Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 1: Verloren ------------------- Dichtes Schneetreiben hatte St. Petersburg unter einer weißen, stillen Decke begraben. Wer nicht hinaus musste, verbrachte den Tag in eine Decke gekuschelt in der Nähe der Heizung. Missmutig schauten Tyson, Kenny, Max und Ray auf den Gehweg vor dem Hotel, sahen, wie die Konturen sich immer mehr verwischten und der Schnee sich immer höher auftürmte. Eigentlich hatten sie sich die Stadt anschauen wollen, Kai hatte ihnen immer erzählt, dass es hier sehr schön war. Es gab viele historische Gebäude und diese tollen bunten Zwiebeltürme, die hier in Russland weit verbreitet waren. Außerdem war hier der größte und schönste Park Russlands (zumindest hatte Kai das behauptet). Doch kaum waren sie in Russland angekommen, hatte der Schneefall eingesetzt und in den vergangenen Stunden stetig zugenommen. An eine Besichtigungstour war nicht zu denken und so waren die Bladebreakers in der kleinen Bar des Hotels gelandet. Schweigend tranken sie Tee, beobachteten die einzelnen Schneeflocken und hingen ihren Gedanken nach. Gelegentlich seufzte einer der Blader, aber ein Gespräch wollte nicht so recht zustande kommen. Selbst Dizzy, Kennys Bitbeast, war verdächtig still. Vielleicht spürte der Computer, dass die jungen Männer nicht gut drauf waren. Schließlich hielt Tyson die Stille nicht mehr aus und ergriff das Wort: "Was er wohl macht?" Die restlichen Teammitglieder zuckten zusammen, Tysons Stimme hatte sie überraschend aus ihren Gedanken gerissen. "Wen meinst du?" Max hing immer noch seinen Gedanken nach. Wie viel hatte sich vor einem halben Jahr geändert? "Kai...?" Leise hatte sich Ray in das Gespräch eingemischt. Ihn hatte Kais Verschwinden am meisten getroffen. ~~Flashback~~ Sie waren gerade Weltmeister geworden und die Party war in vollem Gange. Wie lange die Feier schon ging, war schwer zu sagen, niemand schien sich für die Uhrzeit zu interessieren. Sie waren Weltmeister! Der Traum eines jeden Beybladers, eines jeden Sportlers. Immer wieder ging der Pokal von Hand zu Hand, es wurden unzählige Fotos gemacht. Selbst der ewig grimmige Kai ließ sich zu einem Foto hinreißen und so posierte auch er mit einem breiten Grinsen und dem Pokal in den Händen. Auch ein Gruppenfoto konnte er als Teamcaptain nicht ablehnen. Es gab zu essen und zu trinken und die White Tigers, die AllStarz und sogar die Majestics, die unglücklicher Zweiter waren, feierten ihren großen Erfolg mit ihnen. Sie hatten gewonnen! Ray wurde langsam müde. Die Aufregung hatte ihn ganz schön fertig gemacht; heute Morgen die spannenden Kämpfe, dann der große Triumph und danach wurden sie zuerst zu allen möglichen Presseterminen geschleppt, bis sie schließlich im Hotel gelandet waren. Die BBA hatte sich nicht lumpen lassen und einen der riesigen Konferenzräume in die Partyzone verwandelt. Mit katzengleicher Anmut streckte er sich und betrat die große Terrasse neben dem Saal. Der Unterschied zum Raum hinter ihm war gravierend: drinnen war es stickig und heiß, die Luft war überladen mit den verschiedensten Gerüchen nach Essen, Getränken, Rauch und Schweiß. Hier draußen war es wunderschön. Eine leichte Brise wehte durch die Bäume, und obwohl es Mai war, war es angenehm warm. Der Mond strahlte auf diese geheimnisvolle Weise, wie es nur der Neumond konnte, und vor ihm lag Moskau. In dieser eigentlich dunklen Nacht leuchteten die Laternen noch heller und verliehen den Gebäuden einen seltsamen Glanz. Ray ließ die Szenerie auf sich wirken. Eigentlich war es schade, dass sie morgen bereits nach Japan zurück fliegen würden, andererseits war er froh. Ihr Teamcaptain war noch schweigsamer als sonst und hatte sich noch mehr zurückgezogen. Umso mehr hatte sich Ray gefreut, als er Kai für die Fotos posieren sah. Es geschah nicht oft, aber wenn Kai lächelte, dann war es für ihn immer ein Ereignis. Zu sehen, wie der starre, kalte Ausdruck auf dem strengen Gesicht verschwand und sich seine Züge aufhellten, davon konnte Ray nicht genug bekommen. Er war förmlich süchtig nach diesem Lächeln und er provozierte es, so oft er konnte. Trotzdem konnte er es nur selten hervorlocken. Das war eigentlich traurig, denn Kai hatte so ein schönes Gesicht und man konnte sogar zwei feine Grübchen sehen, wenn er sich doch zu einem Grinsen hinreißen ließ. "Na, ist es dir da drinnen auch zu laut geworden?" Ray zuckte kurz zusammen, entspannte sich dann aber schnell wieder, als er sah, wer ihn angesprochen hatte. Kai hatte sich im Schatten an eine Wand gelehnt und war nun neben ihn getreten. Der Chinese musterte ihn verstohlen aus den Augenwinkeln. Kai trug wie immer zu Wettkämpfen und öffentlichen Auftritten seine blaue Hose und das schwarze Muskelshirt. Die roten Armschienen und der lange weiße Schal komplettierten das Outfit. Es stand ihm wahnsinnig gut, fand Ray, auch wenn die Armschützer ein wenig seltsam waren. Allerdings sah man Kai nie ohne die Dinger rumlaufen. Sein Blick wanderte weiter nach oben und betrachtete das fast schon entspannte Gesicht seines Captains. Natürlich hatten bei dem Weltmeisterschaftskampf die obligatorischen blauen Dreiecke in seinem Gesicht nicht fehlen dürfen. Sie passten eigentlich wunderbar zu seinen blauen Haaren; beides hatte den gleichen Farbton, obwohl mehrere silberne Strähnen seinen Pony durchzogen. Ray hatte sich schon immer gewundert, wie das Silber dorthin kam, aber eigentlich tat es dem Gesamtbild keinen Abbruch. Kai war wunderschön. Zumindest für ihn. Irgendwann hatte er angefangen, Gefühle für seinen eiskalten Teamcaptain zu entwickeln, aber er war sich unschlüssig, wie er damit umgehen sollte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Kai das Gleiche für ihn empfinden würde. Immerhin war er ja auch ein Junge und bei den vielen Mädchen, die ihn umschwärmten, war es kaum denkbar, dass er sich nicht für sie interessierte. Trotzdem hatte er nie ein Mädchen irgendwie ermutigt. Meistens blitzte er sie streng und kalt an und dann nahmen die "Weiber" (so bezeichnete er sie) schnell Reißaus. Kai wollte seinem Eisblock-Image anscheinend treu bleiben. Ray war das nur Recht. Er glaubte nicht, dass es ihm großartig gefallen würde, seinen Teamkollegen mit einem Mädchen im Arm zu sehen. Er war sich nicht genau bewusst, was seine Gefühle bedeuteten, aber dass sie über normale Freundschaft hinaus gingen, das war vollkommen klar. Zu sehr genoss er die Nähe des Anderen, wollte ihn mit einem Lächeln im Gesicht sehen, seine Stimme hören. Er wünschte sich, diesen wahnsinnig gutaussehenden jungen Mann anfassen zu können, mit seinen Händen über die muskulöse Brust zu fahren... Ach, es war verzwickt. Vielleicht sollte er alles auf eine Karte setzen und Kai alles gestehen? Aber dazu fehlte ihm einfach der Mut. Nicht auszudenken, was passieren würde. Wahrscheinlich würden sie nie wieder ein Wort wechseln. Darauf wollte Ray es nicht ankommen lassen; es war besser, seinen süßen Phönix nur von Weitem anzuhimmeln. Immerhin hatten die Bladebreakers die Weltmeisterschaft und in Japan erwartete sie ein Haufen Arbeit. Pressetermine, Fotoshootings - die BBA wollte sie einmal mehr ganz groß rausbringen. Viel Zeit, die das Team zukünftig zusammen verbringen würde. Und er würde jeden Moment nutzen. "Ja, du kennst doch Tyson und Michael. Sobald sie Essen sehen, drehen sie durch. Außerdem nervt mich Mariah..." verschmitzt lächelte Ray Kai an. "Hmpf." Nun grinste auch dieser leicht. "Ich kann es mir bildlich vorstellen." Trotz des Grinsens war sein Ton kalt, doch Ray hatte bemerkt, dass es verschiedene Nuancen in seinem Tonfall gab. Wenn Kai mit Tyson schimpfte, war seine Stimme einem Schneesturm gleich, wenn er mit Kenny eine neue Taktik analysierte, war er sachlich, aber frostig, und als er mit den Demolition Boys und diesem Boris gesprochen hatte, da war selbst Sibirien ein warmer, kuschliger Ort. Wenn er mit Ray sprach, dann war seine Stimme zwar kalt, aber so sanft wie frisch gefallener Schnee. Das gefiel ihm besonders. Sein Captain war vielleicht kalt, aber nicht so gefühllos, wie die Leute immer dachten. Deswegen unterhielt er sich gerne mit ihm. Und manchmal hatte Ray auch den Eindruck, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie sprachen über alles Mögliche, jedoch immer nur belanglose Dinge - das Wetter, Musik, die neusten Beyblades. Oft teilten sie sich auf den Reisen ein Zimmer und so bekam nie jemand etwas von diesen Gesprächen mit. Kai erzählte ihm nie private Dinge, aber das war Ray egal. Ihn freuten diese kleinen, geheimen Momente, die nur die Beiden miteinander teilten. Außerdem fand er die geheimnisvolle Aura, die Kai umgab, wahnsinnig anziehend. Er musste gar nicht alles wissen - wenn diese violetten Augen ihn anfunkelten, dann waren ihm die Umstände völlig egal. "Wirst du es vermissen?" "Was?" "Russland..." Ohne darüber nachzudenken, hatte er Kai zum ersten Mal eine persönliche Frage gestellt. Es war ihm einfach so rausgerutscht und er schalt sich selbst dafür, doch es war zu spät. Gespannt wartete Ray auf eine Antwort, doch als die Pause immer länger wurde, verließ ihn die Hoffnung. Er wollte sich schon entschuldigen, als er überrascht wurde: "Ja und nein. Ich werde die Schönheit des Landes vermissen, das ja. Aber es gibt andere Dinge, die ich ganz sicher nicht vermissen werde." Damit hatte Ray nicht gerechnet. Er wusste gar nicht, was ihn mehr verwunderte - die Tatsache, dass der eiskalte Russe überhaupt etwas von sich verraten hatte, oder dass er davon gesprochen hatte, die Schönheit seines Heimatlandes zu lieben. Ray freute sich darüber. Das unerwartete Geständnis zeigte, dass die Beziehung zwischen ihnen enger als je zuvor war. Plötzlich wurde er sich auch der Nähe zu seinem Captain bewusst. Ob es absichtlich war oder nicht, Kai war so nah herangerückt, dass sich ihre Arme leicht berührten. Die ungewohnte Berührung löste Seltsames in Ray aus: Ein leichtes Kribbeln breitet sich von dort aus, zog weiter und fand den Weg zu seinem Bauch, in dem sich augenblicklich Schmetterlinge breit machten. Außerdem war da noch etwas anderes. "Ray?" "Hm? Ja, was?" Der Angesprochene hatte sich ganz in dem neuartigen und sehr angenehmen Gefühl verloren, das durch die Berührung ausgelöst wurde. "Ich wollte dir etwas sagen..." "Was denn?" "Also, eigentlich, weißt du...?" Ray wartete, doch das Schweigen zog sich immer länger hin. Verdammt, diese Neugier. Was wollte Kai ihm sagen? Er hatte nervös geklungen. Wollte er ihm noch mehr von sich erzählen und traute sich nur nicht? Oder war es etwas völlig Belangloses? Oder vielleicht... vielleicht wollte er ihm auch genau das sagen, wozu er sich selbst nicht traute. Eventuell empfand Kai ja doch mehr für ihn als vermutet? Vielleicht hatte er sich in Ray verliebt und wartete nur auf den richtigen Augenblick, um etwas zu sagen? Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Der Schwarzhaarige seufzte innerlich. Wie kam er denn auf die Idee, Kai würde sich ausgerechnet in ihn verlieben? Sie hatten so etwas wie eine Freundschaft zueinander aufgebaut, aber das ging wirklich zu weit. Die fixe Idee, dass sie beide sich hier und jetzt einfach ihre Gefühle gestanden und dann für immer glücklich zusammenbleiben würden, war absurd. Und das wusste er. Aber konnte man etwas gegen seine Wünsche tun? Langsam war die Spannung nicht mehr auszuhalten. Warum sagte sein Captain nichts? "Ich, also..." Doch weiter kam Kai nicht. Im gleichen Moment kam eine ziemlich aufgedrehte, laute Chinesin mit bonbonrosa Haaren auf die Terrasse geplatzt und warf sich überschwänglich in Rays Arme. "Hier bist du! Ich hab' dich überall gesucht. Du kannst doch nicht so einfach verschwinden, wenn ich mit dir tanzen will." Fast schon unerträglich aufdringlich schmiegte sie sich an Rays Brust an. Sie hatte ein bisschen zu viel getrunken - das hatten sie alle - und Mariah war sich sicher, dass sie heute endlich eine Chance hatte, Ray erneut in ihr Bett zu bekommen. Die Euphorie des Sieges, gepaart mit Alkohol und ihrem katzengleichen, geschmeidigen Körper - wer würde da schon nein sagen? Sie hatte sich ein bisschen (viel) Mut angetrunken und sich dann auf die Suche nach ihrer heimlichen Flamme gemacht. Und dann hatte sie ihn entdeckt, zusammen mit diesem Eisklotz. Ray war im ersten Moment zu perplex, um zu reagieren. Im einen Augenblick hatte er auf Kais Statement gewartet, im nächsten Augenblick wurde er in eine Wolke aus rosafarbenen Haaren und schweren, süßen Parfum gehüllt. Genervt schloss er seine goldgelben Augen. Dieses Weib hatte ihm gerade noch gefehlt. Er wusste, was Mariah von ihm wollte, aber er konnte es ihr einfach nicht geben. Er liebte nun mal einen Mann. Liebte? Das war ein starkes Wort, aber er wusste einfach, dass es stimmte. Er mochte Kai nicht nur, er liebte ihn sogar. Verglichen mit dessen muskulösen und harten Körper, konnte seine Freundin aus Kindheitstagen nur verlieren. Umso deprimierender war es, dass sie nie ihre Gefühle gestehen würden. Mariah hatte sich in diese intime Situation gedrängt. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, was genau Kai ihm hatte sagen wollen. Wahrscheinlich würde es Wochen dauern, bis sie wieder soweit waren, das Gespräch an genau dieser Stelle fortzusetzen. Mariah war mit ihrer Annäherung noch nicht fertig und drückte im nächsten Moment ungeniert ihre Lippen auf seine. Ray war von diesem Kuss völlig überrumpelt und konnte nur hilflos dastehen und auf das Ende dieser ungewollten Zurschaustellung von Leidenschaft warten. Hilfesuchend sah er sich nach Kai um, doch ein antarktischer Blick ließ ihn auf der Stelle festfrieren. Bis zum ungeplanten Auftritt der jungen Frau hatte der kühle Captain der Bladebreakers einen sanften, fast liebevollen Glanz in den Augen gehabt. Jetzt war kaum zu unterdrückende Wut und Hass an deren Stelle getreten. Rays Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen; es gefiel ihm nicht, wenn Kai ihn so wütend anschaute. Abrupt kam wieder Leben in seine Bewegung. Genervt beendete er den Kuss und versuchte Mariah los zu werden. Als er sich endlich losmachen konnte, war der Russe war bereits mit einem eiskalten "Ich gehe ins Bett!" verschwunden. Nein! Sie hatten einen einzigartigen Moment geteilt und diese dumme Kuh hatte alles ruiniert. Jetzt platzte ihm wirklich der Kragen. "Verdammt, Mariah, was sollte das? Spinnst du?" Er musste sich zusammenreißen, um ihr nicht den Hals umzudrehen. Ein Bombeneinschlag hätte die Situation zwischen den beiden jungen Männern nicht effektiver beenden können. Mariah verstand die Aufregung nicht. Sie hatte ihren geliebten Ray doch vor Mr. Eisklotz gerettet, warum regte er sich dann so auf? Schon seit Jahren hatte sie auf so eine günstige Gelegenheit gewartet, obwohl sie so oft versucht hatte, ihn herumzukriegen. Eigentlich hatte sie immer vermutet, dass er einfach nur schüchtern war und deswegen nie auf ihre Avancen einging. "Was hast du denn, mein Hübscher, ich habe dich doch nur vor dem Eisblock retten wollen. Und ich habe dich gesucht, weil ich mit dir tanzen wollte.", dabei setzte sie ein freches, anzügliches Grinsen auf. Das war zu viel! Seit Jahren schon baggerte sie ihn an, aber er hatte sie nie ermutigt und jedes ihrer Angebote, gleich welcher Art, ausgeschlagen. Ging das nicht in ihren Schädel hinein, dass er nichts, absolut gar nichts von ihr wollte? Anscheinend musste er ihr wirklich dringend den Kopf waschen, damit sie es endlich verstand. "Mariah...", seine Stimme zitterte vor unterdrückter Wut, aber die junge Frau schien das völlig zu überhören. Mit leuchtenden Augen strahlte sie ihn an und wartete zweifellos auf die ersehnte Antwort oder sogar ein kleines Liebesgeständnis. Stattdessen wurde sie mit Worten regelrecht bombardiert. Ihre goldenen Augen starrten Ray schockgeweitet an und bei jedem weiteren Wort der Tirade füllten sich ihre Augen mehr mit Tränen. Nie hätte sie gedacht, dass Ray zu solchen Worten fähig war und so mit ihr sprechen würde. Mariah fühlte sich, als würde er ihr Herz nehmen und es direkt vor ihren Augen zerbrechen. Wie konnte er so grausam sein? Heftig schluchzend wartete sie gar nicht auf das Ende seines Ausbruchs, sondern rannte wortlos an ihm vorbei, durch den Saal und in ihr Zimmer. Ray atmete schwer, als er sich endlich wieder beruhigte hatte. Prompt kam ihm auch ein schlechtes Gewissen. Zugegeben, Mariah musste endlich verstehen, dass zwischen ihnen nichts laufen würde, aber das hätte er ihr auch anders sagen können, oder nicht? Er hatte sich so furchtbar aufgeregt über die verpasste Gelegenheit, mit Kai zu sprechen, dass er seine ganze Wut an ihr ausgelassen hatte. Das war eigentlich nicht fair. Trotz ihrer Nerv tötenden Art hatte sie es doch nur gut gemeint. Es war schön zu wissen, dass es einen Menschen gab, der in ihm mehr als nur einen Kameraden oder Freund sah. Leider war sie nicht die richtige Person gewesen. Er sollte sich wirklich bei Mariah entschuldigen. So behandelt zu werden hatte sie nicht verdient. Morgen früh würde er noch einmal mit ihr sprechen und sie um Verzeihung bitten. Jetzt tat es ihm wirklich leid. Der Abend war nicht ansatzweise so verlaufen, wie er sich das gewünscht hatte. Vielleicht sah morgen für die Welt ein wenig besser aus. ~~Flashback Ende~~ "Ray? Rahay? Bist du wach? Lebst du noch?" Eine Hand, die vor seinen Augen rumfuchtelte, holte ihn aus seinen Gedanken. Er hatte, wie so oft, an die verhängnisvolle Nacht von vor sechs Monaten gedacht. Natürlich hatte er sich am nächsten Morgen nicht mehr bei Mariah entschuldigen können. Der ganze Morgen wurde vom Kais Verschwinden überschattet und er hatte nicht einen Gedanken an Mariah verschwendet. Dass Kai ohne eine Spur verschwunden war, nahm all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Den Abschied der anderen Teams hatten sie kaum mitbekommen. Seitdem hatte er kein Wort mehr mit den White Tigers gewechselt. Sie waren sich danach nur einmal begegnet, aber Ray war seit dem Vorfall immer weit weg in seinen Gedanken. Er hatte kaum wahrgenommen, dass sich die Teams zum Essen verabredet hatten. Er wusste nicht mal, ob sie danach dort gewesen waren oder nicht. So Vieles hatte sich geändert... "Ray!" "Mh, was? Was ist los?" Fast schon ärgerlich hatte ihn Max in die Seite geknufft. Alle wussten, wie es um ihn stand, also waren sie geduldig mit ihm. Manchmal war aber auch ihre Langmut am Ende. "Wir wollen ins Bett gehen, es macht ja doch keinen Sinn, hier nur rumzusitzen. Kommst du mit?" Max, Kenny und Tyson waren aufgestanden und schauten ihn erwartungsvoll an. "Ähm, aber klar. Ich komme mit." Auch Ray erhob sich und folgte seinen Freunden durch die Lobby zu den Aufzügen. Wahrscheinlich würden sie nicht viel schlafen, die ungewohnte Zeitzone und die psychische Belastung des Turniers morgen würden sie sicher erfolgreich wach halten. Kapitel 2: Unerfreuliches ------------------------- Das Turnier hatten sie gewonnen, natürlich. Die Bladebreakers waren immerhin der amtierende Weltmeister. Es war ihr erster Wettkampf ohne ihren Teamcaptain und auch wenn Kenny formal diese Aufgabe als der "Chef" übernommen hatte: Es war einfach nicht das gleiche gewesen und würde es nie wieder sein. Sie hatten die Gegner, das zweitbeste Team in Europa, ohne größere Schwierigkeiten besiegt, doch immer wieder kam die Frage auf, warum sie nur zu viert angetreten waren. Die Frage wurde mit der Zeit immer lästiger. Nach dem Turnier kehrten sie abends in das Hotel zurück. Trotz des Sieges waren die Freunde deprimiert. Dieser Ausflug nach Russland war niederschmetternd gewesen und hatte alte Wunden aufgerissen. Sie alle waren froh, dass es morgen wieder nach Japan zurückgehen sollte. In der Eingangshalle des Hotels erwartete sie jedoch eine Überraschung: In der Lobby stand Mr. Dickenson und unterhielt sich mit einem Unbekannten. Eigentlich war ihr Manager in Japan geblieben; sie waren nur zu einem kleinen Wettstreit angetreten, bei dem die Anwesenheit des BBA-Mannes nicht vorausgesetzt wurde. Was machte er hier? Und wer war dieser Unbekannte? Doch sobald er sie sah, kam der rundliche Mann auch schon auf seine Schützlinge zu. "Tyson, Kenny, Max, Ray - schön euch zu sehen. Wie lief euer Turnier?" "Wir haben gewonnen...", antwortete Max lahm mit einer vagen Handbewegung. Sie alle fragten sich, was er hier tat, aber viel mehr noch interessierten sie sich für seinen Gesprächspartner. Die Person - es war nicht herauszubekommen, ob es ein Mann oder eine Frau war - war größer als Dickenson und vollständig in einen schmutzig grauen Umhang gehüllt. Wer trug denn heutzutage noch einen Umhang? Klar, es war November und es schneite seit zwei Tagen durchgehend, doch das war kein Grund, SO herumzulaufen. Mr. Dickenson lenkte ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf sich, als er sagte: "Ihr wundert euch sicher, warum ich hier bin. Ich habe, kurz nachdem ihr aufgebrochen seid, einen dringenden Anruf bekommen und musste hier etwas erledigen. Wenn ihr kurz in der Bar auf mich wartet, werde ich euch alles erklären. Ich verabschiede nur noch kurz unseren Gast." Mit einer ausladenden Bewegung deutete er auf den Unbekannten, der das Geschehen abseits verfolgt hatte. Er ging wieder hinüber und sie wechselten flüsternd ein paar Worte. Der Unbekannte nickte und ging dann langsam zu den Aufzügen. Das schwerfällige Humpeln entging den Bladebreakers nicht, doch bevor sie sich weitere Gedanken dazu machen konnten, wurden sie auch schon von Mr. Dickenson in die Bar gescheucht. Sie setzten sich an einen abgelegenen Tisch und warteten auf eine Erklärung. "Ich würde euch ja fragen, wie euer Wettkampf war, aber ich kann in euren Gesichtern lesen, dass ihr unbedingt wissen wollt, was los ist." Freundlich lächelte er seine Schützlinge einzeln an und räusperte sich: "Also, wo soll ich anfangen? Vorgestern, nachdem ihr aus Tokio abgeflogen seid, habe ich einen Anruf von der europäischen Geschäftsstelle der BBA bekommen. Man teilte mir mit, dass Voltaire bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist." Die vier Freunde schnappten schockiert nach Luft. Kais Großvater war bei einem Autounfall gestorben? Was war dann mit Kai? "Das war auch meine erste Frage." Es schien fast so, als ob der Mann ihre Gedanken lesen konnte. Rays Herz setzte einen Moment aus, nur um dann doppelt so schnell zu schlagen. Er hatte ein ungutes Gefühl und fürchtete sich vor den nächsten Worten. "In den vergangenen sechs Monaten hat die BBA nie aufgehört, nach ihm zu suchen. Doch wir konnten keine Spur von ihm finden. Kai war weder auf Fluglisten, noch wurde sein Pass irgendwo registriert. Er war zu keinen Wettkämpfen gemeldet und auch Dranzer wurde nie bei irgendwelchen inoffiziellen Matches eingesetzt. Das Alles haben wir ständig kontrolliert. Ihr wisst, dass jeder Einsatz eines Bitbeasts registriert wird. Doch Kai war völlig von der Bildfläche verschwunden. Als die Sache mit dem Autounfall passierte, handelte unsere europäische Geschäftsstelle zum Glück sofort und besorgte sich irgendwie den polizeilichen Unfallbericht." Der Mann räusperte sich wieder. Anscheinend war ihm das Folgende recht unangenehm. "Leider muss ich euch mitteilen, dass noch Jemand in dem Unglückswagen saß. Die Polizei schätzt, dass es ein junger Mann um die 18 Jahre gewesen ist. Durch die Schwere der Verletzungen konnte die Identität der Person nicht eindeutig geklärt werden..." Nein! Betroffen starrten die Vier ihren Manager an. Wieder war es Max, der als Erster seine Stimme wiederfand: "Wollen Sie uns sagen, dass... Heißt das etwa..." Er konnte es einfach nicht aussprechen. Zu grausam und schmerzvoll war der Gedanke für sie alle. Natürlich waren sie nie wirklich mit Kai warm geworden, aber er war einer von ihnen und einer der besten Beyblader der Welt. Er war ihr Freund, auch wenn er sich selbst vielleicht nicht so sah. Sie hatten ihn alle schrecklich vermisst, seine Nörgeleien und sein Geschimpfe, wenn etwas beim Training nicht so geklappt hatte, wie er es wollte. Aber auch seine guten Seiten hatten ihnen schmerzlich gefehlt: Wie er manchmal Tysons Betteln nachgab und das Training früher beendete, wie er mit Kenny stundenlang über die neuste Technik fachsimpelte, oder wie er immer die richtigen Worte fand, um Max abzulenken, wenn dieser seine Mutter vermisste. Und zu Ray hatte er ein fast schon freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Das alles sollten sie nie wieder erleben? Das konnte, das wollte sich keiner von ihnen vorstellen, aber die Realität konnte bitter sein. Dickenson konnte in den Gesichtern der Bladebreakers sehen, wie sie von Sekunde zu Sekunde verzweifelter wurden. Schnell beeilte er sich, die Situation doch noch zu retten: "Hört mal, man weiß nicht, wer die zweite Person in dem Auto war. Es könnte Kai gewesen sein, aber es hätte auch jeder andere sein können. Es wäre doch für uns alle einfacher, wenn wir davon ausgehen, dass Kai noch am Leben ist." "Das sagen Sie so einfach." Ray hatte das Wort ergriffen. "Er ist seit sechs Monaten spurlos verschwunden. Niemand hat etwas gesehen oder gehört. Wenn er noch lebt, wieso sagt er es uns nicht? Warum hat er uns keine Nachricht hinterlassen, wieso meldet er sich nicht? Wie können wir je sicher sein, dass er nicht doch in dem Auto saß?" Verzweiflung hatte Ray übermannt und nur schwer konnte er Tränen unterdrücken. Seit sechs Monaten machte er sich Vorwürfe, dass er und Mariah das Verschwinden ihres Captains zu verantworten hatten. Wenn sie sich damals auf der Terrasse nicht vermeintlich geküsst hätten, wäre Kai vielleicht noch da. "Beruhige dich Ray!" Beschwichtigend drückte ihm Mr. Dickenson die Hand. "Ich habe natürlich versucht, bei Biovolt nachzuforschen. Nach allem, was wir wissen, könnten sie mit Kais Verschwinden zu tun gehabt haben. Seit dem Unfall ist in der Organisation ein erbitterter Machtkampf um die Führung ausgebrochen und Niemand hat sonderlich Interesse daran gehabt, irgendetwas zu bestätigen oder zu dementieren. Momentan bekommen wir also keine Auskunft. Nehmen wir also fürs Erste an, dass Kai noch am Leben ist, bevor wir uns in Verzweiflung stürzen. Vielleicht klärt sich alles ganz schnell. Und das Leben geht weiter, egal, wie die Antwort ausfallen würde." Aufmunternd nickte er jedem einzeln zu. Vier Augenpaare schauten ihn ungläubig an. Konnte das wahr sein? Sie redeten davon, dass eines ihrer Teammitglieder vielleicht tot war und dieser Mann lächelte einfach, zuckte mit den Schultern und sagte ihnen, dass es einfach weitergehen musste. Das war unglaublich - unglaublich herzlos. Ray sah aus dem Augenwinkel, dass Tyson aufbrausen wollte, packte jedoch schnell dessen Handgelenk und drückte warnend zu. Ihr Manager mochte ziemlich herzlos sein und ihre Gefühle missachten, doch er war ihr Manager. Später, wenn sie wieder alleine wären, würde jeder seiner Angst und seinem Frust Ausdruck verleihen, das wusste Ray. Tyson und Max würden sich den einen oder anderen Drink genehmigen, Kenny würde sich mit Dizzy einschließen und er selbst würde den beiden Freunden zusehen und versuchen, nicht in Tränen auszubrechen, während er über alles nachdachte. Das handhabten sie seit sechs Monaten so und irgendwann war es zur Routine geworden. Natürlich wurden diese "Aussetzer" seltener, aber es kam immer noch vor, wenn ein Reporter ihnen eine bestimmte Frage stellte oder sie von anderen Teams auf ihren fehlenden Captain angesprochen wurden. "Seht ihr, Jungs, ich bin wegen zwei Dingen nach Russland gekommen. Ich war natürlich auf Voltaires Beerdigung. Wir kannten uns viele Jahre und auch wenn wir kein freundschaftliches Verhältnis zueinander hatten, war meine Anwesenheit als Vorstand der BBA sozusagen Pflicht. Biovolt war sehr daran gelegen, ihn möglichst schnell und leise unter die Erde zu bringen; sie haben an einigen Strippen gezogen, um so rasch handeln zu können. Das war das Erste. Und zum Zweiten: Ich hatte nach der Beerdigung die Gelegenheit, mit einer sehr interessanten Person zu sprechen, die ich euch gerne vorstellen möchte. Ich habe nämlich ein neues Teammitglied für euch gefunden!" "WAS?!" Wie vom Donner gerührt schauten die vier Bladebreakers den älteren Mann an. Was sollte das heißen? Ein neues Mitglied? Ihr Team war vollständig, ihr Captain war nur vorübergehend abwesend. Sie brauchten keinen neuen Blader an ihrer Seite, sie wollten keinen neuen Blader. Die Bladebreakers bestanden aus Tyson, Ray, Kenny, Max und Kai und das würde sich nicht ändern. Eher würden sie das verdammte Team auflösen! Schon war Tyson aufgesprungen, Rays warnenden Griff um sein Handgelenk ignorierte er völlig. Er setzte zu einer Schimpftirade an: "Was fällt Ihnen ein-" Doch weiter kam er nicht, da er bereits von Dickenson unterbrochen wurde: "Da ist er auch schon!" Der Unbekannte mit dem Umhang war in der Bar erschienen. Immer noch humpelnd kam er auf die fünf Personen zu und blieb dann in sicherer Entfernung zu den Sitzenden stehen. Ein Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des BBA-Vorstandes aus: "Darf ich euch das neue Mitglied der Bladebreakers vorstellen?" "NEIN!" Tyson und Ray hatten das Wort gemeinsam ausgespuckt. Wütend sahen sie die unbekannte Person an. "Wir wollen kein neues Teammitglied! Unser Team besteht aus fünf Personen und die sind nicht austauschbar! Egal wer das ist, egal wie gut er - oder sie - ist, er wird niemals Kai ersetzen können! Wir wollen ihn nicht!" Tyson hatte viel Nachdruck in die letzten Worte gelegt. Das Team nickte, sie waren vollkommen einer Meinung. Sie hatten das Thema früher einmal besprochen und sich für diese Linie entschieden, weil keiner von ihnen es hätte ertragen können, mit jemand anderem außer Kai zu bladen. "Aber ihr braucht ein fünftes Teammitglied! Was ist, wenn einer von euch ausfällt? Die Wettkampfregeln schreiben stets drei aktive Blader vor." "Das ist uns egal. Lieber würden wir einen Kampf verlieren, als jemand anderen in unser Team aufzunehmen." Diesmal hatte Kenny das Wort ergriffen. Er fühlte sich ein bisschen schuldig, weil er selbst nicht bladete, aber die anderen hatten ihm stets den Rücken gestärkt. Es gab nur sie und sie würden auf ihrem Standpunkt bestehen bleiben. "Wollt ihr es nicht wenigstens einmal versuchen? Er ist einer der stärksten Blader der Welt, das wird euch die BBA bestätigen. Außerdem könnte ich euch als euer Teammanager dazu zwingen, das wisst ihr." Die Diskussion lief ein paar Minuten. Die Mannschaft weigerte sich standhaft, einen weiteren Blader in ihre Reihen aufzunehmen und Dickenson bestand darauf, dass die Person in dem Umhang ein ernstzunehmender Ersatz für Kai wäre. Laut BBA-Regeln durfte eine Mannschaft jedoch nur aus 5 Bladern bestehen und so hätten sie, um den Neuen aufzunehmen, Kai offiziell aus dem Team streichen lassen müssen. Das kam für die Bladebreakers natürlich nicht in Frage. Sollte ihr Captain eines Tages wieder auftauchen, sollte er sehen, dass er jederzeit wieder zu ihnen zurückkommen konnte. Sie waren in all der Zeit so etwas wie eine Familie geworden und man konnte ein Familienmitglied nicht einfach wegstreichen, nur weil es fehlte. Der Unbekannte, um den es die ganze Zeit ging, schien nur körperlich anwesend zu sein. Er fixierte die ganze Zeit einen Punkt in weiter Ferne und machte nicht den Eindruck, überhaupt etwas zur Diskussion beitragen zu wollen. Schließlich verzweifelte Mr. Dickenson. Er hatte nicht geglaubt, dass sich seine Schützlinge so quer stellen würden und nicht einmal kurz über seinen Vorschlag nachdenken wollten. Er hoffte, ein letzter Versuch würde helfen: "Schaut ihn euch doch wenigstens an. Ihr werdet sehen, dass er so gut ist, wie ich es euch sage. Er wird sich gut in das Team einfügen!" Es war aussichtslos. Der Mann wollte einfach nicht verstehen, wieso sie sich weigerten, diesen Typen auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen. Niemand konnte Kai ersetzen! Doch ergeben seufzte schließlich Kenny auf. Er war formal der Chef des Teams und letzten Endes hatte er die Entscheidung zu treffen. Sie würden auf Mr. Dickensons Bedingung eingehen und sich den Blader ansehen. Doch selbst wenn er besser als sie alle zusammen sein würde, würde er das Angebot ablehnen. Dann konnte der BBA-Vorstand aber nicht mehr behaupten, sie hätten ihn nicht genau genug angesehen. "Einverstanden, Mr. Dickenson. Er soll uns aber zuerst seinen Blade zeigen. Dann werden wir sehen, ob sich ein Kampf lohnt." Die anderen Bladebreakers nickten, sie wussten, was ihr Chef vorhatte. Man konnte einen guten Blader bereits an der Bauweise seines Beyblades erkennen und Kenny, der auf diesem Gebiet jeden BBA-Techniker in die Tasche steckte, konnte bereits auf den ersten Blick sagen, wie viel so ein Blade taugen würde. Selbst wenn der Spieler technisch noch so gut war - war der Kreisel laienhaft aufgebaut, taugte er nichts. Damit war auch der Manager einverstanden und wandte sich an seinen Gast: "Zeig uns doch bitte deinen Blade." Trotz der abwesenden Haltung kam der Angesprochene der Aufforderung gleich nach. Er griff in seine Hosentasche und trat dann an den Tisch, an dem die fünf Personen saßen. Schweigend legte er den Beyblade darauf ab und nahm dann wieder seinen Abstand von vorhin ein. Bestürzt starrten die Bladebreakers auf den Blade. Auf dem Tisch lag Dranzer. Kapitel 3: Gefunden ------------------- Dickensons Lächeln wurde breiter, je länger er in die verwunderten Gesichter der vier jungen Männer neben sich blickte. Anscheinend war ihm die Überraschung gelungen. Er hatte die vier jungen Männer lange in ihrem Schmerz beobachtet, hatte aber nichts für sie tun können. Die BBA hatte ständig nach Kai gesucht, aber keine Spur finden können. Er war wie vom Erdboden verschluckt gewesen - bis zu dem Anruf vor zwei Tagen. Erstmals hatte der Manager ein wenig Hoffnung verspürt, seinen verschwundenen Teamcaptain endlich zu finden. Deshalb war er auch persönlich nach Russland gereist. Die Beerdigung war lediglich ein Vorwand gewesen, viel mehr hatte er selbst einige Nachforschungen betreiben wollen, auch wenn sich im Nachhinein herausgestellt hatte, dass das nicht nötig war. Die meiste Zeit seines Aufenthalts hatte er in einem Krankenzimmer verbracht. Vor dem Treffen mit den Bladebreakers war er jedoch unsicher gewesen, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Deshalb hatte er auch diesen kleinen "Test" inszeniert. Er wollte wissen, was das Team wirklich dachte und hatte deshalb diese extreme Situation provoziert. Denn das, was sein wiedergefundener Schützling wirklich brauchte, war der bedingungslose Rückhalt von Menschen, die ihn liebten. Mr. Dickenson hatte schon länger gewusst, dass die Jungs insgeheim beschlossen hatten, Kai niemals zu ersetzen, aber er wollte wissen, ob sie dabei bleiben würden, wenn er sie wirklich bedrängte. Mittlerweile war er hochzufrieden und ein bisschen stolz auf den innigen Zusammenhalt der Mannschaft. Ray fing sich als Erster wieder: "Das ist Dranzer..." Es war kaum mehr als ein Flüstern. "Richtig." "Dann bedeutet das... Ist das wirklich Kai?" Er wagte den Namen kaum auszusprechen - zu wunderbar wäre die Vorstellung, dass es wirklich stimmte. "Vielleicht sollten wir ihn selbst fragen. Nimmst du bitte deine Kapuze ab?" Der BBA-Vorstand sprach langsam und freundlich. Alle Augen richteten sich auf die Person in dem grauen Umhang, die bei den Worten zusammengezuckt war. Doch dann griff sie langsam nach der Kapuze und lüftete das Geheimnis: Zuerst kamen silbergraue Haare zum Vorschein, die frech in seine Stirn fielen. Im gedämpften Licht der Bar leuchteten die kalten Augen mattrot. Die obligatorischen blauen Dreiecke fehlten ebenfalls nicht. Das war eindeutig ihr Kai. "Ich hoffe, ihr seid mit der Wahl des neuen Teammitglieds zufrieden." Mr. Dickensons Stimme durchbrach die Stille, die sich drückend über alle gelegt hatte. Fassungslos starrten sie immer noch ihren verlorenen Freund an - sechs Monate war er verschwunden gewesen und sie hatten beinahe die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wieder zu sehen. Jetzt stand er einfach so hier. Kai. Es war so unglaublich. Es gab kein Halten mehr. Tyson, Kenny und Max sprangen auf und mit einem kollektiven "KAI!" überwanden sie die kurze Entfernung und umarmten ihren wiedergefundenen Captain überschwänglich. Sein Zusammenzucken und das beständige Zittern entging ihrer Aufmerksamkeit völlig, lediglich Ray sah es. Überhaupt sah er mehr, als ihm lieb war, und es gefiel ihm ganz und gar nicht. Vor einem halben Jahr hatte Kai nicht mehr als ein paar vereinzelte silberne Strähnen gehabt, jetzt war fast sein ganzes Haar silbergrau. Früher hatte er lediglich ein kleines blaues Dreieck auf jeder Wange gehabt, inzwischen waren es zwei und sie waren wesentlich größer. Es war fast so, als würde er seine Züge dadurch komplett verbergen wollen. Und noch irgendetwas war seltsam daran, Ray kam nur im Moment nicht darauf. Aber das Schlimmste waren diese Augen. Er hatte damals Stunden damit verbracht, sie zu betrachten, sich jedes Detail zu merken. Er hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. Sie hatten ein leuchtendes, lebendiges Violett gehabt. Jetzt war aus ihnen jeglicher Glanz verschwunden, sie waren völlig leer und ausdruckslos. Fast wie tot. Das beunruhigte Ray am Meisten. Doch die Situation drohte zu kippen. Von den drei Japanern unbemerkt hatte Kais Gesicht zuerst einen ängstlichen, dann panischen Ausdruck bekommen. Es war nicht berechenbar, was als nächstes passieren würde. Glücklicherweise hatte noch jemand die Veränderung bemerkt. "Das reicht jetzt, Jungs. Lasst Kai noch Luft zum Atmen. Setzt euch, dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten. Kai, was hältst du davon, wenn du die Kapuze wieder aufsetzt und nach oben gehst. Wir müssen morgen ziemlich zeitig los. Schlaf noch ein bisschen." Kenny, Tyson und Max ließen ihren Captain bereitwillig los. Mit einem fast schon seligen Lächeln setzten sie sich wieder. Wieder zuckte Kai kurz zusammen, als sein Name genannt wurde, dann nickte er, nahm Dranzer an sich und setzte wortlos die Kapuze auf. Humpelnd begab er sich in sein Zimmer. Die ganze Zeit hatte er nicht ein Wort gesprochen und Niemanden angesehen. Mr. Dickenson wandte sich an das restliche Team. Vor wenigen Minuten stand in ihren Gesichtern noch Wut und Verzweiflung, jetzt hatte sich überschwängliche Freude darauf ausgebreitet. Lediglich bei Ray sah er neben Freude auch Sorge. "Wie haben Sie ihn gefunden?" Kenny sprach die Frage Aller aus. "Ich habe euch gesagt, dass die europäische Außenstelle der BBA schnell gehandelt hat. Da wir keine Spur von Kai selbst hatten, haben wir angefangen, Voltaire zu observieren. Sobald bekannt wurde, dass er verunglückt war, haben sich unsere Leute sofort in die Spur gesetzt und die Umstände recherchiert. Und sie hatten Glück. Man hat Kai aus einem russischen Krankenhaus geholt und in eine unserer Einrichtungen gebracht. Er wurde medizinisch versorgt und man mich verständigt. Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich sofort nach Russland geflogen. Biovolt ist so tief in den internen Machtkampf verstrickt, dass dort niemand weiß, dass er noch lebt. Wir werden ihn also nach Japan bringen und hoffen, dass das Chaos bei Biovolt anhält. Morgen halb 8 geht der erste Flug nach Tokio. Hoffen wir also, dass wir fürs Erste Ruhe vor diesen Leuten haben. Ihr solltet jetzt übrigens schlafen gehen, morgen geht es zeitig los." Max hatte verstohlen gegähnt und auch Tyson fielen langsam die Augen zu. Der Tag war wesentlich aufregender gewesen, als sie heute Morgen vermutet hätten. Als sich alle Vier zum Abschied erhoben, lächelte Mr. Dickenson alle noch einmal herzlich an und entließ sie mit einem Nicken. Bei Ray angekommen sagte er jedoch: "Ray, würdest du mir noch kurz von dem Wettkampf heute berichten?" Dabei warf er ihm einen vielsagenden Blick zu. Ray verstand sofort und setzte sich wieder. Seine Teamkameraden stutzten kurz, dann machte sich das japanische Dreiergespann auf den Weg nach oben. "Also, was ist wirklich passiert?" Rays Stimme hatte einen besorgten Klang angenommen. Der Manager nickte: "Ich habe gemerkt, dass du mehr gesehen hast als die Anderen. Sicher ist dir auch Kais gewöhnungsbedürftiges Verhalten aufgefallen. Und das Humpeln." Alles das wurde bejaht. Ray machte sich wirklich Sorgen. Dieser junge Mann sah aus wie Kai, aber er war völlig anders. "Er ist es wirklich, das haben die Ärzte überprüft. Aber wir haben keinen Schimmer, was passiert ist. Er hatte mehrere Knochenbrüche, deswegen humpelt er auch so. Eigentlich müsste er an Krücken gehen, aber natürlich hat er sich geweigert, sie zu benutzen. Außerdem sind die drei letzten Finger seiner linken Hand gebrochen, sowie zwei Rippen. Das Problem ist, dass unsere Ärzte nicht wissen, ob er sich die Verletzungen beim Autounfall zugezogen hat oder ob er sie bereits vorher hatte. Man hat lediglich die Brüche und einige größere Schnittwunden versorgt, mehr hat Kai nicht zugelassen. Keiner durfte ihn berühren. Er antwortet auch nicht auf Fragen, noch hat er sonst irgendetwas gesprochen. Er tut, was man ihm sagt, so wie vorhin, als ich ihn gebeten hatte, Dranzer auf den Tisch zu legen. Meistens sitzt er einfach nur herum und starrt Löcher in die Luft. Als ich ihn abgeholt habe, hat er nichts gesagt, er hat sich nur kurz bedankt. Ich weiß nicht, was, aber irgendetwas Schreckliches muss ihm zugestoßen sein." Ray schluckte. Das war alles noch viel schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. "Worum ich dich bitten würde, ist, dass du dich um ihn kümmerst. Du warst für Kai das, was einem Freund am nächsten kommt, nur zu dir hat er ein so enges Verhältnis aufgebaut. Niemand weiß genau, was passiert ist, aber wir müssen ihm jetzt helfen, wieder in die Normalität zurückzufinden. Sein Verhalten ist nicht normal, also müssen wir versuchen, ihn irgendwie zurückzuholen. Ich habe für euch Fünf einen Ausflug in die Berge organisiert. Sobald wir in Tokio sind, könnt ihr aufbrechen. Es war für euch alle ein schweres halbes Jahr und ihr habt euch euren Urlaub verdient. Die Turniere, die Sorge um Kai, der Presserummel, ihr müsst einfach mal ausspannen. Nutzt die Zeit, um euch zu erholen, und vielleicht könnt ihr auch zu Kai durchdringen und den alten Miesepeter wieder wecken." Die letzten Worte hatte Dickenson mit einem Zwinkern gesagt. Auch Ray nickte. Das war eine ausgezeichnete Idee. Seit der Weltmeisterschaft hatten sie kaum Zeit zur Entspannung gehabt. Ein paar Tage abseits des ganzen Rummels würden allen gefallen. Sie plauderten noch ein paar Minuten - dieses Mal tatsächlich über das heutige Turnier - dann verabschiedete sich Mr. Dickenson. Er würde ebenfalls im Hotel übernachten und versicherte Ray, dass er jederzeit bei Problemen helfen würde. Ray saß noch ein paar Minuten da und dachte über das Gespräch nach. Er hatte Kai noch nie so merkwürdig erlebt. Er bezweifelte keine Sekunde, dass er keine leichte Zeit gehabt hatte, während er die letzten Monate verschwunden gewesen war, doch was genau passiert war, damit würde Kai wohl kaum freiwillig herausrücken. Wenn er mit Mr. Dickenson und den Ärzten kein Wort gesprochen hatte, würde er dann mit ihm oder den anderen reden? Der Manager hatte Recht, nur zu ihm hatte Kai ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut, aber bestand das jetzt noch, nach dieser Nacht? Nach der Aktion mit Mariah? Da war er sich keineswegs sicher. Er hatte nie erfahren, was genau Kai ihm hatte sagen wollen sagen wollte, oder wie er den Überfall der Chinesin aufgenommen hatte. Er war wutentbrannt abgerauscht, aber bezog sich diese Wut auf Mariah oder auf ihn, Ray? Langsam machte er sich auf den Weg nach oben. Seit Kai nicht mehr da war, hatte er sich ein Zimmer mit Kenny geteilt. Der Chef war ganz okay, nur das ständige Gerede mit Dizzy ging Ray ein wenig auf die Nerven. Mit Kai war es stets ruhig gewesen. Damit hatte er nie ein Problem gehabt; er war Niemand, der ständig Action um sich herum brauchte. Sie hatten sich selten unterhalten (kurz vor dem Verschwinden ein wenig öfter), sondern meistens in einträchtigem Schweigen nebeneinander gelebt. Auf dem Ausflug würde sicher wieder die alte Zimmerordnung herrschen und dann gäbe es sicher wieder diese angenehme Stille zwischen ihnen. Vielleicht konnte es schrittweise wie früher sein. Falls Ray es schaffte, zu Kai durchzudringen. Gerade als er im Gang mit dem Zimmer ankam, fiel ihm wieder das Gespräch mit Mr. Dickenson ein: "Er spricht nicht; meistens sitzt er nur da und starrt Löcher in die Luft; er tut, was man ihm sagt." Was hatte Biovolt seinem armen Phönix nur angetan? Er hatte diese roten, toten Augen gesehen, die erstarrte Haltung und das Zittern, als die Tyson, Max und Kenny ihn umarmten hatten. Das war nicht normal, nicht mal für Kai. Welches Trauma musste man erleben, um sich in seinem Verhalten so zu ändern? Ihr Captain war schon immer ein distanzierter, kalter Mensch gewesen, aber jetzt schien es so, als sei er gar nicht anwesend. Die leeren Augen vermittelten den Eindruck, dass er weit weg war. Die Umarmung hatte ihn kurz zurückgeholt und in Panik versetzt, doch danach war er wieder völlig weggetreten. Aber wenn Kai nicht sprach, wie sollte Ray dann herausfinden, was passiert war und wie sollte er ihn erreichen? Wie konnten sie das schwache Band, das sie vor dem Vorfall hatten, wieder aufbauen, wenn Kai sich abkapselte? Aber vielleicht war das der falsche Ansatz. Damals hatte sich alles mit der Zeit ergeben - irgendwann hatte Kai den ersten Schritt gemacht und sich ihnen geöffnet. Wahrscheinlich würde es dieses Mal genauso laufen. Wahrscheinlich würde er sich ihnen anvertrauen, wenn sie ihm die nötige Zeit gaben und ihm zeigten, dass sie für ihn da waren. Etwas anderes würde das Team sowieso nicht tun können. So ganz gefiel Ray das nicht. Er war eine romantische Natur und obwohl ihm klar war, dass Kai eher der gegenteilige Typ war, so hatte er doch immer gehofft, er könnte nahtlos an die Nacht der Weltmeisterschaft anknüpfen, sobald dieser wieder auftauchte. Noch immer spürte er die sanfte Berührung ihrer Arme. Das wollte Ray wieder spüren, lieber gleich als später. Wahrscheinlich würde er das aber nicht so einfach bekommen. Leise öffnete er das gemeinsame Zimmer, vielleicht schlief Kenny ja schon. Zu Rays Überraschung befand sich nicht nur Kenny im Raum, sondern auch Max und Tyson, deren Zimmer eigentlich nebenan war. Gespannt schauten sie ihn an, als er sich auf sein Bett fallen ließ. "Nun erzähl schon, was hat Dickenson gesagt?", wollte Tyson auch gleich wissen. Max‘ erhobene Augenbraue ignorierte er. "Sag schon, wir können uns schließlich denken, dass es nicht nur um den Wettkampf ging." "Nein, du hast Recht. Wir haben auch über Kai gesprochen." Ray seufzte. Es konnte wohl nicht schaden, ein bisschen zu erzählen. Nicht alles, denn auch wenn Mr. Dickenson es nicht explizit gesagt hatte, war doch alles vertraulich gewesen und nur für seine Ohren bestimmt. Sonst hätte er die Anderen nicht nach oben geschickt. Aber vielleicht war es gut, wenn das Team zumindest ein wenig erfuhr. "Die BBA hat ihn nach dem Unfall in einem russischen Krankenhaus gefunden. Er war schwer verletzt - zwei Rippen sind gebrochen, dazu einige Finger seiner linken Hand und das rechte Bein. Eigentlich braucht er Krücken zum Laufen, aber ihr kennt ihn ja. Dickenson hat ihn abgeholt. Morgen fliegen wir zurück nach Tokio und von da aus schickt uns die BBA in den Urlaub." "Urlaub?", unverhofft hatte sich auch Dizzy gemeldet. "Ja, Mr. Dickenson meint, wir hätten welchen nötig, und außerdem soll er uns helfen, als Team wieder zusammen zu finden." "Das ist eine verdammt gute Idee!" Auch Max war sofort begeistert. "Hört mal, ich weiß nicht, ob das so einfach sein wird. Die BBA vermutet, dass Biovolt Kai etwas angetan hat. Seit sie ihn gefunden haben, spricht er nicht oder tut sonst irgendwas. Die Ärzte durften ihn kaum anfassen und nur die schlimmsten Verletzungen versorgen. Er scheint irgendein Trauma erlebt zu haben. Mr. Dickenson hofft, dass wir ihm helfen, es zu überwinden." "Das wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen, oder Leute?" Ganz klar war Tyson in seinem Optimismus nicht zu bremsen. Auch die anderen stimmten ein, bekamen aber schnell einen Dämpfer von Ray versetzt: "Wir sollten es nicht überstürzen! Wir wissen nicht, was ihm zugestoßen ist. Vielleicht machen wir alles nur noch schlimmer? Es wird sicher Zeit brauchen, bis er sich uns öffnet. Ihr wisst, dass Kai kein sehr offener Mensch ist. Wenn wir ihn bedrängen, wird er sicher komplett dicht machen und keinen von uns an sich heran lassen. Tut mir also den Gefallen und bestürmt ihn nicht mit Fragen. Er wird uns erzählen, was geschehen ist, wenn er soweit ist. Okay?" Die Ansprache hatte die Begeisterung des Teams ein wenig gedrückt, aber sie nickten alle verstehend. Ihr Teamcaptain war schon immer ein Buch mit sieben Siegeln gewesen und dieses konnten sie nur mit viel Geduld und Sorgsamkeit lesen. Kapitel 4: Allein ----------------- Fast schlafwandlerisch hatte Kai sein Zimmer erreicht. Mechanisch öffnete er die Tür und schaltete sofort alle Lichter ein. Er sah sich gründlich in allen Ecken um und erst als er sicher war, dass keine Gefahr drohte, schloss er seine Zimmertür ab. Er ließ sich auf das Bett sinken und starrte verloren an die gegenüberliegende Wand. Kai war zutiefst erschüttert von der Begegnung eben. Mr. Dickenson hatte ihn natürlich darauf vorbereitet, dennoch war es ein Schock gewesen, sein altes Team wiederzusehen. Die vergangenen Monate hatte er in völliger Dunkelheit gelebt. Dass Mr. Dickenson ihn gefunden und mit sich genommen hatte, hatte ein kleines Licht der Hoffnung in ihm entzündet. Die Hoffnung, endlich aus dem Albtraum zu entkommen. Jetzt brannte es wie ein Steppenfeuer und drohte ihn von innen zu verbrennen. Schuld daran waren diese Augen. Wie sie ihn angesehen hatten, so voll reiner Freude. Es war kaum auszuhalten gewesen. Die Dunkelheit in ihm war plötzlich wie weggeblasen und das freute ihn einerseits, denn er hatte sich lange genug davor gefürchtet. Doch andererseits beunruhigte es ihn. Trotz aller Furcht war die Dunkelheit sein Schutzschild vor der Welt gewesen, die ihn grausam verletzt hatte und ihn zerstören wollte. Jetzt, wo sie weg war, spürte er, wie eine Last von ihm genommen war, doch gleichzeitig fühlte er sich so schutzlos und verletzlich. Seine Teamkameraden würden ihn sehen, sie würden erkennen, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Was würden sie sagen, wenn sie sein Geheimnis wüssten? Würden sie ihn auslachen, ihn mitleidig ansehen, ihm Vorwürfe machen? Ihr Lachen würde er ertragen können, Vorwürfe machte er sich täglich hunderte Male, doch mit ihrem Mitleid wollte er nicht konfrontiert werden. Wenn sie alles wüssten, würden sie in ihm nicht mehr den Alten Kai sehen, ihren stolzen und starken Teamcaptain, sondern das, was er wirklich war: ein bemitleidenswerter Versager, der sich herum schubsen und misshandeln ließ und sich nicht wehren konnte. Er wusste nicht, was er tun würde, würden sie ihn jemals auf diese Weise ansehen. Vor allem wenn SEINE Augen ihn so ansehen würden. Das wäre unerträglich. Auch nach dieser langen Zeit der Abwesenheit wollte er die goldenen Sterne nicht traurig sehen. Das erstaunte ihn selbst ein bisschen. Wer hätte gedacht, dass in diesen vielen dunklen Wochen, in denen er sich selbst verloren hatte, etwas unbeschadet überlebt hatte und dass es ausgerechnet die Liebe, seine ureigene Liebe zu Ray, war. Oft hatte er an ihn gedacht, am Anfang häufiger, später immer seltener. Als er abgestumpft wurde. Doch immer hatte er das Bild von Rays lachendem Gesicht vor Augen und irgendwie half ihm das durchzuhalten. Dass er nach all diesen Erlebnissen noch dazu fähig war, zu lieben, war erstaunlich. Das schien ganz unmöglich, doch unter den Trümmern seines Alten Ichs spürte er es ganz deutlich. Das Steppenfeuer hatte diese schwachen, letzten Funken gefunden und ihn wieder entzündet. Alles, was Kai Hiwatari ausgemacht hatte, lag in Scherben, doch seine Liebe war unbeschadet und vollkommen geblieben. Deswegen musste er dafür sorgen, dass niemals Traurigkeit das goldene Leuchten verdunkelte. Er würde alles daran setzen, um es zu erhalten, egal was es kosten würde. Doch was sollte er tun? Der Alte Kai hatte es immer geschafft ein Lächeln auf das sanfte Gesicht zu zaubern und die Augen zum Strahlen zu bringen. Aber das war lange her. Den Alten Kai gab es nicht mehr, es gab nur noch ihn. Diesen schwachen, feigen jungen Mann, der Angst hatte zu schlafen, weil er die Träume nicht ertragen konnte. Wie konnte so jemand Ray glücklich machen? Schon vorhin, als seine anderen Teamkameraden ihn überfallartig umarmt hatten, hatte er gesehen, wie die Freude der Sorge gewichen war. Natürlich war Ray seine Veränderung aufgefallen und nicht nur die äußerlichen. Er hatte sicherlich auch bemerkt, wie er gezittert hatte und wie die Panik für einen Moment durchgebrochen war. Es war nur kurz passiert - Mr. Dickenson hatte die Situation zum Glück schnell beendet - doch es war passiert und der aufmerksame Ray hatte es bemerkt. Natürlich war es seine Schuld gewesen, er hätte sich einfach besser unter Kontrolle haben müssen. Es fiel Kai schwer, wieder die Kontrolle zu erlangen; monatelang war sie ihm fremd gewesen - doch jetzt musste er sich zusammenreißen. Alle würden von ihm erwarten, dass er wieder der Alte Kai war, auch wenn es ihn nicht mehr gab. Er konnte nicht mehr derjenige sein und trotzdem würde er es trotzdem versuchen müssen, wenn er sein Team nicht beunruhigen wollte. Vielleicht fand er unter den Trümmern seines früheren Ichs doch noch etwas. Vielleicht hatte mehr von ihm den Sturm überlebt und wartete auf die Bergung. Vielleicht konnte er bis dahin so tun, als wäre alles in Ordnung? Das müsste sich doch eigentlich bewerkstelligen lassen. Er war doch schon früher gut im Verbergen von Gefühlen gewesen. Dass keiner wusste, was er für Ray empfand, war doch der Beweis. Wenn er sein Team auf Abstand hielt, müsste sein Plan klappen. Ein lauter Knall ließ Kai panisch zusammenzucken und sich entsetzt umsehen. Es dauerte eine Weile, bis er sicher war, dass niemand in sein Zimmer eingedrungen war. Er konnte allen anderen vielleicht etwas vormachen, aber in Wahrheit hatte er panische Angst davor, dass Balkov ihn hier finden und wieder mitnehmen würde. Mr. Dickenson hatte ihm zwar hoch und heilig versprochen, dass sich niemand dem Hotel auch nur nähern konnte, ohne dass er von fünfzig BBA-Mitarbeitern gecheckt werden würde, doch man hatte Kai schon einmal aus seinem Hotelzimmer entführt. Nochmal würde er diese Tortur nicht mitmachen. Sollte Biovolt ihn jemals wieder in die Finger bekommen, würde er das letzte Mittel benutzen. Er war vorbereitet. Nie wieder würde ihm jemand das antun! Niemals wieder! Während er darüber nachdachte, hatte sich die Müdigkeit wieder angeschlichen. Er fürchtete sich davor. Schlaf war für ihn nicht erholsam. Ständig verfolgten ihn im Traum die Bilder, die Gesichter von Balkov, Spencer, Ian und Brian. Ständig hörte er ihr Lachen und seine eigenen Schreie. Trotz dass er alles daran setzte, nicht einzuschlafen, holte sich sein verräterischer Körper viel zu oft das, was er brauchte. So auch jetzt, doch für heute war er noch nicht bereit, sich zu ergeben. Mühsam stand er vom Bett auf - das gebrochene Bein war dabei sehr hinderlich - und ging ins angrenzende Badezimmer. Auch hier wurde zuerst das Licht eingeschaltet, bevor Kai paranoid jeden Winkel danach durchsuchte, ob er auch wirklich allein war. Erst dann schloss er die Tür und drehte den Schlüssel im Schloss um. Er sah sich kurz prüfend um und nickte dann erleichtert. Mr. Dickenson hatte nicht gelogen, als er sagte, er hätte seine Tasche im Badezimmer abgestellt. Hier stand sie tatsächlich und ihr Inhalt war wie vor einem halben Jahr. Der Manager hatte erklärt, dass er die Tasche auf Reisen stets mitnahm, weil man ja nie wissen konnte. Alles war so, wie er es hinterlassen hatte, lediglich seine Kleidung wurde regelmäßig gewaschen. Obwohl Kai sich nicht genau erinnerte, schien wirklich alles so wie früher zu sein. Er zögerte nicht lang, sondern suchte nach seinen Sachen. Erleichtert seufzte er, legte sich alles zurecht und begann dann, sich auszuziehen. Den Umhang würde er bis zum Abflug tragen müssen, darauf hatte Mr. Dickenson bestanden. Jemand in einem Umhang wäre zwar auffällig, aber ein seit Monaten vermisster Spitzensportler wäre es umso mehr. Das Team würde getrennt aufbrechen, um jegliches Aufsehen zu vermeiden und sie würden sich alle im Flugzeug wiedersehen. Obwohl Kai den Umhang dämlich fand, legte er ihn sorgfältig zusammen auf eine Konsole, dann konnte er endlich diese Klamotten loswerden. Im Krankenhaus der BBA hatte man ihm ein schwarzes T-Shirt und blaue Hosen gegeben, damit er aufbrechen konnte. Er hatte die Sachen verabscheut. Viel zu offenherzig für den Geschmack des Neuen Kai. Der Alte Kai hätte es sicherlich als zu zugeknöpft empfunden, denn auch wenn es einige unschöne Stellen gab, war er stolz auf seinen stahlharten Körper gewesen. Er war ein bisschen eitel gewesen, eine Eigenschaft, welcher der Neue Kai wenig abgewinnen konnte. Umso mehr war er erleichtert gewesen, dass der Umhang ihn voll bedeckte, egal, wie bescheuert es aussah. Jetzt hatte er seine eigenen Sachen und es war schön, ein Stück Normalität zurückzubekommen, soweit Normalität eben möglich war. Zum Glück waren sie damals nach Russland geflogen und trotz des warmen Wetters hatte Kai aus irgendeinem Grund seine "Wintersachen" eingepackt: eine lange, schwarze Hose, Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern und einen schwarzen Pullover. Dazu ein weißer Ersatzschal. Mehr brauchte er nicht. Er war schließlich in der Abtei aufgewachsen, Kälte machte ihm nichts aus. Auch jetzt ging es weniger um den praktischen Nutzen der langen Sachen als vielmehr darum, dass sie ausreichend viel verdeckten. Wenn er halbwegs normal wirken wollte, dann durfte niemand DIESES Geheimnis sehen. Auch die Wintersachen legte er behutsam beiseite, dann trat er an das Waschbecken. Die Ärzte hatten ihm aufgrund der zahlreichen Verbände verboten zu duschen und so musste er sich mit einer Katzenwäsche begnügen. In Japan würde ihn ein Arzt der BBA erneut untersuchen und darüber entscheiden, ob er die ganzen Bandagen und Pflaster abnehmen durfte. Seiner Einschätzung nach sollte das meiste bereits soweit verheilt sein, dass er wenigstens duschen konnte, aber er war ja kein Arzt. Kai brannte darauf, er wollte unbedingt den Schmutz der Abtei von seinem Körper waschen, doch vorerst musste ein Lappen ausreichen. Er ließ lauwarmes Wasser in das Becken, befeuchtete den Lappen und begann dann behutsam, die blaue Farbe abzuwaschen. Dabei prüfte er im Spiegel, dass er keine der frischen Wunden aufriss. Die Ärzte hatten einen Aufstand gemacht, als er die Farbe routiniert dick aufgetragen hatte - das würde den Heilungsprozess verzögern - aber das war ihm egal, obwohl die ständige Schminkerei lästig wurde. Er hatte damals nur damit angefangen, weil sein Großvater es hasste, wenn er sich schminkte. Es war damals nur ein blödes Spiel unter Kindern gewesen - Kriegsbemalung, wenn man so wollte - doch weil sein Großvater sich so darüber aufregte, waren die beiden kleinen blauen Dreiecke auf seinen Wangen zu einer stummen Form des Protestes geworden. Das war eine der Gelegenheiten, bei dem ihm die letzten drei Finger der linken Hand gebrochen wurden, doch er hatte sich davon nicht unterkriegen lassen. Als er älter wurde, wollte er diesen Kinderkram wieder loswerden, doch Mr. Dickenson bestand als Manager des Teams darauf, dass er sie beibehielt. Sie waren sein Markenzeichen, sein Wiedererkennungswert, und so weiter. Also hatte er zumindest privat darauf verzichtet und die Farbe nur zu öffentlichen Auftritten benutzt. Leider war er jetzt wieder darauf angewiesen, sie sich täglich ins Gesicht zu schmieren, aber es ging nicht anders. Vorsichtig hatte er die rechte Wange gereinigt. Darunter kam eine kaum verheilte Brandwunde zum Vorschein. Er hatte sie sich bei einer der seltenen Gelegenheiten, in denen er sich gegen die Behandlung durch Balkov gewehrt hatte, abgeholt. Die Episode lief wie ein Film vor seinem inneren Auge ab und Kai brauchte eine Weile, bis er sich wieder im Griff hatte. Schwer atmend befreite er auch die andere Wange von der dicken Schicht und dachte darüber nach, wie er normal wirken konnte, wenn er ständig diese Flashbacks hatte. Als er auch mit der linken Seite fertig war, betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Er hatte den Anblick zu hassen gelernt, doch es nutzte nichts: Er musste kontrollieren, ob die Wunde sauber war. Die Ärzte der BBA hatten ihm eine Brandsalbe mitgegeben, die er vor dem Schlafen auftragen sollte. Er hatte zwar nicht vor zu schlafen, aber wahrscheinlich war man da nicht pingelig. Während er vorsichtig die antiseptische Creme auftrug, ließ er kurz den Blick schweifen. Die größte Veränderung hatten seine Haare durchgemacht. Nur ein kleiner Rest seiner ursprünglichen Haarfarbe hatte überlebt, dem Stress und den Drogencocktails sei Dank. Die meisten der Strähnen waren jetzt silbrig grau und er glaubte nicht, dass er sich jemals damit arrangieren würde. Es war einfach eine unmögliche Farbe. Dann waren da seine Augen: dicke dunkle Ringe zeugten davon, dass Kai nur wenig schlief. Schlimmer jedoch war das matte Rot, das sie neuerdings hatten. Auch das war den Drogen zu verdanken. Abgesehen vom hohen Abhängigkeitsgrad störte irgendein Wirkstoff darin die Pigmentbildung im Körper, besonders aber die Enzyme, die die Farbe Blau produzierten. Deshalb hatte sein Haar seine Farbe verloren und deswegen waren seine Augen nun rot statt violett. Er sah aus wie ein Monster, wie ein Dämon aus der Hölle, direkt einem dieser Horrorfilme entsprungen, die Max so gerne sah. Zusammen mit den blauen Dreiecken sah er einfach nur lächerlich aus. Resigniert wandte Kai sich von seinem Spiegelbild ab und beendete die Katzenwäsche. Er würde drei Kreuze machen, wenn er wieder duschen durfte. Langsam und sichtlich bemüht begann er, sich anzuziehen. Nicht nur das gebrochene und gegipste Bein störte, sondern auch die drei gebrochenen Finger seiner linken Hand. Entgegen ärztlicher Empfehlung hatte er darauf bestanden, dass jeder Finger einzeln gegipst wurde, damit er die Hand nicht wie einen Klotz an sich hängen hatte. Trotzdem hatten sie ihn eindringlich gewarnt, dass er vorsichtig sein müsse. Die Finger waren so oft gebrochen worden, dass die Knochen, Sehnen und Gelenke höchst instabil waren. Sollte er sich während des Heilungsprozesses noch einmal verletzen, war es sehr wahrscheinlich, dass die Finger steif bleiben würden. Kai hatte vermieden, ihnen zu sagen, dass er seit seinem 12. Lebensjahr die Finger kaum zu einer Faust ballen konnte und ständig Schmerzen in der Hand hatte, sodass eine Belastung fast nicht möglich war. Natürlich hatte er noch nie jemandem davon erzählt und die Schmerzen in Kauf genommen, damit keiner etwas merkte. Abgesehen davon: Je mehr sie davon ausgingen, dass die Schürfwunden und Brüche von dem Autounfall herrührten, desto besser, auch wenn es nicht möglich gewesen war, DIESE Verletzungen zu verbergen... So betrachtet sollte er wohl froh sein, nur so wenige bleibende Schäden von seinem neuerlichen Abtei-Besuch davongetragen zu haben. Insgesamt hatte ihm dieses Schwein die Finger drei Mal gebrochen, immer auf genau die gleiche Weise. Er war insgeheim erleichtert, weil er hoffte, dass keine Folgeschäden bleiben würden und auch Bein und Rippen ohne Probleme verheilten. Seine Nase war nur minimal verschoben und man musste schon genau hinsehen, um das zu erkennen. Alle anderen Verletzungen waren nur oberflächlich und würden mit der Zeit wie alle anderen Narben verblassen. Nach einer gefühlten Stunde hatte er es umständlich geschafft, sich anzuziehen. Dabei fiel ihm das nächste Problem auf: Die Sachen fielen fast schon sackartig über seinen Körper. Anscheinend hatte er massiv an Gewicht verloren, obwohl er es selbst gar nicht mitbekommen hatte. Wenn er so darüber nachdachte, wusste er auch nicht, wann er zuletzt gegessen hatte. Im Krankenhaus wahrscheinlich. Alles war so unwichtig geworden, essen, trinken, schlafen. Ständig hielten ihn die Bilder in seiner Erinnerung davon ab, sich diesem oder jenem zu widmen. Auch das würde er ändern müssen, wenn er normal wirken wollte. Es war schon jetzt entmutigend. So vieles musste beachtet werden, wenn er sein Team nicht beunruhigen wollte. Wollte er das wirklich auf sich nehmen? Es wäre so viel einfacher, das Team einfach Team sein zu lassen und zu verschwinden. Dann wäre er frei zu gehen, egal wohin. Hauptsache Biovolt fand ihn nicht. Doch das war Wunschdenken und das wusste Kai: Biovolt würde nicht aufhören, ihn zu suchen, weil Balkov noch nicht fertig mit ihm war. Dazu hatte er zu viel Spaß bei der Sache gehabt. Balkov würde ihn so lange quälen, bis er sich selbst verloren hatte und danach war es sowieso kein Leben mehr. So ungern er das zugeben wollte, in der Nähe des Teams und der BBA war er am sichersten. Niedergeschlagen legte er sich alles für die morgige Maskerade zurecht und verließ dann das Badezimmer. Bei voller Beleuchtung ließ er sich in einen der Sessel fallen. Es war kurz nach Mitternacht. Gegen 6 Uhr würden sie zum Flughafen aufbrechen, die Bladebreakers folgten gegen halb 7. Sobald sie den russischen Luftraum verlassen hatten, würde Kai aufatmen. Vielleicht konnte er dann endlich frei sein. Das war sein größter Wunsch. Kapitel 5: Tagebuch 1 --------------------- Es ist wieder soweit. Ich hätte nicht gedacht, noch einmal dieses Tagebuch zu führen, aber manche Dinge ändern sich wohl nie. Vier Tagebücher befinden sich in der Kiste, vier Mal bittere Erinnerungen. Ich habe mir gewünscht, sie wären für immer begraben, aber es scheint der Sinn meines Lebens zu sein, diese Reihe fortzusetzen. Therapeuten nennen das Selbsttherapie und die ist es wohl tatsächlich. Anders kann ich diesen Erinnerungen nicht Herr werden, doch aus Erfahrung weiß ich, dass sie mir trotzdem immer anhängen werden. Ray hat mich gedrängt, ihm alles zu erzählen, aber das kann ich nicht. Das hier ist der einzige Weg, um mich auszudrücken. Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn eines Tages jemand in diesen Büchern liest. Wahrscheinlich wäre das mein Ende. Jemand, der weiß, wie kaputt, wie beschmutzt ich bin, würde wohl nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Ich kann mich ja selbst kaum ertragen, wie kann ich das von anderen Leuten erwarten? Diese Bücher sind nur für mich und ich habe Angst vor dem Tag, an dem sie ein Anderer findet. Eigentlich sollte ich sie verbrennen, aber das kann ich nicht. Ich weiß nicht warum. So viel Schmerz ist dort gebannt. ~~~ Alles begann ganz harmlos. Wir hatten die Weltmeisterschaft gewonnen. Doch das war nur das Zweitschönste an diesem Tag. Das Schönste war eindeutig Ray gewesen. Dieser Glanz, dieses Funkeln, wie flüssiges Gold, ich konnte ihm einfach nichts abschlagen, und als er diese Fotosession ankündigte, habe ich natürlich ja gesagt. Wer könnte diesem Lächeln auch einen Wunsch abschlagen? Ich habe nicht ein Foto davon gesehen, ich bringe es einfach nicht über mich, sie mir anzusehen. Ich weiß, es steht eins in der Wohnung - das Gruppenfoto - doch ich ignoriere es gekonnt. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren würde. Einerseits würde ich es mit einer wundervollen Erinnerung verbinden, andererseits hängt auch viel Schmerz daran. Das Foto zeigt einen anderen Kai und ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte, ihn zu sehen. Ich weiß, dass auch die anderen Teammitglieder einen Abzug davon haben. Jedenfalls war es mir eine wahre Freude, meinem Tiger dabei zuzusehen, wie er die Fotos organisierte und natürlich schenkte ich ihm dafür ein seltenes Lächeln. Bei ihm fällt es mir immer leichter, ein wenig von mir preis zu geben. Irgendwann habe ich mich auf die Terrasse verzogen. Diese Fröhlichkeit war ja kaum auszuhalten, aber an diesem Tag wollte ich ihnen das durchgehen lassen. Immerhin hatte das Team es sich verdient. Nur für mich war so viel Trubel nichts. Draußen war es angenehm warm, ein wenig ungewöhnlich für Mai, aber nicht unmöglich. Von der Hotelterrasse aus hatte man einen fantastischen Ausblick auf die Moskauer Skyline und ich ließ ihn gerne auf mich wirken. Ich liebte Russland, egal wie schwer mein Leben in der Abtei gewesen war. Immerhin war es meine Heimat. Der Anblick von Moskau bei Nacht hatte mich schon immer fasziniert. Hier war Altes mit Neuem vereint und das gab mir immer auch etwas Hoffnung für mein eigenes Leben. Dass aus alten Trümmern neue Träume entstehen können, oder so. Ich war so gefesselt von der Aussicht, dass ich erst einige Sekunden später merkte, dass ich nicht mehr allein war und wer sich da auf die Terrasse verirrt hatte. Wie immer kam ich nicht umhin, seine Schönheit zu bewundern. Die elegante, geschmeidige Gestalt, die so viel Ähnlichkeit mit Driger hatte, die langen, glänzenden schwarzen Haare und diese goldenen Augen. Ich hätte sie unter Millionen wiedererkannt. Bevor ich mich aufhalten konnte, war auch schon ein Satz draußen: "Na, ist es dir da drinnen auch zu laut geworden?" Als er meine Frage hörte, drehte sich Ray zu mir um und lächelte mich an. Mir blieb die Luft weg. Automatisch trugen mich meine Füße neben ihn und als sich unsere Arme leicht berührten, durchlief mich ein sanftes Zittern. Wir unterhielten uns kurz. Ich weiß nicht, ob es ihm auffiel, aber es war das erste Mal, dass wir uns nicht über Belanglosigkeiten unterhielten. Plötzlich war ich mir meiner Sache sicher. Heute würde der Tag sein, an dem ich Ray meine Gefühle für ihn gestehen würde. Ich hatte Angst vor seiner Reaktion, schließlich wusste ich nicht, wie er zu mir stand und was er antworten würde. Im Nachhinein habe ich mich immer gefragt, warum ich gezögert habe. Wenn ich doch nur etwas gesagt hätte, wären die folgenden sechs Monate vielleicht anders verlaufen. Wenn ich etwas gesagt hätte, dann hätte Mariah in eine ganz andere Szene platzen können. So unterbrach sie uns jedoch, als ich noch zögerte und die richtigen Worte suchte. Sie fackelte nicht lange, warf sich Ray in die Arme und küsste ihn leidenschaftlich. Und ich? Ich sah sofort rot. Ich war so wütend. Auf mich, auf sie, auf ihn. Am Meisten schwankte ich zwischen Mariah und mir. Ich musste mich so dermaßen zusammenreißen, nicht blindlings auf etwas einzuschlagen. Irgendwie schaffte ich es, zurück auf mein Zimmer zu kommen. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich mir überlegte, woran ich am besten meine Wut auslassen konnte. Danach wird es schwarz. Oft habe ich überlegt, was passiert sein könnte und ich habe es mir so zusammengereimt: Jemand muss in meinem Zimmer auf mich gewartet haben. Ein Schlag auf den Kopf würde den kurzfristigen Gedächtnisverlust und die Kopfschmerzen erklären. Später habe ich mir oft gewünscht, der Gedächtnisverlust würde anhalten, wenn ich schon wieder aufwachen musste. Doch natürlich war mir diese Gnade nicht vergönnt. Ich weiß nicht, wie viel Zeit zwischen der Entführung und dem Wachwerden verging, aber letzten Endes kam ich in einem kalten, feuchten Raum wieder zu mir. Um mich herum war es stockfinster, nur ein leises Tröpfeln war zu hören. Mein Kopf dröhnte, doch noch hatte ich keine Angst. Schon oft war ich in so einem Raum aufgewacht, mal mit mehr, mal mit weniger Schmerzen. Ich fühlte Resignation. Zwei Mal war ich Biovolt entkommen und es schien jedes Mal, wenn ich nach Russland kam, eine neue Runde eingeläutet zu werden. Ich musste nur warten, dann würden sich auch meine Gegenspieler offenbaren. Ich vermutete, dass mein Großvater dieses Mal nicht beteiligt sein würde. Er war langsam zu alt für solche Spielchen und zu wenig an mir interessiert, seit ich deutlich gemacht hatte, dass er mich nicht mehr nach seinen Wünschen manipulieren konnte. Er hatte sich vor Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen. Gerade als ich über eine zweite Möglichkeit nachdachte, wurde das Licht angeschaltet und die unerwartete Helligkeit blendete mich für einen Moment. Deswegen hörte ich ihre Stimmen eher, als dass ich ihre Gesichter sah: Ian, Spencer, Brian und natürlich Balkov. Die alte Bande. Ich wunderte mich nicht darüber, dass Tala fehlte - nach offiziellen Angaben wurde er seit fünf Jahren vermisst. Ich wusste nicht, ob er noch am Leben war, aber ich freute mich, dass er es geschafft hatte, von Biovolt wegzukommen. So oder so, alles war besser als das hier. Ich kann mich nicht mehr genau an die Worte erinnern, aber ich weiß noch, was sie bedeuteten, und das war nichts Gutes. Sie bedeuteten vorrangig Schmerzen, aber das machte mir keine Angst. Ich habe so viele Jahre in den Händen dieses perversen Sadisten Balkov verbracht, auf ein paar Schläge, Tritte und Schnitte mehr kam es nicht weiter an. Das war schon immer ein Teil meines Lebens und irgendwo tief in mir drin wird dieser Teil immer da sein. Die wahre Bedeutung der Worte jedoch beunruhigte mich wesentlich mehr. Rache. Balkov und sein Schlägertrupp wollten Rache für die Demütigungen, die ich und mein Team Biovolt und den Demolition Boys persönlich zugefügt hatten. Das war gefährlich. Menschen auf Rachefeldzug sind unberechenbar, sie nehmen keine Gefangenen und wollen einfach nur zerstören. Das versetzte mich richtiggehend in Panik. Ich war allein an einem dunklen Ort, zweifellos wusste keiner, wo ich mich aufhielt, zusammen mit ein paar fanatischen Schlägern, die jeden Befehl umgehend ausführen würden. Und dann war da ihr psychopathischer Anführer, der anscheinend nur im Sinn hatte: Mich zu brechen, bis kein Stäubchen mehr übrig war. Er hatte es oft genug versucht und würde es zweifellos auf einen neuen Versuch ankommen lassen. Vielleicht habe ich das nicht so direkt gedacht, aber in den vielen Wochen der Dunkelheit habe ich immer wieder darüber nachgedacht. Schlussendlich zählt ja nur, dass mich absolute Panik überkam. Entgegen der landläufigen Meinung habe ich oft Angst, ich kann es nur gut verbergen. Früher hatte ich meine Gefühle sehr gut unter Kontrolle, aber anscheinend haben die vier Jahre bei den Bladebreakers andere Seiten in mir geweckt. Das ist ein Nachteil des Erwachsenwerdens. Meine Besucher müssen genau diese Panik auf meinem Gesicht gesehen haben, denn sie brachen in ein gackerndes Gelächter aus. Jetzt wurde ich wütend. Ich konnte es einfach nicht ertragen, ausgelacht zu werden. Wieder muss mein Gesicht Bände gesprochen haben, denn das Lachen wandelte sich in ein gefährliches Knurren. Und als Balkov mit den Fingern schnippte, stürzten sich Ian, Spencer und Brian auf mich. Ich kam aus meiner sitzenden Haltung hoch und wollte mich verteidigen, aber ich hatte die metallenen Fußfesseln nicht bemerkt und legte mich ohne fremdes Zutun sofort lang. Die Gelegenheit, mich am Boden zu finden, ließen sich die Drei nicht entgehen und deckten mich mit reichlich Tritten ein. Einer der Ersten brach mir die Nase und die Schmerzen blendeten kurzzeitig alles um mich herum aus. Tränen stiegen mir in die Augen und vermischten sich mit dem Blut aus meiner Nase. Ich riss die Hände hoch, um mein Gesicht vor weiterem Schaden zu schützen, doch sie traten nicht gezielt zu, daher erwischte es sonst nur den Rest von mir. Weitere Fußtritte trafen mich überall, zu viele, um genau zu sagen wo. Mein Körper brannte vor Schmerz, doch bis auf den Moment, bei dem meine Nase brach, hatte ich keinen Laut von mir gegeben. Dachten sie wirklich, ein paar Kicks in die Seite oder ins Gesicht würden irgendeine Reaktion hervorrufen? Wir waren doch alle auf der Abtei aufgewachsen, wir kannten Schmerzen und wussten sie auszuhalten. Da mussten sie schon mit etwas Besserem kommen. Das war lächerlich. Ich lag da, ich atmete schwer und langsam wich das Brennen einem Gefühl der Taubheit, doch ich hatte seltsamerweise nicht mehr so viel Angst wie noch am Anfang. Das hier war etwas, womit ich umgehen konnte. Gewohnheit irgendwie. Es klingt makaber, aber das war für mich etwas Alltägliches. Doch das Spiel bekam eine neue Komponente. Wäre mein Körper nicht so taub gewesen, hätte ich vielleicht der Spritze ausweichen können. So musste ich zulassen, dass Spencer sie mir mit voller Wucht in den Oberarm rammte. Danach entfernten sich die Drei von mir - nicht ohne dass Ian mir noch ins Gesicht spuckte - und erklärten, dass sie wiederkommen würden, wenn die Wirkung der Spritze nachgelassen hätte. Das war seltsam, denn ich spürte ja überhaupt nichts. Aber ich hatte ja auch den vierten Besucher vergessen. "Schön, dass du wieder da bist. Ich hoffe, das Empfangskomitee hat dir gefallen. Du hast schon lange nicht mehr unsere Gastfreundschaft in Anspruch genommen. Ich freue mich, dich zu sehen, Null." Langsam war er auf mich zu gekommen. Wie ich diese Stimme hasste. Dieses eiskalte Schnarren, das völlig emotionslos war und keine Gnade signalisierte. Und erst dieser Name. Null, das bedeutet, dass ich Niemand war. Stets war ich nur das - ein namenloser Junge, der zu keinem gehörte und der von keinem gewollt wurde. Nur zu offiziellen Anlässen, wenn ich den dunklen Verliesen der Abtei entkam, bekam ich meinen Namen wieder. Der Name ‘Null‘ zeigte meinen Stellenwert und tief in mir spürte ich jedes Mal einen scharfen Schmerz, wenn ich so genannt wurde. Ich wollte aufstehen, ich wollte nicht auf dem Boden vor ihm liegen und ihn auf mich herabblicken sehen, wie so oft in der Vergangenheit. Doch mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Die Schmerzen waren erfolgreich verdrängt und ich konnte keinen Finger rühren, so sehr ich das auch wollte. Ich war wirklich dazu verdammt, dazuliegen und die Situation geschehen zu lassen. Als hätte Balkov meine vergeblichen Versuche mitbekommen (auch wenn ich keinen Muskel gerührt hatte) sagte er: "Ich sehe, du genießt die Wirkung des Mittels, das wir dir gegeben haben. Biovolt hat es vor langer Zeit entwickelt. Du hast es schon einmal bekommen, vielleicht erinnerst du dich. Damals hatte es grauenhafte Nebenwirkungen, aber jetzt ist es nahezu perfekt. Dieses Zeug verstärkt gezielt Impulse im Körper und kann auf zwei Arten angewandt werden. Zum einen natürlich zur positiven Verstärkung. Weißt du, deine Nervenzellen senden unaufhörlich Impulse an dein Gehirn. Wenn es warm ist, registriert das deine Haut und dein Gehirn antwortet darauf mit Wohlgefallen oder eben mit Unbehagen. Stell dir die Möglichkeiten vor, die man damit hat. Wenn du ein tolles Gefühl hast, weil du beispielsweise eine Weltmeisterschaft gewonnen hast, dann hilft dir das Mittel, dieses tolle Gefühl zu intensivieren. Anders herum, wenn du etwas Unangenehmes fühlst - na ja, das wirst du ja gleich sehen oder sagen wir... spüren." Während der Erklärung hatte er sich zu mir herabgebeugt und mich süffisant angegrinst. Nach seiner Erklärung spürte ich wieder so etwas wie Angst, doch das Gefühl kam von ganz weit weg. Wenn Balkov Recht hatte, was das Mittel anging, dann verstärkte es momentan das Taubheitsgefühl und ließ deswegen keine anderen Reaktionen zu. Es war ein seltsames Gefühl, aber es ließ sich nicht abstellen. Die letzten Worte waren unheilverkündend, doch ich hatte kaum Zeit, mir darüber klar zu werden. Er nahm meine linke Hand und knickte mir ruckartig und routiniert die letzten drei Finger um. Der Schmerz explodierte augenblicklich und so überwältigend, dass jede Selbstbeherrschung von mir abfiel. Ich schrie einfach unkontrolliert. So große Qualen hatte ich selbst in meinen schlimmsten Tagen in der Abtei nicht erlebt. Diese Finger hatte man mir schon oft gebrochen, doch dieses Mal fühlte es sich an wie tausend Knochenbrüche und zugleich war es noch viel schlimmer. Krampfhaft japste ich nach Luft, ich konnte mich kaum beruhigen. Balkov beobachtete mich nur interessiert lächelnd. Man sah ihm an, dass er seine helle Freude an der Situation hatte. "Tut das etwa weh, Null?" Endlich war ich wieder da und er konnte wieder mit mir spielen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit war der Schmerzpegel so weit gesunken, dass ich meine Umgebung wieder wahrnehmen konnte, doch was ich sah, hätte ich gerne gegen weitere Schmerzen eingetauscht. Alles, nur das wollte ich nicht sehen. Die Augen meines Peinigers leuchteten nicht nur hochzufrieden, sondern auch vor blanker Gier und Lust. Ich hatte keine Erfahrung mit solchen Sachen, aber eine kleine, verängstigte Stimme in meinem Hinterkopf sagte mir, was ich sah. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich war hier, und dieser Mann war unwahrscheinlich gefährlich und unberechenbar. Ich war nie besonders gläubig - ich habe schon als Kind erkannt, dass es kein allmächtiges Wesen gibt - doch in diesem Moment, da unten in diesem nasse, tristen Keller, mit gebrochener Nase und gebrochenen Fingern, da betete ich zu allen mir bekannten Göttern, dass dieser perverse Irre seine Befriedigung darin finden würde, mir nur Schmerzen zuzufügen. Dass es ihm genug wäre, mich nur schreien und leiden zu sehen. Dass die Sache mit ein paar Schnitten und Brüchen erledigt sein würde. Dieses verdammte intensivierende Mittel würde mich wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben, aber das war Millionen Mal besser als die andere Möglichkeit. Wieder und wieder dachte ich es, wie ein Mantra, doch kein Gott wollte mir helfen. Balkovs widerliche, seidige Stimme drang an mein Ohr, als er seine Position änderte und sich rittlings auf meinen Rücken kniete. "Ich finde, das Mittel wirkt wunderbar. Ich habe so lange darauf gewartet. Das letzte Mal warst du noch zu jung zum Spielen und dein Großvater hat es auch verboten, aber jetzt hat der alte Mann nichts mehr zu melden und es ist ihm sowieso egal. Bevor wir anfangen, sollte ich dir noch die Nebenwirkungen mitteilen. Das Mittel ist fast perfekt; leider macht es hochgradig abhängig. Aber du wirst ja ab jetzt immer hier sein, um dir deine Dosis zu verdienen, nicht? Am besten fangen wir gleich an, dann kannst du schon mal 'vorarbeiten'." Mir wurde schlecht. Das Zeug machte abhängig? Dieses Schwein dachte, er würde mich so einfach drankriegen und auch wenn sich mein Verstand gegen diese Möglichkeit verweigerte, wenn es stimmte, dann war das eine Katastrophe. Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern und falls ich das Mittel bekommen hatte, dann schien ich schnell genug davon losgekommen zu sein, bevor die Abhängigkeit mich in ihren Klauen hielt. Ohne Aussicht auf Rettung konnte er mich hier festnageln und das tat er buchstäblich auch. Selbst wenn ich mich hätte bewegen können, Balkov saß schwer auf mir drauf und pinnte mich auf dem kalten Boden fest. Ich fühlte seine Hände meine Arme entlangfahren, eine fast schon zärtliche Geste, bei der der Drang, mich zu übergeben, stärker wurde. Es war so abstoßend. Ich wollte mich wehren, aber ich war so hilflos. Diese Tatsache machte mich am meisten fertig. Es gab nichts, das ich gegen die unerwünschten Berührungen tun konnte. Mit einem Ruck zerriss er mein Shirt; die Einzelteile fielen achtlos beiseite. Mit widerlich langen Fingernägeln fuhr er meinen Rücken entlang, gerade mit so viel Druck, dass sich nur die Haut ablöste. So harmlos das hätte sein können, das Mittel verstärkte auch dieses Gefühl. Jede Berührung, jeder einzelne Finger fühlte sich einfach abscheulich an. Doch das dauerte nur kurz, denn unvermittelt rammte er mir seine Fingernägel ins Fleisch und hinterließ blutige Striemen. Er lachte zufrieden, als ich erneut schrie, mein Rücken fühlte sich an wie von Messern durchbohrt. Die Entwickler dieses Mittels hatten wirklich ein Meisterwerk geschaffen. Balkov wiederholte die Prozedur noch zwei Mal und ich hatte das Gefühl, als würde mein Rücken in Flammen stehen. Die Prügelei vorhin war ein schöner Spaziergang gewesen und trotz der anhaltenden Qual schaffte es ein Teil von mir, darüber nachzudenken, wie schlimm die Auswirkungen gewesen wären, wenn man mir das Zeug vor den Tritten injiziert hätte. Die meisten Gedanken wurden jedoch überlagert vom absoluten Horror. Ich war gefangen und konnte mich nicht bewegen, man hatte mir Drogen verabreicht und ich war allein mit einem perversen Mistkerl, der mich bis auf den Tod hasste und außerdem scharf auf mich war. Ich glaube, das war der letzte zusammenhängende Gedanke, den ich in dieser Nacht hatte. Trotzdem habe ich alles miterlebt. Es gab keine Sekunde, in der ich nicht wusste, was mit mir passierte, so sehr ich es mir gewünscht habe. Ich wollte nicht schreien, wollte keine Schwäche zeigen, aber ich habe nicht nur meine Selbstbeherrschung in dieser Nacht verloren. Nachdem mein Shirt in Fetzen um mich lag, folgte meine Hose. Dabei brachte er mir weitere Striemen bei, die wie Feuer brannten. Angst brandete in mir hoch und immer noch wünschte ich mir, es würde irgendwie noch alles gut werden, doch die gierigen Finger auf mir machten diese Hoffnungen zunichte. Noch immer konnte ich mich nicht bewegen. Ich war dazu verdammt, auf das Unvermeidliche zu warten. Ich hörte einen Reißverschluss und kurz war das Gewicht von meinem Rücken verschwunden. Ich hielt den Atem an, biss die Zähne zusammen, versuchte mich irgendwie darauf vorzubereiten, aber als es soweit war, gab es kein Halten mehr. Mit einem Ruck zog er mich hoch und drang ohne Vorbereitung in mich ein. Der Schmerz war so überwältigend, dass ich nur noch schreien konnte. Mit jedem Stoß von ihm, mit jedem Schrei von mir wurde das Keuchen über mir heftiger. Tränen liefen meine Wangen hinab, doch ich verschwendete keinen Gedanken daran. Alles in mir war auf die Pein fixiert, auf das Keuchen. Kurz wunderte ich mich darüber, ob Balkov dabei auch Schmerzen hatte, aber wahrscheinlich war ihm das egal, solange er nur mich schreien hörte. Als er seinen Höhepunkt erreichte, zerbrach etwas in mir. Nie hätte ich mir vorgestellt, dass so etwas mit mir passieren könnte. Warum passierte das mit mir? Warum ich? Und als hätte er meine Gedanken gelesen, erhielt ich sogar eine Antwort, leise in mein Ohr geflüstert: "Das bekommst du dafür, dass Tala weg ist." Kapitel 6: Abflug ----------------- Mit einem unterdrückten Schrei fuhr Kai aus dem Schlaf. Routiniert hatte er sich dabei in seine Faust gebissen, um keinen Laut von sich zu geben. Zwei kleine Narben zeugten von der häufigen Nutzung der Methode. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits Fünf war. In einer Stunde würden sie zum Flughafen aufbrechen und hoffentlich bald aus Russland verschwinden. Leicht schwankend stand Kai aus dem Sessel auf und humpelte ins Badezimmer. Ein ausgiebiger Blick in alle Ecken, dann war er sicher, dass er allein war. Es wurde Zeit, die heutige Verkleidung vorzubereiten. Ohne dass er etwas sagen musste, hatte Mr. Dickenson ihm seine blaue Farbe besorgt und ins Krankenhaus mitgebracht. Die kleine Dose befand sich in einer Seitentasche des Umhangs. Mit zitternden Fingern zog er sie heraus und begann dann mit einem Schwamm, das Blau aufzutupfen. Immer wieder musste er sein Spiegelbild prüfen und er hasste es jedes Mal. Die Ringe unter seinen Augen schienen noch eine Spur dunkler zu sein, aber nach diesem Albtraum war das kein Wunder. Er hatte einmal mehr gegen den Schlaf verloren und den Preis gezahlt. Diesen Traum hatte er am häufigsten und es war der Schlimmste von allen: Die Nacht der Weltmeisterschaft, seine letzte glückliche Nacht als Alter Kai und die erste im Leben des Neuen Kai. Nach dem Auftragen der Farbe verstaute er die Dose diesmal in seiner Reisetasche. Als Nächstes folgten die Handschuhe. Die brauchte er, um die zahlreichen Narben und frischen Schnitte auf seinem Handrücken zu verbergen. Früher hatten seine Armschützer diese Funktion übernommen, aber die Handschuhe waren um einiges bequemer. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, die drei einzeln gegipsten Finger durch die schmalen Löcher zu bekommen. Schließlich war auch das geschafft und der weiße Schal konnte folgen. Vorrangig verdeckte er damit die blauvioletten Würgemale, die ihm Spencer vor einigen Tagen noch zugefügt hatte. Derzeit überlagerten die Flecken die alten Narben, doch bald würden die Schnitte wieder auf seiner Haut leuchten. Er verabscheute den Schal schon immer, aber ähnlich wie die Armschützer, verbarg er seine Haut vor neugierigen Blicken... Das jetzige Outfit erfüllte denselben Zweck, der Umhang komplettierte alles. Gerade als er fertig war, klopfte es auch schon an seiner Zimmertür. Automatisch zuckte er zusammen und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit, die es im engen Badezimmer natürlich nicht gab. Das Zittern setzte ein und Panik flutete seine Gedanken. In allerletzter Sekunde jedoch, bevor er abdriften konnte, übernahm die Vernunft wieder die Kontrolle. Er riss sich zusammen und ein Blick auf den Wecker klärte auch die Situation: Es war kurz vor sechs Uhr und das da draußen an der Tür war sicher nur Mr. Dickenson, um ihn abzuholen. Langsam verließ Kai das Bad mit seiner Tasche, schloss vorsichtig seine Zimmertür auf und spähte in den Flur. Es war tatsächlich der Team-Manager. Er lächelte freundlich. "Guten Morgen, hast du gut geschlafen? Wenn du bereit bist, können wir dann zum Flughafen aufbrechen. Hast du deine Tasche?" Erleichterung machte sich in Kai breit und langsam konnte er sich ein wenig entspannen. Er nickte Mr. Dickenson zu, schaltete alle Lampen im Zimmer aus, setzte die Kapuze des Umhangs auf und trat in den Gang. Die Tasche wurde ihm kurzerhand abgenommen. Schweigend fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die Hotellobby. Glücklicher Weise war um diese Uhrzeit kaum Betrieb und eine müde Hotelangestellte checkte beide aus. Als sie im Auto saßen und zum Flughafen fuhren, ergriff Mr. Dickenson das Wort: "Die Anderen werden in einer halben Stunde nachkommen. Die BBA hat uns übrigens ihr schnellstes Flugzeug geschickt. Wir sind also nicht auf einen Linienflug angewiesen und erheblich schneller wieder in Japan. Sobald alle da sind und die Flugkontrollen durchgeführt wurden, können wir sofort starten. Frühstück gibt es dann an Bord." Kai nickte. Besonders toll hatte er die Neuigkeit nicht gefunden, mit vielen anderen, fremden Leuten reisen zu müssen. Ein eigenes Flugzeug und einen unabhängigen Flugplan zu haben, war um Einiges besser. Mr. Dickenson sah seine Erleichterung und stimmte insgeheim zu. Je eher sie Russland verließen, desto besser war es für sie alle. Nach einer knappen halben Stunde Fahrt erreichen sie den Flughafen. Sie kamen ohne Schwierigkeiten durch die Kontrollen (die BBA hatte Kais Pass die letzten sechs Monate aufbewahrt) und bestiegen das geräumige Privatflugzeug des Typs Cessna Citation II48. Der Innenraum war luxuriös eingerichtet; die Sessel waren mit cremefarbenem Leder bespannt und hatten die doppelte Größe als üblich. Sie waren mit Blick auf den vorderen Teil der Kabine rechts und links des Mittelgangs ausgerichtet. Überall sah man helle Holzvertäfelungen und es gab eine große Sitzgruppe, die um einen Tisch platziert war. Der Inneneinrichter des Flugzeugs hatte wirklich Geschmack. Kai musterte die Sessel rechts und links und entschied sich dann für einen Platz ganz hinten. Von dort aus hatte er eine gute Übersicht über den Passagierraum und konnte nicht von hinten überrascht werden. Das war wichtig für ihn, da er sich nicht entspannen konnte, wenn er nicht wusste, was hinter seinem Rücken passierte. Er würde gleich mehrere Stunden auf engem Raum mit vielen Personen "gefangen" sein und schon bei dem Gedanken daran musste er die Panik niederkämpfen. Immerhin war völlig unklar, wie sich seine Teamkameraden verhalten würden. Kai setzte sich und machte sich so klein wie möglich. Er hatte schmerzhaft gelernt, dass es besser war, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gedanklich ging er noch einmal durch, was er vermeiden sollte, wenn er sich nicht verraten wollte: Er durfte nicht ständig zusammenzucken, wenn man ihn ansprach und er durfte nicht anfangen zu zittern, wenn ihn jemand berührte. Der Alte Kai sagte zwar wenig, aber er beteiligte sich wenigstens ab und zu an einem Gespräch. Er hatte lange nicht mehr gesprochen, doch er hoffte, seine Stimme würde halbwegs fest und sicher klingen. Er musste lediglich die Kontrolle behalten, dann würde alles gut gehen. Wie auf ein Stichwort trafen in diesem Moment auch die anderen Bladebreakers ein. Es gab ein wenig Gedrängel an der Eingangsluke, doch dann betraten die vier übrigen Teammitglieder das Flugzeug: Zuerst kam Tyson, der laut gähnend darüber lamentierte, dass sie das Frühstück hatten ausfallen lassen, gefolgt von Max, der versuchte, ihn zu beruhigen. Kenny folgte ihnen kopfschüttelnd. Es war kurz nach sieben Uhr und die beiden machten einen Heidenlärm. Zuletzt ging Ray an Bord, dann wurde auch schon die Tür verschlossen. Wie immer war es eine Offenbarung für Kai, den Chinesen zu sehen, und er prägte sich jedes Detail ein. Das Team war gegen halb sieben vom Hotel abgeholt worden. Die Fahrt zum Flughafen verlief in angeregter Diskussion. Die gestrigen Ereignisse waren aufregend gewesen und sie fragten sich, ob es denn wahr wäre, dass ihr Teamcaptain wieder da war. Ray hatte alle Hände voll zu tun, die Euphorie zu bremsen. Nicht, weil er ein Spielverderber sein wollte, sondern weil zu viel Aufregung für Kai sicher nicht gut war. Erstaunlicherweise legte sich das Thema wie von selbst, als sie am Flughafen ankamen und nicht wie üblich zum Linienflug-Check-In geführt wurden, sondern zum privaten Abflugterminal. Selbst Tyson hielt seinen Mund, als sie in Nullkommanichts durch die Flughafenkontrollen waren und auf den eleganten Privatjet zugingen, die neue Cessna Citation II48 - das schnellste Zivilflugzeug der Welt. Die BBA hatte einen exklusiven Vertrag mit dem Flugzeugentwickler und durfte stets die Prototypen ausgiebig testen. Man hatte zwar vergessen, ihnen die Änderung des Flugplans mitzuteilen, aber das war zu verschmerzen. Ein Flug im Privatflugzeug war viel angenehmer als ein Linienflug. Ray vermutete, dass die Änderung des Flugs vor allem mit Kai zu tun hatte. Das war ganz gut, ein ruhiger Flug war sicher das Beste für ihren Teamcaptain. Allerdings schien auf einen ruhigen Flug keine Aussicht zu bestehen, da Tyson lauthals zu nörgeln anfing: "Was? Wir fliegen los, sobald wir an Bord sind? Was ist Frühstück? Im Hotel sagt man uns, es gäbe am Flughafen was zu Essen und jetzt haben wir gar keine Zeit dafür, weil wir sofort abheben, wenn wir an Bord sind. So eine Gemeinheit! Die BBA will uns wohl verhungern lassen!" Tyson schien sich gar nicht mehr einzukriegen, selbst als Max versuchte, ihn zu beruhigen. So fielen die Bladebreakers laut streitend in den Privatjet ein. Während sich Max und Tyson noch am Eingang balgten, schauten sich Ray und Kenny um. Der Jet war elegant und vornehm ausgestattet. Die cremefarbenen Sessel links und rechts des Mittelgangs sahen sehr bequem aus. Ganz hinten saß ihr Teamcaptain und beobachtete die Szene. Mit einer Mischung aus Glück und Sorge musterte Ray ihn. Kai hatte den Umhang abgenommen und ihn zusammengefaltet auf seine Beine gelegt. Darunter trug er eine schwarze Hose, einen schwarzen Pullover und den weißen langen Schal, der sein Markenzeichen war. Alles schien normal zu wirken, wenn man nicht allzu genau hinsah, aber Ray kannte seinen Captain besser als jeder andere. Kai hatte früher nie langärmlige Kleidung getragen, sondern stets körperbetonte Muskelshirts. Und war es nur der Blickwinkel oder waren die Sachen viel zu groß und zu weit für ihn? Auch der Blick war nicht ganz so cool und desinteressiert, wie es den Anschein haben sollte, sondern es lag eine gewisse Wachsamkeit und Vorsicht darin. Der Eindruck von gestern Abend schien sich zu bestätigen: Das war zwar Kai, aber auch gleichzeitig ein völlig anderer Mensch. Gerade wollte sich Ray einen Platz suchen, als Mr. Dickenson die Streithähne getrennt hatte und nun an alle das Wort richtete: "Guten Morgen. Nachdem Tyson so freundlich ist, seinen Hunger für eine kurze Minute zurückzuschrauben, kann ich euch einige Dinge sagen, bevor wir starten. Ich habe ein paar gute Neuigkeiten und eine kleine schlechte, und weil ja alle sowieso die schlechte zuerst hören wollen, lasse ich euch nicht warten. Wir, also die BBA, hatten noch ein paar kleine organisatorische Dinge zu klären, also werdet ihr, wenn wir angekommen sind, erst mal zu euren Wohnungen gefahren. Morgen früh geht es dann aber wirklich los. Wir haben ein wunderbares kleines Ferienhaus in den Bergen für euch aufgetrieben mit allem, was das Herz begehrt. Ihr habt dann zwei Wochen Zeit, euch zu erholen und zu entspannen, ohne dass euch die Presse oder die BBA nerven wird. Derzeit sind auch keine Wettkämpfe angesetzt. Das nächste Turnier findet erst im März statt, also bleibt euch dieses Mal genug Zeit, euch um die wichtigen Dinge zu kümmern. Jetzt solltet ihr euch aber einen Platz suchen und anschnallen, denn wir heben gleich ab. Sobald wir in der Luft sind, gibt es auch Frühstück." Die letzten Worte waren an Tyson gerichtet, der schon wieder losmosern wollte. Ob aus Gewohnheit, Unbehagen oder Rücksichtnahme, keiner von ihnen suchte sich einen Platz in der Nähe von Kai. Lediglich Ray ließ sich auf den Sessel gegenüber fallen, so dass sie nur durch den Gang getrennt wurden. Aus dieser Position konnte er nicht nur das Flugzeug, sondern auch den Russen beobachten. Kai hatte die Rede stillschweigend verfolgt, doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er hatte Rays besorgten Blick und grübelte nach, was er falsch gemacht haben könnte. Das Team war keine fünf Minuten da und er hatte bereits einen Fehler gemacht und sich nicht wie der Alte Kai verhalten. Anders ließ sich dieser Blick nicht deuten. Doch was? Er hatte sich beherrschen können und war ausnahmsweise nicht zusammengezuckt, als die Vier laut polternd den Jet betreten hatten. Er hatte sich Mühe gegeben, leicht desinteressiert zu schauen, wie er das früher immer tat. Und trotzdem hatte seine Maskerade nicht lange gehalten. Er ging zum wiederholten Mal seine mentale Liste durch, als das Flugzeug abhob. Der Start verdrängte kurzzeitig die Grübeleien, denn der Abflug bedeutete, dass er endlich Russland verlassen würde und damit ein ganzes Stück schwerer für Biovolt zu erreichen wäre. Er würde endlich von Balkov loskommen. Ein kurzer Moment des Glücks durchströmte ihn, doch er hielt sich in Grenzen. Noch waren sie im russischen Luftraum und erst wenn sie in Tokio landeten, würde er sich wirklich entspannen können. Es dauerte eine Weile, bis sie die endgültige Flughöhe erreicht hatten und das Flugzeug stabilisiert war, doch eine knappe halbe Stunde nach dem Start wurde endlich Tysons Wunsch erfüllt und das Frühstück aufgetragen. Freudig versammelte sich das Team um den Tisch und die Sitzgruppe in der Mitte des Gastraumes, als der Ring für den Blauhaarigen freigegeben wurde. Das Frühstücksbüffet ging bereits in der ersten Runde K.O.. Ray schüttelte resigniert den Kopf. In den vier Jahren, in denen sie zusammen bladeten, hatte Tyson noch nie gute Tischmanieren gezeigt. Das würden sie nie in seinen Dickschädel rein bekommen. Seufzend stand er auf. Sein Blick fiel auf Kai, der gedankenverloren aus dem Fenster sah. Was er auch dachte, es schien positiv zu sein, denn ein kleines, feines Lächeln umspielte seine Lippen. Das war gut. Vielleicht würde er ja auch am Frühstückskampf teilnehmen. "Kommst du mit frühstücken?" Die vertraute Stimme riss Kai aus seiner Grübelei. Er drehte sich zum Sprecher um, was sich aber als taktischer Fehler erwies. Sofort zogen ihn die goldenen Augen Rays in ihren Bann. Sie blickten sanft und freundlich, so vertrauenserweckend. Die Frage realisierte er erst Sekunden später und er konnte als Antwort nur hilflos nicken. Natürlich würde er tun, was sein Tiger wollte, solange er ihn nur so anfunkelte. Leicht benommen stemmte er sich aus dem Sessel hoch. Mit dem gebrochenen Bein konnte er nur schwer das Gleichgewicht halten, doch er schaffte es, sich zu stabilisieren, bevor Ray zufassen und ihn halten konnte. Das war Glück, denn auch wenn Kai ihn nicht enttäuschen wollte, hätte er den Gedanken nicht ertragen, von Ray berührt zu werden. Er war noch nicht bereit, jemandem so viel Vertrauen zu schenken. So gingen sie nacheinander schweigend zur Sitzgruppe und ließen sich am Tisch nieder. Die Japaner staunten nicht schlecht, ihren Captain hier am Frühstückstisch zu sehen, doch glücklicherweise sagten sie nichts. Sie warfen ihm aber vereinzelte Blicke zu, die ihn nervös machten. Noch hatte er alles unter Kontrolle, doch sie konnte ihm jeden Moment wieder aus der Hand gleiten. Seine Teamkameraden waren schon fleißig am essen, doch er sah sich unschlüssig um. Es gab ein so großes Angebot an Speisen, dass er sich nicht entscheiden konnte, zumal er nicht wirklich Hunger hatte. An irgendeinem Punkt hatte er das Hungergefühl besiegt gehabt und seitdem war es nicht wiedergekommen. Er aß das, was man ihm hinstellte oder auch nicht. Das war sicher einer der Gründe, weshalb seine Kleidung jetzt wie ein Sack an ihm hing, wenn auch nicht der einzige. Wenn er aber normal sein wollte, dann sollte er auch wie normale Leute regelmäßig essen. Aufgrund der vielen kulturellen Einflüsse, die jedes Teammitglied mitbrachte, war das Frühstück eine bunte Angelegenheit. Es gab Maultaschen, Reissuppe, Pancakes und aus irgendeinem Grund stand besonders Kenny auf traditionellen russischen Milchbrei, etwas, das Kai nie verstanden hatte. Er verabscheute diese "Spezialität" seit seiner Kindheit mit Leidenschaft. Daneben gab es die üblichen Dinge: Marmelade, Toast, Cornflakes und Joghurt. Kai kapitulierte schließlich und entschied sich für Joghurt, etwas, das sie alle gerne aßen. Vorsichtig löffelte er seine Schüssel aus. Er wusste gar nicht, wann er überhaupt zuletzt so etwas gegessen hatte. In der Abtei sicher nicht, aber davor vielleicht? "Seit wann isst DU denn Joghurt?" Die polternd formulierte Frage kam natürlich von Tyson und riss Kai aus seinen Gedanken. Verdammt! Das war wohl auch nicht normal für ihn? Die erstaunten Gesichter seiner Teamkameraden, die sich hastig wieder den eigenen Tellern zuwandten, sprachen Bände. Lediglich Tyson schaute ihn immer noch herausfordernd an und wartete auf eine Antwort. Kai legte alle Coolness und Abgeklärtheit in seinen Blick, schaute den Blauhaarigen kalt an und zuckte mit seinen Schultern. Eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein. So viel zu der Vorstellung, er könnte den Anderen etwas vormachen. Er focht ein stummes Blickduell mit Tyson aus, der mit der Antwort nicht wirklich zufrieden war, dann aber ergeben den Kopf senkte und wieder zur Fütterung zurückkehrte. Genervt schob Kai seine Schüssel beiseite. Er hatte sowieso keinen Hunger gehabt und der kleine Zwischenfall hatte sein Übriges getan. Jetzt hatte er wenigstens Zeit, sein Team genauer zu beobachten. Sechs Monate waren eine Menge Zeit und so wie er sich verändert hatte, hatten auch sie das getan (wenn auch vielleicht nicht so gravierend wie er). Kenny besaß einen neuen Laptop, den er wie jeden Morgen mit an den Tisch gebracht hatte, damit Dizzy nicht so allein war (oder war es umgekehrt?). Er schien ein Stück gewachsen zu sein und seine Brille war verändert - allerdings waren die riesigen Gläser geblieben. Von Mr. Dickenson hatte er erfahren, dass Kenny die Leitung des Teams übernommen und seine Aufgabe mit Bravour gemeistert hatte. Das war gut, denn Kai wusste wirklich nicht, ob und wann er sich dem Training wieder widmen würde. Max hatte die größte Veränderung durchlaufen. Er war nicht nur plötzlich der Größte in der Mannschaft, seine Wuschelfrisur war einem Kurzhaarschnitt gewichen. Dazu passten die muskulösen Arme und der breite Oberkörper erstaunlich gut. Wie hatte der brave kleine Halbjapaner zu diesem gewöhnungsbedürftigen Aussehen gefunden? Tyson hingegen sah fast wie immer aus. Seine Diät, die er jeden Monat aufs Neue anfing, hatte, wie zu erwarten, wenig Erfolg gezeigt und er hatte sogar ein bisschen zugelegt, aber der Körperbau verriet, dass ein großer Teil davon Muskeln waren. War das etwa der gute Einfluss von Max oder war es eher andersherum? Auch Ray war kräftiger geworden, doch anders als bei Tyson waren die Proportionen viel feiner und definierter. Während Tyson wie ein Berg wirkte, war Rays Gestalt filigraner und eleganter - eben wie die eines Tigers. Am Tisch hatte sich ein Gespräch entwickelt, doch Kai fiel es schwer, dem Thema zu folgen. Er war zwiegespalten. Er musste wachsam sein, um sich nicht zu verraten. Gleichzeitig fühlte er sich so müde. Er stand ständig unter Anspannung und konnte sich nicht ausruhen. Langsam kam er an seine Grenzen und er hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn er sie überschritt. Im Verlauf der letzten sechs Monate war er zu oft gezwungen gewesen, Grenzen zu überschreiten, doch nun hatte er das Ende erreicht. Würde man ihn zwingen, noch weiter zu gehen, wären die Folgen katastrophal, und es fehlte nicht mehr viel. Vielleicht konnte er sich in Japan endlich davon erholen, auch wenn es ein langer Weg sein würde. Noch in Gedanken erhob er sich und humpelte mühsam zu seinem Platz zurück. Kai spürte die Blicke seiner Teamkameraden, versuchte sie aber auszublenden. Auf seinem Sitz rollte er sich so gut wie möglich zusammen, blickte aus dem Fenster und begann seinen aussichtslosen Kampf gegen den Schlaf. Kapitel 7: Busfahrt ------------------- Der Flug verlief recht ereignislos, abgesehen von dem kleinen Zwischenfall, den Tyson provoziert hatte. Max hatte ihn danach ins Gebet genommen und den Rest der Reise hatten beide leise flüsternd nebeneinander verbracht. Obwohl die beiden sehr gute Freunde waren und stets und ständig alles zusammen machten, wunderte sich Ray schon ein bisschen darüber. Hier war mehr als genug Platz und die beiden hockten in einem Sessel aufeinander? Allerdings hatte er keine große Lust, sich mit den beiden zu beschäftigen - es gab etwas Wichtigeres für ihn. Nicht umsonst hatte er den Platz neben Kai gewählt. Die gut fünf Stunden Flugzeit nutzte er für eine eingehende Betrachtung seines Teamcaptains. Mit gemischten Gefühlen beobachtete er, wie Kai krampfhaft versuchte nicht einzuschlafen und jedes Mal fast ängstlich hochschreckte, wenn er doch einmal wegnickte. Dieses Verhalten hatte Ray noch nie bei ihm gesehen: sonst konnte er immer und überall schlafen, egal ob im Bus, im Flugzeug oder auf einem Stuhl. Dass Kai nicht schlafen wollte, musste einen bestimmten Grund haben, doch Ray konnte ihn sich nicht erklären. Schließlich war er selbst eingeschlafen und wurde erst durch die Landung unsanft geweckt. Nach einem störungsfreien Flug landeten sie gegen 19:30 Uhr Ortszeit auf dem firmeneigenen Flughafen der BBA, knapp außerhalb von Tokio. Die Fahrt in die Stadt verlief ruhig, da sie alle müde waren. Kenny hatte ausnahmsweise seinen Laptop weggepackt und döste in der vordersten Reihe des Busses vor sich hin. Ihn würden sie als Erstes bei seiner Großmutter absetzen. Kennys Eltern hatten sich vor drei Jahren scheiden lassen und waren getrennte Wege gegangen. Mit ein klein wenig Nachdruck der BBA hatten sie erlaubt, dass er bei seiner Oma leben durfte. Manchmal merkte man ihm das an, aber das war auch schnell vorüber. Sie lebten beide zusammen in einem kleinen Haus in Setagaya. Ihr Chef ging dort auch auf eine Privatschule und würde im Sommer seinen Abschluss in der Tasche haben. Max und Tyson wohnten seit vier Jahren in einer gemeinsamen Wohnung in Shinjuku, weil sie dort auf die gleiche Schule gingen. Max' Mutter sponserte die Wohnung, wohl als Ausgleich für das schlechte Gewissen, das sie hatte, weil sie ihren Sohn zu oft allein ließ. Sie wohnten in einem riesigen, zweistöckigen Penthouse direkt im Zentrum des Stadtteils, das in der Vergangenheit Ort zahlreicher Partys war. Ray wusste, dass die beiden absolute Partytiere waren und wenn sie einmal nichts mit dem Team unternahmen, konnte man sie in einer der zahlreichen Diskotheken antreffen. Es kursierten Gerüchte, dass sie ebenfalls berüchtigte Frauenhelden waren, aber Ray hatte sie noch nie mit einem Mädchen verschwinden sehen. Allerdings ging ihn das auch wirklich nichts an. Vielmehr gab es da ein Problem, das er unbedingt noch während der Busfahrt lösen musste, doch er hatte ein wenig Angst davor. Angst vor der Reaktion. Das nächste und letzte Ziel dieser kleinen Busrundfahrt war nämlich Kais Wohnung, die in Toshima lag. Allerdings war sie die letzten sechs Monate nicht nur Kais Wohnung gewesen, sondern ebenso die von Ray. Nach dem unerfreulichen Zwischenfall auf der Terrasse in Moskau war er von Mariah und Lee schlicht vor die Tür gesetzt worden. Ihre Wohngemeinschaft wurde vor vier Jahren gegründet, kurz nachdem sie alle von China endgültig nach Japan gezogen waren. Natürlich war auch hier die BBA wieder involviert, die ihre Spitzensportler zusammenhalten wollte, auch wenn sie gegnerischen Teams angehörten. Ihre chinesische WG hatte bis dahin ohne Probleme bestanden, denn die drei waren schon immer Freunde gewesen und zusammen zu wohnen bedeutete, diese Freundschaft noch zu vertiefen. Allerdings war Lee wenig erfreut gewesen, als er erfahren musste, wie Ray seine Schwester Mariah beschimpft hatte und ihn rausgeschmissen. Er lebte fast eine ganze Woche auf der Straße, bis Kenny, Max und Tyson eingriffen und ihn zu Mr. Dickenson brachten. Eines musste man dem Manager lassen: Er wusste, wie man Probleme löste. In diesem Fall quartierte er Ray kurzerhand in der verlassenen Wohnung von Kai ein. Denn, so seine Erklärung, sie stand ja sowieso leer und so konnte er sich nebenbei um die Räumlichkeiten kümmern und aufpassen, falls Kai unerwartet zurückkehren würde. Die letzten sechs Monate war das sein Zuhause geworden, allerdings stand er jetzt vor dem Problem, dass er seinen Phönix in die Geschichte einweihen musste. Ray seufzte lautlos und blickte hinüber zu Kai, der sich auf seinen Stammplatz ganz hinten gesetzt hatte. Gerade hatten sie Kenny verabschiedet und würden trotz des dichten Verkehrs in knapp einer Viertelstunde bei Tyson und Max sein. Es war allerhöchste Zeit, endlich damit herauszurücken. Er seufzte noch einmal, straffte sich dann und ging durch den Gang zu seinem neuen Mitbewohner. "Kai?" Wieder beobachtete Ray, wie der Angesprochene zusammenzuckte. Sein Blick verfinsterte sich, nur um Sekundenbruchteile später wieder ausdruckslos und kalt zu werden. Ein kurzes Räuspern: "Ja". Desinteressiert schaute Kai zu ihm auf, mied allerdings den direkten Blickkontakt. "Ich muss dir etwas sagen... Also, es gibt da ein Problem mit deiner Wohnung." Kai war in Gedanken vertieft, als Ray ihn angesprochen hatte. Automatisch zuckte er zusammen und hasste sich im selben Moment dafür. Das wollte er doch nicht mehr tun. Er musterte seinen Tiger nur kurz, denn er wusste, dass ein längerer Blick ihn nur in seinen Bann ziehen würde. Offensichtlich wollte Ray mit ihm sprechen, denn er sah nervös und sogar ein wenig sorgenvoll aus. Was hatte das zu bedeuten? "Ich muss dir etwas sagen... Also, es gibt da ein Problem mit deiner Wohnung." Aha. Deswegen schaute er so deprimiert aus. Seine Wohnung... Jetzt wo das erwähnt wurde, fiel ihm auf, dass er in seiner Tasche keinen Wohnungsschlüssel gefunden hatte. Er räusperte sich erneut: "Was ist mit meiner Wohnung?" Auf die Erklärung wartete er jetzt einigermaßen gespannt. Soweit möglich schien Ray noch ein bisschen nervöser zu werden; Kai bemerkte das typische hibbelige Fußgewackel. Was konnte denn so schlimm sein, dass Ray nicht mit der Sprache herausrücken wollte? Langsam wurde auch er nervös. Kai konnte nichts dagegen machen. Egal wie sehr er versuchte, normal und lässig zu wirken, die Situation stresste ihn. Sie waren sich auf dem engen Raum ziemlich nah, was allein schon seine Wachsamkeit herausforderte. Aber darauf warten zu müssen, was genau Ray sagen wollte, war fast schon zu viel für seine Nerven. "Ja, also, wie soll ich sagen..." "Jetzt spuck‘s einfach aus!" Das hatte barscher geklungen als er eigentlich wollte, aber es schien den richtigen Effekt zu haben. "Ähm, ich nehme an du erinnerst dich an die Weltmeisterschaft und dass Mariah in unsere Unterhaltung geplatzt ist?" Wie könnte er das vergessen haben? Das war sein letzter Abend gewesen, bevor... "Du bist gleich danach verschwunden, also hast du nicht mitbekommen, dass sie und ich uns ziemlich heftig gestritten haben. Jedenfalls haben sie und Lee mich gleich im Anschluss, als wir wieder in Japan waren, aus der WG rausgeschmissen. Ich wusste nicht wohin und Mr. Dickenson hielt es für eine gute Idee, wenn ich vorerst bei dir wohnen würde..." Die letzten Worte waren immer leiser geworden, aber Kai hatte sie trotzdem gehört. Verdammt! Ray und er wohnten jetzt zusammen? Vor sechs Monaten wäre damit ein heimlicher Traum in Erfüllung gegangen, aber jetzt war die Situation eine völlig andere. Er konnte nicht zusammen mit Ray in einer Wohnung leben. Nicht mit ihm! Er wusste, dass er jeden anderen auf Abstand halten konnte, dass sie teilweise immer noch ein bisschen Angst vor ihm hatten, wenn er nur finster genug schaute. Aber der Chinese war da anders. Sie waren mit der Zeit Freunde geworden und er wusste viel zu gut über ihn Bescheid. Schon vor diesem Vorfall war Ray stets in der Lage gewesen, Kais Stimmungen ganz genau zu lesen. Sich eine Wohnung zu teilen war purer Wahnsinn. Allerdings sah er keine Möglichkeit, aus der Nummer herauszukommen. Die Alternative wäre, Ray auf die Straße zu setzen, und das konnte er wirklich nicht tun. Es blieb also nur eine Antwort: "Von mir aus." "W-wirklich?!" Die Antwort hatte Ray völlig kalt erwischt; er hatte mit sehr, sehr vielen Reaktionen gerechnet, aber nicht mit dieser gleichgültigen Zustimmung. Das war natürlich besser als eine Ablehnung und er hatte sich bereits auf einen kleinen Kampf eingestellt. Trotzdem war Kais Verhalten seltsam. Insgeheim nahm sich Ray vor, ihn genauestens zu beobachten, wenn sie alleine waren. Vielleicht hätte er dann auch eine Chance, herauszubekommen, was genau passiert war. Rays Gedanken wurden unterbrochen, als der Bus scharf bremsend und mit quietschenden Reifen anhielt. Ray, der bisher lässig am Vordersitz gelehnt hatte, schaffte es im letzten Moment, Kai aufzufangen, der ihm prompt entgegen flog. Der unerwartete Körperkontakt löste in ihm eine Kettenreaktion an Gefühlen aus. Sofort war er sich des Körpers des Russen bewusst, dünn und sehnig, aber auch unerwartet muskulös an den Oberarmen, die er festgehalten hatte, um den Fall abzufangen. Ihre Gesichter berührten sich fast und es wäre ein leichtes gewesen, ihn jetzt einfach zu küssen. Stattdessen sog er gierig diesen besonderen Geruch ein, der nur an Kai haftete und der ihn manchmal in seinen Träumen besuchte. Sie hatten sich so verdammt lange nicht mehr gesehen und abgesehen von der seelischen Sehnsucht nach seinem Freund hatte Ray ebenfalls ein starkes körperliches Verlangen danach verspürt, Kai wiederzusehen. Er musste sich wahnsinnig zurückhalten, diesem Verlangen nicht nachzugeben und unbewusst verstärkte sich auch der Griff seiner Finger. In ihm kämpfte die Vernunft gegen den Wunsch, sich einfach fallen zu lassen und dem Bedürfnis nachzugeben, das er schon viel zu lange unterdrückte. "Ist bei euch beiden alles in Ordnung? Irgend so ein Fahrradfahrer hatte wohl Todessehnsucht... Ray, was machst du da?" Der Unterton in Max' Stimme riss den Chinesen aus seiner Trance. Ruckartig machte er sich von Kai los und drückte ihn auf den Sitz zurück. Seine Umgebung schien er erst jetzt wieder wahrzunehmen - oder Kai. Der schaute ihn mit schreckerstarrten Augen an und schien unfähig, sich zu bewegen. Dann ging ein Ruck durch ihn und er schaute wieder desinteressiert aus dem Fenster. Was war das denn? Kopfschüttelnd wandte Ray sich ab und ging wieder zu seinem Platz zurück. Er begann, die auf dem Sitz verstreuten Sachen wieder in seiner Tasche zu verstauen, denn sie würden bald da sein. Unendlich erleichtert atmete Kai durch. Durch das plötzliche Bremsen des Busses waren er und Ray sich viel näher gekommen als erwartet. Ray hatte ihn reflexmäßig festgehalten und dabei eine Reihe von Emotionen ausgelöst. Die unerwünschte Berührung ließ sofort Bilder in seinem Kopf aufflammen, Bilder von anderen Händen, die sich nicht damit zufrieden gaben, nur seine Arme zu halten. Außerdem hatte Ray sich unabsichtlich genau dort festgehalten, wo sich unter dem Verband ein langer, tiefer Schnitt verbarg, was alles andere als angenehm war. Das Schlimmste war allerdings, dass er völlig in der Ecke eingeklemmt war. Den Fluchtweg nach vorne war versperrt, rechts und links gab es keine Möglichkeit zu entkommen. Die Panik drohte wieder alles zu überfluten, aber Kai durfte sie nicht gewinnen lassen. Es drohte ihm keine Gefahr, alles war in Ordnung. Er musste nur darauf warten, endlich losgelassen zu werden, dann war es gut. Doch Ray machte gar keine Anstalten, sich von ihm zu lösen, und das wurde immer unangenehmer. Worauf wartete er noch? Statt auf Abstand zu gehen, schien er sogar noch näher zu kommen und seine Atmung hatte sich verändert. Kai kannte diese Anzeichen nur zu gut, und jetzt übernahm doch die Angst wieder die Kontrolle. Er wollte seinen Kameraden wegschieben, irgendwie Raum zwischen beide bringen, aber er konnte keinen Muskel rühren. Glücklicherweise unterbrach Max sie und Ray kam wieder zu sich. Sie schauten sich noch kurz an, dann hatte Kai die Panik niedergekämpft und wandte den Blick ab. Das war äußerst knapp und heikel gewesen. Einen anderen Menschen so nahe zu spüren war schon fatal genug, aber die unerwartete Reaktion hatte ihn fast ausflippen lassen. Wahrscheinlich hatte er nur überreagiert und sich das eingebildet. Der ganze Vorfall zeigte ihm aber deutlich, dass er höllisch aufpassen musste. Sonst würde er sich verraten, wenn sie nachher alleine wären. Die Busfahrt danach verging wie im Flug. Tief versunken in seine Gedanken bemerkte Kai nicht einmal, wie Tyson und Max sich verabschiedeten. Erst als sie in dem belebten Wohngebiet vor seinem Wohnhaus hielten, nahm er seine Umgebung wieder wahr. Endlich war er zu Hause. Die letzten sechs Monate hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als seine eigenen vier Wände zurückzubekommen. Einen Ort, wo ihm niemand etwas antun konnte und wo er allein war. Seine Freude wurde ein bisschen davon getrübt, dass er nicht ganz allein sein würde, aber das konnte er verschmerzen. Der Bus hatte wie immer an der Straßenecke gehalten. Als die beiden jungen Männer ausstiegen, empfing sie die kalte Luft der Großstadt. Der kurze Fußmarsch zu dem Gebäudekomplex tat nach dem langen Flug und der Busfahrt wirklich gut. Ray war froh, endlich wieder daheim zu sein. Auch wenn es nicht wirklich seine Wohnung war, so hatte er sich dort in den letzten sechs Monaten sehr wohl gefühlt. Er hatte schon auf den ersten Blick gesehen, warum sich Kai gerade diese Wohngegend ausgesucht hatte. Das Viertel bestand aus mehreren großen Hochhäusern und geschätzt wohnten hier um die 8.000 Menschen. Ihr Teamcaptain war ein großer Fan von Anonymität und die war bei der Masse an Menschen auf jeden Fall gesichert. Die Wohnung lag im oberen Teil des Gebäudes, gerade so hoch, dass man einen Ausblick auf den Stadtkern hatte. Auch die Nachbarn waren vorbildlich. Toshima war sozusagen der Ausländerstadtteil und so war hier eine riesige Bandbreite an Nationalitäten und Kulturen vertreten. In einer kleinen Seitenstraße hatte Ray sogar einen Laden mit russischen Spezialitäten gefunden. Die Schule, auf die sie beide immer noch gingen und ihre Trainingshalle waren ausgezeichnet zu erreichen. All diese Umstände hatte Ray in den vergangenen Wochen zu schätzen gelernt, am meisten gefiel ihm davon allerdings die Ruhe. In der WG von Lee und Mariah war es stets lebhaft und laut zugegangen. Das hatte ihm nicht viel ausgemacht, dennoch mochte er die Stille ebenfalls. Deswegen waren er und Kai so gut miteinander ausgekommen. Sie beide waren nicht der Typ, der ständiges Gerede oder Action um sich herum haben musste. Die Abgeschiedenheit hatte ihm außerdem geholfen, über die schwierige Zeit hinwegzukommen. Jetzt freute er sich umso mehr auf die Heimkehr. Langsamer als gedacht erreichten sie die Eingangshalle des Wohnturms. Kai konnte durch sein gebrochenes Bein nur langsam humpeln, und es tat richtig weh, ihm dabei zuzusehen. Doch Ray wusste, dass Kai ihm unter gar keinen Umständen seine Tasche geben oder sonstige Hilfe zulassen würde. Zum Glück konnten sie sich das Treppensteigen sparen. Kaum hatten sie den Fahrstuhl betreten, überkam Ray wieder dieses seltsame körperliche Verlangen. Hier konnte sie keiner stören. Anders als im Bus konnte er hier ungesehen einen Annäherungsversuch wagen. Nur ganz kurz seine Lippen auf die des Russen drücken, die Weichheit spüren, den Geschmack... Was zum Teufel dachte er da? Hatte er seinen Verstand im Bus vergessen? Er hatte seinem eigenen Team gepredigt, dass sie ihren Captain vorsichtig behandeln mussten, weil er anscheinend ein sehr traumatisches Erlebnis durchlebt hatte. Und was tat er hier? Sicherlich nicht die Dinge ruhig angehen lassen. Schon im Bus, als dieses Gefühl das erste Mal in ihm aufgestiegen war, hatte er deutlich Kais Abwehrhaltung gespürt. 'Reiß dich zusammen, Kon!' Er durfte auf keinen Fall die Sache überstürzen. Wenn Kai sich wieder eingelebt hatte, konnte er vielleicht einen Schritt in diese Richtung machen. Vorher musste er sich um jeden Preis zusammennehmen. Ray war froh, als sich die Fahrstuhltüren wieder öffneten und sie mehr Abstand zwischen sich bringen konnten. "Hier, ich habe deinen Wohnungsschlüssel. Ich habe zwar einen eigenen, aber ich wollte lieber den benutzen." Mit hochrotem Kopf nahm Kai seinen Schlüssel entgegen. Das hatte er vollkommen vergessen. Nicht einen Gedanken hatte er daran verschwendet, dass sein Wohnungsschlüssel in Rays Hände gelangt sein könnte. Wie peinlich: An dem Band hingen nicht nur 3 Schlüssel, sondern auch ein kleiner weißer Plüschtiger… Kapitel 8: In der Wohnung ------------------------- Peinlich berührt schloss Kai die Wohnungstür auf. Den verdammten Schlüsselanhänger hatte er vollkommen vergessen. Immerhin hatte er aber auch nie vorgehabt, seinen Schlüssel jemals einer anderen Person zu zeigen. Wieder war es ausgerechnet Ray, der das gesehen hatte und der konnte sicherlich bis zwei zählen. Er würde seine Schlüsse daraus ziehen - wahrscheinlich die richtigen und dann hatte er wirklich ein Problem. Allerdings sagte Ray dazu nichts, sondern lächelte ihn nur auffordernd an, endlich die Tür aufzuschließen. Schulterzuckend folgte Kai der Aufforderung. Er hatte genug Probleme und würde sich mit diesem speziellen Thema befassen, wenn es soweit war. In der Wohnung wartete die nächste Überraschung, denn das hier war absolut nicht SEINE Wohnung. Kais Inneneinrichtung war wie sein Auftreten: kalt und schlicht. Davon war jetzt keine Spur mehr. Ray hatte eindeutig seine Handschrift hinterlassen: Der kurze Abschnitt vom Flur bis zur Wohnküche war mit einem knallbunten Teppich ausgelegt; auf dem Küchentresen standen mehrere Flaschen und sämtliche exotischen Gewürze, der Esstisch war mit Bambusdeckchen und Blumen dekoriert. Im Wohnbereich standen Unmengen von Pflanzen und auf der Couch lagen nicht nur diverse Decken, sondern auch Kissen. Die Vielfalt an Farben und Formen überforderte Kai ein wenig, aber immerhin waren seine Möbel geblieben. Eigentlich harmonisierten sein nüchterner, praktischer Stil und die warme, herzliche Art Rays sehr gut miteinander. Trotzdem war ihm das für den Moment zu viel. Hoffentlich war wenigstens sein Zimmer nicht umgestaltet. "Keine Sorge. Dein Zimmer ist unverändert. Ich war nur ab und zu da drin, um Staub zu wischen." Puh. Ray konnte wirklich Gedanken lesen. Es konnte aber auch an den leicht entgleisten Gesichtszügen gelegen haben, die Kai für einen Moment zur Schau gestellt hatte, bevor er sich beherrschen konnte. Während er sich noch umsah, kam ihm schon die nächste Frage in den Sinn: "Wo schläfst du eigentlich?" Kai hörte der Erklärung still zu, verspürte aber nicht den Wunsch, sich noch mehr bunte Räume anzusehen. Sein Zimmer war angeblich unverändert und er sehnte sich nach einer kurzen Pause für seine Augen. Und Ray hatte nicht gelogen: Sein Zimmer war so trist wie immer. Die Wände besaßen einen hellen Anthrazitton, die Möbel waren allesamt schwarz oder in dunklen Holztönen. Sogar seine Bettwäsche war dunkel. Achtlos ließ er die Tasche fallen und lehnte sich gegen die geschlossene Tür. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Er zweifelte daran, dass er das hier wirklich durchziehen konnte. Die völlig veränderte Wohnung war nur ein Beispiel dafür, wie anders alles war, jetzt wo er einen Mitbewohner hatte. Er wollte allein sein, er musste allein sein. Wie sollte er mit jemand anderem zurecht kommen, wenn er nicht einmal mit sich selbst zurecht kam. Würde er diese Doppelbelastung schaffen, sich selbst wiederzufinden und sich gleichzeitig vor Ray zu verstecken? Es war so schon schwer genug. Ständig hatte er diese Erinnerungen in seinem Kopf; er wollte schlafen, konnte es aber nicht. Er wollte den Schmerz hinausschreien, aber er hatte es sich verboten. Er wollte weinen, alles raus lassen, doch dann hätte Balkov gewonnen. Diese Genugtuung hatte er ihm nie gegeben. Mit Ray in seiner Nähe durfte er noch weniger dieser Versuchung erliegen. Nicht auszudenken, was er sagen würde, sollte er Kais Geheimnis herausbekommen. "Er würde sagen, dass du ein totaler Versager bist, ein Nichts. Du bist nur Null, ein Junge ohne Namen, ein Spielzeug!" Was war das? Panisch fuhr Kai herum, suchte den Lichtschalter, den er eben vollkommen vergessen hatte. Verdammt, sonst kontrollierte er jeden Raum darauf, ob sich irgendwer darin versteckte, doch in seiner eigenen Wohnung hatte er einfach nicht daran gedacht! Wie dumm er doch war. So hatten sie ihn das erste Mal bekommen und jetzt waren sie hier, um ihn wieder mitzunehmen. Das Licht flammte auf, doch niemand hatte sich versteckt und auf ihn gewartet. Anscheinend hatte ihm sein Kopf nur einen kleinen Streich gespielt. Doch das Misstrauen war geweckt und so wirbelte Kai herum und fing an, auch den Rest der Wohnung unter die Lupe zu nehmen. Erleichtert stellte er fest, dass Ray noch in seinem Zimmer war, so konnte er wenigstens keine dummen Fragen stellen. Routiniert schaltete er alle Lichter im Wohnbereich an, ging dann in den Küchenbereich und wiederholte die Handlung dort. Nachdem endlich jede Ecke beleuchtet wurde, konnte er sich ein bisschen entspannen, trotzdem musste er genau nachsehen. Kai war sich bewusst, dass seine Handlungsweise etwas Manisches hatte und seine Angst stark irrational war, aber er konnte nichts dagegen tun. Erst wenn er wirklich jeden Winkel abgesucht hatte, würde er sich wieder beruhigen. Leider platzte genau in diesem Moment Ray ins Zimmer und überraschte ihn dabei. Die Frage, ob alles okay bei ihm sei, hätte Kai am liebsten ehrlich beantwortet, aber das ging natürlich nicht. Schnell überlegte er sich eine Ausrede, aber etwas Besseres als "Ich schau mir nur dein 'künstlerisches' Werk an." kam dabei nicht heraus. Ray schien das zu akzeptieren und zuckte lediglich verstehend mit den Schultern. "Möchtest du etwas Tee?" Das klang nach einer guten Idee: Vielleicht trug das dazu bei, seine Nerven zu beruhigen. Schweren Schrittes humpelte Kai zum Küchentresen und ließ sich auf einem der Hocker nieder. Er schaute Ray beim Vorbereiten zu, sagte sonst aber nichts. "Willst du dein Bein vielleicht hochlegen?" "Nein danke." Der Tee war fertig und Ray stellte eine der dampfenden Tassen vor seinen Teamcaptain. "Tut es eigentlich sehr weh?" "Nicht wirklich..." Sogar die Tassen waren nicht seine eigenen. Anscheinend hatte sein Tiger wirklich alles ausgetauscht oder verändert, was nicht bunt genug gewesen war. "Du kannst es mir ruhig sagen, wenn ich etwas für dich tun kann. Dafür sind Mitbewohner doch da!" Das strahlende Lächeln und die gütigen goldenen Augen trafen Kai völlig unerwartet und ließen ihn nach Luft schnappen; sogar ein Zittern durchlief seinen Körper. Dummerweise hatte er vergessen, dass er bereits die Teetasse in der Hand hatte und verschüttete prompt das warme Getränk über seinen Ärmel. Er fluchte kurz auf Russisch und wollte dann aufstehen, um einen Lappen zu holen, doch Ray war schneller. "Siehst du, das hab ich gemeint.", war sein zwinkernder Kommentar. Schnell war das Missgeschick beseitigt. "Willst du dich schnell umziehen gehen? Dein Ärmel ist ganz nass." "Geht schon, ich krempel ihn einfach um." Zufrieden sah Kai, dass der Verband darunter nicht nass geworden war. Es wäre sehr ärgerlich gewesen, den Verband wechseln zu müssen, da er nicht genug Verbandsmaterial im Haus hatte, aber es war ja nichts passiert. Er wollte gerade wieder nach der Tasse greifen, als er Rays schockiertes Gesicht sah. Die Reaktion war doch leicht übertrieben, denn man sah ja nur den Verband und nicht das, was darunter verborgen wurde. Die nächsten Worte erklärten den Ausdruck jedoch. "Kai, du blutest. Da, siehst du." Kai folgte dem Blick. Anscheinend war der Zwischenfall im Bus nicht ganz so harmlos verlaufen wie gedacht. Als Ray sich in seinen Arm verkrallt hatte, hatte er anscheinend den Schnitt am Trizeps wieder aufgerissen. Kai hatte es nicht bemerkt, also war es wohl nicht der Rede wert, aber so wie es aussah, musste der Verband trotzdem gewechselt werden. Wieder fluchte er, dieses Mal länger und lauter. "Ist alles in Ordnung? Tut es weh? Was kann ich tun?" "Wie wär‘s, du beruhigst dich erst mal. Es ist nichts passiert, ich muss das hier nur schnell wechseln. Ist der Verbandskasten noch im Badezimmer?" Auf Rays Nicken hin kletterte Kai vom Hocker und humpelte ins Bad. Das hatte ihm ausgerechnet noch gefehlt. Umständlich zog er seinen Pullover aus und legte ihn auf den Badewannenrand. Im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete er die blutdurchtränkte Binde. Vielleicht war es doch ein wenig schlimmer. Unglücklicherweise gab es ein großes Problem bei der ganzen Angelegenheit: Er würde es nicht schaffen, die Bandagen allein auszuwechseln. Eventuell würde er sie abbekommen, aber keinesfalls konnte er die Wunde neu verbinden. Nicht mit einer völlig unbrauchbaren Hand und an dieser Stelle. Er brauchte Hilfe, aber es war nur Ray da und einen Arzt wollte er nicht wegen so einer Lappalie rufen. Es half nichts, er brauchte Rays Hilfe, auch wenn ihm der Gedanke zuwider war, dass dieser seinen Körper sah oder seine Haut berührte. Kai überlegte noch ein paar Minuten, doch er kam immer zum selben Ergebnis. Seufzend humpelte er zur Tür und schaute hinaus. Sofort traf ihn ein Blick aus den goldenen Augen. Anscheinend hatte sein Mitbewohner die ganze Zeit die Badezimmertür im Auge behalten. "Ähm, Ray? Ich glaube, ich brauche Hilfe. Es gibt da ein kleines Problem..." ~~~ Ray hatte gespannt auf Kais Reaktion gewartet und sich ins Fäustchen gelacht, als er sah, wie der kurz die Fassung verlor. Natürlich wusste er, dass er hier eine ganze Menge geändert hatte, aber Kais Einrichtungsgeschmack war doch sehr pragmatisch. Mit ein paar kleinen Dingen hatte er die Wohnung aufgepeppt und war recht zufrieden mit sich gewesen. Sein Mitbewohner würde sich schon daran gewöhnen. Ray stellte kurz seine Tasche ab und setzte Teewasser auf. Das war sein kleines Ritual, wenn er heim kam: Tee aufsetzen, Tasche auspacken und dann erst einmal gemütlich ein Tässchen trinken. Mariah und Lee hatten ihn immer wegen dieser "spießigen" Angewohnheit ausgelacht, aber hier konnte er sich das bisher ohne blöde Kommentare gönnen. "Willst du auch einen Tee?" Kai schien ihn allerdings nicht gehört zu haben, sondern fragte seinerseits, wo Ray schlafen würde. Gut, dass er auf diese Frage schon vorbereitet war: "Ich habe dein Abstellzimmer umgeräumt. Da standen ja sowieso nur leere Regale und Kartons drin. Die Kartons habe ich in unseren Keller gebracht, falls du sie suchst. Du kannst ja gerne mal einen Blick hineinwerfen. Soll ich dir jetzt auch einen Tee machen?" Als Antwort bekam Ray ein Schulterzucken, was wohl "Ja" bedeuten sollte. Kai machte jedoch keine Anstalten, das Zimmer zu besichtigen, sondern verschwand kommentarlos. Auch gut. Ray schnappte sich seine Tasche und betrat sein eigenes Reich. Von allen Zimmern drückte dieses am meisten seine Persönlichkeit aus. Hier standen auch die meisten Bilder. Obwohl er in der ganzen Wohnung Fotografien verteilt hatte, waren diese hier etwas Besonderes. Es war ein Foto der White Tigers, als sie vor vielen Jahren noch zusammen gebladet hatten, ein Bild von Mariah und ihm (trotz des Streits sah er sie immer noch als seine Freundin und es verletzte ihn ein wenig, dass sie den Kontakt so plötzlich abgebrochen hatte), ein Bild von dem Dorf, in dem er aufgewachsen war und ein Bild von ihm und Kai, das letztes Jahr in Brasilien aufgenommen wurde. Sie hatten an einem kleinen, unbedeutenden Turnier teilgenommen und sich hinterher drei Tage Auszeit gegönnt. Selbst ihr Captain konnte sie nicht zum Training antreiben und so waren sie die ganze Zeit am Stand geblieben. Das Bild war entstanden, als Tyson, der Max bereits auf seinen Schultern trug, die beiden so lange wegen eines kleinen Kampfes im Wasser genervt hatte, bis Kai sich Ray kurzerhand geschnappt und auf seine Schultern gesetzt hatte. Kenny hatte genau im richtigen Moment abgedrückt und die ganze Schönheit dieses Moments und insbesondere Kais eingefangen. Der Russe hatte wirklich einen fantastischen Körper. Das Shirt, das er trotz der Hitze trug, klebte an ihm wie eine zweite Haut und man konnte jeden einzelnen Muskel sehen, fast so, als wenn er nackt gewesen wäre. Scheinbar mühelos trug er Ray auf seinen Schultern und hatte ein triumphierendes Lächeln im Gesicht, weil sie es gerade geschafft hatten, Tyson und Max ins Wasser zu schubsen. Ray erinnerte sich noch ganz genau an diesen Tag und an das Gefühl, das er damals hatte. An dieses euphorische Gefühl, das er hatte, sobald er auf Kais Schultern saß. Die kräftigen Arme, die seine Beine festhielten, damit er nicht herunter fiel. Kais Haare, die seinen Bauch kitzelten, weil sie trotz des vielen Wassers nach allen Seiten abstanden. Das war der Tag gewesen, an dem er sich eingestanden hatte, dass er mehr für Kai empfand als nur Freundschaft. Sie hatten so viel gelacht an diesem Tag, sogar Kai bildete da keine Ausnahme. Er hoffte wirklich, dass er noch einmal die Chance hatte, diesen unbeschwerten jungen Mann zu sehen, doch er hatte das Gefühl, dass es bis dahin ein weiter Weg werden würde. Das Pfeifen des Teekessels riss ihn aus seinen Gedanken und rief Ray in die Küche zurück. Verwundert merkt er, dass alle Lampen angeschaltet waren und Kai sehr gründlich jede Ecke untersuchte. Die Erklärung für dieses Verhalten klang fadenscheinig, doch der penetrant pfeifende Kessel verlangte jetzt mehr nach Rays Aufmerksamkeit. Während sie tranken, kam sogar ein leichtes Gespräch zustande und wenn sich Ray darüber gefreut hatte, wich die Freude bald der Sorge um Kai. Als sie sich an den Tresen gesetzt hatten, hatte Ray kurzzeitig die Illusion von Normalität gehabt. So hatte er es sich immer gewünscht: Sie kamen zusammen nach einem langen Tag heim, tranken eine Tasse Tee und sprachen über ihre Erlebnisse. Doch als er das Blut gesehen hatte, war diese Blase geplatzt und der Realität gewichen. Als er den Tee serviert hatte, hatte Kai sich gründlich in jeder Ecke umgesehen und dabei einen seltsamen Ausdruck in den Augen gehabt. Die Erklärung, er würde sich Rays künstlerisches Werk ansehen, wirkte aufgesetzt. Eigentlich hatte er den Eindruck, dass Kai den Raum kontrollierte - deshalb hatte er auch das gesamte Licht angeschaltet. Sollte Ray ihn darauf ansprechen? Lieber nicht. Irgendetwas verriet ihm, dass seinem Captain das Ganze selbst unangenehm war, auch wenn sein Gesicht den üblichen kalten, desinteressierten Ausdruck hatte. Ray wartete, bis Kai sich gesetzt hatte und stellte ihm dann eine dampfende Tasse Schwarztee hin. Wieder musste er schmunzeln, als Kai die orangefarbene Tasse skeptisch beäugte. Er kannte ja dessen Vorliebe für die Farbe schwarz, aber das war ihm auf Dauer einfach zu trist gewesen. Er lächelte ihm freundlich zu und nippte an seinem Tee, als seinem neuen Mitbewohner das kleine Missgeschick passierte. Schnell war ein Lappen zur Hand und das Malheur weggewischt, als sein Blick auf die blutige Bandage fiel. Wo kam das auf einmal her? Kaum hatte Ray die paar Worte rausgebracht, als Kai auch schon anfing zu fluchen. Auch wenn er kein Wort verstand, es war Kais Lieblingsfluch - er hatte die Worte so oft gehört, dass er sie mittlerweile alle halbwegs unterscheiden konnte. Es sah aber auch übel aus und ein wenig unwirklich. So etwas sah man doch sonst nur im Film. Sollte er Kai fragen, woher er die Verletzung hatte? Bestimmt würde er es ihm sowieso nicht sagen, dafür war er zu stolz und stur. Selbst jetzt wollte Kai keine Hilfe haben, sondern war wortlos im Badezimmer verschwunden. Ray überlegte fieberhaft, ob er nicht doch irgendetwas tun konnte, aber es wollte ihm partout keine Lösung einfallen. Vielleicht sollte er einfach etwas wagen und ein Gespräch mit dem Russen suchen? Nachdenklich blickte er zur Badtür und spielte in Gedanken die verschiedensten Möglichkeiten und Reaktionen durch. Am Wahrscheinlichsten war, dass Kai gar nichts sagen würde, dicht gefolgt von der zweiten Möglichkeit, nämlich dass er ausrasten würde. Und trotzdem wünschte Ray sich, dass Kai sich ihm anvertrauen würde. Darauf konnte er sicherlich lange warten... "Ähm, Ray? Ich glaube, ich brauche Hilfe. Es gibt da nur ein kleines Problem..." Ray war schon wieder tief in Gedanken versunken gewesen, bevor er merkte, dass Kai ihn angesprochen hatte. "Was für ein Problem?" "Wie gut verträgst du Blut?" Man sah Kai an, dass ihm die Frage nicht leicht fiel. "Bisher hatte ich noch keine Probleme damit. Wobei brauchst du denn Hilfe?", fragte Ray, auch wenn er die Antwort fast schon ahnte. "Ich brauche Hilfe beim Wechseln des Verbands. Die Verletzung ist an einer ungünstigen Stelle und ich habe leider eine unbrauchbare Hand." Er hielt kurz die drei gegipsten Finger hoch. Ray verstand sofort, stand anmutig vom Hocker auf und ging ins Badezimmer. Kai hatte sich wieder dem Spiegel zugewandt und in der Reflexion konnte man deutlich erkennen, wie unangenehm ihm die Situation war. Ray sah Kai das erste Mal ohne den Pullover und ihm stockte der Atem. Es schien fast, als ob kein Zentimeter des Oberkörpers frei von Bandagen oder Pflastern war. Und dort, wo ein wenig Haut durchschimmerte, war sie stets in den unterschiedlichsten Farben, von verblasstem Gelb bis hin zu leuchtendem Lila. Stammten all diese Verletzungen nur von dem Autounfall? Die undeutlichen gelben Flecken schienen viel älter zu sein, oder täuschte er sich? Eigentlich hatte Ray keine Ahnung von Medizin. "Soll ich dir ein paar Fotos machen, damit du die dann angaffen kannst, oder bist du fertig? Ich dachte, du wolltest mir helfen?" Der heftige Tonfall unterbrach die Musterung und verwundert hob Ray eine Augenbraue. So angefahren zu werden war er gar nicht gewohnt. Wütend funkelten ihn die mattroten Augen seines Gegenübers an. "En-… Entschuldige. Ich wusste nur nicht, dass der Autounfall so schlimm war." Mattrote Augen - er hatte sich gestern in der Hotellobby doch nicht geirrt. Wieso hatte Kai plötzlich eine andere Augenfarbe? Sonst waren sie doch immer in einem strahlenden Violett gewesen. Und bei der veränderten Farbe fielen ihm auch die silbergrauen Haare auf. Sogar seine Haarfarbe hatte sich geändert. Waren das farbige Kontaktlinsen und eine Tönung oder würde das für immer so bleiben? Ray wusste nicht, ob ihm das sonderlich gefiel. "Also, was soll ich tun?" "Der Verband muss aufgeschnitten werden. Siehst du: Hier oben an der Schulter geht er in den Brustbereich über. Alles abzuwickeln wäre unsinnig und wir haben sowieso keine Binden hier, die so lang sind. Fang hier unten am Handgelenk an und schneide bis zur Schulter. Du musst aber vorsichtig sein, ich will nicht noch mehr Kratzer abbekommen. Meinst du, du schaffst das?" Oh Gott, das war die Hilfe, um die Kai ihn bat? Deswegen hatte er sicher gefragt, ob Ray etwas gegen Blut hatte. 'Okay, Kon, reiß dich zusammen.' Vorsichtig setzte er die Schere an und schnitt dann unter Anleitung die Bandage bis zur Schulter auf. Vor Aufregung zitterten ihm die Hände und er musste mehrfach absetzen, um sich zu beruhigen. Dann aber hatten sie es endlich geschafft. "Sehr gut. Jetzt kommt leider der eklige Teil. Du musst den Verband ganz vorsichtig ablösen und ich meine wirklich vorsichtig. Ich weiß nicht, wie viel wieder aufgerissen ist, aber vielleicht ist an manchen Stellen das Blut bereits eingetrocknet. Kriegst du das hin?" "Ich denke schon..." Oh Gott, jetzt sollte er den Verband abmachen? Ray hatte keine Angst vor Blut, eher davor, dass er Kai verletzen und ihm noch mehr Schmerzen zufügen konnte. Wortlos begann er langsam, vom Handgelenk aus, die Stoffreste zu lösen. Darunter kam noch mehr verfärbte Haut zum Vorschein und auch eine Reihe von Narben, manche blass weiß, andere leuchtend rot. Für einen Moment vergaß Ray weiterzuarbeiten, und verlor sich im Anblick der Male. Diese waren ihm noch nie aufgefallen. Wo kamen die her und die viel wichtigere Frage war: Hatte Kai sie sich selbst zugefügt? "Ich weiß, diese Narben sind furchtbar interessant, aber würdest du bitte weitermachen?" Der Ton schien noch eine Spur schärfer geworden zu sein. Was missfiel Kai so? War es nur die Situation oder steckte noch mehr dahinter? Den anderen Teammitgliedern hatte Ray zwar gesagt, sie müssten die Sache mit ihrem Captain langsam angehen, aber mittlerweile fragte er sich, ob er sich selbst an seine Worte halten können würde. Zu drängend wurde die Frage, was genau passiert war. Gerade nachdem er den Umfang der Verletzungen gesehen hatte und die meisten immer noch nur erahnen konnte. Mit beeindruckender Willenskraft behielt er jedoch die Frage zurück, die ihm auf der Zunge lag, und wechselte nach Kais Anweisungen langsam und vorsichtig die Verbände aus. Als er nach einigen Minuten endlich fertig war, sah er sein kreidebleiches Gesicht im Spiegel. Ray hatte sich immer für nervenstark gehalten, wurde aber eines Besseren belehrt. Während er noch sein eigenes blasses Gesicht betrachtete, fing er einen merkwürdigen Blick aus einem mattroten Augenpaar auf. Ray konnte ihn nicht recht deuten. Noch immer waren die einst wunderschönen Augen leer und ausdruckslos, nur manchmal, wenn starke Gefühle die Oberhand gewannen, konnte er wie früher in ihnen lesen. Der Ausdruck jetzt schien eine Mischung aus Ärger und irgendwie... Scham zu sein. Und noch etwas Anderes war da, er konnte es aber nicht benennen. Als Kai jedoch nichts sagte, entschloss sich Ray zum strategischen Rückzug. Er hatte die barschen Worte nicht vergessen und er wusste, dass die Situation für seinen Mitbewohner nicht unbedingt angenehm war. Deswegen nahm er Kai die Reaktionen vorhin auch nicht übel. Traurig darüber war er aber trotzdem, irgendwie. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Bad und war insgeheim froh, nichts mehr davon sehen zu müssen. Kapitel 9: Abendliche Beschäftigung ----------------------------------- Zitternd hob Ray die Tasse an seine Lippen und trank den kalten Tee in einem Zug aus. Das hatte ihn mehr mitgenommen, als er sich eingestehen wollte. Aber warum? Da war das Blut und das alleine war schon verstörend, aber da war noch mehr. Wenn er so darüber nachdachte, dann hatte er noch nie wirklichen einen Blick auf Kais Körper werfen können. Kai trug zwar immer Muskelshirts, aber stets eine Jacke darüber. Selbst nachts schlief er in einem Shirt und einer langen Hose, ob sie nun in Australien waren oder in Kanada. Und als sie den Tag am Strand in Brasilien verbracht hatten, war er einfach zu abgelenkt gewesen von der Tatsache, dass Kais Shirt hauteng an ihm geklebt hatte und von den Gefühlen, die er sich vorher nicht eingestanden hatte. Heute war das erste Mal gewesen. Die verschiedenen Färbungen der Narben ließen darauf schließen, dass sie schon länger dort waren. Wie lange? Seit sechs Monaten? Möglicherweise noch viel länger? Konnte er Kai irgendwie dazu bringen darüber zu sprechen? Der eiskalte Blick vorhin im Bad hatte ihm mehr als deutlich gemacht, dass der sich lieber die Zunge abbeißen würde. Gab es irgendeinen logischen Grund, mit dem man ihn überzeugen konnte? Auch das war unwahrscheinlich. Wenn Ray nicht ziemlich aufpasste, würde sich Kai schneller verschließen als ihm lieb war. Dann würden sie nicht mal mehr ein Wort miteinander wechseln. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Geistesabwesend kaute er an seinem Daumennagel, als Kai Badezimmer verließ. Bevor Ray auch ein Wort sagen konnte, hatte Kai auch schon geknurrt, dass er jetzt schlafen gehen würde und war in seinem Zimmer verschwunden. Mist! Heute würde er also nichts herausfinden können. Vielleicht war es keine schlechte Idee selbst schlafen zu gehen, morgen war ein neuer Tag und eventuell konnte er dann einen neuen Start wagen. Manche Dinge änderten sich ja über Nacht, warum also dann nicht das? Es war eine winzige, verschwindend geringe Hoffnung, aber besser als keine. Rays Magenknurren unterbrach diese Überlegung. Tatsächlich hatten sie seit dem Frühstück im Flugzeug nicht mehr gegessen und Kai hatte sogar das mehr oder weniger ausfallen lassen. Sollte Ray seinen Captain fragen, ob der auch noch etwas haben wollte? Ein guter Mitbewohner würde das sicherlich tun, obwohl er sich absolut nicht sicher war, ob Kai ihn jetzt überhaupt sehen wollte. Vorsichtig klopfte er an der Zimmertür. "Kai? Entschuldige, aber ich mache uns noch etwas zu Essen. Falls du Hunger hast, komm doch einfach in ein paar Minuten raus, ja?" Es blieb still. Schulterzuckend und ein wenig traurig ging Ray zur Theke zurück. Kais Teetasse stand immer noch hier, inzwischen eiskalt und ungenießbar. Seufzend schüttete der Chinese alles einfach in den Abfluss. Lust, etwas zu kochen, hatte er nicht wirklich. Allerdings führte er als Hobbykoch eine gut organisierte Küche und zu der gehörte auch stinknormales Brot. Die Idee hatte er natürlich von Max und Tyson, die auf Erdnussbutterbrot und Marmelade schworen. Ray, der mit traditioneller, einfacher chinesischer Küche aufgewachsen war, hatte es anfangs als puren Wahnsinn empfunden, so etwas freiwillig zu essen. Irgendwann aber war er auf den Geschmack gekommen und seitdem hatte das klassische Erdnussbutter-Marmelade-Sandwich einen Stammplatz in seinem Speiseplan. Ob aber Kai diese Art von Essen mochte? Dass er irgendwann einmal so etwas gegessen hatte, daran konnte Ray sich nicht erinnern. Was mochte Kai überhaupt gerne? Manchmal traf es ihn ein wenig, dass er über den Menschen, der ihm am liebsten auf der Welt war, eigentlich nichts wusste. Meistens musste er danach einfach nur in die strahlenden violetten Augen blicken und schon waren solche Gedanken wie weggeblasen, aber jetzt funktionierte das nicht. Wie hatte er sich eigentlich die Zukunft vorgestellt? Endlich mit Kai reinen Tisch zu machen, das hatte er sich schon lange vorgenommen und danach war in seiner Fantasie alles klar gewesen. Kai würde seine Gefühle erwidern, sie würden sich küssen - endlich - und ein Beziehung beginnen. Kai würde viel umgänglicher sein, sie würden sich stundenlang unterhalten. Vielleicht entpuppte sich sein Phönix als romantischer Typ. Sie würden weiter ein Team bilden und sich heimlich treffen. Heimliche Küsse vor und nach dem Training - das war aufregend. Dann würden sie irgendwann zusammenziehen. Ein Happy End. So oder ähnlich. Die andere Alternative wäre gewesen, dass Kai seine Gefühle nicht erwiderte und sich von ihm abwandte. Schlussendlich musste sich Ray jedoch eingestehen, dass er ganz schön naiv gewesen war. Das Leben war nicht einfach schwarz-weiß und wenn er ehrlich zu sich war, dann war Kai nicht der Typ, der nach drei kurzen Worten sofort eine Beziehung einging und dann glücklich wie im Märchen lebte. Kai war in den vier Jahren, in denen das Team bestand, gerade halbwegs warm mit den übrigen Teammitgliedern geworden. Eine Beziehung zu führen und dann auch noch mit einem anderen Mann, das war noch einmal etwas ganz anderes. Trotzdem hatte Ray sich das immer vorgestellt und gewünscht. In der Nacht nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft schien alles zum Greifen nah gewesen zu sein. Drei kleine Worte und Kai hätte vielleicht in seinen Armen gelegen. Es hatte nicht sein sollen. Damit hatte Ray sich die letzten Monate auseinander gesetzt. Es hatte nicht sein sollen. Damit hatte er sich allerdings nicht abfinden können. Gab es denn keinen Weg, an dieses Ziel zu kommen? Wenn Kai nicht hinter seinem Schutzwall hervorkam, sicher nie. Alles stand und fiel damit, dass sein Mitbewohner sich ihm öffnete. Das musste Ray irgendwie schaffen. Wirklich gut schmeckte das Sandwich dieses Mal nicht. ~~~ (Andernorts) "Uah, ich bin so froh, endlich wieder hier zu sein. Dieses Gereise geht einem wirklich auf den Keks." "Du hast Recht, ich bin ganz schön platt und morgen früh müssen wir wieder zeitig raus. Ich glaube, ich geh gleich schlafen." "Wo du gerade schlafen sagst; hast du gesehen, wie Ray versucht hat wachzubleiben, nur damit er Kai beobachten kann? Ich sage dir, da läuft schon lange was." "Du weißt, dass ich dagegen halte. Ich sage dir, die waren beide viel zu schüchtern um miteinander zu reden." "Etwas, was man von dir nicht behaupten kann, Maxi." Zwinkernd zog Tyson seinen blonden Mitbewohner in seine Arme, bevor sie sich in einem langen, intensiven Kuss verloren. Schon als sie sich das erste Mal sahen, hatte es zwischen ihnen gefunkt. Sie waren sich überaus sympathisch gewesen und es war offensichtlich, dass da vielleicht mehr sein könnte. Keiner von ihnen war jedoch bereit, den ersten Schritt zu machen und inmitten von Schule, Training und Wettkämpfen kam auch nie die Gelegenheit auf, darüber zu sprechen. Trotzdem war zwischen ihnen stets diese Anziehungskraft und eines Tages hatte es Max nicht mehr ausgehalten: Er war gerade 16 geworden und saß allein und unglücklich in seiner Wohnung. Es waren keine Wettkämpfe angesetzt, Schulferien und Ray, Kenny und Kai machten an unterschiedlichen Orten Urlaub. Er vermisste Tyson unheimlich. Nicht nur, weil er Tyson noch nie traurig erlebt hatte, sondern auch, weil die ewig fröhliche Art ihn effektiv von seinem eigenen Kummer ablenken konnte. So lange voneinander getrennt zu sein schmerzte und ließ die Zeit noch langsamer vergehen, als sie es ohnehin schon tat. Irgendwann fasste Max dann einen Entschluss. Er schnappte sich seine Jacke, seine Schlüssel - und stieß direkt an der Eingangstür mit dem Objekt seiner Sehnsucht zusammen. Anscheinend war es Tyson ganz genau so gegangen wie ihm. Der stammelte noch, dass er etwas sagen müsse, da hatte Max ihn schon in seine Wohnung gezogen, in die Arme geschlossen und in einen tiefen Kuss verwickelt. Max wusste noch, wie aufgeregt er damals war, denn er setzte alles auf eine Karte. Er hatte keinen Gedanken an das Danach verschwendet und im Nachhinein war genau das die richtige Entscheidung gewesen. Den Rest des Tages hatten sie zum größten Teil im Bett verbracht - redend. Damals waren sie viel zu aufgeregt gewesen um DARAN zu denken, stattdessen redeten sie sich alles von der Seele und lachten über ihre Dummheit, dieses kleine Geheimnis so lange vor dem anderen verschwiegen zu haben. Beide hatten sich endlich gefunden. Natürlich endete das Hochgefühl irgendwann und machte dem Alltag Platz. Sie waren sich beide einig gewesen, dass sie ihre Beziehung vor dem Team und in der Öffentlichkeit geheim halten wollten. Selbst ihre Freunde sollten es nicht wissen, da weder Tyson noch Max genau wusste, wie die anderen reagieren würden. Dass sie sich schon seit Jahren ein Zimmer teilten spielte ihnen dabei natürlich in die Karten, trotz allem war es manchmal knapp gewesen. Seit sie eine gemeinsame Wohnung hatten, war die Situation einfacher geworden, aber immer noch nicht einfach. Das Team kannte ihr Geheimnis immer noch nicht und obwohl es offensichtlich war, dass Kai und Ray ebenfalls Gefühle füreinander hatten, konnten sie sich einfach nicht überwinden, sich zu outen. Eigentlich wussten sie gar nicht weshalb, dennoch behielten sie es für sich. Nachdem Kai verschwunden war, war sowieso keine Gelegenheit gewesen, den Rest aufzuklären. Jetzt war er wieder da und zumindest Ray schien es gar nicht abwarten zu können, endlich reinen Tisch zu machen. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, fielen sie beide erschöpft auf das Sofa. "Du raubst mir wie immer den Atem." Zärtlich strich Max seinem Freund durch die Haare. "Aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit Kai." Tyson seufzte. "Ich weiß. So wie er aussieht haben sie ihn ganz schön in die Mangel genommen. Ich glaube nicht, dass die ganzen Verletzungen nur auf den Autounfall zurückzuführen sind." Der Blonde nickte. "Hast du gesehen, wie viel er abgenommen hat?" "Ja. Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen gemacht, aber jetzt wo er wieder da ist, hört es einfach nicht auf. Meinst du, wir können irgendetwas tun?" "Was sollen wir schon tun? Wir wissen ja nicht mal, was genau passiert ist." Tyson legte den Kopf schief. "Er verhält sich fast wie Toby, als ihm das damals passiert ist. Erinnerst du dich? Er war auch so schreckhaft und still und..." Tyson schluckte hart. Toby war einer seiner besten Freunde gewesen bis er eines Nachts in einer dunklen Seitenstraße von drei Betrunkenen vergewaltigt worden war. Toby hatte sich davon nie erholt und am Ende einfach aufgegeben. Das Ganze nahm Tyson immer noch sehr mit. "Shhh, alles wird gut, Ty. Leider hast du Recht, er benimmt sich wirklich wie Toby. Wenn das wahr ist, dann müssen wir alles dafür tun, dass es ihm bald wieder besser geht. Aber du kennst Kai, er wird sich nicht helfen lassen und nicht darüber reden wollen, schon gar nicht mit uns. Vielleicht sollten wir einfach eine Nacht darüber schlafen“, Max gähnte ausgiebig, "Und morgen sieht die Welt wieder anders aus." "Hey! Willst du mich wirklich ohne Essen ins Bett schicken?" Da war er wieder, der alte und unbeschwerte Tyson. Lachend standen sie beide vom Sofa auf und machten sich in der geräumigen Küche ans Werk. ~~~ Die Überbleibsel des alten Verbands waren schnell entsorgt, der Verbandskasten wieder an Ort und Stelle. Zwei merkwürdige, aber müde rote Augen starrten Kai aus dem Spiegel entgegen. Der Flug, die Busfahrt, die Aufregung über die Wohnung und die abendliche Wechselaktion hatten ihren Tribut gefordert. Er wollte nur noch schlafen und wusste doch gleichzeitig, wie gefährlich das war. Aber, oh Gott, er war so müde. Heute würde, nein, musste er das Risiko einfach eingehen. Heute würde er den Kampf nicht gewinnen. Trotzdem musste er noch eine Sache erledigen, bevor er sich den Albträumen stellen konnte. So schnell es ihm sein Körper erlaubte, verließ Kai das Bad und rief Ray nur im Vorbeigehen zu, dass er jetzt schlafen würde. Eigentlich hatte er ein schlechtes Gewissen, denn Ray hatte ihm einen großen Dienst erwiesen und er hatte sich nicht einmal ordentlich bedankt. Er war wirklich ein toller Mitbewohner. Doch darum musste er sich morgen früh kümmern. Kaum war er in seinem Zimmer, schloss er auch schon die Tür leise ab. Alle Lichter brannten noch von vorhin und ein kurzer Blick reichte, um Gefahr auszuschließen. Der Raum war sehr nüchtern eingerichtet: ein Bett, ein Schreibtisch, Bücherregale, ein Kleiderschrank. Nichts in dem Zimmer deutete darauf hin, dass Kai hier wohnte. Es gab keine Bilder und keine persönlichen Sachen, abgesehen von der Kleidung im Schrank und den Büchern im Regal. Diese Bücher waren sein kleines Geheimnis. Einige hatte er bereits seit seiner Kindheit, viele hatte er über die Jahre hinweg gekauft, als er mit den Bladebreakers den Globus besuchte. Die meisten handelten von Medizin und Psychologie. Er verstand zwar bei weitem nicht alle Abhandlungen genau, dazu fehlte ihm die Ausbildung, aber er war schon ein wenig stolz darauf, dass er sich mit der Zeit ein solides Wissen zu diversen Behandlungen angeeignet hatte. Als "Absolvent" der Abtei war das unabdingbar gewesen. All die vielen Gelegenheiten, bei denen Schnitte, Knochenbrüche, Quetschungen und Prellungen behandelt werden mussten... Gerade die Psychotherapie hatte ihn aus naheliegenden Gründen interessiert, allerdings er hatte nie geglaubt, sie einmal bei sich anzuwenden. Natürlich hatte er immer mal wieder hier und da auf kleine Kniffe zurückgegriffen, vor allem während des Trainings. Das war einer der Gründe, warum sie als Mannschaft so erfolgreich waren. Allerdings war Kai nicht dumm. Er wusste, dass sein Know-how und seine Sammlung niemals ausreichen würden, um sich selbst zu therapieren. Allerdings war der Gedanke, sich einem Fremden anzuvertrauen, ihm im höchsten Maße zuwider. Die Bücher waren jedoch nicht sein Ziel. Umständlich ließ er sich neben dem Bett nieder, ein Unterfangen, das mit einem gebrochenen Bein, gebrochenen Rippen und gebrochenen Fingern mehr als schwierig war und fischte eine Pappkiste darunter hervor. Die Kiste beinhaltete fünf schmale, ledergebundene Bücher, sowie einige Fotos. Die Fotos waren bis auf zwei Aufnahmen schon älter, das konnte man am Papier erkennen. Das erste Bild zeigte eine kleine Familie - Mutter, Vater, Kind. Die Frau saß auf einem Stuhl und hielt freudestrahlend einen Säugling in die Kamera, während der Mann stolz auf beide herabblickte und ebenfalls freundlich lächelte. Sogar das Baby schien zu lächeln. Alle drei hatten blauschwarzes Haar. Das zweite Foto zeigte die gleiche Familie, lediglich ein paar Jahre später. Der Säugling war zu einem kleinen Jungen herangewachsen, doch von dem Lächeln war nicht viel geblieben. Mit der linken Hand hielt er sich den rechten Arm, eine ungewöhnliche Pose. Der Vater blickte ernst, fast schon grimmig zum Fotografen, in sein Gesicht hatten sich einige Falten eingegraben. Die Mutter versuchte zu lächeln, aber es wollte ihr nicht so wirklich gelingen. Das dritte Foto, das letzte aus der älteren Reihe, zeigte zwei Jungen im Teenageralter, wobei man erkannte, dass zwischen ihnen wohl einige Jahre liegen mussten. Beide grinsten über das ganze Gesicht, wobei dem Rothaarigen eine dicke Strähne direkt vor die Augen gefallen war. Der Jüngere von beiden hatten den Arm um seinen Freund gelegt und zeigte mit der anderen frech ein Peace-Zeichen. Die letzten beiden Fotos zeigten jeweils das gleiche Motiv. Ein junger Mann war darauf abgebildet. Nach seinem Aussehen und der Kleidung nach zu urteilen war er anscheinend Chinese. Die Fotos schienen privat entstanden zu sein, denn sie zeigten keine typischen Fotoposen. Ein Foto zeigte ihn bei einem Wettkampf. Die Aufnahme wurde schräg von der Seite gemacht und fing den Moment perfekt ein. Freude und Kampfeslust zeigten sich auf den feinen Zügen. Das letzte Bild zeigte die gleiche Person, jedoch schlafend. Schwermütig hatte Kai sich die Fotos angesehen, doch sein eigentliches Ziel waren die ledergebundenen Bücher gewesen. Nacheinander stapelte er sie vor sich, dann griff er sich das Erste und schlug es auf. "'Liebes' Tagebuch, heute hat mich Großvater in diese schreckliche Abtei gebracht..." Er überflog die Seite bis der Eintrag endete. Die Aufzeichnung war vor zehn Jahren entstanden. Bis heute hatte er insgesamt vier Bücher gefüllt, stets nur mit Dingen, die ihm in Russland widerfahren waren. Er hatte so sehr gehofft, dass das fünfte Buch unbeschrieben bleiben würde. Jetzt saß er wieder vor dieser Aufgabe. Seine Erinnerungen auf Papier zu bannen erleichterte ihm die Verarbeitung der Dinge und in manchen Fällen konnte das sogar als Therapiemethode angewandt werden. Ob es in diesem schwerwiegenden Fall auch helfen würde, das würde nur die Zeit zeigen können. Kai verstaute seine persönlichen Dinge wieder in der Pappkiste und schob sie zurück unter das Bett. Bis er irgendwann fertig war, würde dieses Buch von nun an sein ständiger Begleiter werden. Das war keine Aussicht, die ihn aufmunterte. Seufzend setzte er sich an seinen Schreibtisch und begann zu schreiben. Anfangs kamen nur unzusammenhängende Wortfetzen und Sätze heraus, aber Kai wusste, mit der Zeit würde sich das ändern - wenn er bereit dafür war. Als er seinen Eintrag beendet hatte, tat ihm die rechte Hand höllisch weh. Mit Rechts zu schreiben war auch nach den vielen Jahren eine Zumutung für Kai. Traurig und resigniert betrachtete er seine eingegipsten Finger. Seit seinem achten Geburtstag hatte er nicht mehr mit Links geschrieben; damals war er in die Abtei verfrachtet worden, damit aus dem kleinen Jungen endlich eine fügsame Marionette wurde. Nur Daumen und Zeigefinger hatten sie immer in Ruhe gelassen - damit er die Ripcord ziehen konnte. Bei Biovolt waren alle "Schüler" gleich und auch der Enkel des Leiters bildete da keine Ausnahme. Seit zehn Jahren spielte Biovolt in seinem Leben eine viel größere Rolle, als er sich eingestehen wollte. Kai seufzte verhalten. Es war wieder einmal nach Mitternacht. Zeit, schlafen zu gehen. Er versteckte das Lederbuch sorgfältig in einem Riss im Innenfutter seiner Sporttasche und humpelte zu seinem Kleiderschrank. In seiner Sockenschublade lag das nächste Geheimnis: Mehrere Flaschen besten russischen Wodkas. Kapitel 10: Nacht ----------------- Rays Nacht war mehr als unruhig. Erst hatte er vor Aufregung und Sorge nicht einschlafen können und sich in seinem Bett rumgewälzt. Als er dann endlich eingeschlafen war, hatte er einen finsteren Albtraum von blutroten Augen und unheimlichen Schreien in der Dunkelheit gehabt. Er war mit einem stummen Schrei aufgewacht und hatte einige Minuten gebraucht um zu begreifen, dass alles in bester Ordnung war. Zumindest fast. Nachdem er den Albtraum abgeschüttelt hatte, wurde ihm wieder klar, dass Kai im anderen Zimmer schlief und das nahm seine ganze Gedankenwelt in Beschlag. Jetzt konnte er nicht einschlafen, weil seine Gedanken einzig und allein um seinen attraktiven Teamcaptain kreisten. Das taten sie öfter, aber gerade heute war es ein wenig seltsam. Obwohl er wieder da war, war er nicht wirklich Kai. Trotzdem verselbstständigten sich seine Fantasien ein wenig... erst als er eine Viertelstunde später atemlos, aber zufrieden die Augen schloss, konnte einschlafen. Wieder träumte er von roten Augen und verhaltenen Schreien - dieses Mal aber völlig anderer Natur. Diesen Traum hätte er gerne behalten, doch Morpheus meinte es nicht gut mit Ray und so erwachte er wieder, allerdings war er jetzt mehr als enttäuscht. Diesen Traum hätte er sich gerne für die Zukunft bewahrt, denn irgendwann wollte er das alles einmal real erleben. Missmutig schaute er sich in seinem Zimmer um und versuchte einen Grund dafür zu finden, warum er schon wieder aufgewacht war - gerade als es am Schönsten war. Die Uhr zeigte kurz nach drei Uhr an. Tokio schief noch, warum dann nicht er? Ein Knarren aus dem Wohnzimmer beantwortete die stumme Frage. Davon war er also aufgewacht. Anmutig erhob er sich und trat ins Wohnzimmer. Er hatte sehr gute Augen - tagsüber wie nachts, doch er brauchte einige Momente bis er sah, was das Geräusch verursacht hatte: Die Balkontür. Eigentlich hatte er die schon vor Wochen reparieren wollen, weil das ständige Knarren ihm irgendwann auf die Nerven ging, aber letztendlich hatte schlicht die Bequemlichkeit gesiegt. Es ging straff auf den Winter zu und außer ihn störte es keine Menschenseele. Allerdings drängte sich die Frage auf, warum die Balkontür überhaupt geöffnet war. Ein eisiger Wind fegte durchs Zimmer und ließ Ray frösteln. Kurzerhand schnappte er sich eine der Decken vom Sofa und schlich zur Tür. Dass sich Einbrecher auf seinen Balkon in gut 45 Metern Höhe verirrt hatten, war unwahrscheinlich, also blieb nur Kai als Verursacher übrig. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Es war tatsächlich Kai, der dort auf dem kalten Betonboden saß. Obwohl es November war (und nur einige Grad über dem Gefrierpunkt), trug er lediglich einen Pullover. Das gebrochenen Bein hatte er weit von sich gestreckt, das andere dafür angewinkelt. Sein Gesicht war dem bedeckten Himmel zugewandt. Am auffälligsten war jedoch die halbvolle Flasche Wodka, die er im Arm hielt. Eigentlich wäre dieser Umstand nicht weiter verwunderlich gewesen - obwohl sie nach japanischem Recht noch nicht volljährig waren, drückte die BBA gerne ein Auge zu, wenn sie in anderen Ländern "einkaufen" gingen, solange sie es nicht übertrieben. Verwunderlich war, dass Kai die Flasche zur Hälfte geleert hatte. Ray hatte ihn noch nie trinken sehen, weder auf Partys noch auf irgendwelchen anderen Veranstaltungen. Manchmal zog Tyson ihn sogar damit auch, dass er als Russe doch eigentlich am trinkfestesten hätte sein müssen, aber nie einen Tropfen anrührte. Warum hatte er es dann jetzt getan? Und dann auch noch eine halbe Flasche. Ray selbst wäre wahrscheinlich nach den ersten 3 Gläsern eingeschlafen. Er trank ab und zu etwas, aber er vertrug Alkohol nicht wirklich gut. "Kai?" Verschreckt zuckte der Angesprochene zusammen und ließ dabei die Flasche los. Sie kippte samt Inhalt gefährlich nach vorn, doch Rays blitzschnelle Reflexe fingen sie auf, bevor auch nur ein Tropfen danebengehen konnte. "Seit wann trinkst du?" Verschleierte rote Augen sahen zu ihm auf und für einen Moment konnte man sehen, wie schwer Kai das Denken fiel. War er so betrunken oder gab es einen anderen Grund dafür? Dann klärte sich sein Blick und er wandte sich wieder dem dichten Wolkenhimmel zu. Kommentarlos nahm Kai seinem Mitbewohner den Wodka aus der Hand und trank einen Schluck. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, doch er nahm es kaum wahr. Sämtliche Empfindungen wurden von der tiefen Verzweiflung, die er momentan spürte, überdeckt. Ausgerechnet in diesem schwachen Moment tauchte Ray auf. Den konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. "Was willst du?", fragte er mit emotionsloser Stimme. Das war gut. Je mehr er seine wahren Gefühle verbergen konnte, desto besser. Doch Ray ließ sich dieses Mal nicht durch seine abweisende Art abschrecken. Den kalten Blick ignorierend stieg er über den sitzenden Russen hinweg und setzte sich an seine linke Seite. Die Decke, ein flauschiges XXL-Exemplar, reichte für sie beide aus und kurzerhand rutschte er ganz nah an Kai heran und wickelte sie darin ein. Gespannt wartete er auf eine Reaktion, denn so nah waren sie sich fast nie gekommen. Fast wäre es romantisch gewesen. Ray konnte jede noch so kleine Regung spüren, doch er wusste nicht, ob Kais Zittern von der Kälte stammte oder andere Gründe hatte. Außerdem spürte er die Anspannung und hörte die flache, schnelle Atmung. Die schlichte Erklärung war wohl, dass Kai sich mehr als unwohl fühlte. Mitfühlend wollte Ray ihm über den Arm streicheln (und dabei sein eigenes Bedürfnis, Kai anzufassen, erfüllen), doch kurz bevor er mit seinen Fingern den Pullover erreicht hatte, hörte er ein leises "Nicht anfassen!". Enttäuscht ließ er die Hand sinken, aber er respektierte diesen Wunsch. Vielleicht war es für den Moment einfach nur genug, dass sie eng beisammen auf dem kalten Betonboden saßen und in die Wolkendecke starrten. Langsam bekam Kai die Panik wieder in den Griff. Eigentlich hatte er zum Alkohol gegriffen um zu vergessen, doch er schien genau das Gegenteil zu bewirken. Zuerst setzte zwar dieses wohlige Gefühl des Nichts ein, sein Kopf wurde angenehm leer und die Welt drehte sich ein bisschen, doch als er seine Augen schloss, waren da plötzlich wieder diese Bilder - dieses Gesicht. Wider besseren Wissens trank Kai weiter und machte damit alles nur noch schlimmer. An Schlaf war nicht mehr zu denken, obwohl jede Faser danach verlangte. Vielleicht konnte er sich so stark betrinken, dass er gar nichts mehr denken musste? Das war alles nur Wunschdenken, das wusste Kai. Er hatte genügend Erfahrung mit Alkohol um zu wissen, dass diese Aktion gar nichts einbringen würde, aber derzeit lief so viel schief, da kam es auf einen einzelnen Abend nicht an, oder? Irgendwie war er auf den Balkon gelangt und dummerweise über seine eigenen Füße gestolpert. Seine linke Hand schrie protestierend, als er den Sturz damit abfing. Kai knirschte vor Schmerz mit den Zähnen und ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Umständlich hatte er sich schließlich aufgerichtet und war gegen die Wand gelehnt sitzen geblieben. Dass Ray plötzlich auftauchte, brachte seinen alkoholvernebelten Verstand völlig aus dem Konzept, aber er war jetzt auch nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu tun. Wahrscheinlich hätte er nicht mal aufstehen können. Eigentlich war es genau so lächerlich, wie Tyson immer sagte: Er war Russe und nicht trinkfest. Früher hatte er Wodka besser weggesteckt, aber da hatte er auch ein paar Kilo mehr gewogen und war nicht so ein Wrack gewesen. Kaum hatte er sich jedoch beruhigt, als schon der nächste Schock wartete: Ray setzte sich unvermittelt neben ihn und rutschte unangenehm nah heran. Die Decke empfand er wie ein Gefängnis und er spürte jede Berührung, die von seinem Tiger ausging. Als er merkte, dass dieser die Hand ausstreckte und ihn berühren wollte, reagierte sein Mund von allein und er dachte nicht groß über die Worte nach. Worte waren kein Hindernis, wenn Jemand sich vorgenommen hatte, ihn zu verletzen. Deshalb war er unheimlich überrascht, als Ray auch sofort sein Vorhaben aufgab und seine Finger bei sich behielt. Nachdem er diese Verwunderung verarbeitet hatte (was durch den Alkohol ein wenig länger dauerte), setzte allmählich die Entspannung ein, auch wenn Niemand diesen Zustand als entspannt bezeichnet hätte. Kai war dennoch wachsam, denn es konnte Ray schließlich jederzeit wieder in den Sinn kommen, ihn anfassen zu wollen. Als hätte er das vorausgesehen, sprang sein Mitbewohner in eben diesem Moment auf, nahm ihm die Wodkaflasche aus der Hand und zerrte ihn ins Wohnzimmer. Kai versteifte sich sofort, weil er die Situation nicht einschätzen konnte. Der Alkohol spielte ihm wieder einen üblen Streich und gaukelte ihm eine völlig andere Person vor, die ihn festhielt. Schon hörte er das widerwärtige Lachen; er wusste, was als nächstes passieren würde. Er wurde auf das Sofa bugsiert und die Welt begann sich zu drehen. Stöhnend massierte Kai sich mit den Handballen die Schläfen und wartete auf das Unvermeidliche. Doch statt noch mehr Körperkontakt zu erzwingen ließ Ray ihn augenblicklich los und verschwand hinter der Küchentheke. Mit verschwommenem Blick folgte Kai in der Dunkelheit den Geräuschen, die Ray verursachte. Das hier ergab alles keinen Sinn und daran war nur der Wodka Schuld. Das nächste Mal sollte er die Finger von dem Zeug lassen und lieber auf Wasser umsteigen… Behände hantierte Ray in der Küche und hatte schon bald alles Nötige zusammen um seinen Kater-Weg-Spezial-Drink zu mischen. Nach gut fünf Minuten und einigen verhaltenen Seufzern von der Couch wegen des "Lärms", den er dabei veranstaltete, stellte er die gelbbraune Mixtur vor seinen Phönix auf den Tisch. "Hier, trink das! Und dann erzählst du mir, wieso du mit einer Flasche Schnaps allein auf dem Balkon sitzt." Schwungvoll ließ er sich neben Kai nieder und wartete. Es dauerte eine ganze Weile, bis Kai genügend Fassung gewonnen hatte, um nach dem Glas zu greifen. Zweifelnd sah er das Gebräu an, trank dann aber kommentarlos alles auf einmal aus. Seine Hand zitterte immer noch leicht, als er das Glas auf dem Tisch absetzte. Er zog die Decke wieder um sich und auch Ray konnte der Flauschigkeit der Sofadecken nicht widerstehen. Schweigend saßen sie nebeneinander, doch zu Rays großem Bedauernd alles andere als nah zusammen. Er bewegte sich unauffällig und rutschte ein paar Zentimeter heran, doch das war nicht genug. Dafür zuckte er ertappt zusammen, als er eine leise Frage vernahm. "Warum bist du eigentlich wach?" Das kam unerwartet und prompt erinnerte sich Ray an den wunderbaren Traum aus dem er so unsanft geweckt wurde. Und daran, dass die Hauptperson gerade neben ihm saß. Wenigstens sah man in der Dunkelheit sein peinlich berührtes Gesicht nicht, aber seine Stimme war ein wenig belegt, als er antwortete: "Na ja, ich glaube, ich bin von der knarrenden Balkontür aufgewacht." "Oh... entschuldige." Großartig, wirklich großartig. Er war auch noch selbst schuld, dass Ray ihn in dieser unwürdigen Situation gefunden hatte. Sein unüberlegtes Trinkgelage war nicht nur peinlich, sondern hatte seinen Tiger auch noch geweckt. Er machte aber auch wirklich alles falsch. Er seufzte. Das Seufzen klang jammervoll, aber so schnell wollte Ray nicht aufgeben. Er hatte es auf dieses Sofa geschafft und er würde versuchen, das Gespräch in Gang zu halten. Nicht nur, weil er dann vielleicht endlich ein paar Informationen bekommen würde, sondern weil er so seinem Phönix nah sein konnte. