Lena. Sie möchte wissen, ob ihre Überraschung angekommen ist. Ich greife mir einen Stift, notiere das Wort Gnade und Sry auf einen Zettel und drapiere Puppe und Schriftstück vor meiner Tastatur. Das Foto schicke ich ihr. Jeffs lauschige Nachricht über das Bedauern meiner Unpässlichkeit und die damit einhergehende Versäumnis sämtlicher erheiternder Verfehlungen ignoriere ich. Die Feiern, zu denen mich mein Kindheitsfreund während unserer Schulzeit geschleppt hat, waren inhaltlich so ergiebig und niveauvoll, wie das Filmrepertoire von Uwe Boll. Es gibt nichts, was ich nicht in irgendeiner Form oder Art schon mal gesehen habe. Nichts, was ich nochmalig erleben muss. Auch Alkohol ist nicht mein Ding und wer behauptet, dass er solche Veranstaltungen ohne übersteht, der lügt. Mein Blick wandert über die anderen aufgelisteten Kontakte und ich öffne den Chat mit Kain. Ich weiß nicht wieso. Ich weiß nur, dass es in meinen Fingerspitzen zu kribbeln beginnt. Er hat sein Profilbild geändert und ist in diesem Moment online. Mein Daumen stoppt. Auf dem Bild sieht man sein nach unten geneigtes Gesicht im Profil. Die Ansätze eines Drei-Tage-Barts. Es ist schwarzweiß. Mir ist absolut bewusst, wieso er bei Frauen so gut ankommt. Umso deutlicher wird die Absurdität darüber, was er mit mir will oder wollte. Noch während ich meine geistige Flucht plane und den imaginären Zylinder hervorziehe, bewegt sich der Chat. -Langeweile?- Jetzt offline zu gehen wäre ein weiteres Armutszeugnis. Eins mehr oder weniger schadet nicht. Meine Mappe ist mittlerweile voll davon. Nein. Ich antworte lieber. -Und selbst? Party so fade?- Kains Antwort lässt nicht lange auf sich warten. -Der Alkoholpegel ist noch zu niedrig, aber wir arbeiten daran- Dessen bin ich mir sicher. -Keine Kosten und Mühen. Klingt wie das Paradies- Ich verkneife mir ein paar idiotische Smileys. -Du würdest es hassen- -Jetzt machst du mich doch neugierig-, tippe ich lachend und bin immer noch froh, nicht dort sein zu müssen. Wer weiß, welchen Sitznachbarn ich diesmal hätte. Bei meinem Glück eine Reinkarnation von JarJar Binks oder schlimmer noch, Abel. - Kein Spoiler. Sry. Komm her und mach dir selbst ein Bild- Spoiler? Bin ich ein Serienjunkie? -Was kriege ich dafür?- -Was willst du?- Die Antwort kommt so schnell, dass ich kaum Zeit habe, um zu begreifen, dass bereits meine Frage eine dumme Äußerung gewesen ist. Ich lege das Telefon zur Seite, schlucke schwer. Ich darf es nicht unbeantwortet lassen. Irgendein Spruch. Irgendeine Reaktion, die diese Konversation ad absurdum führt. Mein Gehirn ist wie stillgelegt. Im Zusammenhang mit Kain passiert mir das leider viel zu oft. Mein Blick fällt auf die zerrissenen Pappkarten. Ich strecke meine Hand danach aus und lasse meine Finger über die rauen Kanten gleiten. Eine Chance, wiederholt es sich ein weiteres Mal in meinem Kopf und ohne länger darüber nachzudenken, öffne ich meine Schublade. Ich ziehe eine Rolle Klebestreifen hervor. Ein paar wenige Handgriffe und die 6 Karten sind wieder repariert. Nicht schön, aber die Zahlen sind zu erkennen. Nach einem letzten Blick auf mein Telefon, schiebe ich die Karten in meine Hosentasche. Der restliche Abend, sowie der Sonntag ziehen sich wie Kaugummi. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich mich umdrehe und zu Jeffs leeren Bett schaue. Einige Male sogar starre. Ohne erfindlichen Grund. Gelogen, ich weiß ganz genau warum. Es ist selten, dass mir meine selbst herbeigeführte Isolation auf die Nerven geht. Im Moment ist es so. Um mich abzulenken, öffne ich das Skript für das neue Buch, lese die Stichpunkte des groben Plots. Ich habe mich für eine typische Drei-Akte-Struktur entschieden. Für Romane eine gängige Praxis. Drei Akte. Drei Wendepunkte. Der Letzte führt dieses Mal zu einer sogenannten Katastrophe. Ein negativer Plotverlauf. Ich gönne meinem Protagonisten kein rosarotes Happy End. Das erste Mal und, wenn es nach meiner Lektorin geht, auch das letzte Mal. Sie mag es nicht. Brigitta will die Bücher mit einem Lächeln im Gesicht schließen. Mir ist es egal, solange das Ende einen sinnvollen Abschluss bewirkt. Es ist das erste Buch, in dem die Erzählfigur männlich sein wird. Schon deshalb wird sich der Roman von den anderen unterscheiden. Über viele Kleinigkeiten bin ich mir noch uneins. Ich bin mir nicht sicher, aus welcher Sicht ich es schreiben werde. Ryan oder Martin. Ryan entspricht sogar nicht meiner persönlichem Empfindung, jedoch er wird er derjenige sein, dessen Gefühle die meiste Gewichtung erhalten. Was passiert, wenn man sich in einen Freund verliebt und dieser Rat und Beistand von dir verlangt, die du ihm nicht geben kannst, ohne, dass es dir das Herz zerreißt? Wie weit kann Pflichtgefühl gehen? Und wann ist der Punkt erreicht, der es unmöglich macht, Nähe zu ertragen? Es beginnt mit einer Beziehungskrise. Das Suchen und Finden einer vergessenen Vertrautheit, die man manchmal in genau den Personen findet, von denen man es am Wenigsten erwartet. Ich lehne mich zurück, sehe auf meinen Zeigefinger, der auf der Taste M ruht. Danach bleibe ich eine geschlagene halbe Stunde so sitzen, ohne, dass ich auch nur eine Taste betätige. Schreibblockade. Eindeutig. Unwillkürlich beginne ich die Methoden abzurufen, die aus einer Schreibblockaden führen sollen. Bisher musste ich diese Techniken selten anwenden. Einen Fahrplan habe ich bereits. Er bedarf zwar hier und da ein paar Ausbesserungen, doch im Großen und Ganzen hat sich in meinem Kopf ein ausführlicher Plot entwickelt. Das Gleiche gilt für die Gliederung. Störfaktoren, die ich ausräumen könnte, gibt es dank massenhaften Partys und animalischen Paarungsverhalten meines Mitbewohners auch nicht. Ein anderes Buch lesen. Ein weiterer Trick um auf andere Gedanken zu kommen. Ich sehe zu Jeffs Bücherregal, fahre von weiten die Rücken ab und spüre, wie sich bei der Hälfte der Möglichkeiten meine Oberlippe angeekelt nach oben zieht. Die andere Hälfte habe ich schon gelesen. Lust habe ich auch keine. Ich drehe mich wieder zu meinem Rechner und lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen. Meine Arme baumeln nach unten, hängen nutzlos an mir herab. Was ist nur los mit mir? Es ist zum Kotzen. Ich will Pudding. Schoko. Vanille. Völlig egal. Nur Pudding. Ich richte mich auf. Ein Ausweg ist ein Ortswechsel. Etwas, das noch nie nötig gewesen ist. Also wohin? Sonntag ist der denkbar schlechteste Tag, um sich eine Ausweichmöglichkeit zu suchen. Nichts hat auf. Außer vielleicht irgendwelche Cafés und Restaurants. Nicht mein Ding. Zu viele Menschen. Ich greife nach meiner Jacke und einer vollen Packung Zigaretten. Obwohl ich noch immer nicht weiß, wo ich hingehen soll, packe ich meinen Laptop in den Rucksack und stiefele los. Es ist kalt und windig. Ich habe zu wenig angezogen und spüre sofort, wie sich die kalte Luft unter meine Klamotten schiebt. Mit zittrigen Handgriffen öffne ich die Packung Zigaretten und zünde die Erste des Tages an. Der Qualm füllt meine Lungen und das herbe Aroma kitzelt sich über meine Geschmacksknospen. Es befriedigt mich nicht. Nicht so, wie sonst. Wie du ohne das Raucharoma schmeckst, echot es in meinem Kopf. Der Gedanke an das feine Raunen des anderen Mannes setzt seltsame Gefühlsregungen in mir frei. Ich verstehe nicht, warum mich Kain derartig durcheinander bringt. Genauso ist es mir ein Rätsel, wieso ich ihn trotz aller Widrigkeiten so anziehend finde. Er ist ein Kerl, verdammt. Ein ziemlich nervtötender noch dazu. Ein Kerl. Ein gutaussehender. Unwillkürlich formen sich Bilder seines beeindruckenden Oberkörpers in meinem Kopf und nicht nur davon. Darwin lässt erneut grüßen, nur, dass ich anscheinend eine evolutionäre Rückentwicklung vollführe. Ich nehme einen tiefen Zug von der Zigarette in der Hoffnung, dass sie mich abkühlt und gehe los. Nach etwa 100 Meter enormer Laufanstrengung habe ich das Bedürfnis, ins Zimmer zurückzukehren, mich zusammenzurollen und unproduktiv vor mich hinzusiechen. Es ist kalt. Es regnet. Nach 10 Minuten stehe ich meines Unwillens zum Trotz in der Mensa. Ich bin ein Held. Ein