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er Kais Entschuldigung beiseite (auch wenn dieser die Geste im Dunkeln wahrscheinlich eh nicht sah) und wiederholte seine Frage von vorhin: "Also, warum sitzt du allein auf dem Balkon und trinkst?" Durchdringend sah er seinen Gegenüber an. Für einen Moment bildete sich Kai ein, in der Dunkelheit goldene Augen aufblitzen zu sehen, aber die Vorstellung war lächerlich. Ray mochte viele Eigenschaften haben, die an eine Katze oder an einen Tiger erinnerten, aber seine Augen konnten ganz sicher nicht im Dunkeln leuchten. In seinem Kopf schwirrte es immer noch und die Frage verwirrte ihn noch mehr. Eine kleine Stimme schlug ihm vor, einfach aufzustehen und wieder auf den Balkon zu gehen und sein Werk dort zu vollenden, denn vielleicht gab es ja doch noch die Chance auf einen traumlosen Schlaf. Eine andere Stimme, ein Echo aus Russland, lachte ihn gackernd aus, weil er so ein verdammter Schwächling war und eine weitere drängte ihm, doch einfach alles zu erzählen und auf die Reaktion zu warten. Die Versuchung irgendeinem Quälgeist nachzugeben war groß. Falls es einen Mittelweg gab, erschloss er sich Kai nicht und irgendwie plauderte er schließlich einfach drauf los: "Ich war noch nicht müde und hielt es für eine gute Idee. Immerhin war ich lange nicht hier und ich wollte mir die Stadt einfach ansehen." Okay, das war so weit von der Realität entfernt, dass es eigentlich zum Lachen war, aber immer noch besser als die Wahrheit. So einfach ließ sich Ray jedoch nicht abwimmeln. "Nicht müde? Entschuldige, wenn ich das so direkt sage, aber ich hab zwischenzeitlich gedacht, dass du im Stehen einschläfst. Bist du sicher, dass es so war?" Erwischt. Es war sowieso unwahrscheinlich gewesen, dass Ray ihm diese Lüge einfach geglaubt hätte. Dafür war er einfach zu klug und aufmerksam. "Na schön. Ich konnte einfach nicht schlafen, zufrieden?" "Nein, warum sollte ich deshalb zufrieden sein? Ich möchte dir doch nur helfen. Warum machst du es mir so schwer? Warum sagst du mir nicht, was passiert ist?" In der Dunkelheit kaute Kai nervös auf seinem Daumennagel herum. Wie konnte es möglich sein, dass ein Gespräch in so kurzer Zeit eskalierte? Jetzt bereute er es, überhaupt einen Ton gesagt zu haben. Angetrunken wie er war, war er ein leichtes Opfer für solche bohrenden Fragen und das wusste er. Das war auch der Grund, warum er nie trank. In der Abtei war es gebräuchlich, ungehorsame Schüler auf diese Weise gefügig zu machen und er war einer derjenigen gewesen, die besonders anfällig dafür waren. Oh, er vertrug eine ganze Menge - nur fragen durfte man ihn anschließend nichts. Es war fast so, als wenn der Alkohol seine Willenskraft einfach davon spülte und Ray hatte diese kleine Schwachstelle eher zufällig gefunden. Hoffentlich merkte er diese Schwäche nicht. Als das Schweigen sich hinzog, ließ Ray es auf einen letzten Versuch ankommen. Seine Neugier war keineswegs befriedigt und er wollte nicht einfach so aufgeben. "Jetzt erzähl mir endlich, wo du die letzten sechs Monate warst!" Vielleicht lag es an seinem frustrierten Tonfall oder daran, dass er die Frage unbeabsichtigt barsch gestellt hatte, vielleicht aber auch nur an Kais Schlafmangel, aber dieses Mal bekam er tatsächlich eine Antwort, leise und kaum hörbar: "Abtei..." "Was?" "Ich war in der Abtei, glaube ich zumindest." Natürlich hatte Ray es schon beim ersten Mal verstanden, konnte die Antwort aber nicht einordnen. Er und die anderen Bladebreakers wussten über die Abtei Bescheid - sie war kein Kloster, sondern ein Internat für begabte Sportler irgendwo in Russland. Kai war dort aufgewachsen und hatte dort gebladet, bevor er zur BBA kam. Die Trainingsmethoden waren rau (das hatten sie am eigenen Leib erfahren), aber sie härteten auch ab (auch das hatten sie schnell gemerkt). Eigentlich hatten sie immer gedacht, dass er deswegen so verschlossen war. Für ein Kind war das sicher keine schöne Zeit gewesen. Trotzdem verwirrte Ray die Antwort nicht wenig. Wenn er in dieser Schule gewesen war, warum machte er daraus ein Geheimnis? Das ergab alles keinen Sinn. Aber vielleicht war das auch gar nicht die Wahrheit? Vorhin hatte er die Lüge schnell durchschaut, jetzt war das um einiges schwieriger. Möglicherweise stimmte es auch. Verdammt, die Antwort hatte ihn nur noch neugieriger gemacht und mehr Fragen aufgeworfen. Es war zum verrückt werden. Kai konnte in der Dunkelheit nicht viel von Rays Mimik sehen, spürte aber, dass dieser mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Das mochte unter anderem daran liegen, dass er seinen Teamkameraden nie die ganze Wahrheit über das angebliche Sportinternat erzählt, sondern lediglich einige Aspekte erwähnt hatte. Schon bei den harmlosen Dingen hatte er ihr Unbehagen gespürt und die mitleidigen Blicke gesehen, weshalb er auch nie tiefer ins Detail gegangen war. Die meisten Menschen waren glücklicher, wenn sie nicht genau Bescheid wussten, auch wenn sie das Gegenteil behaupteten. Deshalb musste Kai verhindern, dass ihm weitere Fragen gestellt wurden - zu ihrer beider Wohlbefinden. Zaghaft streckte er seine Hand aus und berührte seinen Tiger leicht am Arm. Sofort spürte er wieder dieses Kribbeln, das schon früher immer da gewesen war, wenn sie sich berührten. Das letzte Mal war so lange her. Ray schien nicht einmal zu bemerken, dass er das tat und für ein paar Sekunden genoss er es einfach nur, seine Finger hinauf- und herab wandern zu lassen. So ein schönes Gefühl hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt. Es erforderte eine Menge Willenskraft, wieder damit aufzuhören, doch Kai zwang sich dazu. Die plötzliche Leere, die er danach fühlte, versuchte er zu ignorieren, doch erst als er ein Stück näher heran rutschte, wurde es erträglich. Einmal mehr bedauerte er es, dass er vor sechs Monaten nicht den Mut gefunden hatte, seine Gefühle zu erklären. Dann gäbe es wenigstens diese Ungewissheit nicht. Derzeit hatte er jedoch weder den Mut, noch die Kraft sich diesem Gespräch zu stellen. Dazu war er einfach zu kaputt. "Ray? Können wir aufhören darüber zu reden?" Der Ton, mit dem diese Frage herausgebracht wurde, erstaunte Ray: Schüchtern und bittend, völlig anders, als er das von Kai gewohnt war. Was ihn letztendlich überzeugte, seine Neugier zurückzustellen, war das leise "Bitte?", das nachgeschoben wurde. Wie konnte er das abschlagen? Einmal mehr wunderte er sich über die drastische Verwandlung, die Kai durchgemacht hatte. Wäre das auch passiert, wenn diese eine Nacht damals anders verlaufen wäre? Möglicherweise. Doch was brachte es, jetzt über verpasste Gelegenheiten nachzudenken. Es war nun einmal so passiert und unveränderbar. "Du hast Recht. Vielleicht sollten wir wieder schlafen gehen." Es widerstrebte Ray, jetzt einfach zu gehen. Trotz der verqueren Situation hatten sie hier etwas Einzigartiges. Sie waren sich so nah. Nur wenige Zentimeter und er könnte Kai in seine Arme schließen. Manchmal war das Leben unfair. "Kön-können wir noch ein bisschen hier bleiben?" Nur mühsam konnte Kai ein Gähnen unterdrücken. Hier war endgültig Endstation. Er war einfach zu fertig um sich noch einen Millimeter bewegen zu können. Außerdem war sein Sofa verdammt bequem, es war warm und eine kleine Stimme in seinem Inneren verkündete verhältnismäßig laut, dass er so nah an "glücklich" war, wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. Innerlich jubelte Ray. Das war genau das, was auch er gerne tun wollte. Gerade wandte er sich Kai zu, um seine Zustimmung zu geben, da rutschte der ihm auch schon langsam entgegen. Er war binnen weniger Sekunden eingeschlafen und glitt jetzt langsam an der Lehne entlang auf Ray zu. Dessen Freude war riesig. Vorsichtig fing er den Schlafenden auf und legte ihn behutsam auf ein Kissen auf seinem Schoß. Obwohl er ebenfalls müde war, verschwendete er jetzt keinen Gedanken mehr an Schlaf. Hier lag sein Phönix, bei ihm, AUF ihm und schlief friedlich. Langsam hob er seine Hand und fuhr ihm leicht durch das silbergraue Haar. Für einen Moment hatte er Angst, dass Kai aufwachen würde, aber er murmelte nur ein paar unverständliche Worte und schlief weiter. Sein Mitbewohner musste ganz schön kaputt sein. Mit einem zufriedenen Grinsen saß Ray noch eine Weile da und genoss die Situation, bevor auch er friedlich einschlief. Kapitel 11: Busreise -------------------- Die Busfahrt am nächsten Morgen führte sie zuerst in ein Center der BBA. Kai musste noch einmal untersucht werden und einige Test über sich ergehen lassen. Ein Arzt würde sie am späten Nachmittag in der Berghütte besuchen und mit ihm die Untersuchungsergebnisse durchgehen. Kai sah immer noch grauenhaft aus, allerdings nicht mehr ganz so schlimm wie noch am Tag zuvor. Ray sah ebenfalls müde, aber glücklich aus. Tyson und Max, die beide vortrefflich (und miteinander) geschlafen hatten, fragten sich, ob und was zwischen den beiden abgelaufen war; allerdings bedurfte Kenny jetzt wesentlich mehr ihrer Aufmerksamkeit. Wie zu erwarten hatte er sich in seinen Laptop vergraben und musste erst mehrfach angesprochen werden, bis er reagierte. "Hey, Chef, was genau machst du?" "Lernen." "Lernen?!" Tyson konnte sich nicht vorstellen, wieso jemand, der in den Urlaub fuhr, freiwillig lernte. "Ja. Da bis nächsten März keine Wettkämpfe angesetzt sind und ich noch einige wichtige Arbeiten schreiben werde, fange ich jetzt schon an, den Stoff zu wiederholen. Ich kann mir durchfallen nicht leisten. Man hat mir ein Stipendium für eine technische Universität angeboten, wenn ich ein sehr gutes Ergebnis erreiche." Der Ernst, mit dem Kenny das sagte, empörte Tyson noch mehr. "Wir haben U-R-L-A-U-B! Hier wird nicht gelernt! Entspann dich lieber. Schau mal, da draußen kann man bereits die Berge sehen." Tatsächlich waren sie immer höher gekommen. Es war bereits nach Zehn, doch der Novembernebel hielt sich hartnäckig an den Berghängen. Nur vereinzelt waren Häuser zu sehen. Der Himmel war eisgrau und versprach ungemütliches Wetter. Die alten, urtümlichen Gebäude vor der Bergkulisse erschufen eine unwirkliche, fast schon unheimliche Szenerie. Fast konnte man meinen, dass sie direkt in einen Horrorfilm hineinfuhren. Trotzdem waren alle froh, endlich ausspannen zu können. Zwei ganze Wochen ohne Telefon und Internet, ohne spontane Pressetermine oder langwierige Trainingseinheiten. Max und Tyson hatten bereits Pläne für die optimale Zweisamkeit gemacht, aber natürlich mussten sie das Team ebenfalls einbinden. Traditionell waren die beiden für das Unterhaltungsprogramm zuständig, so wie sich Ray um das Essen kümmerte, Kai das Team weckte und antrieb und Kenny der Allwissende und Organisierte war. Jetzt mussten sie aber Kenny erst mal von seinem Laptop abkoppeln, auch wenn Dizzy dann beleidigt sein würde. "Außerdem, Chef, brauchen wir deine Fachmeinung. Schau dir die beiden an. Was meinst du, sind die beiden endlich zusammen oder denkst du, sie haben immer noch nicht miteinander geredet?" Kenny hatte schon beim Einsteigen in den Bus die veränderte Atmosphäre zwischen Ray und Kai bemerkt. Sie warfen sich immer wieder heimlich Blicke zu - auch wenn die meisten von Ray ausgingen - und beide trugen dieses kleine Lächeln auf den Lippen. Es tat gut, seine Freunde so zu sehen. Er wusste, dass sie eine schwere Zeit hinter sich hatten. "Also?" "Ich weiß nicht. Meint ihr wirklich?" "Ach, schau doch, wie sie sich ansehen und angrinsen." "Ja, schon. Aber denkt an Kai. An gestern. Er macht nicht den Eindruck, dass alles wieder normal ist - obwohl er heute wirklich besser aussieht. Vielleicht hat Ray ja einen guten Einfluss auf ihn?" Ray nieste kurz und sah sich um. Mist, er war fast eingeschlafen. Das hatte er zwar dringend nötig, nach der durchwachten Nacht, aber eigentlich wollte er erst schlafen, wenn sie an ihrem Ziel waren. Hier im Bus hatte Ray die beste Möglichkeit gehabt, Kai zu beobachten. Der hatte wieder zu einem hochgeschlossenen Outfit, bestehend aus dunkler Hose, Pullover, Schal und Handschuhen gegriffen und untypischerweise auch seine Farbe nicht weggelassen. Dass er sie in Russland getragen hatte, konnte man noch irgendwie erklären, immerhin waren sie in der Öffentlichkeit unterwegs und er war aus Marketinggründen verpflichtet, das Blau zu tragen. Doch normalerweise schminkte er sich nicht, wenn sie privat unterwegs waren. Warum jetzt plötzlich doch, das konnte sich Ray nicht erklären. Doch es war nicht Kai, der jetzt seine Aufmerksamkeit forderte, sondern Max, Tyson und Kenny im vorderen Teil des Busses. Die Drei hatten die Köpfe zusammengesteckt und er sah sogar eine Hand in seine Richtung gestikulieren. Redeten sie über ihn, Kai oder sie beide zusammen? Wenn er ganz ehrlich zu sich war, war es ihm völlig gleichgültig. Seit gestern Nacht durchströmte ihn ein Glücksgefühl, das nicht mal seine Müdigkeit oder Kais immer noch jämmerlicher Anblick verdrängen konnte: Als er ins Bett gegangen war, hatte Ray nicht erwartet, so wenig Schlaf zu bekommen. Aber jede schlaflose Sekunde hatte sich letztendlich doppelt bezahlt gemacht. Er war sogar als Erster wieder aufgewacht und hatte ein paar zusätzliche Momente genießen können. Obwohl es so zeitig am Morgen war, war es hell genug, dass er Kai eingehend mustern konnte. Die seltsam silbrigen Haare zogen seinen Blick automatisch an und wieder strich er mit der Hand durch den Wuschelkopf. Sie fühlten sich so angenehm an, trotzdem ganz anders als seine: Härter, dicker. Wie hatten sie nur diese Farbe bekommen? Hinten im Nacken waren sie nach wie vor blauschwarz. Kais Augen waren geschlossen und das blasse Gesicht stand in starkem Kontrast zu den dunklen Ringen darunter. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, ließ Ray seine Finger darüber gleiten. Die Haut unter seinem Finger war wulstig; eine Narbe zog sich in einer Linie zum Wangenknochen von der Nase bis zur Schläfe. Wenn Ray sie nicht gefühlt hätte, hätte er sie gar nicht gesehen. Überhaupt war ihm erst in diesem Moment aufgefallen, wie wenig er tatsächlich gesehen hatte, wenn er Kai heimlich beobachtet hatte. Da war der Umstand, dass die Nase seines Captains leicht schief war. Die Narbe unter dem rechten Auge sah alt aus, warum hatte er sie nie bemerkt? Die Musterung ging weiter und einmal mehr wunderte sich Ray über die blauen Dreiecke. Kai hatte sich gestern Abend nicht einmal abgeschminkt. Ein bisschen war er schon neugierig - was wollte er mit der Farbe verbergen? An einer Stelle war das Blau ein wenig verwischt und Ray war bereits drauf und dran, noch mehr von Kais Wange freizulegen… doch ein verhaltenes Seufzen unterbrach die Entdeckungstour und schnell ließ Ray die Hand sinken. Es würde seinem Mitbewohner nicht gefallen, in so einer intimen Situation auf der Couch aufzuwachen, das wusste Ray einfach, auch ohne es gehört zu haben. Vorsichtig war er aufgestanden und im Bad verschwunden. Während der Fahrt jetzt hatte er alle Zeit der Welt, um immer wieder einen Blick zu riskieren. Man konnte seine Zeit auch schlechter verbringen. Das Getuschel im vorderen Teil des Busses hatte auch Kai bemerkt, allerdings versuchte er, es auszublenden. Gedanklich war er bereits bei dem heutigen Nachmittag. Dr. Mikase würde vorbeikommen, die Untersuchungsergebnisse auswerten und entscheiden, ob seine Verletzungen soweit geheilt waren, dass er wieder wie ein normaler Mensch leben konnte. Momentan würde er seine Seele verkaufen, nur um sich den Schmutz, den Russland auf seinem Körper hinterlassen hatte, endlich runter waschen zu können. Bis dahin würde es noch einige Stunden dauern, aber er konnte warten. Derzeit quälten Kai nur diese verdammten Kopfschmerzen. Teilweise war daran sein unbedachter Versuch schuld, sich mit Alkohol zu betäuben. Deshalb hatte er gleich als Erstes die Flasche vom Balkon geholt und sie wieder in der hintersten Ecke seines Schranks verstaut. Er würde sie so schnell nicht noch einmal brauchen. Ein anderer Grund für die Kopfschmerzen war wahrscheinlich die körperliche Erschöpfung - obwohl er ausgesprochen gut geschlafen hatte, das musste er zugeben. Er war auf dem Sofa aufgewacht, als Ray das Frühstück vorbereitet hatte. Wie genau er dorthin gekommen war, wusste er nicht mehr, nur, dass er auf dem Balkon hingefallen war und sein Körper das gar nicht lustig fand. Eine kleine Schramme am Unterarm und das dumpfe Pochen in seiner Hand waren Beweis genug. Trotzdem ging es ihm jetzt wesentlich besser als gestern. Er war dankbar, die Nacht ohne Albträume verbracht zu haben. Aber es war ja auch die erste Nacht außerhalb Russlands gewesen und vielleicht lag es einfach daran. Der Gedanke, jetzt öfter richtig schlafen zu können, war wirklich großartig. Jetzt freute Kai sich sogar auf den kurzfristig angesetzten Urlaub. Außerdem waren sie fast schon an ihrem Ziel angelangt. Die Wälder wurden dichter und auch die letzten Häuser verschwanden allmählich. Die Berge kamen näher und in der Ferne konnte man Regen ausmachen. Eigentlich hatte er nichts lieber tun wollen, als sich in seiner Wohnung zu verkriechen und damit zu beginnen, die Vorfälle irgendwie zu verarbeiten. Die Pläne von Mr. Dickenson hatten ihm jedoch einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Allerdings versprachen die Berge und der dichte Wald ringsherum eine Abgeschiedenheit, die er sich gar nicht besser wünschen konnte. Entweder würde er allein im Haus sein oder er konnte sich im Notfall irgendwo zwischen den Bäumen verstecken. Möglichkeiten gab es da sicher viele. Solange er dem Team aus dem Weg gehen konnte, machte es ihm nichts aus, wo sie genau waren. Er wollte nur allein sein und seine seelischen Wunden lecken. Kurze Zeit später hielt der Bus bereits vor einer riesigen Hütte. Aufgeregt sprangen die fünf Bladebreakers aus dem Bus und sahen sich um. Kenny sprach noch kurz mit dem Busfahrer, dann waren sie auch schon alleine. Weit und breit war keine Straße zu sehen; sie waren über mehrere Schleichwege zum Haus gelangt. Licht fiel schwach durch die dichten Baumkronen und verlieh der Umgebung einen grünlichen Glanz. In der Ferne sangen die letzten Vögel. Sie hatten Glück, dass es nur leicht nieselte; Mitte November konnte es in dieser Gegend bereits schneien und nicht selten kam es vor, dass Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Davor hatten die fünf jungen Männer allerdings wenig Angst. Solange sie zwei Wochen ihre Ruhe hatten, würden sie sich nicht beschweren. Angenehm war auch das Innere der Hütte. An einen winzigen Flur schloss sich ein riesiges, zweistöckiges Wohnzimmer an. Eine große Glasfront mit angebauter Terrasse gab den Blick auf die Berge im Norden frei. Die rechte Seite nahm eine große Multimediaanlage mitsamt riesigem Flachbildfernseher ein, davor war eine Sitzgruppe mit 3 großen Sofas platziert. Rechts der Glasfront befand sich ein Kamin, links davon die Treppe ins Obergeschoss. Die Treppe ging in eine große Galerie über, von der aus man die einzelnen Zimmer erreichen konnte. Allerdings waren es nur vier Zimmer und sie waren zu fünft. Halbherzig versuchte Max, die Zimmerverteilung anzusprechen: "Tja, da müssen wir wohl auslosen, wer sich ein Zimmer teilen darf." "Ach hör schon auf. Natürlich nehmen du und Tyson ein Zimmer." Mit rollenden Augen und endgültigem Tonfall hatte Kenny die Sache abgetan. Keiner wäre auf die Idee gekommen, die beiden trennen zu wollen. Max läppischer Versuch, es so aussehen zu lassen, als wäre es ihm vollkommen egal, wenn er und Tyson Einzelzimmer bekamen, war einfach lächerlich. Ray hatte sich derweil in der Küche umgesehen und entschieden, dass sich mit den vorhandenen Messern, Töpfen und Gerätschaften sicher vorzüglich kochen lassen würde. Ein kurzer Blick und es war klar, dass sie genügend Vorräte für mindestens eine Woche hatten: Der Kühlschrank war prall gefüllt und die kleine, separate Speisekammer konnte sich sehen lassen. Nachdem jeder seine Entdeckungstour beendet hatte, trafen sie sich wieder im Wohnzimmer. Lediglich Kai hatte sich auf eins der Sofas fallen lassen und sein Bein nach oben gelegt. Wahrscheinlich war eine lange Fahrt in so einem engen Bus nicht sehr angenehm. "In jedem Zimmer sind zwei Betten, also ist es egal, wer welches nimmt. Jedes hat ein separates kleines Badezimmer und am Ende der Galerie ist nochmal ein großes mit einem Whirlpool. Stell dir das mal vor." Kenny hatte mehr mit Dizzy gesprochen, aber alle anderen hatten natürlich zugehört. "Losen wir aus, wer welches Zimmer bekommt?" "Von mir aus." Schnell waren die Zimmer verteilt und sie machten sich daran, die Taschen nach oben zu bringen. Ray sah, wie Kai aufstand und bot an, seine Tasche zu tragen. Der schenkte ihm einen unsicheren Blick, nickte dann aber leicht und humpelte die Treppe hinauf. Kai hatte gleich das erste Zimmer neben der Treppe gezogen, Ray das daneben. Ihm gefiel der Gedanke, dass sein Captain nur eine Tür weiter zu finden war. Er hoffte, dass Kai sich während der zwei Wochen wieder fangen würde und ein bisschen auftaute, obwohl ihn eine kleine, unscheinbare Stimme tief in seinem Innern warnte, dass er da zu viel erwarten würde. Doch er ignorierte sie gekonnt. Zwei Wochen waren eine lange Zeit und es konnte viel passieren. Mit einem kleinen Lächeln stellte er die Tasche neben Kai ab und wollte weiter zu seinem Zimmer gehen, als er zurückgerufen wurde. "Ray, warte, bitte." Die zaghafte, raue Stimme war nach dieser langen Zeit immer noch ungewohnt in seinen Ohren, doch alleine schon seinen Namen aus Kais Mund zu hören, zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. "Ja?" "Ich wollte mich noch bedanken für gestern Abend. Ohne dich hätte ich den Verband nicht wechseln können. Entschuldige, dass ich dich angefahren habe... und auch das andere..." Ray war zu verblüfft um zu antworten. Kai hatte sich eben bei ihm bedankt UND sich entschuldigt. Sprachlos nickte er und sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Es war selbstverständlich gewesen, seinem Mitbewohner zu helfen und die harschen Worte... nun ja, er hatte Kai wirklich angestarrt und wenn er selbst so ausgesehen hätte, wäre er darüber wohl auch nicht froh gewesen. Außerdem hatte die kleine Wodkaeskapade zu einer sehr interessanten und angenehmen Nacht geführt. Für eine Wiederholung würde Ray auch den einen oder anderen bissigen Kommentar gerne in Kauf nehmen. "RAHAY!" Kaum hatte sich der Schwarzhaarige abgewandt, um sein Zimmer zu beziehen, da kam auch schon Tyson auf ihn zugestürmt. "Wir haben Hunger, machst du uns dann was zu essen?" Hatte er eine Wahl? Wenn er nichts auf den Tisch brachte, würde ihn Tyson wahrscheinlich als Ersatz verspeisen. Er hatte schon wieder dieses gierige Glänzen in den Augen, das er immer bekam, wenn die Mittagszeit nahte. "Ja, klar, ich pack nur schnell aus." Er wandte sich noch kurz Kai zu, der die kleine Szene schweigend beobachtet hatte: "Am besten kommst du auch bald nach, bevor er die ganze Speisekammer leergegessen hat." Der Russe nickte und betrat dann sein vorübergehendes Domizil. Wie das Wohnzimmer war auch hier ein geschmackvoller Innenarchitekt am Werk gewesen. Alles war in warmen Farben gehalten und vermittelte ein Gefühl von Geborgenheit. Vom Fenster aus konnte man in der Ferne einen kleinen See ausmachen. Durch den Regen war die Sichtweite eingeschränkt, also konnte das Gewässer nicht weit entfernt sein. Wenn er wieder richtig laufen konnte, würde er sich das ansehen. Seine Sachen waren schnell ausgepackt: Sein ledergebundenes "Tagebuch", seine beiden Lieblingsbücher, Dranzer, sowie seine blaue Farbe. Das Team hatte merkwürdig geschaut, als sie ihn mit den Dreiecken gesehen hatten, doch was sollte er anderes tun? Das Blau verdeckte unangenehme Spuren, also würde er es tragen. Kai versuchte, sich nur auf die Ruhe der Umgebung zu konzentrieren und die bohrenden Kopfschmerzen zurückzudrängen, als lautes Gepolter durch die Hütte schallte. Anscheinend hatte Tyson genug ausgepackt und konnte jetzt wieder die Gegend unsicher machen. Der Krach konnte nur von ihm stammen. Sie waren jetzt alle 18 Jahre alt, aber er benahm sich immer noch wie ein kleines Kind. Wahrscheinlich würde er nie erwachsen werden. Seufzend packte Kai noch seine Kleidung in den Schrank und setzte sich dann auf das Bett. Es war wirklich bequem und versprach erholsamen Schlaf. Müde schloss er kurz die Augen, doch es schienen keine zwei Minuten vergangen zu sein, da rief Ray das Team zum Essen. Kapitel 12: Arztbesuch ---------------------- Das Mittagessen war ohne große Schwierigkeiten verlaufen, Max und Kenny hatten den Abwasch freiwillig erledigt und auch der Nieselregen hatte aufgehört. Während ihr Chef sich mit Dizzy in sein Zimmer verzogen hatte, waren Tyson und Max zu einem Spaziergang aufgebrochen. Ray hatte sich mit einer Beybladezeitschrift auf einem der Sofas zusammengerollt und Kai lag auf seinem Bett und überlegte, wie er das Team loswerden konnte, wenn der Arzt eintreffen würde. Er hatte keine Lust auf Publikum bei seiner Untersuchung. Es ging die anderen gar nichts an und er wollte auch nicht, dass sie eventuell mehr hörten, als sie sollten. Er hatte keine Ahnung, welche Neuigkeiten Dr. Mikase mitbringen würde. Kai hatte eine starke Vermutung, dass es für seine linke Hand nicht gut aussehen würde, aber der Rest seines Körpers fühlt sich einigermaßen gut an. Er hoffte, dass er keine langfristigen Folgen von seinem "Urlaub" in Russland davongetragen hatte, aber jetzt ließ sich dagegen auch nichts mehr machen. Er würde sehen müssen, was sich schließlich ergab... Einige Zeit war vergangen, als die beiden Chaoten von ihrem Spaziergang zurückkamen. Ray konnte deutlich ihre roten Gesichter sehen und aus irgendeinem Grund waren ihre Jacken und Hosen nass, obwohl es seit dem Mittag gar nicht mehr geregnet hatte. Tyson und Max sahen beinahe so aus, als hätten sie etwas angestellt. Ständig flogen verstohlene Blicke zwischen ihnen her. Sie waren noch nicht lange wieder da, als nach und nach der Rest von oben herunter kam. Doch die Frage, wie die Gegend so war und was sie gesehen hatten, brachte die Beiden in Erklärungsnot. Kenny tauschte einen vielsagenden Blick mit seinem Bitbeast aus. Er und Dizzy hatten bereits seit Langem eine gewisse Vermutung, seit sie die beiden heimlich in einer Ecke beim Knutschen erwischt hatten. Dizzy hatte ihn letztendlich davon abgehalten, sich in diese Angelegenheit einzumischen und den beiden ihr Geheimnis zu entlocken. Sie würden schon damit herausrücken, wenn sie soweit waren. "Wenn ihr die Gegend sowieso nicht erkundet habt, dann holt das doch einfach nach. So als Teamausflug." Dass ausgerechnet Kai diesen Vorschlag machte, verblüffte die anderen ein wenig, doch Kenny griff die Idee begeistert auf: "Klasse! Dann ziehen wir uns nur schnell an und gehen noch eine Runde!" Sprach‘s und war bereits in seinem Zimmer verschwunden. Tyson und Max sahen ein wenig enttäuscht aus, doch sie waren sich bewusst, dass sie, um den Schein zu wahren, jetzt nicht protestieren konnten. "Kai, kommst du auch mit?" Wenn er schon diesen Vorschlag machte, konnte er ja wohl mitkommen. "Tut mir leid, ich kann nicht. Das Bein, siehst du? Außerdem wird Dr. Mikase bald hier sein." Tyson folgte dem Fingerzeig und sah kurz den Gips an. Natürlich konnte er mit dem Bein nicht draußen in der Gegend rumrennen. Manchmal hatte er seinen Verstand wirklich zu Hause gelassen. An den Doktor hatte er auch nicht mehr gedacht. Schade eigentlich, er und Max hätten gerne Kai und Ray weiter beobachtet. Obwohl sie sich nicht viel Hoffnung machten, dass die zwei Wochen ausreichen würden, um die beiden zusammen zu bringen. Vielleicht musste man ihnen nur einen kleinen Stupser geben. Sie hatten da auch schon eine Idee... Ray nahm Kais Vorschlag als Ausrede, um ein wenig Zeit alleine mit ihm zu verbringen. Er erklärte den anderen, dass er ebenfalls da bleiben würde, falls Kai irgendwelche Hilfe bräuchte. Immerhin dauerte es noch ein wenig, bis der Arzt kam und wer sollte Kai in dieser Zeit helfen, falls irgendetwas passierte? Einen Protest ließ Ray erst gar nicht zu und wenige Minuten später stand er in der Terrassentür und sah seinen Freunden zu, wie sie auf einem Pfad in die Berge verschwanden. Endlich waren sie allein. Kai schien zwar keineswegs zufrieden damit zu sein, doch das störte Ray momentan weniger. Bevor er aber etwas sagen konnte, hörten sie ein Auto vorfahren. Kai stand vom Sofa auf und humpelte zur Eingangstür, als es auch schon klopfte. Dr. Mikase war ein durchschnittlich großer, älterer Japaner mit graumeliertem Haar und einem schneeweißen Kittel. Er hatte eine Arzttasche in der einen Hand und Unterlagen in der Anderen. Mit einem knappen Nicken bat Kai ihn herein und wies ihm den Weg ins Wohnzimmer. "Danke Hiwatari-san. Sehr angenehm, Sie einmal persönlich zu treffen. Und Sie müssen Kon-san sein?" Die beiden Bladebreakers tauschten einen leichten Blick aus. Dr. Mikase war ein überaus korrekter Japaner und die beiden kamen damit nicht unbedingt gut klar. Abgesehen von Kenny und Tyson waren sie nur Halbjapaner - und in Rays Fall gar keiner - und hatten nicht viel mit den höflichen Umgangsformen am Hut. Natürlich hatten sie in den vier Jahren, die sie alle in dem Inselstaat lebten, die geläufigen Umgangsformen gelernt, aber es war ihnen immer ein wenig unangenehm. Das Team untereinander benutzte sie nicht und auch bei Mr. Dickenson, der aus England stammte, war das nicht nötig. Jedes Mal hatten die ausländischen Teammitglieder Angst, irgendetwas falsch zu machen. Japaner waren bei so etwas empfindlich. Trotzdem schafften sie es irgendwie, die Begrüßung ohne Fauxpas zu bestehen und Ray fragte den Arzt, ob er etwas trinken wollte. "Ich danke Ihnen, Kon-san, doch ich denke, wir sollten gleich anfangen - wenn Sie nichts dagegen haben, Hiwatari-san?" Kai schüttelte den Kopf und beide schauten Ray erwartungsvoll an. Dieser brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was sie von ihm wollten. "Ähm, dann geh' ich mal auf mein Zimmer." So ein Mist! Eigentlich war sein Plan doch gewesen, bei der Untersuchung dabei zu sein, um herauszufinden, was genau mit Kai passiert war. Da er es nicht freiwillig verraten wollte, hatte Ray sich für diesen kleinen Trick entschieden. Leider war er direkt am Anfang durchschaut worden. Grummelnd stieg er die gewundene Treppe zur Galerie hinauf. Im Obergeschoss war es mittlerweile stockdunkel, obwohl draußen noch ein bisschen Licht vorhanden war. Wer hatte sich denn diese Bauform ausgedacht? Ray sah seine eigene Hand nicht vor den Augen. Wer weiß, was sich hier alles in der Dunkelheit versteckte und nur darauf wartete, dass er darüber fiel. Fast augenblicklich machte es in Rays Kopf 'Klick!'. Hier oben war es stockfinster, keiner würde es sehen, wenn er sich hier oben versteckte. So konnte er perfekt lauschen, ohne entdeckt zu werden. Er musste es nur geschickt anstellen, damit sie ihm nicht auf die Schliche kamen. Weiter grummelnd ging er bis zu seinem Zimmer. Er öffnete die Tür, doch statt hindurchzugehen, schlug er sie nach ein paar Sekunden zu und ließ sich an der Wand hinab auf den Boden gleiten. Ray hielt den Atem an und lauschte. Wenn sie seinen Trick durchschaut hatten, dann würde es richtig Ärger geben, das wusste er. Aber diese Chance konnte er sich einfach nicht entgehen lassen. Nicht, wenn Kai so verschlossen war wie zuletzt. Er wartete… "Gut, ich denke, wir sollten gleich anfangen. Möchten Sie zuerst die Untersuchungsergebnisse durchgehen oder soll ich erst die Verbände kontrollieren?" Kai stand mittlerweile mit nacktem Oberkörper im Wohnzimmer der Berghütte und fühlte sich mehr als unwohl. Dr. Mikase, der gerade die Verbände abwickelte, machte ihn nervös. Allein mit einem fremden Menschen zu sein reizte seine Nerven. Außerdem fühlte er sich beobachtet und diese starke Paranoia beunruhigte ihn zusätzlich. Er wusste, dass hier keiner war. Außer dem Team und der BBA wusste keiner, wo er zu finden war. Trotzdem war es sehr unangenehm. Die Blicke schienen aus dem Schatten zu kommen. Er musste dringend etwas gegen diese paranoiden Gedanken tun, aber er hatte einfach keine Kraft dafür. Vorerst musste Kai damit leben. Er war schon froh, dass keiner seiner Teamkameraden in der Nähe war. Die russischen Ärzte hatten ihn nach dem Unfall buchstäblich von Kopf bis Fuß untersucht und dabei Verletzungen gefunden, die garantiert nicht von einem Autounfall stammten. Natürlich würde auch Dr. Mikase Bescheid wissen und wenn er danach fragte, wollte er keine Mithörer haben. Das würde er nicht ertragen. "Die Wunden auf Ihren Rücken sind sehr gut verheilt. Manche sieht man noch, aber die werden Ihnen keine Probleme bereiten. Allerdings dieser Schnitt an ihrem Oberarm - was ist damit passiert?" "Gestern auf dem Weg vom BBA-Flughafen nach Tokio musste der Bus scharf bremsen und jemand hat mich am Arm festgehalten, damit ich nicht stürze. Ich nehme an, dabei ist sie wieder aufgegangen." "Ja, das sieht nicht gut aus. Ich fürchte, wir müssen den Schnitt nähen." "Ich wollte schon in Russland, dass das genäht wird, aber dort hat man nicht auf mich gehört und gemeint, ein einfaches Pflaster wäre ausreichend." "Das wäre es auch gewesen, aber der kleine Zwischenfall hat die Wundränder eingerissen. Ich müsste die Verletzung wenigstens klammern und dann können wir sie auch gleich nähen. Allerdings kann ich Ihnen keine Betäubung anbieten," Dr. Mikase zuckte entschuldigend mit den Schultern, "Es ist Ihre Entscheidung." "Nähen Sie den Schnitt ruhig, Mikase-sensai. Es wird auch ohne Betäubung gehen." Die Worte kamen mutiger heraus, als er sich fühlte. Ohne Betäubung würde das eine sehr schmerzhafte und unangenehme Angelegenheit werden. Allerdings würde Rumjammern jetzt auch nichts helfen. Oben in seinem Versteck verzog Ray entsetzt das Gesicht. Hätte er bei dem scharfen Bremsvorgang Kai ein wenig anders aufgefangen, wäre die Wunde nicht erneut aufgerissen und dann hätte sie jetzt nicht genäht werden müssen. Ohne Betäubung! Noch während dieser Gedanken drang ein unterdrücktes Knurren aus dem Wohnzimmer nach oben. Es klang schmerzhaft. Bei jedem Laut zuckte er zusammen und fühlte sich schuldig. Nicht eine Sekunde hatte er über die Gründe für die gestrige Aufregung gesucht. Das Blut war einfach da gewesen und sie hatten gemeinsam Abhilfe geschafft. Im Nachgang war er wirklich seltsam blind gewesen. Dass er nicht für eine Sekunde daran gedacht hatte, dass das genau die Stelle gewesen war, an der er sich festgeklammert hatte. Andererseits... wer hätte das auch ahnen können? Und eigentlich war er ja auch nicht unbedingt schuld daran. Die Geräusche von unten weckten in Ray die morbide Neugier, zusehen zu wollen und so rutschte er lautlos auf den Knien an das Geländer. Wenn er von dort nach unten sah, konnte man ihn zwar entdecken, aber er wollte das unbedingt sehen. Viel konnte man jedoch nicht erkennen. Kai hatte den rechten Arm ausgestreckt und hielt ihn in dieser Position, solange Dr. Mikase daran arbeitete. Mit der linken Faust unterdrückte er das Stöhnen, das zweifellos von den Schmerzen durch die Behandlung herrührte. Der Anblick tat Ray selbst weh und er hielt es nur ein paar Augenblicke aus, bevor er sich wieder in den Schatten zurückzog. Lieber doch nur zuhören. Obwohl er eigentlich nichts gesehen hatte, war ihm schlecht geworden. Ob es so eine gute Idee gewesen war, heimlich Mäuschen zu spielen? Vielleicht war das die Strafe dafür. Der Schmerz war massiv, aber Kai hatte schon Schlimmeres erlebt - und das nicht nur durch den exzessiven Drogenmissbrauch. Wenigstens war der Schnitt dann endlich genäht und würde keine Probleme mehr machen. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, dann war Dr. Mikase endlich fertig. Der Arm fühlte sich heiß und schwer an, aber da musste er jetzt durch. Schlimmer war dieses andauernde Gefühl, beobachtet zu werden. Und hörte er da nicht noch andere keuchende Atemzüge, die sich kaum von seinen unterschieden? Er durfte jetzt keine Panikattacke bekommen, schon gar nicht, wenn er nicht allein war. Und er durfte auch Ray nicht vergessen. "So, fertig. Ich habe eine spezielle Folie über die Naht geklebt, so dass sie wasserdicht ist. Die restlichen Wunden sehen sehr gut aus. Ihre Rippenbrüche sind gut verheilt. Allerdings kann man das von Ihren Fingern nicht behaupten. Die Röntgenbilder zeigen, dass sich um die Gelenke eine Knochenwulst* gebildet hat. Sie werden leider nicht mehr in der Lage sein, die Finger einzuknicken. Man kann die Gelenke chirurgisch sanieren, in Anbetracht Ihrer zahlreichen Verletzungen und Ihres körperlichen Zustands müssen wir damit aber noch warten. Meine Kollegen und ich gehen davon aus, dass man die Operation in frühestens sechs Monaten in Angriff nehmen kann, wenn wir sicher sind, dass keine Spätfolgen auftreten. Es tut mir leid, Hiwatari-san." Damit hatte Kai bereits gerechnet. Schon vor seinem Aufenthalt in Russland waren diese Finger nur unter Schmerzen zu benutzen gewesen, ein kleines Andenken von Balkov und seinem Großvater. Es machte ihn wütend, dass diese vier schmerzvollen Jahre sozusagen umsonst gewesen waren, jetzt, wo er keinen Finger mehr rühren konnte. Diese verdammten Schweine! "Sie scheinen nicht schockiert zu sein. Wie oft schon?" Der Arzt sah ihn mitfühlend an. "Ich habe aufgehört, mitzuzählen.", war seine trockene Antwort. Oben in seinem Versteck atmete Ray entsetzt durch. Kais Finger waren steif? Was bedeutete das für ihn, was bedeutet das für das Team? Beybladen war das, was sie alle miteinander verband. Nur durch den Sport hatten sie sich überhaupt kennen gelernt. Sie waren zusammengewachsen. Ray hatte plötzlich Angst, dass sich eine Menge ändern würde, wenn sie dieses Band nicht mehr hätten. "Den Gips können wir dann abnehmen, denke ich. Ich habe Ihnen eine spezielle Schiene mitgebracht, die ihre Finger vor künftigen Verletzungen schützen wird. Weil Sie sie nicht mehr einknicken können, müssen Sie besonders darauf achten, keine Schläge oder Stöße gegen die Hand zu bekommen." Ein metallisches Geräusch begleitete die Arbeit des Arztes. Sobald der Gips abgenommen war, versuchte Kai ein paar Übungen mit den Fingern, aber es tat sich nichts. Er seufzte resigniert. Das war der erste bleibende Schaden, den er Biovolt verdankte. Er durfte den Pullover wieder überziehen. Unwillkürlich zitterte er, denn als nächstes würde sich Dr. Mikase seine Beine ansehen wollen. In Unterwäsche in einem fremden Haus vor einem fremden Mann zu stehen war mehr als unangenehm. Das war mehr Nähe, als er einem Menschen zugestehen wollte, aber unvermeidbar. Immer wieder redete er sich ein, dass es nur zu medizinischen Zwecken war, aber seinen verschreckten Geist konnte er nicht beruhigen. Noch war es allerdings nicht so weit und er konnte die Panik noch zurückhalten. "Die Schiene können Sie jederzeit abnehmen, auch wenn ich Ihnen das nur zum Waschen empfehlen würde. Sie müssen wirklich vorsichtig mit der Hand sein." Sein Patient nickte. Dr. Mikase wusste, dass nun der unangenehme Teil wartete, aber er hatte eine Idee. "Hiwatari-san, da drüben liegt eine Decke. Wenn Sie dann bitte Ihre Hose kurz ausziehen, damit ich mir Ihr Bein ansehen kann, können Sie sich die Decke gerne umlegen, damit Sie nicht frieren. Eine Erkältung ist wirklich das Letzte, was wir wollen." Dankbar nickte Kai ihm zu. Der Arzt schien bemerkt zu haben, wie unangenehm ihm die Sache war. Die Decke bot eine gute Alternative, auch wenn er sich immer noch nicht wohl in seiner Haut fühlte. Trotz allem war zwischen Dr. Mikase und ihm nur diese dünne Decke. Irgendwie musste er es trotzdem ertragen. Kai wickelte sich in das Wolltuch ein und ließ sich auf eines der Sofas fallen. Zaghaft streckte er das gegipste Bein aus. "Die Röntgenaufnahmen zeigen, dass der Bruch gut verheilt, aber Sie sollten sich wirklich noch schonen. Wenn Sie Krücken benutzen würden, würde das auch den Heilungsprozess beschleunigen. Aber ich wurde bereits von meinen Kollegen gewarnt, dass Sie in der Beziehung ein Dickkopf sind. Wie schon für die Hand, habe ich Ihnen auch für das Bein eine abnehmbare Schiene mitgebracht. Sie müssen sie unbedingt noch mindestens zwei Wochen lang tragen, aber sie können sie beim Waschen abnehmen. Alle anderen Verletzungen sind ebenfalls gut verheilt." Ray fand, dass immerhin das eine gute Nachricht war. Wenigstens waren alle oberflächlichen Verletzungen gut verheilt und dem Bein schien es besser zu gehen. Vielleicht würde das seinen Mitbewohner ein wenig aufmuntern. Er hielt es fast nicht mehr aus. Eigentlich wollte er nach unten gehen und Kai trösten, doch dann würde er sich verraten. Außerdem: Kai schien nicht den Eindruck zu machen, dass er momentan Hilfe oder Trost wollte. Irgendwie war es auch ein bisschen unfair. Sechs lange Monate hatten sie auf seine Rückkehr gewartet und er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Wie oft hatte Ray sich gewünscht, Kai würde wieder auftauchen? Er würde in der Tür stehen und im Nu wären sie beide glücklich und zufrieden. Das schien jetzt in weiter Ferne. Wie lange würde er darauf warten müssen, dass sein Phönix wieder normal wurde? Und wie lange würde er selber warten können? Er hatte das Gefühl, das er im Aufzug gehabt hatte, nicht vergessen und auch nicht, welch immense Anziehung er gespürt hatte, als sie gemeinsam auf dem Sofa gesessen hatten. Kai war mittlerweile von seinen Gipsen befreit, alle Kleidungsstücke waren wieder an Ort und Stelle und er konnte sich etwas entspannen. "So, damit sind wir zumindest mit den Verletzungen durch. Da alles soweit ganz gut verheilt ist, abgesehen natürlich von dem genähten Schnitt, sehe ich keinen Grund, warum Sie nicht wieder normal duschen könnten. Allerdings weise ich Sie darauf hin, es nicht zu übertreiben und auch nicht zu heißes Wasser zu verwenden. Ihr Blutdruck könnte dabei ansteigen und doch noch irgendwelche Schäden anrichten. Ihre Blutwerte haben einen akuten Vitaminmangel ergeben. Sie müssen wieder normal essen, Hiwatari-san, aber ich denke, das wissen Sie selbst. Schonen Sie sich! Keine langen Spaziergänge oder Klettertouren durch die Gegend. Es ist nichts gegen ein bisschen Bewegung einzuwenden, aber in Maßen. Sie müssen mehr schlafen. Außerdem wollte ich Sie fragen - haben Sie über eine Therapie nachgedacht?" Da war sie, die Frage. Natürlich wusste er, worauf Dr. Mikase anspielte und er hatte darüber nachgedacht, aber sah derzeit keinen dringenden Bedarf daran. Ein Hiwatari wurde selbst mit seinen Problemen fertig und ein Psychotherapeut war eine völlig fremde Person, der er seine Probleme anvertrauen sollte. Das konnte er einfach nicht. "Nun, Sie müssen sich nicht gleich entscheiden. Falls Sie doch soweit sind, hier habe ich eine Telefonnummer. Ich habe mit Hino-sensai zusammen studiert und sie ist wirklich eine sehr gute und einfühlsame Ärztin. Sie hat eine Praxis in Tokio und erwartet Ihren Anruf." Wortlos nahm Kai die hingehaltene Visitenkarte den Höflichkeitsregeln entsprechend mit beiden Händen entgegen und betrachtete sie einige Sekunden, bevor er sie vorsichtig auf dem kleinen Beistelltisch ablegte. Die Ärztin wusste also schon Bescheid? Wie viel hatte man ihr erzählt? "Keine Sorge, ich habe ihr lediglich von einem Patienten erzählt, der ihre Hilfe gebrauchen könnte. Sollten Sie sie kontaktieren, sagen Sie, dass ich Sie geschickt habe. Sie weiß dann schon Bescheid. Ich lasse Ihnen außerdem noch ein paar Vitaminpillen und Schmerztabletten hier. Die Vitamine nehmen Sie am besten zu jeder Mahlzeit ein und die Schmerzmittel je nach Bedarf. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Hiwatari-san?" Oben in der Dunkelheit war Ray hellhörig geworden. Um was für eine Therapie ging es? Was hatte Kai für Probleme, die ein Therapeut lösen sollte? Oder besser gesagt eine Therapeutin in Tokio. Ging es dabei um ein körperliches Problem oder um etwas Geistiges? Irgendwie gefiel das Ray nicht. Der Gedanke, dass Kai einen Knacks im Kopf hatte, war ihm unangenehm. So hatte er sich seine Zukunft nicht vorgestellt. Wie lange würde es dauern, bis dieser Albtraum endlich vorbei war? Erst diese endlosen Monate und auch jetzt konnte er nicht mit Kai über seine Gefühle reden. Er sah ein, dass sein Teamcaptain erst wieder in die Spur kommen musste, aber wo würde er dabei bleiben? Kapitel 13: Blickwinkel ----------------------- Rein rechnerisch war Kenny der Jüngste in der Mannschaft und obwohl der Unterschied nur ein paar Monate betrug, brachte ihm das eine außergewöhnliche Rolle ein. Er war kein Außenseiter, das auf keinen Fall, aber manchmal fühlte er sich als Außenstehender. Nicht, dass ihn dieser Umstand gestört hätte. Er brachte vielmehr interessante neue Perspektiven mit sich. Kenny war damals der Erste gewesen, der mitbekommen hatte, dass Tyson und Max ein Paar waren und er war auch der Erste gewesen, der gemerkt hatte, dass es zwischen den beiden anderen Teammitgliedern gefunkt hatte. Er sonderte sich nicht bewusst ab, es war eher so, dass er und Dizzy ein Zweiergespann bildeten und sie sehr viel Zeit miteinander verbrachten. Menschen, die keine Ahnung von Bitbeasts hatten, wäre das merkwürdig vorgekommen, aber sie war nicht nur ein Haufen Daten, sondern ein denkendes, fühlendes Wesen und seine beste Freundin. Früher hatte Kenny gedacht, dass er ein bisschen in Dizzy verliebt war, aber nachdem er sich in seine erste Freundin verknallt hatte, erkannte er, dass seine Gefühle für das Bitbeast tiefer gingen und nichts mit romantischer Liebe zu tun hatten. Er liebte sie für ihr Verständnis, für ihren Humor und ihr Einfühlungsvermögen - wie man seine große Schwester liebte. Er hatte noch nie mit den anderen Jungs darüber gesprochen und er war sich auch nicht sicher, ob sie seine Gefühle hätten nachvollziehen können. Oh ja, sie waren eng mit ihren Bitbeasts verbunden, das stand außer Frage. Allerdings bedeutet es für sie stets einen immensen Kraftaufwand, mit ihnen in Verbindung zu treten, da sie ja nur während des Bladens gerufen werden konnten. Seine Dizzy jedoch war stets und ständig an seiner Seite und auch das grenzte ihn ein wenig von den anderen ab. Außerdem führte er akribisch Tagebuch. Angefangen damit hatte er bereits in der Grundschule. Schon seit er schreiben konnte, hatte er von jedem Tag Aufzeichnungen gemacht, manchmal nur einen kleinen Satz, manchmal einen halben Roman. Seit er sich in der Mannschaft engagierte, waren seine Beobachtungen noch wichtiger geworden. Er schrieb minutiös jedes Match auf, sei es im Training oder bei Wettkämpfen. Das machte ihn für das Team so wertvoll, auch wenn es nicht nur das war. Seine Kameraden zogen ihn manchmal sogar damit auf, aber das machte ihm gar nichts aus. Er brauchte dieses Hobby und Dizzy unterstützte ihn tatkräftig dabei, das war die Hauptsache. Sogar während ihres Urlaubs führte er sein Tagebuch, wenn auch weniger um Beyblades zu analysieren, sondern vielmehr seine Teammitglieder. Schon der erste Tag war höllisch interessant gewesen und Kenny betrachtete das Ganze als eine Art Studie für menschliche Verhaltensweisen. Bei Tyson und Max war es eindeutig - sie waren einfach unheimlich glücklich. Wenn sie gegen zehn Uhr aufstanden, strahlten ihre Gesichter bereits und sie tauschten immer wieder heimlich Blicke und Berührungen aus. Zumindest dachten sie, dass es heimlich war, denn der Chef sah es ja trotzdem. Wie lange waren die beiden jetzt schon zusammen? Zwei Jahre? Länger? Jedenfalls seit einer gefühlten Ewigkeit und es freute ihn, dass die Beiden immer noch so innig miteinander umgingen. Warum sie sich weigerten, es vor dem Team offiziell zu machen, war ihm allerdings ein Rätsel. Manchmal konnten sie kaum die Finger voneinander lassen und dann sah man förmlich die Spannung, die in der Luft lag, weil sie sich beide immer noch versteckten. Immer dann warfen er und Ray (und manchmal auch Kai) sich wissende Blicke zu. Einmal wollte er das Outing schon selbst übernehmen, aber Dizzy hatte ihn rechtzeitig davon abgehalten. Sie hatte Kenny erklärt, dass es unfair von ihm wäre, sich in die Angelegenheit einzumischen. Deshalb ging es weiter wie bisher, abgesehen von einer kleinen Wette, die die drei restlichen Mitglieder abgeschlossen hatten: Wann die Beiden endlich mit der Sprache rausrücken würden. Das war natürlich nicht ernst gemeint, aber derzeit lief es für Ray nicht gut. Sein Tipp war, dass es noch vor Ende des Jahres passieren würde, schließlich war es schon November. Dabei war es eigentlich völlig egal, ob und wann sie sich den anderen offenbarten, solange sie glücklich mit der Situation waren. Und das waren sie, definitiv. Anders sah es leider bei Ray und Kai aus. Vor der Weltmeisterschaft oder besser gesagt, vor Kais Verschwinden, waren die zwei nahezu unzertrennlich gewesen. Wann genau das angefangen hatte, wusste Kenny nicht mehr, aber sobald er es einmal mitbekommen hatte, war es einfach nicht mehr zu übersehen gewesen, für keinen von ihnen, außer den beiden Personen, um die es wirklich ging. Die flammenden Blicke, das leichte Erröten, wenn sich ihre Blicke wie ausversehen trafen, wieso bekamen das die drei Anderen mit, aber nicht Kai und Ray? Gerne hätte er den Beiden auf die Sprünge geholfen, aber er wusste auch ohne Dizzys Interventionen, dass er sich dort nicht einmischen durfte. Stattdessen saß er jeden Abend zwischen zwei Paaren, die sich nicht trauten, offen zu sein, auf die eine oder andere Weise. Nicht, dass es ihn störte, dass es in der Mannschaft gleich zwei schwule Pärchen gab. Sollten die Vier doch machen, was sie wollten. Es stimmte ihn eher nachdenklich, dass sie dachten, ihre Geheimnisse für sich behalten zu müssen. Er spürte die unterschwellige Anspannung im Team, konnte aber nichts dagegen tun. Wie viel zufriedener wären sie alle, wenn sie mit offenen Karten spielen würden? Gerade bei Ray und Kai würde ein offenes Gespräch Wunder wirken, und welchen positiven Einfluss das auf sie alle haben würde, stand außer Frage. Mittlerweile schien sich das Blatt aber gewendet zu haben. Seit Kai wieder aufgetaucht war, verhielt nicht nur er sich merkwürdig. Obwohl Ray sie noch in Russland gebeten hatte, es langsam angehen zu lassen und ihren Captain nicht zu bedrängen, schien er sich als Einziger nur halbherzig daran zu halten. Seit dem Vorfall am ersten Tag ihres Urlaubs herrschte zwischen ihnen eine einseitige Funkstille. Während Kai Ray ignorierte, wo es nur ging und selbst harmlose Fragen mit Schweigen beantwortete, schien Ray gar nicht mehr aufhören zu können, ihn mit Fragen zu löchern. Man sah ihrem Captain an, wie schwer es ihn ankam, seine Beherrschung nicht zu verlieren, so wie es während des Streits passiert war. Doch gerade Ray schien gegen die Todesblicke völlig immun zu sein, obwohl er Kai am besten kannte und es hätte besser wissen müssen. Wenn Kenny an den Tag zurückdachte, fiel ihm immer wieder auf, dass er Ray nie so schreien gehört hatte... ~~~ Kenny lachte gerade über einen Witz von Tyson, als die drei Abenteurer noch weit vor der Terrasse lautes Geschrei hörten. Mit jedem Schritt wurde der Inhalt klarer und verwundert stellten sie fest, dass es nicht Kai war, der sich aufregte: "Verdammt, mach jetzt endlich den Mund auf! Wie lange willst du die Schweigenummer noch durchziehen? Wir haben ein Recht darauf, es zu erfahren!" Das sah Ray, dem Ray, der stets Zurückhaltung und Besonnenheit predigte, absolut nicht ähnlich. Die Antwort auf diese scharfe Aufforderung bekamen sie nicht mit, dafür waren sie zu weit entfernt. "Kai! Ich will das jetzt wissen! Was hat Dr. Mikase mit Therapie gemeint?" Wieder war die Antwort nicht zu verstehen, dafür jedoch ein neuer verbaler Angriff. Wenige Augenblicke später betraten die drei Japaner das Wohnzimmer und fanden einen wütend und frustriert aussehenden Ray, der schreiend im Zimmer herumtigerte und gelegentlich sogar fauchte. Manchmal war es unheimlich, wie sehr sich Blader und Bitbeast gleichen konnten. Er schien sie nicht zu beachten, zeigte aber keine Spur von Überraschung, als Max ihn ansprach: "Ray, was ist passiert?" Sofort brauste er wieder auf: "Das fragst du mich? Frag doch ihn!" Er machte eine wegwerfende Bewegung in Richtung des Eingangsbereiches. Entweder hatte sich Kai vor dem Ausbruch gerettet, oder er war seit der Verabschiedung des Arztes keinen Meter weiter gekommen. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wobei das vielleicht der falsche Ausdruck war. Vielmehr hatte er sie um sich geschlungen, so als würde er frieren. In der gegenwärtigen Situation sah es sogar danach aus, als würde er sich unterbewusst vor Rays Wüten schützen. Sein Gesicht war noch bleicher als sonst, die roten Augen blickten schockiert, soweit man das sagen konnte. Viel konnte man sowieso nicht aus ihnen lesen. Ausgerechnet Tyson versuchte sich als Vermittler. Man sah ihm an, dass ihn die Situation ebenso schockiert hatte. Etwas Vergleichbares war noch nie, niemals passiert. "Hey, können wir uns jetzt vielleicht alle mal beruhigen? Ich meine, was ist überhaupt los? Und damit meine ich nicht, dass du wieder ausflippen sollst, Ray." Der hatte zum sprechen - oder besser gesagt, schimpfen - angesetzt, doch eine Geste von Tyson schnitt ihm das Wort ab. "Vielleicht fragen wir Jemanden, der hier noch nicht alles zusammengebrüllt hat. Kai, kannst du uns das hier erklären?" Ihr Captain zuckte mit den Schultern. "Dr. Mikase war da und hat die Untersuchungsergebnisse mitgebracht. Das war Alles." "Aha, und deswegen rastet Ray jetzt so aus?" "Das war eben nicht 'Alles' - warum erzählst du ihnen nicht den Rest?" "Weil euch der Rest nichts angeht, verdammt noch mal." "Und wie der uns was angeht!" "Nein!" "Doch! Immerhin sind wir ein Team und sie haben das Recht, zu erfahren, dass du nicht mehr bladen kannst!" "Was soll das heißen?" Jetzt beteiligte sich auch Max wieder an dem Gespräch. Schweigend waren sie dem Schlagabtausch gefolgt, mit wachsendem Entsetzen. War das wirklich Ray? Er erschien mit einem Mal so rücksichtslos. "Genau das, was ich gesagt habe. Der Arzt sagt, man kann frühestens im April über eine Operation nachdenken und wer weiß, ob das überhaupt hilft." Obwohl ihm alle einen bitterbösen Blick zuwarfen, konnte Ray gar nicht mehr aufhören zu schimpfen. Doch noch bevor einer von ihnen reagieren konnte, hatte Kai sich an Tyson, der sich vorsorglich zwischen die Beiden gestellt hatte, vorbeigeschoben und war zum Wohnzimmertisch gegangen. Bevor sie zu dem kleinen Erkundungsausflug gegangen waren, hatte Kenny mit Dizzy über die neue Generation Starter gesprochen. Das Testmodell lag noch genau dort, wo er es zurückgelassen hatte. Jetzt nahm Kai den Starter und den dazugehörigen Testblade, setzte alles zusammen (was eine Weile dauerte durch die eingeschränkte Beweglichkeit seiner Finger), zog an der Ripcord und feuerte den Blade in Richtung Ray ab. Es war keine Kraft dahinter, was nicht nur daran lag, dass Starter und Blade nur für Tests gedacht waren, und der Beyblade flog gute zwanzig Zentimeter neben Ray gegen die Wand, ohne eine Spur zu hinterlassen. Blicke flogen zwischen den beiden hin und her, gespannt warteten die drei Japaner auf das, was als nächstes passieren würde. Sie waren einigermaßen schockiert, noch nie hatte ein Teammitglied seinen Blade gegen ein anderes verschossen. Die Blades, die sie benutzten, waren aus Karbon und Aluminium, stark genug, um die langen, materialintensiven Kämpfe mit Bitbeasts zu überstehen. Gleichzeitig waren sie aber auch hart genug, um Menschen zu verletzen. Es hatte ein paar teils unschöne Trainingsunfälle gegeben und es gab die stille Übereinkunft, dass ein Beyblade nie gegen einen Menschen gerichtet werden durfte. Diese drastische Handlung war mehr als deutlich: Ray hatte Kai tief verletzt. Nach einem kurzen Moment des Schweigens knallte Kai den Starter samt Cord auf den Tisch. Alles an seiner Haltung sprach von unterdrückter Wut und insgeheim bewunderte Kenny, wie ihr Captain sich selbst in dieser Situation noch im Griff hatte. Trotz des Zorns, der fast greifbar war und der drastischen Veranschaulichung, dass er durchaus noch im Stande war, einen Kampf zu bestreiten, war jede Handlung kontrolliert. Er hatte bewusst so weit daneben gezielt. Er hielt seine Stimme bewusst ruhig, selbst jetzt. "Wenn du endlich damit fertig bist, mich anzuschreien und unsinniges Zeug zu verbreiten, lass mich dir eins sagen: Ich kann, seit ich ein Kind war, mit beiden Händen bladen, also geht es weder dich, noch das Team irgendetwas an, was genau mit meiner Hand ist oder nicht ist. Ich komme sehr gut ohne diese falsche Fürsorge zurecht, also spar sie dir. Und das nächste Mal, wenn du vertrauliche Gespräche zwischen Arzt und Patient belauschst, solltest du dafür sorgen, dass man dich nicht erwischt." Danach war Kai in seinem Zimmer verschwunden und hatte sich den Rest des Tages dort vergraben. Übelnehmen konnte man es ihm nicht. Mit der letzten Enthüllung, nämlich dass Ray sein Gespräch mit Dr. Mikase belauscht hatte, hatte er sie erst recht schockiert. Das hätten sie nie von Ray gedacht. Der stand immer noch im Wohnzimmer und versuchte zu fassen, was sich gerade ereignet hatte. Anscheinend hatte Kai nicht nur die Drei überrascht. Bevor Ray jedoch auch das Weite suchen konnte, ergriff Max das Wort: "Ray, ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten. Jetzt sofort am Besten..." Der reagierte nicht, sondern verschwand wortlos in der Küche. Seufzend tauschten Max, Kenny und Tyson Blicke aus, dann verschwanden sie kurz in ihre Zimmer, um sich frisch zu machen. Gut fünfzehn Minuten später hatten sie sich unabgesprochen wieder im Wohnzimmer eingefunden, Kenny mit Dizzy in Begleitung. Er fühlte sich auf eine gewisse Art schuldig. Er wusste, dass sie jetzt über Kai sprechen würden, doch ohne, dass der anwesend war. Das fühlte sich falsch an, wo er sich doch lediglich in einem anderen Zimmer befand. Sie sollten miteinander sprechen, nicht über einander. Er sah dieses Unbehagen auch in Tysons und Max' Augen, doch keiner sagte ein Wort. Ray hatte unterdessen Tee gekocht, stellte die Teetassen allerdings so heftig auf den Couchtisch, dass ein Großteil des warmen Getränks im Holz versickerte. Erneut war es Max, der das Wort ergriff: "Was hast du getan?" Sofort versteifte sich Ray. "Nichts." "Nach 'Nichts' sah das hier aber nicht aus. Und ich finde, ein Lauschangriff ist auch nicht 'Nichts'. Ehrlich, was hast du dir bitte dabei gedacht?" "Gedacht? Ich glaube nicht, dass er dabei gedacht hat, Max." Tysons abfälliger Tonfall ließ Ray zusammenzucken. Nachdem sie alle Zeit gehabt hatten, sich zu beruhigen, war auch sein Kampfgeist enorm zusammengeschrumpft. Vielleicht gab er deshalb auch so schnell klein bei. "Ich... also... vielleicht... Ich weiß es nicht. Ich weiß ehrlich gesagt gerade überhaupt nicht, was da passiert ist." Er sah sie entschuldigend an, doch so leicht wollte Tyson ihn nicht davon kommen lassen: "Was da passiert ist, kann ich dir ganz genau sagen: Kai geht es verdammt dreckig, das kann man unschwer erkennen. Er kommt hierher, damit er sich erholen kann, damit er vielleicht verarbeiten kann, was passiert ist. Wir wissen nicht was, aber wir wissen, er braucht dringend Ruhe. Sein Arzt kommt hierher, damit er ihn untersuchen kann und bei der Vielzahl der Verletzungen bedeutet das Stress, also das Gegenteil von Ruhe. Er schickt uns alle weg, damit er sich wenigstens darum keine Gedanken machen muss, doch ein gewisser Ray erfindet irgendeine Ausrede, um hier zu bleiben. Statt dann wenigstens seine Privatsphäre zu respektieren, belauscht er das wichtige Gespräch und bekommt Dinge mit, die er gar nicht wissen soll. Gibt er sich damit zufrieden? Nein, er fängt an, Kai mit Fragen zu bombardieren und als er keine Antwort bekommt, flippt er aus, aber so richtig. In einer Lautstärke, die selbst die Tiere im Wald aufscheucht. Ich glaube, das beschreibt es ganz gut, meinst du nicht?" Ray war bei diesen Worten immer mehr zusammengesunken. Tyson hatte ja Recht. "Vielleicht sollte ich mich entschuldigen." "Und du meinst, das reicht?" "Ich weiß nicht, aber irgendwo muss ich ja anfangen, oder?" ~~~ Kenny seufzte leise, streckte sich und stand auf, um sich Kaffee zu machen. Es war noch ziemlich früh, und die Sonne war noch nicht ganz hinter den Bergen aufgetaucht. Er liebte dieses Zwielicht, wenn es weder hell noch dunkel war. In den paar Tagen, die sie hier waren, hatte er sich angewöhnt, vor allen anderen aufzustehen. Nach dem Aufstehen putzte er nur schnell die Zähne, schnürte seine Laufschuhe und lief in den Wald. Er war kein großartiger Jogger und kein überragender Sportler, aber er genoss die Stille um sich herum. Hier konnte man nachdenken, ohne Störung oder dizzymäßiges Gequatsche. Wenn er wieder zurück kam, war Kai meistens schon auf den Beinen. Die verquere Situation belastete sie alle stärker, als sie zugeben wollten. Ihr Captain trieb sich den ganzen Tag draußen im Wald herum. Sie verstanden ja, dass er allein sein wollte, doch das Wetter hatte sich Tag für Tag verschlechtert und das beunruhigte sie. Das schwache Nieseln war in beständigen Regen übergegangen und es konnte nicht gesund sein, jeden Tag pitschnass zu werden. Trotzdem traute sich keiner von ihnen, dagegen einzuschreiten. Kai mochte Probleme haben, aber den abweisenden arktischen Blick konnte er ungehindert jederzeit einsetzen. Während Kai seine einsamen Ausflüge in den Wald machte, wartete Ray in der Hütte. Seit dem Vorfall hatte er sich keine zwanzig Meter vom Haus entfernt. Wenn das Wetter es zuließ, trainierte er auf der Veranda, meist saß er jedoch im Wohnzimmer und starrte hinüber zum Wald. Er sprach kaum, sondern murmelte ab und zu etwas Unverständliches vor sich hin. Manchmal ging er Kenny damit ganz schön auf die Nerven. Insgeheim ärgerte der Chef sich: Seit dem Streit gingen sich seine Teamkameraden aus dem Weg und keiner schien sich daran zu stören. Nachdem Tyson Ray zusammengestaucht hatte und Ray sich daraufhin in sein eigenes Zimmer verkrümelt hatte, hatten die Drei intensiv beratschlagt, was sie in der Sache unternehmen konnten. Sie waren sich einig gewesen, dass sie in die Situation eingreifen sollten, vielleicht sogar mussten. Jedoch wollte keinem einfallen, wie sie das bewerkstelligen konnten, ohne alles zu verschlimmern. Sie waren übereingekommen, dass zuerst ein Plan her musste, doch seither waren sieben Tage vergangen und keiner hatte etwas Vernünftiges herausgebracht. Kenny hatte das Gefühl, dass sich hier ein Sturm anbahnte, doch ob er alles kaputt machen oder Erneuerung bringen würde, war völlig offen. Kapitel 14: Selbstgespräche --------------------------- Ray war ein ziemlicher Idiot und das war sicher noch nett ausgedrückt. Schon seit Tagen benahm er sich völlig irrational und er konnte einfach nicht damit aufhören. Jedes Mal, wenn er sich vornahm, sich wieder zu beruhigen und bei Kai zu entschuldigen, musste er nur einen Blick auf ihn werfen und die Wut flammte von Neuem auf. Es war fast wie ein Reflex: Sobald er in die roten Augen sah, machte er den Mund auf und ein Schwall Fragen kam heraus: "Was verschweigst du?" "Wo bist du gewesen?" "Was hat der Arzt mit Therapie gemeint?" "Wann wirst du endlich den Mund aufmachen und uns die Wahrheit erzählen?" Er sah, wie wütend Kai wurde, doch das brachte ihn nicht zum verstummen. Irgendeine verquere Windung in seinem Kopf hatte entschieden, seinen Phönix zur Weißglut zu bringen, so oft es nur möglich war. Es war einfach nicht erklärbar. Als er das Gespräch belauscht hatte, war bei ihm irgendeine Sicherung durchgedreht. Vielleicht war es der Schock über das Ausmaß der Verletzungen, oder das Schuldgefühl, hier etwas zu tun, das nicht richtig war, doch plötzlich hatte ihn kalte Wut gepackt. Er war wütend, in gleichen Teilen auf sich, Kai und den Autounfall. Das allein war schon abwegig, denn Kai war ja daran völlig unschuldig, aber trotzdem. Es machte ihn wütend, dass dieser starke junge Mann sich so unterkriegen lassen hatte. Es machte ihn wütend, dass dieser feurige junge Mann sich so fremd verhielt, so unauffällig, fast unterwürfig. Es machte ihn wütend, dass er nach all der Zeit nie den Mut gefunden hatte, über das zu sprechen, was ihm wichtig war. Wie ein Feigling hockte er hier oben in der Dunkelheit und lauschte, statt da unten zu sein und Kai beizustehen. Trost war auch eine Art von Hilfe - oh und es machte ihn wütend, dass Kai das niemals zulassen würde. Er versuchte immer noch, sich zu beruhigen, als das Wort "Therapie" gefallen war. Das ließ ihn aufhorchen, denn es verstörte ihn mehr als der Zustand der Hand. Therapie bedeutete, dass irgendetwas absolut nicht in Ordnung war und das bedeutete ebenfalls, dass er nie an sein Ziel kommen würde, oder nicht? Oder nicht? Wie lange hatte er jetzt schon gewartet? Immerhin waren es nicht nur die sechs Monate, sondern auch die Zeit davor. Und die Mühen, die er dadurch hatte: Der Streit mit Mariah, der Verlust seines Zimmers in der Wohngemeinschaft, die wütenden Blicke. Sollte das alles umsonst gewesen sein, weil Kai... weil Kai was? Der vernünftige Teil seines Verstandes protestierte heftig, die ganze Sache auf den Russen abzuwälzen, wurde aber von der wütenden Stimme niedergeschrien. Weil Kai schwach war, das schrie sie in aller Deutlichkeit. Kai durfte nicht schwach sein. Ray musste raus, sonst würde er noch etwas Dummes anstellen, etwas, das sich ähnlich verhängnisvoll auswirken könnte wie der Streit mit seiner ehemaligen Freundin. Er stand auf, ging die Treppe runter und wollte gerade zur Terrassentür hinaus, als ihn die kalte emotionslose Stimme erstarren ließ: "Du hast gelauscht." Es war keine Frage gewesen. Dann war alles eskaliert. Ray hatte in die kalten, leblosen Augen gesehen und dann war es vorbei mit seiner Selbstbeherrschung. Diese leblosen, roten Augen. Und auch das erfüllte ihn mit negativen Gefühlen. Er hasste diese Augen, weil sie ein Symbol für die Veränderung waren. Noch deutlicher als die silbergrauen Haare. Seine Freunde hatten natürlich alles mitbekommen, sein ganzes dummes Verhalten, und waren jetzt ebenfalls wütend - und das machte ihn wiederum wütend. Er fühlte ihre Blicke auf sich, weil sie jetzt jeden seiner Schritte beobachteten. Es war einfach unmöglich - er war es doch gewesen, der gesagt hatte, sie sollten sich vorerst zurückhalten, Kai in Ruhe lassen, ihm die Möglichkeit geben, sich zu erholen. Das hatte wirklich großartig funktioniert, bis sein dummer Verstand entschieden hatte, das Gegenteil zu tun. Um den Blicken zu entkommen, hatte Ray versucht, sich draußen mit Training abzulenken, doch das brachte auch nichts. Er war bedrückt, immer noch wütend und gleichzeitig seltsam schwermütig, fast schon depressiv. Er wollte es wieder gut machen, aber er wusste nicht wie. Was konnte er tun oder sagen, um das gekippte Verhältnis zu Kai wieder zu reparieren? Die Antwort war niederschmetternd: Nichts. Ihm fiel nichts ein und wahrscheinlich war das auch die simple Wahrheit. Er hatte Kai enttäuscht und verletzt, das war offensichtlich gewesen. Immer wenn er seinen vorlauten Mund aufmachte, sah er, dass es Satz für Satz schlimmer wurde. Wenn er nicht bald lernte, sich zu beruhigen, würde es irgendwann zu spät sein. Wenn er nur wüsste, was er tun konnte. Wie jeden Tag saß Ray auf der Terrasse und starrte zum Waldrand hinüber. Und wie jeden Tag war Kai schon vor dem Frühstück verschwunden und vertrieb sich seine Zeit irgendwo im Ahornwald. Tief in sich verspürte Ray nagende Schuldgefühle - es regnete durchgehend und es war kalt. Kein Wetter für Jemanden, der sich von seinen Verletzungen erholen sollte. Außerdem hatte Dr. Mikase gesagt, dass Kai mehr essen musste, und das tat er ganz bestimmt nicht, wenn er Frühstück und Mittagessen ausfallen ließ und abends seinen Teller mehr anstierte als alles andere. Verdammt, er sollte etwas unternehmen, irgendwas. Es war seine Schuld. Vielleicht sollte er sich endlich zusammenreißen, reinen Tisch machen. Sich entschuldigen. Und wenn er schon mal dabei war, könnte er ja auch gleich das gestehen, was ihn seit Monaten bedrückte. Wie viel schlimmer konnte es denn noch werden? Auf einer Skala von eins bis zehn war er doch schon bei "katastrophal". Ray hatte nichts zu verlieren, denn es war ja schon alles verloren. Ein Ruck ging durch ihn, dann sprang er auf. Während er im Regen auf den Wald zu stapfte, hörte er hinter sich Kenny maulen, er hätte ihn erschreckt. Er spürte den intensiven Blick in seinem Rücken, doch die Entscheidung war gefallen. Jetzt oder nie. Er bekam nicht mehr mit, dass auch Tyson und Max vom beißenden Kommentar des Chefs auf die Terrasse gelockt wurden. Erleichtert sahen sie Ray nach. "Na endlich, ich dachte schon, er geht nie. Noch ein bisschen mehr und wir hätten wirklich etwas unternehmen müssen." "Nicht, dass wir da irgendeine Idee gehabt hätten. Vielleicht ist es besser, sie sich selbst zu überlassen..." "Ich hab' da so meine Zweifel, aber es schadet sicher nichts, abzuwarten, wie sich das jetzt entwickelt." "Hah, erstmal muss er ihn finden!" Und damit hatte der Blonde gar nicht mal so unrecht. Erst, als Ray schon einige Minuten auf dem schmalen Trampelpfad zurückgelegt hatte, kam ihm in den Sinn, dass er ganz schön viel Glück brauchen würde, um Kai in diesem riesigen Gebiet zu finden. Die Bäume standen eng zusammen, und obwohl es schon seit Tagen beständig regnete, war der Erdboden nur leicht feucht. Ab und zu bekam er einen Tropfen ab, aber es war hier wesentlich angenehmer als vermutet. Außerdem war hier diese spezielle Atmosphäre. Nichts, das einen ablenkte. Während er suchte, konnte er die Gelegenheit nutzen, seine Gedanken zu ordnen. Das fiel ihm jetzt auch gar nicht mehr so schwer. Der Entschluss, endlich etwas zu unternehmen, sich ernsthaft mit dem Problem auseinanderzusetzen, hatte schon viel bewirkt. Es traf ihn nicht wie ein Schlag, es gab keinen Geistesblitz, aber während er durch den Wald spazierte (er ging jetzt nicht mehr ganz so eilig), verstand er sich wieder ein bisschen besser. Er verstand einen Teil von dem, was ihn so wütend gemacht hatte. Es waren komplizierte Gedanken, solche, die er nicht hätte erklären können, aber dennoch verstand er es. Er war so wütend gewesen, weil Kai so verletzt war. Jemand hatte aus seinem Kai eine andere Person gemacht, eine Person, die dieses feine Lächeln nicht mehr besaß, eine Person, die nicht mehr nachts wachliegen und sich mit ihm unterhalten würde, eine kalte und leblose Person. Jemand hatte ihn verletzt und gleichzeitig fühlte sich Ray selbst verletzt. Man hatte ihm sein Liebstes genommen und ihm etwas zurückgegeben, dass nur fast das Gleiche war. Eine Tür war vor seiner Nase zugeschmissen worden und jetzt traute er sich nicht, sie wieder zu öffnen, weil er nicht wusste - oder vielleicht zu genau wusste - was sich dahinter verbarg. Warum er gleichzeitig so wütend auf Kai war, wurde ihm ebenfalls klar. Er hatte immer geglaubt, dass nichts und niemand den Russen verletzten konnte. Worte prallten von ihm ab, ohne Eindruck zu hinterlassen, und er war noch nie einem Kampf aus dem Weg gegangen. Wie konnte er, dieser starke, schöne Mann, sich so unterkriegen lassen? War Kai vielleicht doch nicht so stark? Unglaublicherweise verletzte Ray das mehr als das andere. Er konnte doch nicht für sie beide stark sein, denn wenn er ehrlich war, war er nicht so stark, wie es den Anschein hatte. Manchmal fühlte er sich so schwach und hilflos, und wer sollte ihn auffangen, wenn so etwas passierte? Er musste wieder an die erste Nacht in der Wohnung denken. An Kai, den er zum ersten Mal überhaupt betrunken erlebt hatte. Der fast unterwürfig bat, nicht angefasst zu werden. An den schmalen, ausgezehrten und doch fast zarten Körper in seinen Armen. Den leisen Atem, manchmal unterbrochen von einem unverständlichen Wort. Die zarte Narbe unter dem Augenlid. Das seltsame an Gefühlen war, dass sie meistens alles durcheinander brachten, manchmal aber auch für seltsame Klarheit sorgten. Ray wurde in diesem Moment klar, dass er trotz allem eines auf der Welt am meisten wollte und das war schlicht und ergreifend Kai. Egal ob mit roten Augen oder violetten. Er wollte ihm halten, ihn küssen, ihn lieben - ihn wieder heil machen. Ihm wurde klar, dass seine Wut ein Ausdruck seiner Feigheit war. Damit hatte doch alles angefangen. Er war zu feige gewesen, seine Gefühle auszusprechen und hatte damit mehr als einen Menschen verletzt. Wäre er nicht so feige gewesen, müsste er nicht allein durch diesen dunklen unheimlichen Wald rennen. Wäre er nicht so feige gewesen, könnte er jetzt wahrscheinlich gemütlich vor dem Kamin sitzen. Nun, damit würde jetzt Schluss sein. Nur einmal in seinem Leben würde er nicht das brave, ruhige und ängstliche Kätzchen sein. Dabei war immer noch die Frage, wo er Kai finden konnte. Der Trampelpfad zog sich weiter durch die Bäume, hier und da wurde er breiter und die Blätterkrone lichtete sich. Der Himmel war schwarzgrau, und Rays Stimmung passte sich dem langsam an. Wie lange war er schon unterwegs? Zwanzig Minuten? Eine Stunde? Zwei? Wie weit konnte Kai mit einem kaum verheilten Bein gekommen sein? Hinter einer Biegung wurde der Weg plötzlich breiter. Es sah wie eine Kreuzung aus. Rechts und links zweigten weitere Trampelpfade ab, doch im dämmrigen Licht ließ sich kaum sagen, wohin sie führen mochten. Irgendwo dort draußen war ein See, das wusste Ray, aber konnte Kai dorthin gegangen sein? Wie aus dem Nichts entschied er sich für den linken Weg, der ausgerechnet am Unheimlichsten war. Die Bäume standen hier dichter und irgendwo im Gebüsch bewegte sich ein Tier. Er war so in Gedanken versunken, dass er die Sackgasse erst bemerkte, als er fast mit der Nase dagegen stieß. Völlig überraschend war da ein Fels im Weg. Nun, vielleicht nicht überraschend, immerhin waren sie hier in den Bergen und die immer spärlicher werdenden Bäume hätten einen guten Hinweis geben können. Massiv breitete der Felsen sich nach rechts und links aus, der Regen hatte den Schiefer fast schwarz werden lassen. Eine Spitze ragte von oben herab und bildete ein kleines Dach über dem feuchten Boden. Seufzend ließ er sich gegen die kalte Wand sinken und fühlte sich für einen Moment so mutlos wie früher. Damals, als er noch in China gelebt hatte, war das oft vorgekommen. Dass ausgerechnet ihm Driger geschenkt worden war, war für alle eine Überraschung gewesen. Er hatte so gar nichts gemein mit seinem Bitbeast. Ein schöner, starker, weißer Tiger und er, der schlaksige, unbeholfene Junge. Aber sie waren zusammengewachsen und manchmal merkte er regelrecht, wie Driger ihn beeinflusste. Mariah hatte ihm immer wieder bewundert zugeflüstert, wie ähnlich er dem Tiger war, und manchmal hatte er während seiner Kämpfe ähnliche Kommentare aufgeschnappt. Der Gedanke daran brachte ihn zu einem anderen weißen Tiger, einem aus Plüsch. So richtig war er daraus nie schlau geworden. Bedeutet der Schlüsselanhänger vielleicht etwas ganz Bestimmtes? Es war so frustrierend. Seit Ewigkeiten drehte sich jeder Gedanke nur um Kai und er war keinen Stück weiter gekommen als Tag und Nacht in Träumen zu schwelgen und heimlich zu beobachten. Und natürlich die Sache in der Hütte. Wenn er nur endlich den Mut finden würde zu sagen, was in ihm vorging. Er würde sagen: "Kai, es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich wollte dich nicht anschreien oder dir ständig diese Fragen stellen, aber ich mache mir einfach Sorgen, verstehst du? In dieser Nacht, nachdem wir die Weltmeisterschaft gewonnen haben, da wollte ich es dir sagen, aber dann kam Mariah dazwischen. Sie hat einfach nicht verstanden, dass ich nichts von ihr will. Ich habe es ihr mehr als einmal gesagt, aber sie wollte nicht hören. Sie hat mich einfach überrascht, nicht mehr. Ich wollte sie nicht küssen. Als du den Balkon verlassen hast, habe ich ihr das auch gesagt - mehr als deutlich, denke ich. Deswegen hat sie mich ja auch rausgeschmissen. Aber du warst weg, ganze sechs Monate lang. Kannst du dir vorstellen, welche Sorgen ich mir gemacht habe? Ich bin nicht nur in deine Wohnung eingezogen, weil sie sowieso leer stand. Ich wollte dir einfach nah sein auf jede mögliche Art. Es war nicht viel, aber ich hatte das Gefühl, wenigstens einen kleinen Teil von dir bei mir zu haben. Und als du wieder aufgetaucht bist, warst du nicht mehr du. Nicht mehr richtig. Ich meine, du bist zwar da, aber du bist irgendwie anders und das beunruhigt mich. Es beunruhigt mich sehr, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich dich trotzdem will. Egal, was es ist, ich will dir helfen. Wenn du mich doch nur lassen würdest. Siehst du denn nicht, dass meine ständige Fragerei nicht darauf abzielt, dich zu nerven, sondern einfach ein Ausdruck meiner Hilflosigkeit ist? Bitte, lass mich dir helfen. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich im Arm zu halten und alles wieder wie früher werden zu lassen. Weil ich dich liebe. Hörst du mich? Ich liebe dich, Kai." Erst mittendrin bemerkte er, dass er alles laut ausgesprochen hatte, doch das störte Ray nicht. Er war hier völlig allein und selbst wenn ihn irgendein Fremder gehört hatte, was machte das schon. Er fühlte sich gut, nein, besser. Dieses Geständnis hatte ihm so lange auf der Seele gelegen und obwohl es keiner gehört hatte, hatte es sich richtig angefühlt. Sollte er noch irgendwelche Zweifel verspürt haben, jetzt waren sie weggeblasen. Es machte nichts, dass er Kai immer noch nicht gefunden hatte, jetzt war er sich sicher, dass er das selbe Geständnis auch heute Abend machen könnte, egal, ob ihm Jemand zuhörte oder nicht. Lächelnd stand er auf, jetzt hatte er es wirklich nicht mehr eilig. Hier irgendwo war der See und es sollte nicht schwer sein, ihn zu finden. Wahrscheinlich musste er einfach nur seiner Nase folgen. Dadurch hatte er ja auch diesen Fels der Erkenntnis gefunden und dadurch würde er sicher auch den See finden. Ray war so leicht ums Herz. Wenn man sich endlich einer Sache sicher war, war das ein wunderbares Gefühl. Heute würde der Tag sein, definitiv. Zwar war er sich keineswegs sicher, wie die Antwort ausfallen würde, aber der Schlüsselanhänger musste schließlich irgendetwas bedeuten, oder nicht? Kapitel 15: Verloren 2 ---------------------- Er fühlte sich so verloren, mehr noch als sonst. Es war nicht weiter schwer, in einer so großen Stadt wie Tokyo allein zu sein, doch das hatte ihn nie gestört. Er wusste, das lag vorrangig an seiner abweisenden Art, aber er war nun mal keiner, der andere so leicht an sich heran ließ. Nähe zuzulassen bedeutete, jemand anderem Macht über einen einzuräumen. Macht, manipuliert zu werden - Macht, angelogen zu werden - Macht, verletzt zu werden... Das hatte er alles schon einmal erlebt. Und wenn er ehrlich zu sich war, nicht nur einmal. Nun, er war darüber hinweggekommen, hatte seine Lektion gelernt, so schmerzhaft, wie sie eben war. Und dann war dieser dumme kleine Fehler passiert und er hatte sich verliebt. Er hätte es besser wissen müssen, aber er war gegen dieses Gefühl einfach machtlos gewesen. So schön und manchmal schmerzhaft es gewesen war, letztendlich war das Kartenhaus zusammengefallen, Stück für Stück, ein Schauspiel in 3 Akten. Da war Mariah, die ungestraft das machen durfte, was er so gerne wollte. Da war Balkov, der ihm das letzte bisschen Unschuld austrieb, das er noch besessen hatte, und dann Ray selbst, der ihn tiefer verletzt hatte, als er je für möglich gehalten und ein anderer es jemals geschafft hatte. Ray hatte seine Schwäche ausgenutzt, sein Vertrauen missbraucht, ihn angeschrien und beschuldigt, aber das Schlimmste daran war, dass das seinen eigenen Gefühlen keinen Abbruch tat. Eigentlich unfassbar, dass ein Mensch so dumm sein konnte, aber seine eigenen Gefühle gehörten auf die lange Liste der Dinge, gegen die er einfach machtlos war. Deshalb war er geflüchtet, doch auch die Flucht machte es nicht besser. Jetzt verfolgten ihn nicht nur seine Erinnerungen, jetzt verfolgten ihn Rays Worte, der wütende Blick, die erhobene Stimme. Er wurde ihn einfach nicht los und kaum sahen sie sich, gingen die Anschuldigungen und Fragen von Neuem los. Er ertrug das einfach nicht mehr, schaffte es aber auch nicht, sich dem zu entziehen. Es war fast so, als würde ein masochistischer Teil in ihm sich sogar darauf freuen. Schließlich hatte er das irgendwie verdient. Er hatte Ray auch verletzt, das sah man ganz deutlich. Er verstand, warum er mit diesen Fragen bombardiert wurde, trotzdem hielt er das nicht mehr aus. Seit sie angekommen waren, drohte ihm die Sache über den Kopf zu wachsen. Nach der entspannten ersten Nacht, die er traumfrei auf dem Sofa verbracht hatte, waren die Albträume zurückgekommen. Sobald er die Augen schloss, wurden die Bilder in seinem Kopf übermächtig. Schlaf war nur noch eine ferne Erinnerung, meist befand er sich in dem Dämmerzustand, den er schon aus Russland kannte. Er hatte gedacht, es würde besser werden, wenn er sich endlich den Schmutz abwaschen konnte, doch das hatte rein gar nichts bewirkt. Er konnte ihn immer noch fühlen, diesen Dreck, den Balkov hinterlassen hatte. Wenn er nachts auf seinem Bett lag und versuchte, die Gedanken zu vertreiben, konnte er manchmal Hände spüren, die nach ihm griffen und über seine Haut kratzten. Spätestens dann verschwendete er keinen Gedanken mehr an Schlaf. Bis er nicht alle Lichter angemacht und sich fest in seine Decke eingewickelt hatte, konnte er an überhaupt nichts mehr denken. Dann begann das lange Warten auf den Tag. Sobald es ausreichend hell war, machte er sich auf den Weg in den Wald. Das war keine Frage des Willens, sondern der Notwendigkeit. Wäre er in der Hütte geblieben, wäre er bereits nach zwei Tagen durchgedreht. Nicht, dass er nicht sowieso kurz davor war, aber zumindest bekam es im Wald keiner mit. Bereits am ersten Tag seiner einsamen Erkundungstour hatte er ein nettes Plätzchen gefunden: Irgendwann musste er falsch abgebogen sein, denn er kam plötzlich zu einer Felswand. Der Wald hatte sich gelichtet und rechts und links breitete sich der Schiefer aus. Direkt am Ende des Weges war eine steile Felswand. Ein Vorsprung wölbte sich über dem Boden und bildete ein behelfsmäßiges Dach. Kai überlegte kurz und entschied sich dann dafür, darum herumzugehen. Nach ein paar Minuten führte ein schmaler Weg den Felsen hinauf. Er war immer noch entsetzlich schwach und der steinige Pfad erwies sich als schwierig, allerdings war es die Mühe wert. Er war jetzt wieder an der Spitze angekommen, die wie ein natürliches Geländer fungierte. Die rechte Hand auf den Stein gestützt ließ er kurz seinen Blick schweifen. Durch den stetigen Nieselregen konnte man nicht wirklich weit sehen. In der Ferne glaubte er, die Hütte ausmachen zu können, eventuell war es aber auch etwas anderes. Fast direkt links neben seinem Standort war der See. Das Wasser hatte eine gräulich grüne Farbe. Hinter ihm war jedoch eine wirkliche Überraschung: Es war keine richtige Höhle, mehr eine Aushöhlung, aber völlig ausreichend, um vor Wind und Wetter geschützt zu sein. Perfekt für ihn. Niedergeschlagen und müde ließ er sich zu Boden sinken, das Bein aus Reflex und Gewohnheit weit von sich gestreckt. Er wollte die Hände zum Gesicht heben, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass er ja wieder großzügig Farbe aufgetragen hatte. Ein Kloß entstand in seiner Kehle, aber wie jedes Mal würgte er ihn hinunter. Er würde nicht weinen, weil er das noch nie getan hatte. Fühlte er sich deswegen in letzter Zeit so oft danach? Um sich abzulenken zog er das ledergebundene Tagebuch heraus. Ziellos durchblätterte er die Seiten; bisher hatte er noch keinen vernünftigen Eintrag verfasst. Einzelne Wortfetzen und Sätze waren das Einzige. Wörter wie: "Schmerz", "Dunkelheit", "Verzweiflung", "Unschuld", Wörter wie "hilflos", "verletzt", "hoffnungslos". Er hatte das Gefühl, dass auch heute nichts Vernünftiges