paar Studenten sitzen in kleinen Gruppen an den Tischen. Sie reden oder lernen. Wenige sitzen allein. Ich lasse mich auf einen Platz am Fenster nieder und starre, statt auf den Bildschirm, eine Ewigkeit nach draußen. Die Scheibe ist übersäht mit Regentropfen. Sie brechen meine Sicht nach Außen in tausende kleine Vergrößerungsgläser. Tausende stille Welten. Ich weiß, wie ich das Buch beginnen werde. Nach fünf Stunden Schreiben und 3 Schalen Pudding mache ich mich auf den Weg zurück zum Wohnheim. Mittlerweile regnet es wie aus Eimern. Dank einem Bus und der freundlichen Unterstützung einer bekannten Kommilitonin komme ich relativ trocken an. Als ich die Tür öffne, bemerke ich, dass der Fernseher läuft. Flackerndes Licht erleuchtet den Raum. Als ich näher komme, höre ich eine leise weibliche Erzählstimme und sehe meinen Mitbewohner schlafend in seinen aufgestapelten Kissen hängen. Ich lege meinen Rucksack zur Seite und betrachte das laufende Fernsehprogramm. Als ich erkenne, was Jeff schaut, komme ich nicht umher, die Augen zu verdrehen. Sex and the City. Die Klischees, die mein lieber Mitbewohner teilweise unbeabsichtigt bedient, sind zum Davonlaufen. Trotz meiner motzenden inneren Stimme lasse ich mich neben Jeff nieder. Ich stütze meinen Ellenbogen demonstrativ auf seiner Hüfte ab und sorge mit den Körperkontakt für das Erwachen meines Kindheitsfreundes. Ein Auge öffnet sich. Ein Schmatzen. Jeffs Hüfte wackelt etwas. „Bitte, sag mir, dass du beim Durchschalten eingenickt bist", kommentiere ich das Programm. Das geöffnete Auge wandert zum Fernseher. Dann wieder zu mir. „Jaaa..." Jeffs Stimme ist verräterisch hoch, während er verstohlen zum Fernseher zurück sieht. Wir schauen beide einen Moment dabei zu, wie die 4 Frauen, die ich nicht benennen kann, durch eine Bar stöckeln und bunte Cocktails schlürfen. „Es ist sehr unterhaltsam", murmelt er, als ein großer dunkelhaariger Typ auftaucht. Jeffs klägliche Verteidigung. Ich schaue ihn zweifelnd an. „Oh ja, genauso, wie Kaugummi in den Haaren.“ Dank meiner kleinen Schwester durfte ich das schon erleben. „Darüber kommst du wohl nie hinweg, oder?“ Wie sollte ich? Lenas unüberlegter Kaugummiblasenangriff ließ mich ich in der 10. Klasse mehrere Wochen mit raspelkurzen Haaren durch die Gegend laufen. Mein scheinfreundlicher Kindheitskumpan sparte damals nicht an dämlichen Kommentaren und Vergleichen. Tatsächlich bastelte er mir im Kunstunterricht eine Gefängniskugel samt Kette. Die Woche darauf eine Tarnkappe mit lauter Gestrüpp für meine Militärkarriere im Dschungel. Die Krönung war ein Totenkopfring und ein Klebetattoo mit dem Schriftzug der Backstreet Boys aus einem alten Bravomagazin. Es folgten mehrere Wochen hartnäckige Ignoranz von meiner Seite. Natürlich vergeblich, so wie bei fast jeder Ekelhaftigkeit, die ich gegenüber dem Blonden angewendet habe. Jeff richtet sich auf und lehnt sich zu mir an die Wand. Auf seine Wange zeichnet sich ein tiefer und formenreicher Abdruck des Kissens ab. Er streicht sich durch die blonden Haare und sieht in diesem Moment aus, wie der 17-jährige Junge, der sich im betrunkenen Zustand nicht getraut hatte, ein Mädchen zu küssen. Geschweige denn mich. Ich lasse meinen Blick über das schläfrige Profil meines Kindheitsfreundes wandern. Jeffs Augen sind schon wieder geschlossen und keiner von uns beiden achtet auf die promiskuitiven Szenen im Fernseher. „Wo warst du eigentlich?", fragt er mich gähnt, während er sich träge aus dem Bett wühlt und zum Kühlschrank stampft. Ich höre, wie er herumkramt, etwas trinkt und danach weiter sucht. „Mensa.", antworte ich ihm lapidar, sehe, wie seine formvollendete Augenbraue nach oben wandert. „Die ganze Zeit?“, hakt er nach. „Ja.“ Jeff murmelt ein fragendes Tatsächlich und scheint wenig überzeugt. Wahrscheinlich vermutet er hinter meiner Abwesenheit eine Verschwörung. Im nächsten Moment taucht ein Eis vor mir auf und er lässt sich bewaffnet mit Käsedip und Chips zurück auf das Bett fallen. Meine Stimmung wandelt sich augenblicklich zu der eines flauschigen Welpens. Ich bin so sehr erfreut, sodass mir nicht auffällt, dass Jeffs obligatorische Schokolade zum Dip fehlt. „Wieso bist du nicht bei deinem Ernieverschnitt?“, frage ich retour, entferne das Papier von der kühlen Leckerei und kuschele mich etwas mehr in die aufgetürmten Kissen. Ich lecke über die schokoladige Spitze, spüre die wohltuende Kühle und genieße das süße Aroma, welches über meine Zunge kitzelt. Jeff kann Gedanken lesen. Genau, das habe ich jetzt gebraucht. „Ernieverschnitt? Oh Oh! Folglich bist du mein Bert!“ Jeff klopft mir amüsiert den Oberschenkel. Ich gebe ihm ein trockenes Hüsteln als Antwort und vermeide es, ihm zu erklären, dass eigentlich er Bert ist. „Ich dachte, wir könnten mal wieder Zeit miteinander verbringen“, kommt es erklärend von dem anderen Mann. Die Hand auf meinem Oberschenkel bewegt sich erneut, streichelnd und bleibt dann ruhig liegen. Ich sehe zu meinem Zimmerkumpan und bin mir sicher, dass irgendetwas faul ist. Entweder hatte er Streit mit Abel oder er will irgendwas. Das Eis ist sicher ein Bestechungsversuch. Jeff schmiegt sich in die Kissen und legt seinen Kopf auf meine Schulter ab. „Lass mich raten. Ihr hattet Streit“, kommentiere ich die Begründung für Jeffs ungewöhnliche Anwesenheit. Ein Ächzen. Es ist ein typischer Jeff-Seufzer, tropft vor Theatralik und beantwortet meine Behauptung ohne jeglichen Zweifel. „Ja ein bisschen. Nichts Gravierendes.“ Ich bin auch nicht der richtige Ansprechpartner dafür. „Und ich wollte mal wieder mit dir quatschen. Ich weiß gar nicht, was im Moment in deinem Leben los ist.“ Ich sehe auf den blonden Haarschopf, spüre die vertraute Wärme und merke, wie mir langsam das Eis über die Finger läuft. „Na ja, ich atme, esse und unterliege…“ Ich lecke die Tropfen davon und knabbere den Schokoladenmantel ab. „Dem Verfall. Ja, ja. Ich weiß.“ Einer der Chips landet in seinem Mund. Krümel auf seinem Shirt. Ich rieche deutlich das salzige Aroma und genieße mein Eis nur noch mehr. „Ich hätte jetzt Atrophie gesagt, aber okay…“ „Das ist das Gleiche, nur wissenschaftlich.“ „Eigentlich…“, setze ich an, doch er unterbricht mich. „Oh, erspare mir die Sheldon-Imitation.“ Ich komme nicht umher zu lachen, als mir Jeff seinen verzweifelten Blick zu wirft. Das letzte Stück Schokoladenmantel schmilzt auf meiner Unterlippe. Nun kann meine Zungenspitze ungehindert über die vanillige Substanz gleiten. Herrlich. Ich schließe meine Augen und genieße. „Tut mir Leid, dass ich so wenig Zeit für dich habe. Ernsthaft.“ Mit dem Ärmel seines Pullovers wischt er sich Chipsreste aus den Mundwinkeln und tunkt seinen Finger in die Käsesoße. Die gelbliche Paste macht auf mich keinen sehr attraktiven Eindruck. Was Jeff daran mag, ist mir schon seit Jahren ein Rätsel. „Ach, ich würde für regelmäßigen Sex auch nicht mehr mit dir reden“, kommentiere ich Jeffs Anflug an heldenvoller Almosenausschüttung und lecke über die gesamte Länge meines Stieleis. „Wie charmant…“ Jeff seufzt. „Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast mir gegenüber keine Verpflichtungen. Ich bin ein großer Junge, ob du es glaubst, oder nicht!“ Von seinen Lippen perlt ein weiteres, geräuschvolles Atmen. Für einen Moment knabbert er lustlos an einem der getrockneten Kartoffelstücke. Ich bin und bleibe ein empathieloser Idiot. Doch zu sehen, wie es Jeff trotz des Wissens darum jedes Mal wieder trifft, ist auch für mich kein Feuerwerk. Mein Knie kippt tippend gegen seines. Ich entschuldige mich nicht. „Sei ehrlich, stört es dich doch, dass ich….schwul bin?“ Ich lasse ihn ausreden, auch wenn mir nach den ersten Worten bereits klar ist, worauf das hinausläuft. Jeff sieht mich erst an, nachdem er diese seltsame Frage zu Ende formuliert hat. „Ich würde wohl kaum mit dir hier sitzen, wenn es so wäre. Es ist einfach die Gesamtsituation…“ Sein ernster Gesichtsausdruck wird für einen Moment amüsiert und ich bin mir sicher, dass sich in seinem Kopf die Szene aus dem Film `Der Schuh des Manitu´ wiederholt. Zur Bestätigung entflieht ihm ein feines Kichern. Ich fühle mich nicht ernstgenommen. „Du hast dich von meinen vorigen Partnerinnen auch nicht aus der Ruhe bringen lassen. Was ist anders?