dazukommen würde. Er war immer noch so durcheinander und auch wütend. In der Nacht hatte er, statt Schlaf zu finden, Rays Worte im Kopf gehabt und dazu ein Lachen, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Balkovs Lachen. Keuchend fuhr er hoch, er hatte sich von seinen Gedanken schon wieder einlullen lassen. Er wollte jetzt nicht abdriften. Außerdem hatte sich der Wald verändert. War das nur die übliche Paranoia oder entsprach das der Wahrheit? Irgendetwas war da draußen und beobachtete ihn. Sofort fühlte er sich wieder unwohl, mehr noch als zuvor. Der Regen hatte ebenfalls zugenommen und plötzlich war die Kälte durchdringend. Er konnte nicht mehr hier bleiben, so viel stand fest. Mühsam und steif stand er wieder auf und das Gefühl, dass Jemand jede seiner Bewegungen verfolgte, war überwältigend. Wie lange war er schon hier? Der Himmel war immer noch stahlgrau, aber eine Spur dunkler als noch vorhin. Der Rückweg würde lang werden. Wieder in der Hütte angekommen stellte Kai mit Erstaunen fest, dass er fast den ganzen Tag da draußen gewesen war, obwohl es sich nur wie Minuten angefühlt hatte. Wie hatte er es geschafft, so viel Zeit zu verlieren? Das war doch nicht möglich, oder? Kaum hatte er das warme Wohnzimmer betreten, meldete sich sein Körper und erinnerte ihn daran, dass er den ganzen Tag ohne Verpflegung in der nassen Kälte verbracht hatte. So viele Bedürfnisse wollten gleichzeitig gestillt werden, doch am wichtigsten war wohl, die klamme Kleidung loszuwerden. Kai begann sich die Treppe hoch zu schleppen - wenigstens war die gleich neben der Terrasse und er musste nicht erst durch das halbe Haus laufen. Zum Glück keine nervigen Fragen, wo er gewesen war und was er gemacht hatte. Jedoch... "Oh, hey Kai, bist du endlich wieder da?" Max war gerade aus der Küche gekommen. Sein Blick fixierte Kai, doch seine Stimme drückte nur harmloses Plaudern aus. Das passte nicht zusammen und die Paranoia flammte wieder auf. Nur mit äußerster Willenskraft drückte er sie nieder. "Wir haben dir was vom Abendessen aufgehoben. Die anderen sind gerade auf ihren Zimmern, aber wir wollten nachher einen Film ansehen. Wie immer eben." Er nickte, dann ging er weiter nach oben. Max' Blicke verfolgten ihn und er war froh, als er endlich die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. Das Bett wirkte einladend, doch Kai fand, dass er vorerst genug "geschlafen" hatte. Die Sache mit der verlorenen Zeit beunruhigte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Jetzt war es egal, im Urlaub spielte es nur am Rande eine Rolle. In ein paar Tagen würden sie aber wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren und da durfte so etwas nicht passieren. Er schauderte; an das "danach" hatte er noch keinen Gedanken verschwendet. Man würde erwarten, dass er wieder zur Schule ging. Sie waren alle noch schulpflichtig und es war an sich schon ein Wunder, dass ihre Schulen die dauernde Abwesenheit durch das Beybladen tolerierten. Sicherlich hatte die BBA dort auch ihre Finger im Spiel. Was sie allerdings seiner Schule erzählt hatten, das wusste er noch nicht. Spielte das wirklich eine Rolle? Bei dem Gedanken an die Schule hatte er die Fäuste geballt - oder hätte es, wenn es denn gegangen wäre. Er starrte auf die Schiene, die er brav den ganzen Tag getragen hatte und die dabei ein wenig schmutzig geworden war, und verspürte wieder diese dumpfe Wut. Jahre des Ertragens umsonst, und ob er die Hand je wieder benutzen könnte, war ebenfalls ungewiss. Seine Gedanken wanderten zurück zu gestern. Er hatte gewusst, dass ihn jemand beobachtete hatte. Es war keine Einbildung gewesen, sondern Ray, ausgerechnet der, dem er so eine Bespitzelung nie zugetraut hätte... Umständlich versuchte er, sich den Pullover auszuziehen, doch der Stoff war immer noch feucht und klebte überall. Wer hätte gedacht, dass das An- und Ausziehen einmal so ein Kraftakt werden würde. Er schaffte es mehr schlecht als recht und stieg dann in die Dusche. Das Wasser brannte, doch es tat auch ganz schön gut. Wenn er ehrlich war, hatte er Kälte noch nie gemocht - nicht, dass er das freiwillig zugegeben hätte. In der Abtei war es immer kalt gewesen und wenn sich einer der Schüler beschwert hatte, gab es dafür eine Abreibung. Man lernte entweder schnell, den Mund zu halten und es zu ertragen, oder wie man gebrochene Knochen wieder in die richtige Position schob. Oder Beides, vor allem, wenn man Hiwatari hieß. Nicht, dass ihm die Kälte wirklich etwas ausmachte, er mochte sie eben nur einfach nicht. Die Dusche tat ihm gut und belebte ihn ein Stück weit - genug, um wieder nach unten zu gehen. Max und Tyson saßen auf einem der Sofas viel zu nah beieinander, um normal zu wirken, und unterhielten sich - fuhren aber auseinander, als sie ihn bemerkten. Das brachte ihn fast zum Schmunzeln. Als wenn sie es nicht schon längst alle wüssten. Er überließ sie sich selbst und ging in die Küche. Der Geruch von Essen lag noch in der Luft, doch statt seinen Appetit anzuregen, wurde Kai eher schlecht davon. Doch es half nichts, der gesunde Menschenverstand befahl ihm, endlich, verdammt noch mal, etwas zu essen. Lustlos aß er, was auch immer es gerade war - er nahm nichts wahr. Im Wohnzimmer war es lauter geworden, also waren die anderen Beiden auch nach unten gekommen. Kai bekam jedoch nur den letzten Rest des Gesprächs mit: "Du setzt dich jetzt einfach hier hin und bist ruhig, oder ich schwöre, ich tu dir weh." Das war Tyson und es war unschwer zu erraten, mit wem er sprach. Das musste er seinem Team zugutehalten - sie hatten sich für ihn eingesetzt. Er hatte gestern schon gemerkt, dass sie ebenfalls wütend auf Ray waren, und obwohl das auch ein bisschen unfair gegenüber dem Chinesen war (weil der doch Recht hatte...), tat es gut zu wissen, dass sie für ihn einstanden. Unbeholfen spülte er sein Geschirr ab, dann gesellte er sich zu ihnen. So war seither jeder Tag verlaufen. Er konnte nicht schlafen, ging bereits zeitig in den Wald zu seiner "Höhle" und kam irgendwann abends wieder, obwohl es sich nur wie Minuten anfühlte. Der Verfolgungswahn hatte noch zugenommen und ihm war jetzt ständig schlecht. Manchmal musste er sich sogar übergeben und jedes Mal war er dankbar, dass keiner seiner Teamkameraden es mitbekam, weil er sich sonst wieder den bohrenden Fragen hätte stellen müssen. Soweit das möglich war, wurde er noch schwächer und das beunruhigte ihn. Wenn das so weiter ging, würde er eines Morgens nicht aus der Hütte kommen und er konnte und wollte sich nicht vorstellen, wie es wäre, dort den ganzen Tag eingesperrt zu sein. Hier draußen störte ihn wenigstens keiner. Hier wehte nur der Wind und vereinzelt hörte Kai Tiere. Sonst war da nichts. Wenn das nur auch seine angespannten Nerven so akzeptieren würden. Heute allerdings bekam er unerwartet Besuch in seiner Höhle. Die sanfte und bekannte Stimme hatte ihn in einem wachen Moment erreicht und ungläubig lauschte er den Worten. Der letzte Satz traf ihn wie ein Blitzschlag. Ray liebte ihn? IHN? Das konnte nicht sein, das war sicher nur ein Scherz. Früher einmal hatte er das so dringend hören wollen, doch jetzt versetzte es ihn in Panik. Am liebsten würde er die Worte ungehört machen, aber das ging natürlich nicht. Kai presste die Hände auf die Ohren, als ob es irgendetwas bewirken würde. Ein fast schon süßer Schmerz durchfuhr sein Herz. Das Leben war doch einfach unfair. Wenn er sich jemals darauf einlassen würde, würde er Ray nur enttäuschen. Nein, nein, nein, das durfte auf keinen Fall passieren! Er war zu kaputt, um sich darauf einzulassen. Seit Russland war jede Chance auf ein Happy End zunichte gemacht. Er musste weg, weg von hier und von Ray. Mit jeder Sekunde lastete das Geständnis schwerer auf seiner Seele. Er wusste, er musste etwas deswegen unternehmen, doch er traute sich selbst nicht über den Weg, das Richtige zu tun. In seinem Kopf schwirrten bereits so irrsinnige Gedanken wie: Es einfach versuchen, sich einfach fallen lassen und das Abenteuer wagen. Doch das konnte er ihm wirklich nicht antun. Ray hatte doch etwas Besseres verdient als dieses Wrack, das er war. Ohne zu überlegen oder zu bemerken, dass Ray längst weitergezogen war, stahl er sich davon, lief immer schneller und schneller, bis er wirklich rannte und sein gerade erst wiederhergestelltes Bein vor Protest schrie. Aber immerhin beruhigte das die Panik und als er den See erreichte, war in seinem Kopf wieder Platz für etwas anderes als die schmerzhafte Frage, warum er vor sechs Monaten nur so feige gewesen war. ~~~ Heute war wirklich sein Glückstag. Zuerst hatte es nicht danach ausgesehen, aber man muss nur an das Gute glauben, dann passiert es einem auch. Er hatte seinen Posten gegen acht Uhr bezogen und das auch nur, weil seine Männer die Schnauze gestrichen voll hatten, den "Psycho", wie sie ihn nannten, weiter zu observieren. Um sie zu besänftigen, hatte er sich bereit erklärt, eine der 12-Stunden-Schichten zu übernehmen. Die meiste Zeit passierte sowieso nichts Spannendes, das wusste er aus ihren Berichten. Die Zielperson kam jeden Tag hierher, verbrachte mehrere Stunden in der kleinen Aushöhlung und verschwand gegen Abend wieder. Er kannte jede Einzelheit, jedes noch so kleine Detail und es war genauso unspektakulär, wie sie es beschrieben hatten. Dann war der Chinese aufgetaucht und es wurde richtig spannend. Von seinem Aussichtspunkt konnte er alles überblicken und sogar genau zuhören. Es war wirklich großartig: Der Schwarzhaarige wusste nicht, dass die Zielperson genau über ihm hockte und jedes Wort mitbekam und dann machte er ihm ausgerechnet eine Liebeserklärung. Noch besser war die Reaktion des Anderen darauf: Man konnte förmlich die Panik riechen und er musste sich zusammenreißen, nicht laut loszulachen. Oh ja, heute war wirklich ein guter Tag. Zu schade, dass die Männer das nicht gesehen hatten, die hätten sich wahrscheinlich ebenfalls köstlich amüsiert. Eigentlich wäre es seine Aufgabe gewesen, der Zielperson zu folgen, doch etwas viel Interessanteres hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ein kurzer Funkspruch und Jemand anderes kümmerte sich um die Observierung. Geschmeidig schwang er sich von seinem Ausguck und schlenderte gemütlich den schmalen Pfad den Felsen hinauf. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass die Ablösung noch eine Weile auf sich warten lassen würde. Perfekt. An der Höhle angekommen entdeckte er es sofort - ein kleines ledergebundenes Buch. Amüsiert hob er es auf und blätterte darin. "Oh Kai, du ziehst die Nummer immer noch durch, wie? Ich an deiner Stelle hätte diesen Schwachsinn schon beim ersten Mal einfach sein gelassen. Als wenn so ein bisschen Gekritzel irgendetwas bringen würde." Er wischte sich die vorwitzige Strähne aus den Augen, die ihn immer nervte, die er aber nie abschneiden ließ. Das Funkgerät an seinem Gürtel gab ein knackendes Geräusch von sich. "Inspektor, wir haben die Zielperson bis zum See verfolgt, doch es gab da einen Zwischenfall." "Lebt er noch?" "Das ja, aber..." "Nichts 'aber'. Solange er weiter den Köder spielen kann, interessiert mich der Rest nicht. Beobachten Sie ihn einfach weiter und melden Sie sich nur, wenn es wirklich wichtig ist." - "Jawohl, Sir." Lächelnd las der Inspektor den letzten Eintrag, dann legte er das Buch wettergeschützt neben einen kleinen Stein. Er wollte doch nicht, dass Kai seinen kostbaren, sinnlosen Schatz verlor. Kapitel 16: Am See ------------------ Völlig erschöpft hielt Kai am Ufer des Sees an. Er war nicht bewusst hierher gerannt (wenn man das Rennen nennen konnte), seine Füße hatten ihn einfach hierher gebracht. Das Wasser sah immer noch schmutzig grün aus, ansonsten war die Oberfläche völlig ruhig. Es hatte aufgehört zu regnen, seit Tagen das erste Mal. Unter einem Baum am Ufer war eine einsame Holzbank, die ihre besten Tage schon lange hinter sich hatte, aber das war ihm gerade völlig egal. In seinem Kopf herrschte totales Chaos. Dieses Geständnis zu verarbeiten würde Ewigkeiten dauern - Zeit, die er nicht hatte. Bald würde es Zeit sein, zur Hütte zurückzukehren und dann würde er Ray wiedersehen. Ray hatte gesagt, es täte ihm leid, das war zumindest ein Anfang. Aber er konnte natürlich das andere nicht ungehört machen. Dieses unerwartete Geständnis belastete ihn, weil er es sich so sehr gewünscht hatte. Das war die Chance seines Lebens und er traute sich nicht, sie zu ergreifen. Darauf einzugehen wäre absolut egoistisch, weil er dann seinen Tiger bitten müsste, ihn nicht zu bedrängen, sondern ihm Zeit zu geben. Sie würden für eine sehr lange Zeit keine normale Beziehung führen können - vielleicht nie - egal, wie viel Mühe Kai sich geben würde. Weil da diese Bilder in seinem Kopf waren, diese Stimmen, dieses Trauma. Er verstand sich selbst kaum und er durfte nicht erwarten, dass ein Anderer es tun würde. Es war falsch auf so vielen Ebenen, doch er sehnte sich danach. Wenn nur nicht diese Kopfschmerzen wären, könnte er in Ruhe darüber nachdenken... Doch es war nicht nur das. Dass sein Bein immer noch pochend schmerzte, machte ihm nichts aus, viel schlimmer war das Stechen in seiner Brust, das sicher nicht vom Laufen kam. Von den Hitzewallungen und dem ständigen Schwitzen abgesehen. Ein wenig hilflos sah er sich um und augenblicklich wurde sein Blick vom See gefesselt. Er lag ganz ruhig da, wie ein Spiegel, umrahmt von Schilf, und nicht mal ein kleiner Windhauch zerstörte die ebenmäßige Oberfläche. Für einen winzigen Augenblick war das Bild vollkommen, dann brach aus einem Gebüsch ein Vogel hervor und landete schnatternd im Wasser. Ein zweiter gesellte sich dazu und sie tändelten beide zum gegenüberliegenden Ufer. Ein dummer sehnsüchtiger Gedanke formte sich in Kais Kopf, doch er verdrängte ihn. Jetzt nur nicht daran denken. Stattdessen blickte er wieder auf den See. Wie es wohl wäre, sich dort einfach treiben zu lassen; die Seele baumeln lassen, wie man so schön sagte? Es war eine fixe Idee und mit Sicherheit keine gute, aber der Drang, irgendetwas anderes zu tun, als stets nur nachzudenken, war ebenfalls beflügelnd. Der See erinnerte ihn an Russland, doch es war ausnahmsweise einmal keine so schlimme Erinnerung. Sie hatten damals Schwimmunterricht gehabt, was übersetzt hieß, dass die Kinder ins Wasser gestoßen wurden und wer es nicht schaffte, sich über Wasser zu halten, wurde wieder herausgefischt und bestraft. Es gab drei Versuche und wer es danach immer noch nicht konnte, der war nicht dafür geeignet, weiter in der Abtei zu bleiben. Was genau mit ihnen geschehen war, wusste keiner, aber Kai hatte da so eine Ahnung. Trotzdem liebte er das Wasser. Es tat einem nicht weh, es forderte nichts. Es stellte keine Fragen und es vergaß sofort wieder. Später, als sie älter wurden, war aus dem anfänglichen Spaß Ernst geworden, denn man konnte über die Abtei sagen, was man wollte: Sie war tatsächlich ein Sportinternat (mit diversen Zusatzfunktionen) und wer dort (über-)leben wollte, musste Leistung bringen. Obwohl es auch nichts brachte, wenn man irgendwo der Beste war. Selbst das war nicht gut genug für Balkov und seinen Großvater. Die Idee, einen kleinen Abstecher in den See zu machen, wurde immer drängender. Es schien, als würden sich damit alle Probleme lösen: Das Gefühlschaos, die Schmerzen, die Hitze, das Schwitzen. Schon hatte er den Pullover ausgezogen und nachlässig über die Bank geworfen. Kai zögerte. Unter dem Pullover trug er ein normales T-Shirt, doch plötzlich wollte er es nicht mehr ausziehen. Die kleinen Härchen im Nacken bestanden wieder darauf, dass er beobachtet wurde, und das verunsicherte ihn. Nur die Schuhe zog er noch aus und stellte sie wesentlich sorgsamer unter die Bank. Schuhe waren wichtig, und wenn man einen ganzen russischen Winter ohne verbracht hatte, lernte man solche Dinge zu schätzen. Zaghaft watete er durch das seichte Ufer, das kalte Wasser beruhigte den Schmerz in seinem Bein und bescherte ihm eine durchdringende Gänsehaut. Schnell war er bis zu den Schultern eingetaucht und versuchte einige Züge. Es war so befreiend. Die Kälte ließ ihn frösteln, doch sie vertrieb die Gedanken und ausnahmsweise war sie ihm ganz willkommen. Kai schwamm nicht so weit hinaus, da er kein Risiko eingehen wollte, sondern zog parallel zum Ufer ein paar Bahnen. Er wollte gerade wieder zurückkehren, als etwas seinen Fuß festhielt. Als geübter Schwimmer verfiel er nicht in Panik - jedenfalls nicht sofort. Als er sich umwandte, sah er ein Gesicht, sah er Balkovs Gesicht. Mit dem anderen Fuß trat er danach und es löste sich für einen Moment auf, erschien jedoch Sekunden später wieder an der gleichen Stelle. Jetzt wurde auch der andere Fuß festgehalten und Kai stieß einen kurzen angsterfüllten Schrei aus. Er strampelte, versuchte wieder frei zu kommen und für einen Moment schaffte er es. Mit hektischen Zügen bewegte er sich auf das Ufer zu, doch griffen allzu bald wieder Hände nach ihm, nicht nur an seinen Füßen, sondern auch an seinen Beinen, am Oberkörper, an den Armen. Da vorne war die Rettung und er kämpfte, um sie zu erreichen, doch die Hände zogen ihn unerbittlich hinunter in die Dunkelheit. Er musste es schaffen; er wollte hier nicht sterben, dafür hatte er zu viel ertragen. Nur noch ein paar Meter... Ray fühlte sich befreit. Es fühlte sich einfach richtig an. Der Wald war schön, herbstlich bunt und mit einer Vielzahl an Pflanzen. Er war den unheimlichen Pfad wieder zurückgegangen und hatte ohne Probleme die kleine Kreuzung gefunden. Zum Glück war sein Orientierungssinn nicht so schlecht wie der von Lee - der würde sich sogar in seinem eigenen Badezimmer verlaufen - und für einen Moment schmerzte der Gedanke an seinen Freund. Wenn er wieder zurück in Tokio war, wollte er sich endlich wieder bei seinen ehemaligen Mitbewohnern melden. Es war wahrscheinlich genug Gras über die Sache gewachsen und er hatte nicht vergessen, dass er sich eigentlich bei Mariah hatte entschuldigen wollen. Es war an der Zeit, auch diese Beziehung wieder in Ordnung zu bringen. Doch zuerst musste seine eigene repariert werden. Er wollte sich nur noch den See ansehen und dann wieder zurückkehren. Von der Hütte aus konnte man ihn kaum sehen und es hatte die letzten Tage sowieso durchgehend geregnet. Er war ganz nah, das spürte Ray, und er hatte Recht, denn als er um die nächste Kurve bog, breitete sich vor ihm der See aus. Erfreut bemerkte er, dass der Regen aufgehört hatte. Der Wind hatte ein wenig aufgefrischt und für einen kleinen Moment brach sogar die Sonne durch und schien direkt auf eine kleine Holzbank. Federnd legte er die wenigen Meter dahin zurück, in Gedanken immer noch bei seinem befreienden Geständnis. Warum ihn das immer noch so positiv bestärkte, wusste er selbst nicht so recht, immerhin hatte er es ja nur einer Felswand zugerufen, aber trotzdem. Seine gute Laune hielt genau bis zur Bank an. Dann sah er den achtlos hingeworfenen Pullover, den er zweifelsfrei als Kais identifizierte. Ironischerweise war er bei dessen Kauf dabei gewesen und hatte ihn sogar ausgesucht. Er erinnerte sich mit einem Schmunzeln daran, wie Kai deshalb einen halben Aufstand gemacht hatte: Sie waren in der Schweiz gewesen und es war selbst für die Alpen ungewöhnlich kalt. Ihr sonst so frostfester Captain war mies gelaunt losgezogen und wollte sich freiwillig etwas Warmes zum Anziehen besorgen und so kam es zum Kauf genau dieses Pullovers. Aber was machte der hier, so einfach weggeworfen? War Kai etwa in der Nähe? Aber wo? Während der Ray sich umblickte, fiel sein Blick auf die schwarzen All Stars, die ordentlich aufgeräumt unter der Bank standen. Also war Kai wirklich hier. Erneut brach die Sonne hervor, nur für einen Moment, doch er reichte aus, um Rays Aufmerksamkeit auf ein seltsames Glitzern im Schilf am Ufer aufmerksam zu machen. Das Licht war auf nasse, silber-graue Haare gefallen. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er realisierte, dass es Kai war, der halb im Wasser, halb im Schlamm zwischen den Pflanzen lag. Mit einem Aufschrei war er bei ihm. Kai atmete noch, aber er war nicht bei Bewusstsein und er war triefend nass. War er etwa freiwillig Baden gegangen? Angesichts seines Zustands schien das eine ziemliche Schnapsidee gewesen zu sein, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Erst musste er Kai aus dem kalten Wasser rausholen und zur Hütte bringen. Ray zog ihn hoch und brachte ihn zur Bank. Der Russe sah schrecklich aus. Das Haar hing ihm schlaff in das kreidebleiche Gesicht. Seine Lippen waren blau und er war eiskalt. Selbst eine seiner Socken fehlte und ruhte wahrscheinlich auf dem Grund des Sees. Großartig. Er würde sich beeilen müssen, damit Kais Zustand nicht noch schlimmer wurde. Rays Blick fiel auf den Pullover. Er würde zwar ebenfalls in Nullkommanichts nass sein, aber vielleicht wärmte er trotzdem ein bisschen. Die Schuhe band er zusammen und hängte sie sich um den Hals, dann hievte er Kai auf seinen Rücken. Er war erstaunlich leicht und für einen kurzen Moment verspürte Ray Schuldgefühle. Durch seine unbedachten Wutausbrüche hatte er ebenfalls dazu beigetragen. Schnell und mit sicheren Schritten legte er den Weg bis zur Kreuzung mitten im Wald zurück und erkannte plötzlich mit Schrecken, dass er sich nicht an den Rückweg erinnern konnte. Rechts, links, durch die Mitte? Kopflos ging er zu jeder Abzweigung, war sich aber absolut nicht sicher. Eine falsche Entscheidung wäre sicherlich fatal. Sein Rücken war mittlerweile ebenfalls klitschnass und der heftige Wind machte die Sache sehr unangenehm. Aufs Geratewohl entschied sich Ray für den Weg schräg rechts und seufzte vor Erleichterung, als er wenige Minuten später den Weg wiedererkannte. Hier war er auf jeden Fall richtig. Trotzdem dauerte es für seinen Geschmack viel zu lange, bis er endlich wieder in der Hütte war. Zu seiner Erleichterung war gerade keiner im Wohnzimmer. Wenn die Anderen erst einmal gesehen hatten, was passiert war, würden sie vielleicht ihm die Schuld geben und dafür hatte er gerade wirklich keine Zeit. Ray brachte Kai in dessen Zimmer und setzte ihn auf einem der beiden Sessel ab. Bevor er ihn ins Bett bringen konnte, musste Kai aus den nassen Sachen raus. Ungeduldig durchsuchte Ray die Schränke, fand nacheinander frische Handtücher und trockene Kleidung. Sein Patient hatte immer noch keine Veränderung gezeigt. Er lag mehr auf dem Sessel als dass er saß. Rays Herz verkrampfte sich. Neben der Sorge brannte die Frage, wie es überhaupt dazu gekommen war. War es ein Unfall, Absicht, oder war vielleicht ein Dritter daran beteiligt? Es war zum verrückt werden; je mehr Zeit verging, desto mehr Fragen taten sich auf. Nachdem er ihm die Haare halbwegs trocken gerubbelt hatte, zog Ray Kai ohne großes Federlesen den Pullover und das Shirt über den Kopf - und stoppte sofort bei dem Anblick. Vor einer Woche hatte er den Oberkörper seines Phönix zum ersten Mal gesehen und er erinnerte sich noch genau daran, wie sehr er sich dabei erschrocken hatte. All die Verbände, die vielen Blutergüsse. Er hatte nicht lange hingesehen, doch der Anblick hatte sich eingebrannt. Jetzt waren die Verbände verschwunden und er konnte sehen, was vorher verborgen gewesen war: Unzählige Narben. Breite, schmale, rote, weiße, regelmäßige und unregelmäßige, frische, alte. Es sah fürchterlich aus und irgendwie... In Rays Vorstellung war Kais Körper immer perfekt gewesen: Muskulös, wohlgeformt, die Haut makellos, hart, aber trotzdem irgendwie weich. Das hier war das absolute Gegenteil und ihm irgendwie unangenehm. Ray erinnerte sich daran, dass einer der Gründe seiner Wut auf Kai die Tatsache war, dass Kai nicht stark genug gewesen war, zu verhindern, was immer ihm auch widerfahren war. Als Ray fertig war, zog er seinem Patienten ein frisches Shirt über und legte ihm eine leichte Decke um die Schultern. Er war immer noch so blass und strahlte Kälte aus. Jetzt fehlte nur noch der pikante Teil: Endlich durfte er Kai an die Hose gehen. Obwohl es jetzt sicher kein Vergnügen sein würde. Wie auf ein Kommando begann der Russe sich zu regen, strampelte kurz und kraftlos mit den Beinen und murmelte etwas Unverständliches, obwohl er immer noch nicht bei Bewusstsein war. Ein Gedanke drängte sich in Rays Kopf und für einen Moment formte sich ein unbeschreibliches Bild vor seinem inneren Auge, so grausam, dass er es sofort wieder verdrängte. Er hatte jetzt keinen Nerv dafür, über so etwas nachzudenken, gerade, wenn es so erschütternd war, so verletzend. Er sollte sich besser auf das Hier und Jetzt konzentrieren, denn Kai machte es ihm ganz schön schwer. Dass Jemand, der eigentlich gar nicht richtig da war, so sehr kämpfen konnte, war ja schon fast beeindruckend. Nachdem Ray ihn schließlich ins Bett verfrachtet hatte, war er ganz schön geschafft. Der Tag war unheimlich anstrengend gewesen. Die ganze Zeit hatten ihn die Sorgen begleitet; ständig hatte er sich Vorwürfe gemacht und nach einer Lösung für die Situation gesucht. Als er dann endlich entschieden hatte, wie er es angehen wollte, war er kopflos in den Wald gelaufen und er hatte sich auch verlaufen. Immerhin hatte der ungeplante Ausflug etwas Positives gehabt... doch dieses Gespräch würde er auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Noch wusste er ja nicht, wie sich der Zwischenfall am See auf Kai auswirken würde. Vorhin hatte er vermutet, dass eventuell noch eine Person damit zu tun hatte, aber wenn er so darüber nachdachte, warum hätte dann der Pullover auf und die Schuhe unter der Bank liegen sollen? Wahrscheinlicher war also, dass Kai freiwillig baden gegangen war. Der Grund dafür war wichtig. November war absolut nicht der richtige Monat für derartige Spontanaktionen. Sie hatten Glück, dass es noch nicht geschneit hatte. Warum also hatte Kai so etwas Dummes - einen anderen Ausdruck gab es nicht dafür - getan? Eine Möglichkeit schien jedoch wahrscheinlicher als alle anderen: Es war Absicht. Vielleicht hing das mit dem Gedanken zusammen, den Ray sich nicht gestattet hatte und auf den er jetzt auch nicht eingehen wollte. Das wäre wirklich ein Problem. Allein der Umstand, dass ein Selbstmordversuch dahinter stecken konnte, war erschreckend. Egal, was Ray jemals gedacht oder gesehen hatte, er hatte Kai immer als eine starke Person eingeschätzt, als Jemanden, der seine Probleme anpacken würde statt sich von ihnen überwältigen zu lassen. Er wusste schon jetzt, was passieren würde, würde er danach fragen, aber auf diese Frage durfte Kai ihm keine Antwort schuldig bleiben. Und er musste Tyson, Kenny und Max einweihen. Solange diese Sache nicht geklärt war, würden sie alle ein Auge auf ihren Captain haben müssen. Ray vergewisserte sich, dass Kai warm und sicher eingepackt war, dann erlaubte er es sich, sich um sich selbst zu kümmern. Seine eigene Kleidung war mittlerweile halb getrocknet, klebte aber immer noch unangenehm an ihm. Zusammen mit den anderen nassen Sachen verließ er das Zimmer und wäre beinahe mit Kenny zusammengestoßen. "Was machst du in Kais Zimmer?" "Erklär ich dir später. Können wir uns im Wohnzimmer treffen, sagen wir in zehn Minuten? Ich muss mir nur erst etwas anderes anziehen." Der Chef staunte nicht schlecht, als er das verschmutzte und nasse Zeug sah, versprach aber, den beiden anderen Bescheid zu geben. Eine Viertelstunde später ließ sich Ray erschöpft am Küchentisch nieder. Einer seiner Freunde war so nett gewesen und hatte Tee gekocht. Dankbar nippte er daran und merkte, wie sich die Wärme in ihm ausbreitete. Er seufzte, dann erzählte er seinen Teamkameraden, was sich im Wald zugetragen hatte, allerdings ohne sein peinliches Geständnis an die Bäume zu erwähnen. Die anderen hörten aufmerksam zu. "Er schläft jetzt in seinem Bett und ich werde nachher noch mal nach ihm sehen. Aber ich mache mir Sorgen. Ich meine, was hatte er dort zu suchen? Was ist, wenn er versucht hat, sich was anzutun?" "Hey, Ray, jetzt mal mal nicht den Teufel an die Wand." Max hatte ihm mitfühlend die Hand gedrückt. "Vielleicht gibt es eine ganz normale Erklärung dafür." "So normal, wie sie bei Kai eben sein kann." Tysons Einwurf war wenig hilfreich und er erntete auch gleich einen scharfen Blick von Kenny. "Entschuldigung. Aber ihr wisst schon, was ich meine. Vielleicht ist die einfache Erklärung, dass er es für eine gute Idee gehalten hat oder so. Ihr wisst doch, dass er manchmal etwas seltsam ist." Tyson war wirklich ein Optimist, doch obwohl sowohl Kenny als auch Max sehr skeptisch schauten, nahm Ray diese Erklärung nur gerne an. Die zweite Möglichkeit wäre erschütternd und würde viele weitere Fragen aufwerfen. "Mir wäre es trotzdem lieber, wenn ihr ein Auge auf ihn habt. Nur zur Sicherheit." Das war Dizzys Einwurf und sie hatte völlig Recht. "Hat er eigentlich irgendwas gesagt?" "Ja - nein. Also, er hat etwas vor sich hin gemurmelt, aber so leise, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Ich war sowieso etwas, na ja, abgelenkt. Ich musste ihn aus den nassen Sachen schälen und..." Mit einem unterdrückten Schaudern dachte Ray wieder an die gerade erst verheilten Wunden. Er sah seinen Freunden der Reihe nach in die Augen, dann erzählte er weiter. Während der kurzen Schilderung schaute er auf seine Hände, mit denen er nervös herumspielte. Diese dumme Angewohnheit hatte er schon als Kind gehabt, wenn es darum ging, etwas Unangenehmes zu beichten. Das Team war genauso schockiert wie er, auch sie konnten es kaum glauben. "Scheiße, wer könnte das gewesen sein? Wie kann man Jemanden in ein paar Monaten so zurichten, das ist doch absolut krank!" "Ich weiß, aber wenn ich ehrlich bin, sah sehr viel davon so aus, als wenn es schon wesentlich älter ist." "Uff." "Ja... ich werde noch mal nach ihm sehen und dann koche ich uns was, was meint ihr?" Es war ein lausiges Ablenkungsmanöver, doch sie nahmen es alle gerne an. Ein wenig erleichtert stieg Ray die Treppe zur Galerie hinauf. Obwohl er ein paar Details verschwiegen (zum Beispiel Kais zeitweilige Gegenwehr) hatte, war er doch froh, dass die anderen Drei Bescheid wussten und von nun an genauer hinsehen würden. Und wahrscheinlich würden sie sich dabei nicht so dämlich wie er anstellen. Ganz leise betrat er Kais Zimmer und war mehr als erstaunt, dass sein Patient schon wieder bei Bewusstsein war. Erst im späteren Verlauf des seltsamen Gesprächs wurde ihm klar, dass der Ausdruck "bei Bewusstsein" sehr dehnbar war. Kapitel 17: Tagebuch 2 ---------------------- Wie lange bin ich schon wieder zurück? Wobei zurück vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Ich verbringe meine Tage weiter in diesem dunklen Keller, nicht mehr körperlich, doch mein Denken dreht sich immer nur darum. Es ist schwer, sich zu zwingen, einmal nicht daran zu denken, denn die Erinnerungen schleichen sich ungehindert an und schlagen zu, wenn es ihnen gefällt. Mittlerweile sind wir in dieser Berghütte angekommen und es ist schlimmer als erwartet. Statt Ruhe und Abgeschiedenheit habe ich hier einen aufdringlichen Chinesen, der versucht, irgendetwas aus mir herauszubekommen. Ich kann es ihm nicht verübeln, ich glaube, wenn die Rollen vertauscht wären, würde ich ebenso wissen wollen, was passiert ist. Trotzdem geht er mir auf die Nerven. Auch diese ständigen Blicke verunsichern mich. Er hat schon viel zu viel mitbekommen und ich kann nicht zulassen, dass er noch mehr erfährt. Ich habe das Gefühl, dass er mich verfolgt. Diese ausgeprägte Paranoia abzulegen wird ein hartes Stück Arbeit werden, aber damit beschäftige ich mich, wenn alle anderen Probleme gelöst sind. Vorerst beschäftigen mich diese Albträume. Leider scheint meine persönliche Therapiemethode nicht mehr so gut zu funktionieren wie noch vor vier Jahren. Ich bekomme kaum zwei Sätze zusammen, obwohl ich heute ein gutes Gefühl habe. Damals war es leichter, mit den Erlebnissen fertig zu werden, vielleicht, weil sie nicht ganz so einschneidend waren. Aber ich werde es dieses Mal auch allein schaffen. Ich muss einfach. ~~~ Dieser Keller war irgendwie das Schlimmste an meinem Aufenthalt in der Abtei. Nicht, dass es mich störte, dass er kalt und feucht war, dass es dort weder ein Bett noch einen Stuhl oder Tisch gab. Ich habe die ganzen sechs Monate nur in diesem Keller verbracht und er hat in gewisser Weise dazu beigetragen, alles noch viel schlimmer zu machen. Ständig tropfte es monoton von der Decke – PLING... PLING... PLING... Manchmal träume ich davon. Dieses Geräusch hat sich tief in meinen Verstand eingegraben und verursacht mir Kopfschmerzen. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde immer nur PLING... PLING... PLING... Ein stetes auf und ab. Ich wollte mir einmal sogar den Schädel an der Wand einschlagen, weil ich das Geräusch nicht mehr ertragen konnte. Es war, als wenn jeder Tropfen mich verhöhnte. Zu den körperlichen Schmerzen kam dieses quälende Platschen. Sechs Monate lang, jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Ich habe irgendwann angefangen, die Tropfen zu zählen, aber nie ein Muster zwischen den Besuchen entdecken können. Es zermürbt einen von innen heraus, wenn man absolut nichts weiß. Ich wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, wie lange ich überhaupt schon hier war. Ich wusste nicht, wann er wiederkommen würden. Immer nur PLING... PLING... PLING... Ich wollte einfach nur sterben, damit ich nicht mehr hören und sehen musste. Jede Minute war das blanke Grauen. Würde er wiederkommen? Wann? Ich versuchte mir einzureden, dass das letzte Mal auch das letzte Mal bleiben würde. Irgendwann hätte er genug davon, dann würde dieses Spiel langweilig werden und er würde mich einfach verrotten lassen. Dann wäre ich endlich frei. Natürlich war das Wunschdenken, denn er kam immer wieder. Manchmal erst nach Tagen, wie es schien, manchmal nach fünf Minuten. Meist immer dann, wenn der Entzug von dieser Wunderdroge am Schlimmsten war. Wenn ich am verwundbarsten war. Mehr als einmal war ich kurz davor, wie ein kleines, erbärmliches Tier um Gnade zu winseln, ihn anzuflehen, mich entweder zu töten oder mir den nächsten Schuss zu geben. Einmal habe ich mir die ganze Lippe blutig gebissen, um ja keinen Laut von mir zu geben. Wozu ich mich an dieses kleine bisschen Stolz und Würde klammerte, war mir selbst nicht klar. Für Balkov waren diese Momente ein gefundener Anlass, mir einmal mehr zu zeigen, wie hilflos und schwach ich war. Grob zog er mich hoch und drückte mich gegen eine Wand, an Gegenwehr war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu denken. Mein gesamtes Denken setzte für einen Moment aus, um dann die altbekannte Leier abzuspielen: 'Nein! Nicht schon wieder! Nein! Ich will nicht!'. Kein Laut kam über meine Lippen, während er genüsslich das Blut von ihnen leckte und die Angst in meinen Augen genoss. Balkov liebte diese Spielchen, liebte die Angst in meinen Augen, liebte den Moment, wenn er sah, wie etwas in mir zerbrach, jedes Mal ein bisschen mehr. Dieser Mann war ein absolutes Genie, wenn es um Folter und Psychospiele ging. Ich glaube, deswegen hielt mein Großvater auch so große Stücke auf ihn. Er hatte stets alles unter Kontrolle und konnte ganz nach Belieben Kinder so brechen, dass sie sich wie Marionetten manipulieren ließen. Es gab nur wenige Ausnahmen und ich hatte das Glück - oder Pech, - eine zu sein. Deshalb war er so fixiert auf mich gewesen. Und auf Yuriy. Seit er verschwunden war, war ich an der Reihe. Eine kräftige Ohrfeige riss mich aus meinem tranceartigen Zustand. Ich hatte versucht, meine Seele irgendwie einzugraben, mich zu verstecken und zu warten, bis alles vorbei war, aber Balkov hatte diesen kläglichen Versuch schon beim ersten Mal durchschaut und mich ausgelacht, was für ein erbärmlicher Feigling ich doch sei und dass er nicht zulassen würde, dass ich den ganzen Spaß verpasste. Trotzdem versuchte ich es immer wieder und ich glaube, manchmal klappte es auch. Manchmal kann ich mich an nichts erinnern... an diesen Tag allerdings schon. Die Ohrfeige hatte wieder etwas Blut hervorsickern lassen und diese widerliche Zunge, die fast zärtlich über meine Lippen strich, erregte Übelkeit in mir. Nichts war schlimmer als Balkov, der gute Laune hatte und versuchte, mich zum Mitspielen zu überreden. Ich durfte mir keine Regung erlauben, keinen Mucks, kein Zucken und doch wollte ich einfach nur schreiend weglaufen und mich verkriechen. Wenn Balkov keine Reaktion bekam, wurde er vielleicht wütend. Dann war er brutal und würde mich sicher wieder schwer verletzen, aber es wäre schnell vorbei. Heute war er jedoch in absoluter Spiellaune. Er leckte weiter über meine Lippen, versuchte immer wieder, in meinen Mund zu kommen, doch ich hatte den Kiefer zusammengepresst. Seine Hände, die mich die ganze Zeit an den Schultern gepackt hatten, verstärkten ihren Griff, doch noch konnte ich dem Druck standhalten. Als ich spürte, wie eine Hand meinen Körper hinabwanderte, sank allerdings mit jedem Zentimeter mein Widerstand. Federnd berührte er meine Hüfte, strich den Hosenbund entlang nach hinten, bis er den langen Schnitt fand, der erst einige Tage alt war und sich entzündet hatte. Ohne mit der Wimper zu zucken, kratze und bohrte er in der Wunde herum und schon konnte ich einen Schrei nicht mehr unterdrücken. Mit glänzenden Augen schaute mich dieser Sadist an und wartete, bis ich fertig war. "Wirst du jetzt brav sein und fein mitmachen? Wenn du nicht willst, kann ich auch die Anderen holen, aber die werden sicher nicht so nett zu dir sein wie ich." Die Anderen! Seit ich bei meiner Ankunft zusammengeschlagen wurde, hatte ich Balkovs vier Handlanger nicht mehr gesehen und ich verspürte auch nicht den Wunsch danach. Mich so schwach und verletzlich zu sehen hätte sie in Hochstimmung versetzt und gerade Ian wollte ich diese Genugtuung nicht geben. Hatte ich eine Wahl? Meine Widerstandskraft war sowieso kaum vorhanden und so ergab ich mich und hoffte und betete, es würde schnell vorbei sein. Wieder spürte ich die Zunge, diesmal in meinem Mund. Ich musste mich zusammenreißen, ich durfte nicht zubeißen. Ich hatte es einmal gemacht und dafür einen Zahn verloren. Ich glaube, an die Lücke werde ich mich nie gewöhnen. Fordernd und drängend fuhr sie durch meinen Mund und landete immer wieder bei der Zahnlücke, fast schon wie um ein Signal zu senden. 'Halt deine Beißerchen im Zaum, sonst verlierst du noch mehr!' Nicht, dass ich es darauf ankommen lassen wollte. Jetzt, nachdem ich mich "locker" gemacht hatte, konnte Balkov seine Hände wieder benutzen, er musste mich nicht mehr gegen die Wand drücken. Ich blieb erstarrt einfach so, wie ich war. Es war so widerwärtig, wenn seine Hände meinen Körper berührten, als wären wir tatsächlich Liebhaber oder Ähnliches. Spielerisch zupfte er an meinen Brustwarzen, doch ich empfand nur Ekel und musste den Drang unterdrücken, mich wegzudrehen. Die andere Hand war wieder nach unten gewandert, meinen völlig vernarbten Rücken entlang, hinunter zu meinem Po. Die sanften Berührungen waren noch schwerer zu ertragen, als wenn er mich gewaltsam nahm. Er drückte sich enger an mich und ich konnte fühlen, wie er mit seinem Knie mein Bein hinaufwanderte und es in meinen Schritt drückte. Dadurch, dass er sich an mich lehnte, wurde ich stärker gegen die Wand gedrückt und mein zerkratzter, zerschnittener Rücken sendete aprupt genügend Signale, um mich vor Schmerz aufstöhnen zu lassen. Ich konnte diesen willkürlichen Laut nicht unterdrücken, aber der Sadist, der seine Hände überall auf mir hatte, nahm das als willkommenen Anlass. "Was, gefällt dir das etwa? Ich wusste schon immer, dass du eine kleine notgeile Schlampe bist." Wir wussten beide, dass das nicht der Realität entsprach und trotzdem schlich sich das Wort in meinen Kopf und blieb dort lange Zeit als Echo zurück. Denn es war die unverfälschte, bittere Wahrheit. Ich war zu Balkovs Schlampe geworden, die er benutzte, wenn ihm danach war, und sie danach in die Ecke warf, bis er sie wieder brauchte. Nicht mehr. Auch jetzt noch, lange danach, fühle ich mich so. Werde ich diesen Makel jemals losbekommen? Diesen Schmutz, dieses Ekelgefühl, das ich vor mir selbst habe. Balkov interessierte es wenig, was er mir mit seinen Worten antat, für ihn zählte nur sein Spaß. Mit einer schnellen Bewegung drückte er mich auf die Knie, direkt in Position. Ich wusste, was er von mir wollte, doch ich konnte mich nicht überwinden, es zu tun. Zwei Tritte in den Bauch überzeugten mich. Unter den Worten: "Wenn du zubeißt, lasse ich dich langsam und qualvoll ausbluten!" öffnete ich die Knöpfe der Hose und zog sie mitsamt der Unterhose von seiner Hüfte. Noch einmal hielt mich ein Funken Widerstandsgeist davon ab, zu tun, was Balkov wollte, doch anscheinend verlor er die Geduld mit mir. Ein schneller Griff in meine Haare, dann riss er mich zu sich und ich hatte keine andere Möglichkeit mehr, als sein Glied in den Mund zu nehmen. Heute erwartete er keine Mitarbeit von mir, stattdessen stieß er einfach so fest zu, wie er konnte. Die in meinen Haaren verkrallte Hand verhinderte, dass ich nach hinten ausweichen konnte. Ich war gefangen zwischen der Wand und dem Mann vor mir. Er war so rücksichtlos wie immer, wenn er seinen Spaß hatte. Ich konnte kaum atmen und als die Stöße schneller wurden, war es ganz unmöglich. Instinktiv begann mein Körper sich zu wehren, er brauchte Luft, doch es gab keine. Perfide, wie er war, ließ mein Peiniger einfach meinen Kopf los und ich knallte mit Wucht gegen die Wand. Jetzt federte nicht mehr seine Hand die Stöße ab, sondern der kalte Stein hinter mir. Mein Schädel drohte zu zerplatzen, sowohl aus Sauerstoffmangel als auch durch den ständigen Aufprall. Ich wusste, es konnte nicht lange dauern, doch jede Sekunde fühlte sich wie ein ganzer Tag an. Es wollte einfach nicht enden. Stöhnen breitete sich im Raum aus und ich wusste, ein beträchtlicher Teil kam von mir, obwohl ich mich wunderte, wie ich ohne Luftzufuhr überhaupt einen Ton herausbrachte. Mit dem für ihn typischen, langezogenen Stöhnen kam Balkov schließlich und gehorsam, wie eine Schlampe nunmal war, schluckte ich alles. Die Übelkeit war überwältigend, doch ich wusste, dass ich mich nicht übergeben durfte. Beim ersten Mal hatte ich mich nicht beherrschen können und wusste seitdem, welche Strafe drohte, sollte ich sein "Geschenk" einfach wieder auskotzen. Keuchend robbte ich über den Boden, versuchte von dem Mann wegzukommen, betete, dass er mich in Ruhe lassen möge. Zuvor hatte Adrenalin meinen Körper durchflutet und mich die wahnsinnigen Schmerzen vergessen lassen, die der kaum ertragbare Entzug hervorrief. Jetzt war mein Kopf leer und bot wieder ausreichend Platz für jeden einzelnen Nerv meines Körpers, der nach dem Zaubermittel schrie. In ein paar Stunden würde es vorbei sein, doch so lange durfte ich mir nicht anmerken lassen, wie sehr ich es wollte, wie sehr ich es brauchte. Ich hatte vollkommen vergessen, dass Balkov schon beim Betreten des Raumes meinen verzweifelten Blick gesehen hatte. Er wusste ganz genau, dass ich in der kritischen Phase war. Er hatte genau diesen Moment abgepasst, aber in meinem schmerz- und entzugsvernebelten Hirn war mir diese Tatsache nicht aufgefallen. Momentan wäre mir alles Recht gewesen, wenn es nur endlich aufhörte. In meiner Kehle fühlte ich das Wimmern, das Flehen. Noch war er da, noch konnte ich ihn anbetteln, mich endlich zu erlösen. Ich hatte Angst vor dem Tag, an dem ich es wirklich tun würde. Doch für Balkov war das Spiel noch nicht vobei. Er hockte sich neben mich und fragte fast zärtlich: "Möchtest du ein bisschen vom Zaubermittel? Soll ich dir etwas geben? Schau, ich habe es genau hier." Perfide schwenkte er die Spritze mit der klaren Flüssigkeit vor meinem Gesicht hin und her. Ich musste stark bleiben, doch ich wollte nichts sehnlicher als diesen Schuss endlich zu haben, endlich von meinen Schmerzen erlöst zu sein. Wenn man nicht gezielt ein Gefühl hervorrief, dann schwebte man in völliger Taubheit dahin. Das waren die Momente, in denen ich mich erholen konnte, in denen ich manchmal sogar schlief. Alles war die Hölle, doch die selige Taubheit war eine Zuflucht. Natürlich wollte ich es haben. Und Balkov würde es mir geben. Die Frage war ausschließlich, zu welchem Zeitpunkt. Er wollte Sex, das sah ich in seinen Augen. Würde er mich durch das Versprechen, mir nach getaner Arbeit das Mittel zu verabreichen, ködern oder würde er mir die Droge gleich spritzen und es genießen, wie der Schmerz mich noch mehr zerriss als nur die reine Vergewaltigung. Wir würden beide bekommen, was wir wollten, aber ich war dabei stets der Verlierer, weil ich nie gewinnen konnte, egal wie die Karten verteilt waren. Balkov würde immer gewinnen. Das war mein Schicksal. Grob zog er meinen linken Arm zu sich heran und stach hart und emotionslos zu. Mein Arm sah aus wie der eines Junkies, aber technisch gesehen war ich ja auch einer. Ein Junkie und eine Schlampe. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder noch tiefer in Verzweiflung stürzen würde. Die Aussicht, mich heute noch vor Schmerzen brüllen zu lassen, musste wohl erregender gewesen sein als der Gedanke, dass ich mich die ganze Zeit nach dem Schuss verzehren würde. Wie immer wirkte das Mittel fast augenblicklich und löschte alles um mich herum aus, umhüllte mich sanft mit dieser Taubheit, die mein einziger Freund hier war. Fingernägel gruben sich in mein Handgelenk, es fühlte sich an wie ein Messerschnitt. Die Tortur hatte begonnen. Er befahl mir, mich mit dem Gesicht zur Wand vor ihm aufzustellen und ihm mit den Händen mein Hinterteil zu präsentieren. Das hatte er am liebsten. Es war so demütigend, noch schlimmer, als seinen Schwanz im Mund zu haben. Dort hinten war meine verwundbarste Stelle und ich musste sie ihm selbst offenbaren. Immerhin gab es heute kein "Vorspiel". Er sagte lediglich, dass er hoffte, ich hätte ihn vernünftig angefeuchtet, weil es sonst ein bisschen weh tun würde. Wir wussten beide, dass es furchtbare Schmerzen geben würde. Weil ich mich nie entspannend konnte - wie auch - zeriss es mich jedes Mal auf Neue. Auch Balkov hatte im ersten Moment dabei Schmerzen, aber er hatte mir einmal zugeflüstert, dass meine Schreie und das rasch fließende Blut das wieder aufwiegen würde. Mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper. Ich hatte Angst vor den folgenden Minuten, Angst vor den Schmerzen, vor der Erniedrigung, vor seinem Stöhnen. Ich hatte Angst, weil ich mit Blick zur Wand stand und nicht sehen konnte, was hinter mir passierte. Manchmal brachte dieser Mistkerl Spielzeuge mit. Endlich spürte ich seine bloßen Hände auf meiner Hüfte und dann drang er ohne Vorwarnung mit einem Stoß in mich ein. Ich wurde nach vorne geworfen und knallte sofort gegen die Wand. Mein Schrei war markerschütternd und hallte an den steinernen Wänden wieder. Blut begann mir über das Gesicht zu laufen, ich hatte eine Platzwunde auf der Stirn. Blut begann mir die Beine herab zu laufen, doch noch bewegte er sich nicht in mir. Er genoss, wie mein Körper zitterte, wie meine Atmung stoßweise ging, weil ich versuchte, die Schmerzen wegzuatmen. Meine Hände waren nach vorne geschnellt, um den Aufprall gegen die Wand abzufangen, doch der bohrende Schmerz an meiner Hüfte erinnerte mich daran, dass das verboten war. Automatisch zuckten meine Arme wieder nach hinten und sofort ergriff er sie und verdrehte sie schmerzhaft, so dass ich wieder aufschrie. Es war einfach unmöglich, diesem hunderfach verstärkten Schmerz nicht nachzugeben. Als mein Schrei abgeebbt war und meine Atmung sich halbwegs normalisiert hatte, begann Balkov sich zu bewegen. Die Qual war unbeschreiblich, wie jedes einzelne Mal zuvor. Mein Gesicht scheuerte über die raue Wand und schnell blutete auch meine Wange. Meine Beine zitterten, so als würden sie jeden Moment zusammenbrechen, doch irgendwie hielt er mich aufrecht. Das hätte ihm auch sonst seinen Spaß verdorben. Jedes Mal war diese Folter endlos, dieser Tag bildete keine Ausnahme. Ich schrie die ganze Zeit, bis ich heiser war, und darüber hinaus. Für diesen Sadisten war es nur ein gelungener Tag, wenn ich keine Stimme mehr hatte und keinen Laut mehr von mir geben konnte. Er hatte es einmal mehr geschafft. Jetzt ließ er es auch zu, dass ich langsam wegdämmerte. Balkov hatte bekommen, was er wollte, da konnte er ein wenig nachsichtiger sein. Als er fertig war, sackte ich regungslos an der Wand zusammen, eine kleine Blutlache hatte sich unter meinem Kopf gebildet, eine wesentlich größere zwischen meinen Beinen. Ich weiß nicht, ob er noch irgendetwas sagte, ich fühlte einfach nichts mehr. Trotzdem weiß ich noch, dass ich mir in diesem Moment - wie eigentlich jedes Mal danach - gewünscht habe, jemand würde mich schnell und schmerzlos töten, damit die Qual endlich ein Ende hatte. Ich bin immer noch da. Kapitel 18: Gefunden 2 ---------------------- Kai erwachte in völliger Dunkelheit und war im ersten Moment vollkommen desorientiert. Er erinnerte sich daran, dass er in das kalte Wasser hinaus gewatet war und danach war da nichts mehr. Nur diese beiden Träume, doch darüber wollte er im Moment absolut nicht nachdenken. Wenn sein Kopf nur nicht so dröhnen würde. Bei jedem Atemzug fuhr es ihm wie ein Messer durch den Kopf. Selbst das Atmen fiel ihm schwer, hier drinnen war es so verdammt heiß und sein Shirt klebte unangenehm an ihm. Dann wurde es ihm schlagartig klar und er ärgerte sich, weil er so ein Idiot war. Das Schwitzen, die Schmerzen in der Brust, die Übelkeit - er hatte sich einfach eine ganz banale Erkältung eingefangen. Und sein kleiner Ausflug in den See hatte es aller Wahrscheinlichkeit nur schlimmer gemacht. Nicht gut, aber immerhin war eines der Rätsel gelöst. Sponn man den Gedanken weiter, dann war wohl irgendetwas am See passiert, vielleicht war er zusammengebrochen oder etwas Ähnliches. Vielleicht hatte ihn Jemand gefunden, ihn mitgenommen - und was dann? Bot man diesem Gedanken zuviel Platz, dann hatte er das Zeug, den absoluten Horror auszulösen - ähnlich wie der Albtraum gerade eben. Allerdings wäre das in der jetzigen Situation nicht gut, denn die tiefen, stetigen Atemzüge neben Kai verrieten, dass tatsächlich jemand bei ihm war. Die Schlussfolgerung hatte gestimmt, aber darüber war er nicht glücklich. Wer es auch war, sie lagen zusammen in einem Bett, er hatte nur die Hälfte seiner Sachen an und es ging ihm verdammt dreckig. Vielleicht sollte er sich aus dem Staub machen; Abstand gewinnen. Vorsichtig befreite er seinen linken Arm aus dem Gewühl aus Decken und wirbelte dabei auch ein paar lange schwarze Haare auf. Schwarz? Bevor ihm noch die Bedeutung klar wurde oder er eine Erklärung fand, fuhr ein Arm herum und legte sich quer über seine Brust. Die kleine Nachtischlampe wurde angeschalten und verschlafen schaute ihn ein Paar goldbraune Augen an. Kai unterdrückte einen Schrei, der zu gleiche Teilen aus Überraschung und Schock bestand. Verdammt, was hatte das zu bedeuten? Was machte Ray in seinem Bett? Oder er in Rays Bett? Spielte keine Rolle. Er war völlig perplex und für ein paar Augenblicke vergaß er beinahe alles: Die Albträume, die Erinnerungen, dass er halb nackt und krank in einem fremden Bett lag. Es zählte nur der warme, vertrauensvolle Blick, der ihm kleine Schauer über den Rücken jagte und ihm den Atem verschlug. Was auch passiert war, es spielte absolut keine Rolle mehr, so sehr hielt ihn dieses Funkeln gefangen. "Hey... wie lange bist du schon wach?" Diese Stimme, wie Karamell, verstärkte das Prickeln um ein Vielfaches. Wie konnte die Situation nur so schnell umschlagen - wann war er Ray nur so verfallen? Das war doch nicht möglich. Sogar das Atmen hatte er vergessen, doch daran hatten ihn seine Lungen schmerzhaft erinnert und der Moment brach. Zischend atmete er ein, doch der Schmerz ließ nicht nach. Krächzend brachte Kai lediglich: "Was - wie?" heraus, der Rest ging in einem Hustenanfall unter. Besorgt setzte sich Ray auf, doch er fand schnell sein Lächeln zurück. Wie konnte er auch nicht lächeln, so wie die Dinge momentan lagen? "Folgender Vorschlag: Es ist zwar erst fünf, aber ich gehe schnell nach unten und mache Frühstück und dann können wir darüber sprechen." Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich, ignorierte den gehusteten Protest und schlich leise nach unten. Dabei begann er wieder zu summen. Seit gestern Abend war ihm einfach ständig danach. Wie auch nicht, wenn er doch so glücklich war. Tyson, Kenny und Max hatten ihn angesehen, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank, als er beim Kochen auch noch angefangen hatte, durch die Küche zu tänzeln, aber das war ihm egal. Manchmal musste man seine Gefühle einfach raus lassen und das war gestern mehr als erfolgreich verlaufen. Manchmal lohnte es sich eben doch, den Mund auf zu machen. Obwohl er sich schon ein bisschen Sorgen machte. Kai sah nicht gut aus und seit gestern Abend hatte sich sein Erscheinungsbild nicht unbedingt verbessert. Trotzdem war es schon süß gewesen, dass er vergessen hatte zu atmen. Das Frühstück war keine große Sache, was zum Teil der Uhrzeit geschuldet war. Ray wollte vermeiden, dass einer der anderen wach wurde, zumindest vorerst. Zumindest nicht, bis er das Gespräch von gestern Abend noch einmal geführt hatte. Zwei Schalen mit Müsli, Tee und ein paar Apfelstücken würden für den Moment sicher ausreichen. Er musste sich selbst ermahnen, nicht zu schnell oder zu stürmisch die Treppe hinaufzurennen, weil er damit entweder jemanden aus dem Schlaf reißen oder Kai erschrecken würde. Als er das Zimmer betrat, stellte er erleichtert fest, dass Kai noch an Ort und Stelle saß, obwohl er zwischendurch aufgestanden sein musste: Er trug jetzt einen dunkelgrünen Kapuzenpullover. Behutsam stellte Ray das Tablett auf den Nachttisch. "Hier, du solltest etwas essen. Und der Tee hilft gegen den Husten, also trink." Zu seiner Verwunderung tat sein Patient auch genau das, war er ihm aufgetragen hatte. Während er sich ebenfalls dem Müsli widmete, nahm er das Gespräch von vorhin wieder auf: "Bevor ich anfange, sollte ich wohl noch zwei Dinge sagen: Erstens: Es tut mir leid, dass ich die letzten Tage so wütend und nervig war. Das war absolut nicht in Ordnung von mir, aber ich habe mir eben Sorgen gemacht. Na ja. Und dann sollte ich wohl erwähnen, dass wir dieses Gespräch bereits gestern Abend geführt haben, aber ich nehme nicht an, dass du dich noch daran erinnerst. Du warst völlig erschöpft und zusammen mit dem Fieber habe ich mich sowieso gewundert, wie du überhaupt wach gewesen sein konntest. Egal." Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ich glaube, du hast vorhin gefragt... 'Was?' und 'Wie?'. Was willst du zuerst wissen?" Sie hatten das Gespräch schon einmal geführt? Kai erinnerte sich dunkel daran, aber das war doch ein Traum gewesen? Einer der Träume, der schöne, bevor er diesen Albtraum gehabt hatte. Ergab das einen Sinn? Falls das der Wahrheit entsprach, wusste er nichts mehr davon, abgesehen von dem positiven Gefühl. Er musste also wieder ganz von vorne anfangen. "Wie bin ich hierhergekommen?" "Ich habe dich am See gefunden, halb erfroren und klatschnass. Ehrlich, was du dir nur dabei gedacht hast. Immerhin hast du nicht versucht, dich umzubringen, also musste ich mir deswegen wenigstens keine Sorgen machen. Du warst leichenblass und damit übertreibe ich wirklich nicht. Ich hab dich hierher getragen, dich in trockene Sachen gepackt und ins Bett gesteckt. Kurz danach bist du wieder zu dir gekommen, aber wie gesagt, ich habe mich gewundert, dass du überhaupt irgendetwas sagen konntest. Du warst vollkommen weggetreten." Ray lachte kurz. "Zum Glück hat dich Tyson nicht gesehen, du weißt doch, er kommt auf die dümmsten Ideen." Er erwähnte dabei nicht, dass er es sowieso nie zugelassen hätte, wenn Tyson sich irgendeinen Spaß hätte erlauben wollen. "Nach unserem - ich nenne es mal 'Gespräch' - bin ich nach unten gegangen und habe Essen gemacht, aber du bist in der Zwischenzeit eingeschlafen. Es waren fast neun Stunden. Ist dein 'Wie?' damit ausführlich beantwortet?" Die Informationen zu verarbeiten dauerte einen Moment. Kai war verwirrt, aber es war nicht mehr ganz so schlimm. Obwohl die Erklärung doch einiges an Fragen aufgeworfen hatte, hielt der Russe sich zurück. Die wichtigere Frage, die, die Ray so nonchalant mit "Was?" umschrieben hatte, war viel drängender. Also nickte er nur und wartete auf den nächsten Teil. "Jetzt also das 'Was?' wie in 'Was hast du in meinem Bett verloren?', ja? Na ja, also, du hast mich gefragt. Ich weiß, du kannst dich anscheinend nicht daran erinnern, doch es ist wahr. Du hast mich gefragt, gleich nachdem du mir, also... Ich glaube, ich fange nochmal von vorne an. Als ich nach dir gesehen und gemerkt habe, dass du doch wach bist, haben wir uns kurz unterhalten. Und plötzlich hast du davon angefangen, dass du mein... also mein Geständnis im Wald gehört hast. Ähm, du weißt schon." Ray machte eine vielsagende Geste und plötzlich verstand Kai, worauf er anspielte. Das unbewusst gemachte Liebesgeständnis da draußen an der Felswand. Das, weswegen er zum See geflüchtet und weshalb er schließlich das Bad genommen hatte. Er nickte, sagte aber nichts. Was gab es darauf schon zu sagen, was konnte er sagen, ohne dass sich eine Katastrophe anbahnte? "Jedenfalls... Mann, ich komme mir wie ein Idiot vor. Als ich gestern darüber nachgedacht habe, wie es wäre, dieses Gespräch nochmal mit dir zu führen, war es in meinem Kopf wesentlich leichter. Ich sage es einfach direkt heraus, sonst schaffe ich es nie, ja? Du hast gesagt, dass du mein kleines Geständnis gehört hast und dass du genauso empfindest wie ich." So, es war raus! Noch konnte sich Ray nicht entscheiden, ob das der schwierige Teil gewesen war oder ob er erst kam. Zu dumm, dass Kai sich an absolut gar nichts erinnern konnte. Vielleicht hatte er gestern Abend gar nicht gewusst, was er da überhaupt gesagt hatte und Ray hatte es einfach nur geglaubt, weil er selbst es so sehr wollte? Wenn sich das Schweigen nur nicht so sehr hinziehen würde. Warum sagte Kai denn nichts, sondern schaute ihn nur so seltsam an? Da war es wieder, das Wunschdenken, das einem den Kopf so lange verdrehte, bis es knackte. Beharrlich nistete es sich in Kais Gedanken ein, zeigte ihm Visionen von einer glücklichen Zukunft, aber er durfte dem nicht vertrauen. Trotzdem wäre es schön, endlich eine Person an seiner Seite zu haben, die vielleicht verstehen würde, was er durchgemacht hatte und immer noch durchmachte. Jemand, dem er voll und ganz vertrauen konnte, der auf ihn aufpassen würde. Einfach Jemanden, bei dem er sich nicht verstecken musste und endlich wieder anfangen konnte, zu leben. Diese Sehnsucht bewog ihn, es einfach zu wagen, obwohl er wusste, dass er diesen Schritt irgendwann bitter bereuen würde. "Ich, ähm... es stimmt." Sofort traf ihn erneut ein feuriger Blick aus goldbraunen Augen. Schon wieder vergaß er zu atmen. Langsam wurde es peinlich. "Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, das zu hören." Ray hatte ebenfalls den Atem angehalten und stieß ihn jetzt schnaufend aus. Eine Glückswelle durchströmte ihn und er konnte gar nicht mehr aufhören zu grinsen. Als er merkte, dass Kai schon wieder vergessen hatte, regelmäßig Luft zu holen, fing er an zu lachen, so befreit, wie seit langem nicht mehr. Der schaute ihn für eine Sekunde grimmig an, dann konnte selbst er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. "Also sind wir jetzt, na ja, zusammen?" Sofort erlosch das Grinsen und Kai wurde wieder ernst. Jetzt kamen sicher wieder die Ausflüchte und auch die hatte Ray gestern Abend schon gehört. "Warte, bevor du etwas sagst. Denk daran, dass wir dieses Gespräch gestern Abend schon hatten. Ich habe mir deine Gründe angehört und sie sind mir egal. Ich will mit dir zusammen sein und du willst es auch, sonst hättest du mich nicht gebeten, bei dir zu schlafen. Lass es uns doch einfach versuchen. Was haben wir schon zu verlieren?" Darauf gab es für Kai viele Antworten: Seine Integrität, sein soziales Umfeld, seinen Stolz. Es war ein so großes Risiko und sollte irgendetwas schief gehen, was dann? Doch hatte Kai wirklich eine Wahl? Sein aufgeregt klopfendes Herz sprach seine ganze eigene Sprache und Rays Anwesenheit hatte es sogar geschafft, die entsetzlichen Kopfschmerzen zu vertreiben. Konnte er dazu nein sagen? Die Antwort war einfach: Nein. "Also, schön. Aber ich -" "Psst." Ray hob beschwichtigend die Hand. "Ich weiß, dass irgendetwas passiert ist, aber wir kriegen das hin, okay? Du brauchst Zeit, das verstehe ich und ich akzeptiere das. Aber bitte hör auf, Ausflüchte zu suchen. Wir werden genau das machen, was du willst - oder kannst. Versprochen. Nur, bitte Kai, ich warte schon so lange auf diese Gelegenheit und ich könnte es nicht ertragen, sie wieder verstreichen zu lassen, ohne es wenigstens probiert zu haben!" "Ich versuche es, okay?" "Mehr will ich gar nicht. Und jetzt iss endlich deinen Müsli auf. Dr. Mikase hat gesagt, du sollst mehr essen und ehrlich gesagt hast du mir vorher auch besser gefallen." Den letzten Satz begleitete ein verschmitztes Grinsen, das Kai schon wieder eine Gänsehaut bescherte. Folgsam aß er sein Frühstück, ohne genau zu merken, was er tat. Als die Schüssel endlich leer war, brachte Ray das Geschirr nach unten und befahl Kai sanft aber bestimmt, sich wieder hinzulegen und sich auszuruhen. Der Chinese tanzte schon wieder und es wurde langsam peinlich. Würde er als nächstes anfangen, ein Ständchen nach dem anderen zu schmettern? Ach, aber er war so glücklich. Er beglückwünschte sich zu dem erfolgreichen Gespräch und diesmal war Kai sogar richtig wach gewesen. Er hatte so einen leichten unwirklichen Eindruck. Er war mit Kai zusammen! Mit Kai! Zusammen! Das würde ihm Niemand glauben. Er dachte an die vielen Fans, die enttäuscht sein würden, sollten sie das je herausfinden - denn er hatte nicht vor, das an die große Glocke zu hängen. Die Presse würde ihnen sowieso schnell genug auf den Keks gehen, wenn sie erst einmal herausgefunden hatten, dass Kai wieder im Land war. Nein, das war ihr kleines Geheimnis und das würde er gut hüten, so viel war sicher. "Sieh ihn dir an, tanzt hier rum mit einem Grinsen, wie eine Katze im Sahnetopf. Darf man dir - oder besser euch - endlich gratulieren?" Fast hätte Ray vor Schreck die Tasse fallen gelassen, denn Tyson und Max standen im Türrahmen und sahen ihn begeistert an. "Ich will alle Einzelheiten hören. Wer hat den ersten Schritt gemacht? Du oder er?" Tyson schwang sich lässig auf einen Stuhl und sah Ray absolut interessiert an. Der schaute auf die Uhr - es war sehr ungewöhnlich, dass die beiden Japaner so zeitig wach waren - und stellte dann erstaunt fest, dass es bereits kurz nach 8 war. Sein Gespräch hatte sehr viel länger gedauert als gedacht. "Was? Wie? Ich weiß gar nicht, was du meinst." Abwehrend hob er die Hand, doch seine Teamkameraden ließen sich dadurch nicht beirren. "Ach, jetzt hör doch auf. Wir sind nicht blind, weißt du. Die ganze letzte Woche läufst du mit einer Leichenbittermiene rum und gestern Abend kommst du in die Küche, summend und tanzend und mit einem Grinsen im Gesicht, das seinesgleichen sucht." Max nickte bei jeder aufgezählten Tatsache und versperrte gleichzeitig den einzigen Fluchtweg. Es war ein bisschen unfair, aber er war neugierig und da war ja auch noch die kleine Wette. "Also, jetzt sag schon." "Was ist denn hier los?" Verschwitzt und verwundert hatte sich Kenny der Versammlung in der Küche angeschlossen. Wenn sogar Max und Tyson wach waren, war etwas Außergewöhnliches passiert. "Ach, Chef, gut, dass du kommst. Ray wollte uns gerade erzählen, wer von Beiden den ersten Schritt gemacht hat." "Ich weiß immer noch nicht, wovon ihr redet." Irgendetwas musste Ray sich einfallen lassen. Seine Freunde hatten ihn sozusagen festgenagelt, doch er hatte so die leise Ahnung, dass es Kai nicht gefallen würde, wenn er keine fünf Minuten später den anderen davon erzählte. Er musste Zeit gewinnen, um sich eine Ausrede einfallen zu lassen. Er musste sie irgendwie ablenken. Genervt verdrehten die drei anderen Bladebreakers die Augen und plötzlich ließ Kenny die Bombe einfach so platzen: "Warum erzählt ihr nicht erst mal von euch? Max, Tyson?" Den Angesprochenen klappte perplex die Kinnlade runter und jetzt begannen sie ebenfalls zu stammeln. Für einen Moment war auch Ray perplex, doch dann machte es klick. Wenn er so darüber nachdachte, war es so offensichtlich gewesen, dass seine Freunde ein Paar waren, wie hatte er das nur übersehen können? Aber auch das wurde ihm schlagartig klar: Er war so auf Kai fixiert gewesen, dass er für die anderen einfach kein Auge gehabt hatte. Sowas aber auch. "Oh Gott, seit wann weißt du es, Chef?" Tyson hatte zuerst seine Stimme wiedergefunden. "Lass mich überlegen. Ich habe euch mal beim Rumknutschen gesehen nach dem Training, das war so... vor gut einem Jahr? Habt ihr gedacht, dass das keiner mitbekommt? Ich habe nur nichts gesagt, weil Dizzy nicht wollte, dass ich es tue." Entnervt fuhr sich Max durch das kurze blonde Haar und suchte nach Worten. "Wer weiß es noch?" "Ich." Kollektiv fuhren die Köpfe zum Türrahmen herum. Unbemerkt von allen war Kai nach unten gekommen. "Nein," stöhnte Tyson, "Und seit wann weißt du es?" Ihr Captain zuckte mit den Schultern. "Ich habe euch einmal im Abstellraum in der Trainingshalle gehört. Eigentlich ist es ein Wunder, dass es sonst keiner mitbekommen hat. Vorsichtig wart ihr ja nicht." Bei diesen Worten liefen beide synchron rot an, bis Max sich räusperte und seine Worte wiederfand: "Na gut, ihr wisst es jetzt also. Wir wollten nur nicht, dass ihr irgendetwas Seltsames denkt. Es ist damals einfach so passiert und... na ja, was soll ich groß sagen. Wir lieben uns eben und wir fühlen uns großartig dabei." Der Blonde ging zu seinem Freund hinüber, beugte sich vor und gab ihm einen kurzen Kuss auf den Mund. "Jetzt ist es also raus." "Wobei man sagen muss, dass wir uns schon länger überlegt haben, es euch zu sagen, spätestens seit klar ist, dass da zwischen euch auch etwas läuft." Tyson gestikulierte zwischen seinen beiden Freunden hin und her. "Was uns wieder zur Ursprungsfrage zurückbringt: Wer hat denn nun den Anfang gemacht?" Kai und Ray tauschten einen intensiven Blick aus und antworteten dann gleichzeitig: "Kai." "Ray." Der Chinese stieß ein prustendes Lachen aus, das so ansteckend war, dass alle Bladebreakers einstimmten, abgesehen von ihrem Captain, der bloß die Mundwinkel verzog. "Was machst du überhaupt hier unten?" "Ich wollte meine Vitamintabletten nehmen, aber der Tee ist alle." Entschuldigend zuckte er mit den Schultern. "Wenn wir sowieso schon alle hier sind, wie wär‘s dann mit Frühstück?" Gegenüber dieser charmanten und energischen Frage konnten sie nur hilflos den Kopf schütteln und so machten sie sich immer noch lachend daran, das Frühstück zu servieren. Der Rest der Woche verlief für alle wesentlich entspannter. Es gab zwar keine 180-Grad-Wendung und keiner von ihnen war wie ausgewechselt, aber man merkte, dass alle ein wenig entspannter waren. Lediglich am letzten Abend kam ein bisschen Wehmut auf. Die Hütte hatte jetzt für jeden von ihnen eine spezielle Bedeutung und es war schwer, dieses kleine Nest einfach so aufzugeben. Der Alltag würde sie wieder einholen mit allen Problemen und Unannehmlichkeiten, die sie die letzten zwei Wochen einfach hatten beiseite schieben können. Kapitel 19: Alltag 1 -------------------- "Kai, ich bin zu Hause!" Geschafft ließ Ray seine Sporttasche im Flur fallen und mit ihr eine ganze Menge Schnee. Vor zwei Tagen hatte es plötzlich angefangen zu schneien und der Wetterbericht machte den Leuten Hoffnung auf einen ganz und gar weißen Winter. Er kam gerade vom Training und war hundemüde. Kenny hatte ihn ganz schön gequält und ein paar Runden extra laufen lassen. Der Chef hatte in letzter Zeit öfter schlechte Laune und ließ ihn fast bei jedem Training irgendetwas zusätzlich machen. Wenigstens erwartete ihn hier keine leere Wohnung, sondern sein Freund, anders als bei... - ...das war ein böser Gedanke und für einen Moment war er schockiert, überhaupt an so etwas gedacht zu haben. Vielleicht war er doch einfach müder, als er selbst zugeben wollte. "Kai?" Das Wohnzimmer war leer, also war sein Freund sicher wieder in seinem Zimmer. Seit sie aus ihren Urlaub zurückgekommen waren, schloss er sich immer öfter ein. Das beunruhigte Ray, doch wie immer half es wenig, diesbezüglich Fragen zu stellen. Bisher war er der Wahrheit kein Stück näher gekommen. Nun, nicht ganz. Das Einzige, das er bisher erfahren hatte, war so etwas wie ein Name: ER. Das war, als Kai ihm noch einmal gesagt hatte, dass das zwischen ihnen keinen Sinn hatte. Und obwohl er das immer wieder betont hatte, hatte er doch nie einen Grund dafür genannt, bis es ihm mehr oder weniger herausgerutscht war. Danach hatte er das Thema kategorisch abgelehnt und Ray war klug genug gewesen, nicht weiter nachzufragen. Obwohl ihn die Neugier manchmal fast umbrachte. Es war so frustrierend. Irgendwie musste es eine Möglichkeit geben, etwas herauszubekommen. Manchmal, wenn er noch nicht ganz schlief, aber auch nicht mehr ganz wach war, kamen diese Gedanken. Dann dachte er an den Tag zurück, als er Kai am Ufer des Sees gefunden hatte. Den erschütternden Anblick, den beinahe jeder Quadratzentimeter seiner Haut geboten hatte, die Gegenwehr. Das Brandmal, das das ganze Team beim Frühstück danach entdeckt hatte, weil der See sämtliche Farbe weggespült hatte (Kais Erklärung dazu war, dass bei dem Autounfall ein glühendes Stück Metall in sein Gesicht geflogen sei - er hatte bei dieser Erklärung mehr als unwohl ausgesehen). Die Abneigung gegen jeglichen Körperkontakt, das stundenlange Schweigen, die Lichter, die stets überall brennen mussten. So vieles mehr. Die Erklärung für alles schien nah, fast fügte sich alles zusammen - ER, die Verletzungen, das Verhalten. Trotzdem bekam Ray sie nie zu fassen und am nächsten Morgen war die Erkenntnis so weit entfernt wie ein ausführliches Geständnis von Kai. Die Tasche war schnell ausgepackt und Ray schmiss seine durchgeschwitzten Sportsachen in den Wäschekorb, der bereits überquoll. In den letzten Tagen hatte er seinen Teil des Haushalts ein bisschen vernachlässigt, aber jetzt hatte er keine Wahl mehr. Mürrisch schnappte er sich seine Schlüssel und brachte die schmutzigen Klamotten in die Waschküche im Keller des Hauses. Manchmal kam er sich dabei vor wie in einer dieser amerikanischen Serien, nur dass noch nie irgendetwas Weltbewegendes in diesem Keller passiert war. Außerdem hatte er hier viel Zeit zum Nachdenken und das gefiel ihm nicht so gut. Seit knapp einem Monat befand er sich in einem stetigen Gefühlschaos. Den Rest des Urlaubs hatte seine fast euphorische Stimmung angehalten - jeder Tag war schön gewesen, konnte er ihn doch endlich mit Kai verbringen. Sogar das Team wusste Bescheid und hielt bedacht Abstand zu ihnen. Am Abend hatten sie alle beisammen gesessen - Ray und Kai zusammen, aber doch in einem gewissen Abstand, Max und Tyson eng aneinandergeschmiegt und Kenny, der zwar keinen zum Kuscheln hatte, den es aber nicht störte, weil er sich für seine Kameraden freute. Lediglich Kai selbst trübte manchmal die Stimmung. Er war ein wenig zugänglicher geworden, das ja, aber er zog es immer noch vor, allein zu sein. Außerdem schrieb er jeden Tag in diesem Buch. Er war fast manisch gewesen, als er dessen Verlust bemerkt hatte. Obwohl er immer noch ziemlich schwach gewesen war, hatte er darauf bestanden, es zu suchen. Wenigstens hatten sie nicht lange danach suchen müssen und er hatte gleichzeitig erfahren, wie Kai sein Geständnis gehört haben konnte. Seither ließ der Russe das ledergebundene Buch nicht aus den Augen und Ray hatte sich bisher nicht getraut, danach zu fragen. Er hatte seine Worte ernst gemeint - er würde warten, sich zurückhalten, aber es fiel ihm so verdammt schwer. Während Ray den Waschautomaten bestückte, gestand er sich ein, dass er seit Tagen immer unzufriedener wurde. Er wusste, dass man irgendwann die rosarote Brille ablegen musste, aber dass es so schnell passieren würde, schockierte ihn. Wieder musste er sich fragen, ob er die Sache völlig falsch eingeschätzt hatte. Er sollte doch vor Glück strahlen und sein Freund ebenso. Doch die frohe Stimmung war bereits am ersten Tag gekippt. Der Alltag hatte wieder eingesetzt und das bedeutete, dass sie beide ihrer Schulpflicht nachgehen mussten. Erst im nächsten Jahr würden sie ihren Schulabschluss haben; bis dahin galt auch für Weltmeister die reguläre Schulpflicht. Sie gingen beide auf eine internationale Schule im Viertel, die gut zu Fuß erreichbar war. In ihrer Jahrgangsstufe gab es nur zwei Schulklassen, doch sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Ray hatte Glück: seine Klasse bestand zum allgemeinen Erstaunen ausschließlich aus Chinesen. Die Schule achtete darauf, dass gleiche Länder- und Kulturkreise einen Klassenverband bildeten, um politische oder religiöse Spannungen zu vermeiden. Dass ausgerechnet in seinem Jahrgang derart viele Chinesen auf die Schule gingen, war etwas Besonderes. Es waren Kinder von Diplomaten, hochrangigen Politikern oder angesehenen Geschäftsleuten - und er. Trotzdem war sein Verhältnis zu seinen Mitschülern sehr gut. Der Plan der Schule ging in dieser Beziehung gut auf. Kais Klasse war das genaue Gegenteil: Sie bestand ausschließlich aus Japanern, Australiern und Amerikanern - und Kai. Als einziger Europäer hätte er es schon nicht leicht gehabt, dass er aber ausgerechnet Russe war, machte es noch viel schlimmer. Ray wusste nicht, was genau passiert war, denn natürlich redete sein Phönix nicht darüber, sondern fraß auch das in sich hinein. Er spürte aber, dass die Situation sich in den vergangenen Wochen verschärft hatte. Er stand schon wieder vor der Frage, was er tun sollte. Reden würde sicherlich nichts nutzen, aber wie sollte er helfen, wenn er nicht wusste wobei? Als er wieder zurück in der Wohnung war, saß Kai am Küchentresen, ein Schulbuch in der Hand. Auch das war seit ihrer Rückkehr so. Jeden Abend saß er mit irgendeinem Buch da, alle Lampen waren angeschaltet und er holte den Schulstoff nach, den er in den vergangenen sechs Monaten verpasst hatte. Keine angenehme Aufgabe, aber notwendig. Fasziniert beobachtete Ray jedes Mal, wie er es völlig mühelos zu schaffen schien, egal um welches Fach es sich handelte. Konnte er wirklich so viel in so kurzer Zeit allein bewältigen? Nie zeigte Kai deswegen Besorgnis, aber wenn er tatsächlich so empfinden würde, würde er das sicher auch in sich hineinfressen, dachte der Chinese verbittert. Sein Freund hatte sich einfach viel zu lange nur auf sich verlassen und konnte dieses Verhalten jetzt nicht so einfach ablegen. Das verstand er, aber es störte ihn trotzdem. Während Kai sich den Aufgaben widmete, erfüllte Ray den nächsten Teil des Haushaltsplans und kümmerte sich um das Abendessen. Kai aß immer noch zu wenig und falls er in den vergangenen Wochen etwas zugenommen hatte, verschwand das unter den immer noch viel zu weiten Pullovern und Jacken. Trotzdem konnte man ihn kaum dazu überreden, wenn er nicht wollte. Auch das beschäftigte Ray. Manchmal hatte er den Eindruck, dass sein ganzes Leben nur noch daraus bestand, sich um Kai Sorgen zu machen. Schließlich hielt er die Stille nicht mehr aus. "Wie war dein Tag?" "Es ging so." Nun, das war zumindest ein Anfang. Manchmal kam gar keine Reaktion. "Das Training war ganz gut, aber Kenny hat mich schon wieder Extrarunden laufen lassen. Keine Ahnung, was in letzter Zeit mit ihm los ist. Anscheinend versteht er keinen Spaß mehr." Ray plapperte einfach drauf los, eigentlich eher ungewöhnlich für ihn, aber er wollte die unverhoffte Chance auf ein Gespräch nicht verstreichen lassen. "Warum ärgerst du ihn auch?" Tatsächlich legte Kai jetzt sein Schulbuch beiseite und ließ auch den Stift fallen. "Was heißt hier ärgern? Ich wollte einfach nur einen Witz machen und er fährt mich plötzlich von der Seite an. Ich hab doch nur gesagt -" Er versuchte sich zu rechtfertigen, doch sein Freund schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. "Du brauchst nichts sagen, ich kann es mir vorstellen. Ich will nur so viel sagen: Tyson und Max zu bändigen ist schon schwer genug, aber durchaus machbar - für mich. Kenny ist anders. Ich weiß, er macht seinen Job sehr gut, aber er kann es absolut nicht gebrauchen, dass ihr euch ablenken lasst. Also lass die Kommentare, dann bist du hinterher auch nicht so fertig." Für einen Moment staunte Ray nicht schlecht. Die gewohnte kalte Autorität lag in Kais Stimme, streng hatten ihn die mattroten Augen fixiert. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus und es war wie früher, wie damals. Die Flamme loderte wieder; das Abendessen war für den Augenblick vergessen. Als sich ihre Blicke trafen, hätte Ray am liebsten aufgestöhnt. Bisher hatte er diese Augen gruselig gefunden - seltsame Farbe, kein Ausdruck - doch sie glühten so intensiv, dass es unmöglich war, diesem Bann zu widerstehen. Unwillkürlich beugte er sich vor und wunderbarer Weise zuckte Kai nicht zurück, sondern hielt den Blickkontakt, lehnte sich ihm entgegen. Als sich ihre Hände berührten, war es ausgerechnet er, der erschrocken zurückwich und damit den Moment zerstörte. Ungläubig schaute er noch auf die Hand, die blitzschnell wieder unter dem Tisch verschwand, dann in das beschämt gerötete Gesicht. Oh Gott, er hatte es total vermasselt. Abrupt stand Kai auf, nahm seine Schulsachen mit und verschwand ohne ein Wort in seinem Zimmer. Mist! Dabei war ihm die Berührung nicht unangenehm gewesen, er lechzte förmlich danach, endlich berührt zu werden und selbst berühren zu dürfen. Er hatte versprochen, sich zurückzuhalten und er hielt sich daran, obwohl es manchmal sehr schwer war. Und dann bot sich diese einmalige Gelegenheit. Er war manchmal einfach ein Vollidiot. Nachdem das Abendessen endlich fertig war - Reis mit gedünstetem Gemüse und Ray-Spezialsoße - rief er Kai zurück in die Küche, obwohl er kaum Hoffnung hatte, ihn heute noch einmal zu sehen. Man hatte deutlich gesehen, dass seine unbedachte Reaktion ihn verletzt hatte. Ray wartete ein paar Minuten, dann setzte er sich missmutig an den Tresen. Heute war wirklich nicht sein Tag. Er hatte eine Strafarbeit bekommen, weil er im Unterricht nicht aufgepasst hatte, Kenny hatte ihn geschafft und er war emotional noch mehr durcheinander als sonst. Lustlos stocherte er mit der Gabel im Reis umher, als Kai doch noch heraus kam und sich schweigend ihm gegenüber setzte. Während des Essens war die Stimmung gedrückt. Tatsächlich wollte jeder ein Gespräch anfangen, doch trauten sie sich nicht. Letztendlich war es Ray, der zuerst den Mut fand, aber auch sofort unterbrochen wurde. "Kai, ich - " "Sag nichts. Ich... es tut mir leid. Ich hätte nicht, na ja, du weißt schon..." "Ach, red keinen Unsinn. Ich hab mich einfach nur erschrocken, das war alles. Ich bin es schließlich nicht gewöhnt, dass du so ran gehst." Ray zwinkerte verschwörerisch. "Du kannst mich jederzeit gerne wieder anfassen." Ein lautes Klappern zeugte davon, dass Kai gerade die Gabel fallen lassen hatte. Ein leichter Hauch von Rot hatte sich wieder auf seine Wangen gelegt. Eigentlich war es ganz süß, dass er so reagierte. Das zeigte, dass ihm die Sache doch nicht so egal war, auch wenn er die meiste Zeit abweisend tat. Nein, eigentlich war es sogar ein sehr gutes Zeichen. Ray wagte einen Vorstoß. "Was hältst du von einem Date?" "Ein Date?!" "Ja, du weißt schon. So ganz klassisch. Und bevor du schon wieder Einwände hast, hör mir zu!" Beschwichtigend hatte Ray die Hand gehoben um eventuelle Einwände abzuwehren. "Ich kenne da ein Independent-Kino drüben in Bunkyo. Sie zeigen meistens ausländische Filme, Südamerika, Europa, sowas. Samstags haben sie so eine Sneak Preview. Vielleicht sehen wir etwas Gutes, vielleicht auch nicht. Das Beste ist aber, dass dort so gut wie keine Leute sind, zumindest nicht Samstagabend, wenn in Shinjuku und Shibuya die Post abgeht. Wahrscheinlich werden wir die Einzigen sein, obwohl ich nichts versprechen kann. Und falls der Film Schrott ist, ist ein paar Straßen weiter eine kleine Bar. Es ist ziemlich abgeschieden und ich wundere mich, wie sie es schaffen, zu überleben, wo sie doch so wenig Kundschaft haben." Während er erzählte, erinnerte er sich an den einen oder anderen Besuch dort. Dass ebenfalls ein paar Straßen weiter ein lauschiges, sehr unauffälliges, spezielles Hotel war, ließ er lieber unerwähnt. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie es sowieso nicht brauchen und falls doch - nun, zumindest war er dann vorbereitet. "Also, was sagst du?" "Also schön, von mir aus. Aber nur unter der Bedingung, dass wirklich kein Mensch dort ist. Ich... würde es nicht so toll finden, wenn es überlaufen wäre." "Klar, kein Problem. Ich kann es kaum erwarten." Im Nachhinein war der Samstagabend in jeglicher Hinsicht unerwartet verlaufen. Der Tag selbst begann vielversprechend. Bis Mittag mussten sie die obligatorischen Arbeitsgemeinschaften in der Schule besuchen. Das waren die einzigen Kurse, die sie zusammen belegten. Unabhängig voneinander hatten sie sich beide für Vertiefte Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben und waren begeistert, als sie sich in der ersten Stunde getroffen hatten. Heute freute sich Ray sogar darauf, weil sie so heute wirklich den gesamten Tag zusammen verbringen würden. Doch schon während der Stunde war es kaum zu übersehen gewesen, dass die anderen Schüler Kai schikanierten, wo es nur ging. Bisher war Ray die Situation harmlos vorgekommen, doch irgendwie hatte sich der Ton in der vergangenen Woche geändert. Manchmal flogen Zettel zu seiner Bank, was alleine schon seltsam war, wenn man bedachte, wie alt sie alle waren. Sogar eine leere Flasche kam in ihre Richtung geflogen, doch er fing sie ab, bevor sie den Russen, der hinter ihm saß, treffen konnte. Verdammt, die Situation machte den Anschein, jeden Moment zu eskalieren. Wie konnte Kai nur die ganze Zeit so ruhig, so passiv bleiben? Die Erleichterung war groß, als der Tag endlich vorbei war. Auch der Abend ging entspannt los. Sie waren mit dem Taxi nach Bunkyo gefahren, da die Züge und Busse um diese Uhrzeit völlig überfüllt waren. Es hatte wieder geschneit, aber auf dem Weg zum Kino lag der Schnee noch rein und weiß und unberührt, die Luft war frisch und kalt, aber nicht eisig. Es war ein schöner Spaziergang. Das "Aztec" sah schon von außen wie ein typisches Independent-Kino aus. Die Fassade war ein wenig schäbig, in den Schaukästen an der Außenwand waren vergilbte Plakate oder solche, die bewusst so gestaltet waren. Lediglich zwei Filme wurden derzeit beworben. Ray kannte und mochte es. Für Dates war das Kino ideal - selbst wenn man den Film nicht mochte, konnte man hier auf seine Kosten kommen. Meist hatten die Vorstellungen so wenige Besucher, dass ein knutschendes Pärchen gänzlich ungestört war. Und zugegebenermaßen war das Popcorn himmlisch. Schweigend kauften sie die Karten für die Überraschungsvorstellung. Sie waren ziemlich zeitig dran, aber das machte nichts. Wie erwartet war der kleine Saal noch völlig leer und ebenso schlicht gestaltet wie der Rest. Die roten Polster waren abgewetzt, aber bequem. Seit sie in das Taxi eingestiegen hatten, war zwischen ihnen kein Wort gefallen, aber es war keine unangenehme Situation. Ray freut sich einfach, endlich mal aus der Wohnung herauszukommen und etwas mit Kai unternehmen zu können und ging gedanklich den Plan für heute Abend durch. Natürlich würde er behutsam sein, nichts erzwingen, das auf keinen Fall, aber er hatte sich schon vorgenommen, heute einen Schritt weiter zu kommen als bisher. Er war ein bisschen aufgeregt, denn immerhin ging es dieses Mal um Etwas. Seine bisherigen Dates - Damen und Herren gleichermaßen - waren einfach nur ein Zeitvertreib gewesen, eine Möglichkeit, um seine verrückten Hormone zu beruhigen. Noch nie war er mit Jemandem hierher gekommen, für den er sich wirklich interessierte oder an dem ihm mehr lag als nur eine wilde Nacht oder ein wildes Wochenende. Vielleicht hatte er deswegen den Anflug eines schlechten Gewissens, dass er mit Kai ausgerechnet hierhin gekommen war, aber Tatsache war, dass er tatsächlich keinen anderen Ort kannte, wo man so ungestört sein konnte. Obwohl es schon ein wenig peinlich war: Der Kassierer, selbst ein junger Mann, hatte ihn wiedererkannt und ihm mit einem Zwinkern Karten für seinen Lieblingsplatz gegeben. Genau da lag auch das Problem. Das Kino besaß nicht nur normale Sitze, sondern auch breitere, die für glückliche Paare gedacht waren. Ray war sich nicht sicher, wie sein Freund darauf reagieren würde, aber notfalls konnten sie sicher auf andere Plätze ausweichen. Allerdings würde ihn das ziemlich enttäuschen... Wie vorausgesehen blickte Kai skeptisch umher, besonders aber musterte er den Doppelsitz vor sich. Er zögerte, doch dann sagte er völlig unerwartet: "Du wolltest ein Date haben, deshalb würde ich gerne etwas ausprobieren, wenn es dir nichts ausmacht..." Er lächelte schüchtern und löste damit ein Prickeln in Rays Bauch aus. Immer wenn er dieses Lächeln sah, den zurückhaltenden Blick, begann er innerlich zu schmelzen und seine Willenskraft wurde auf eine harte Probe gestellt. Aber natürlich konnte er diesem Blick nichts abschlagen. Ray setzte sich zuerst und wartete dann, bis sein Phönix sich halbwegs bequem dazugekuschelt hatte. Es würde noch eine Weile dauern, bis der Film anfing, aber das würde er auf jeden Fall verschmerzen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)