“ „Die habe ich selten zu Gesicht bekommen.“ Im Grunde habe ich keine von Jeffs Probefreundinnen wirklich kennengelernt. Ich wollte es auch nicht. Was ist also anders? Ich bin daran gewöhnt, dass Jeff da ist. Nun ist er es immer seltener. Abgesehen davon kann ich Abel einfach nicht ausstehen. Seine Lache. Seine Art. Wie schon so oft geistert die Frage nach der Besonderheit ihres Sexlebens durch meinen Kopf, die als einzige erklärt, wieso sich Jeff diesen Kerl antut. Auch diesmal stelle ich sie nicht. Mein letzter Gedanke gilt dem Schwarzhaarigen. „Oh Mann, es geht immer noch um Kain? Ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt?“ Ich auch nicht. Ich sehe meinem Kindheitsfreund entgeistert entgegen. Wie kommt er auf einmal auf Kain? „Es gibt kein Problem. Ich will einfach nur meine Ruhe.“ Ich klinge langsam wie eine uralte Bartwickelmaschine. „Ich glaube dir nicht!“ Toller Kommentar die Zweite. Ich sehe zähneknirschend zu Jeff und setze mich auf. „Erspar du mir bitte diese mesosoziologische Steinzeitpredig?“ „Wenn du aufhörst, so zu tun, als wäre jeder dein Feind. Homo sapiens und Homo neanderthalensis lebten weithingehend friedlich miteinander.“ Deshalb ist der eine auch ausgestorben. Ich habe schon wieder das Bedürfnis, zu jener Gattung zu gehören. „Komm schon. Kain ist ein netter Kerl. Witzig. Aufmerksam und intelligent.“ „Ja, der Traum einer jeden Schwiegermutter“, kommentiere ich sarkastisch. Jeffs Augen verdrehen sich meisterlich. „Ich habe gedacht, dass ihr euch besser versteht. Es schien so.“ Jeff klingt verzweifelt. „Beruhigt es dein Gewissen, wenn ich ja sage?“, frage ich retour und hoffe, dass die Diskussion damit beendet ist. Meine Hände kleben mittlerweile komplett und die Reste vom Eis bieten einen traurigen Anblick. Mir ist der Appetit vergangen. „Schon…“, murmelt mein petrophiler Zimmerkollege und dreht dabei verstärkend an seine Halskette, die einen Halbedelstein als Anhänger hat. Ich glaube, es ist sein Geburtsstein. Sicher bin ich mir nicht und für mich hat sowas auch keine Bedeutung. „Dann fühl dich beruhigt.“ Paläolehrstunde abgewendet und zudem glatt gelogen. Das Was-auch-immer zwischen mir und dem Schwarzhaarigen ist dank unserer letzten Auseinandersetzung noch komplizierter geworden. Kains Worte nach unserem Streit waren deutlich. Vergessen, das hatte er gesagt. Doch seine Äußerung vor der Party und auch die Nachrichten haben mich durcheinander gebracht. „Gut, dann hast du ja nichts gegen einen Filmeabend mit Abel und Kain. Morgen Abend.“ Zu früh gefreut. Das Eis ist doch nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Kains Name betont er besonders. Demonstrativ schiebt er sich eine Lage Chips in den Mund und krümelt wild kauend sein halbes Bett voll. Die Nacht wird sicherlich spaßig. Selbst auf meinem T-Shirt landen ein paar. „Muss das sein?“ „Ja. Schon allein um dich zu ärgern.“ „So viel zum Thema Charmant. Warum?“, frage ich und bin offensichtlich wenig begeistert. Nicht, dass Jeff, dass nicht weiß. „Wir haben gestern über Filme diskutiert. Wiedermal und wir fanden es sei eine gute Idee.“ Es muss eine tolle Party gewesen sein. Mein innerer Sarkasmuskreisel nimmt Fahrt auf. Ich habe wenig Wahlmöglichkeit. Im Grunde nur Wegsein oder Dasein. Beides macht mir Magenschmerzen. „Such wenigstens einen vernünftigen Film aus…“, gebe ich weder bestätigend noch ablehnend von mir. Jeff grinst. „Ja, einen mit extra viel Kitsch, Liebe und Drama. All das, was du nicht leiden kannst. Und vorher binde ich dich an dem Stuhl fest und kippe dir ein Liter Kaffee ein, sodass du ja nicht einschläfst.“ Er deutet auf meinen Schreibtischstuhl. Das schafft er nicht mal in seinen Träumen. Nicht Jeff. Ich lecke unbeeindruckt ein paar der Eisreste von meinen Fingern. Als letztes langsam und neckend von meinem Daumen. Ich sehe deutlich, wie er mich dabei beobachtet. „Wovon träumst du eigentlich nachts?“, frage ich. Jeffs Augenbrauen beginnen zu wackeln und ich habe genug von den Spielereien. Darauf bedacht, das frischbezogene Bett nicht weiter einzusauen, krabbele ich mit erhobenen Händen raus und lasse den Stiel im Mülleimer verschwinden. Meine Hände kleben. „Ich besorge dir auch Popcorn.“ Ein lahmer Versuch, mich milde zustimmen. Ich versichere ihm die kommende Wochen kein Wort mit ihm zu wechseln, wenn er nicht Ruhe gibt und ich greife nach meinen Kopfhörern. Das ultimative Zeichen dafür, dass ich nichts mehr hören will. Jeff ignoriert es. So wie immer. „So viel Popcorn kannst du gar nicht besorgen“, sage ich als letztes, schnappe mir meine Jacke und lausche den chilligen Klängen von Twenty one pilots ´Stressed out ´, während ich aus dem Wohnheimzimmer verschwinde. Nach gründlichem Händewaschen gönne ich mir draußen noch eine Zigarette und denke schon wieder an Kain. Das nächste Lied, was einsetzt, ist Elle Kings ´ Ex´s & Oh´s ´. Oh, treffe mich doch endlich der Schlag. Den nächsten Tag strafe ich Jeff mit der angekündigten Ignoranz, ziehe es durch bis Mittag und ergebe mich meinem Schicksal, als am Nachmittag auf wundersame Weise zwei Eimer des süßen Kinofutters auf meinem Bett auftauchen. Auf Kain treffe ich nicht, erwische mich aber des Öfteren dabei, wie ich mich nach dem Schwarzhaarigen umsehe. Mit Kopfhörern und schwerer, vorgetäuschter Arbeit bleibe ich so lange vor meinem Rechner sitzen, bis die anderen eingetrudelt sind. Kain stellt seine Tasche neben meinem Tisch ab, beugt sich zu mir runter und schaut sich die Datei auf meinem Bildschirm ab. Diesmal ist es nichts weiter als die Abschrift einer Vorlesung. Mein Puls animiert sich dennoch. Ich sehe, wie sich seine Lippen bewegen, während er ein paar der Passagen liest. Verstehen kann ich es nicht, weil mir The Sounds gerade `Something to die for´ entgegen brüllen. ´When something's right, then something is worth to die for. When I feel that something is wrong, then something is worth to fight for´. Der letzte Teil verschwimmt, weil mir der Schwarzhaarige den Kopfhörer vom Ohr streift. „Ich habe die Klausur aus dem letzten Semester. Der Prof ändert immer nur zwei, drei Fragen. Der Rest bleibt gleich. Möchtest du sie haben?“ „Wie kommst du an die Klausur?“, frage ich verwundert. „Ich habe Kontakte. Und bin im 3. Semester durchgefallen.“ Nach dem ersten Satz macht er eine theatralische Pause. „Ernsthaft?“ Ich bin wirklich überrascht. „Ja, aber es lag daran, dass ich vorher zwei anderen Prüfungen hatte und ich für diese nur noch auf Lücke lernen konnte. Leider hat er dann auch genau nach meinen Lücken gefragt. Es war verheerend.“ Kain macht eine Grimasse und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Seid ihr fertig? Uni ist für heute vorbei!“ Also schaltet man seinen Kopf ab? Ich sehe verstört zu dem blonden Anhängsel meines Mitbewohners, der sich bereits bequem auf Jeffs Bett drapiert hat. Anscheinend vergisst er regelmäßig, sein Gehirn wieder anzuschalten. „Los, sucht euch einen Platz“, fordert nun auch Jeff auf, pflanzt sich neben Abel auf das gemachte Bett. Ich lasse mich schweigend auf meines fallen und verschränk die Arme vor der Brust. Alles sieht zu Kain. „Ich werde mich definitiv nicht neben die zwei pubertierenden Mundakrobaten setzen", lässt Kain verlauten, deutet kopfschüttelnd auf Pat und Patachon und steuert auf mein Bett zu. Mit dieser anschaulichen Erklärung lässt er sich fallen. Direkt neben mich. Ich will protestieren. Mein Bett ist mir heilig. Doch Kain scheint das wenig zu stören, schließlich hat er sich schon einmal ohne zu Fragen einfach hingelegt. „Ich beiße nicht", flüstert er. Seine Augenbraue wandert neckisch nach oben und ich warte einen Moment auf das verräterische ´Weißt du doch´. Ich setze zur Flucht an. Ich sehe lieber nur die Hälfte vom Bildschirm, also mich diesen Spitzfindigkeiten auszusetzen. Kain packt mein Handgelenk und zieht mich zurück. Mein angedeuteter Nörgelversuch wird von seinem Blick unterbrochen. Ich ergebe mich meinem Schicksal und sehe zu Jeff und Abel. Sie beobachten uns tuschelnd. „Ich würde gern die ersten 10 Minuten des Films sehen, bevor ich einschlafe", gebe ich leicht genervt von mir. Jeff lacht wissend und kramt nach der Fernbedienung. Der Film beginnt im alten Japan. Die Geisha. Jeff hat seine Drohung wahr gemacht. Ich schaffe eine halbe Stunde, dann merke ich, wie mir die Dunkelheit und der langatmige Film jegliche Aufmerksamkeit raubt. Zu dem benebelt mich Kains Anwesenheit. Abgesehen vom Sex sind wir uns noch nie so lange so nah gewesen. Mit jeder schläfrigkeitsfördernden Minute scheint der seltsam vertraute Geruch des anderen Mannes intensiver zu werden. Berauschender. Beruhigender. Selbst seine Wärme dringt nach und nach zu mir. „Robin?" Kain flüstert meinen Namen. Er wiederholt ihn zwei weitere Mal und ich brauche einen Moment, bis ich registriere, dass es kein Traum ist. Ich bringe nur ein Blinzeln zustande, sehe dabei direkt in den hell erleuchteten Bildschirm und murre. Kain legt seine Hand auf meinem Oberschenkel ab. So, wie es vor ein paar Tagen auch Jeff getan hat. Die Stelle seiner Berührung beginnt sofort zu pulsieren. Schlagartig bin ich wach. Ich spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und winkele mein Bein an, um so seiner Hand zu entkommen. „Wo sind Jeff und Abel?“, frage ich, sehe mich kurz verschlafen um. Erst jetzt wird mir meine vorige Position klar. Ich bin an Kains Schulter eingeschlafen. Kein Wunder, warum es so warm und benebelnd gewesen ist. Wie peinlich. Unwillkürlich streiche ich mir über die Lippen in der Hoffnung nicht auch noch gesabbert zu haben. „Sie sind gemeinsam auf Klo.“ Seine Stimme vibriert verdächtig. Ich brauche einen Augenblick, um zu begreifen, was er mit der seltsamen Betonung ausdrücken will. Der Gedanke daran, dass sie sich in diesem Moment zusammen vergnügen könnten, erzeugt in mir ein seltsam unwirkliches Gefühl. Ich streiche mir die Haare zurück und lehne mich nach vorn. Das angehaltene Bild im Fernseher flimmert. Die Szene erkenne ich nicht. „Ich hätte gern noch eine Antwort von dir…“, sagt er ruhig. „Ja, ich würde die Klausur nehmen. Nur um mal zu gucken.“ Für größere Schummeleien bin ich nicht zu haben. Selbst in der Schule habe ich mir nie einen Spickzettel geschrieben. „Okay, aber das meinte ich nicht.“ Ich bin mir sicher, dass ich furchtbar dämlich aus der Wäsche gucke. Ich stehe auf dem Schlauch und bin noch nicht richtig wach. „Lass mich die Frage wiederholen. Was. Willst. Du?“ Sein Blick ist so intensiv, dass ich augenblicklich vom Bett flüchte. Auch, wenn das überhaupt nichts ändert. „Warum…? Warum machst du das?“, platzt es aus mir heraus und Kain verwundert an. „Das hier.“ Ich deute zwischen uns hin und her. Obwohl meine Ausdrucksweise mehr als kläglich ist, scheint er zu verstehen. „Muss ich einen Grund haben?“, gibt er retour und überrumpelt mich damit genauso, wie ich ihn. „Wäre hilfreich“, kommentiere ich. Kain weicht meinem Blick aus und überlegt. Nur kurz. Nur einen Augenblick lang, doch es scheint mir eine Ewigkeit zu sein. „Ich hab es dir schon mal gesagt. Ich finde dich anziehend und ich mag den Sex mit dir. Mehr als ich dachte.“ Der letzte Teil zaubert ein deutliches Grinsen in sein Gesicht. Ich kann nur müde lächeln. Diese Begründung ist unbefriedigend. Das erklärt so gut wie gar nichts. Weder die Gründe, wieso er trotz meines bestechenden Ekelseins nett zu mir ist, noch warum er trotz Heterosexualität mit einem Kerlen ins Bett geht. Ein Thema, dass ich bei Gelegenheit ausführlicher erkunden sollte. Auch, warum ich mich so wenig dagegen wehren kann, wenn er mich flachlegt. „Mach es doch nicht komplizierter als es ist. Was willst du denn von mir hören?“ Ich weiß es selbst nicht. Im Grunde hat er Recht. Ich mache es mir selbst unnötig kompliziert. „Ich stehe einfach darauf, dass sich ein unscheinbarer Typ wie du beim Sex wie ein Flummi verhält. Das hat was." Hoch amüsiert. Für ihn ist das Alles nur ein einziger Spaß. Wie erwartet. Es ist und bleibt ein Fehler. Nichts weiter als emotionaler Ballast, denn ich weder gebrauchen noch ertragen kann. „Du bist zum Totlachen", gebe ich trocken und wenig belustigt von mir. Ich verfluche augenblicklich meine akute Humorlosigkeit, ohne die ich jetzt zweifelsfrei selig gen Hölle stürzen wurde. Mir ist auch nichts vergönnt. Kain seufzt. „Ich mag dich einfach. Verklag mich dafür!“, knallt er mir entgegen. Ich stocke, spüre, wie sich dieses seltsame Gefühl wiederholt in meiner Brust ausbreitet. Er hat das gerade wirklich gesagt? Wir fahren beide zusammen, als die Tür aufgeht und unsere Mitbewohner lachend durch die Tür stürzen. Sie scheinen unsere Anwesenheit im ersten Moment gar nicht wahrzunehmen. Vor allem Abel startet eine weitere Kussattacke, obwohl Kain und ich mehr als eindeutig zu störenden Gaffern mutiert sind. Mein Kindheitsfreund scheint peinlich berührt und weicht dem Angriff wenig dezent aus, in dem er Abels Gesicht zur Seite drückt. „Hey, ist es okay für euch, wenn wir in unser Zimmer verschwinden? Ihr könnt ja den Film zu Ende gucken“, sagt Abel, sieht in erster Linie zu Kain, der sich fahrig durch die dunklen Haare streicht. Sein Nicken ist nur angedeutet. „Robin?“ Abels mattblauen Augen erfassen mich. Wenn ich nicht wüsste, was diese Fragerei bedeutet, dann wäre aus seinem nichtssagenden Blick kaum etwas zu erlesen. Ich zucke mit den Schultern. „Viel Vergnügen…“, gebe ich zu bissig von mir. Jeff bleibt zurück, während sein Partner bereits an der Tür ist. Sein Blick will von mir ein zweites Einverständnis. „Geh, sonst ist Abel fertig bevor du angefangen hast…“ Schon wieder klinge ich verletzend. Mein Mitbewohner trollt sich und Kain und ich bleiben zurück. Schweigend. Die Luft zwischen uns ist so schwer, dass ich das Gefühl habe, nicht atmen zu können. Ich fahre mir unwirsch durch die Haare. Kain unterbricht mich, bevor ich wirklich ansetzten kann. „Ich suche mir etwas anderes zum Pennen…“ Er sieht mich an. In meinem Kopf schreit es laut danach, dass ich ihn aufhalten soll. Ich rühre mich nicht, sondern sehe dabei zu, wie er seinen Rucksack aufklaubt und sich ebenso wie ich durch die dunklen Haare streicht, während er an mir vorbei geht. „Warte“, flüstere ich, jedoch so laut, dass der Angesprochene reagiert. Kain bleibt an der Tür stehen und blickt mir entgegen. Der Kampf in meinem Inneren ist noch in vollem Gange. Unruhe. Das deutliche Schreien in meinem Inneren, was mir sagt, dass ich in meiner Isolation bleiben soll. Das Flüstern, welches mir sagt, dass es mir nicht schadet. Eine Chance. Ich schließe zu ihm auf, ziehe eine der geklebten Karten aus meiner Hosentasche und reiche sie dem Schwarzhaarigen. Es ist die Drei. „Frag mich etwas", sage ich und blicke in das überraschte Gesicht des anderen Mannes. Es ist nur ein Schritt. Was soll schon passieren? Kain nimmt mir die Karte nach kurzem Zögern aus der Hand. „Gab es jemals jemanden, dem du richtig vertraut hast?" Die Frage formuliert sich ohne weitere Verzögerung. Mein Herz macht einen Satz, der für mich einer grobschlächtigen Perforation gleich kommt. Ich habe damit gerechnet, dass er mich nach meinen Büchern fragt. Nach meinen Beweggründen. Vielleicht nach dem versauten Vortrag. Nach allem. Doch das. Es überfordert mich. Ich könnte lügen. Ich könnte flüchten. „Ja,…" Ich antworte ehrlich. „Was ist passiert?" Ich will ihm verdeutlichen, dass das eine unerlaubte zweite Frage ist. Möchte mich abwenden. Weglaufen. Ich tue es nicht. „Er ist gestorben." Kain lässt die Karte sinken. Ich sehe auf. Er hat diesen Gesichtsausdruck, den jeder bekommt, wenn man vom Tod spricht. Es ist diese prekäre Mischung aus Hilflosigkeit und Schuldempfinden, welche unbegründet sind und die Situation immer schwerer machen. -------------------------------------------- PS: Vielen lieben Dank euch wunderbaren Leserchen und Kommentatoren für eure aufbauenden Worte und Reaktionen. Ihr seid unglaublich und ich möchte euch von ganzen Herzen danken! Ein ungeplantes Kapitel, weil das folgende sonst zu lang geworden wäre. <__< ähm ja. eure del Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)