Verloren und Gefunden von Winterwolke ================================================================================ Kapitel 6: Abflug ----------------- Mit einem unterdrückten Schrei fuhr Kai aus dem Schlaf. Routiniert hatte er sich dabei in seine Faust gebissen, um keinen Laut von sich zu geben. Zwei kleine Narben zeugten von der häufigen Nutzung der Methode. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es bereits Fünf war. In einer Stunde würden sie zum Flughafen aufbrechen und hoffentlich bald aus Russland verschwinden. Leicht schwankend stand Kai aus dem Sessel auf und humpelte ins Badezimmer. Ein ausgiebiger Blick in alle Ecken, dann war er sicher, dass er allein war. Es wurde Zeit, die heutige Verkleidung vorzubereiten. Ohne dass er etwas sagen musste, hatte Mr. Dickenson ihm seine blaue Farbe besorgt und ins Krankenhaus mitgebracht. Die kleine Dose befand sich in einer Seitentasche des Umhangs. Mit zitternden Fingern zog er sie heraus und begann dann mit einem Schwamm, das Blau aufzutupfen. Immer wieder musste er sein Spiegelbild prüfen und er hasste es jedes Mal. Die Ringe unter seinen Augen schienen noch eine Spur dunkler zu sein, aber nach diesem Albtraum war das kein Wunder. Er hatte einmal mehr gegen den Schlaf verloren und den Preis gezahlt. Diesen Traum hatte er am häufigsten und es war der Schlimmste von allen: Die Nacht der Weltmeisterschaft, seine letzte glückliche Nacht als Alter Kai und die erste im Leben des Neuen Kai. Nach dem Auftragen der Farbe verstaute er die Dose diesmal in seiner Reisetasche. Als Nächstes folgten die Handschuhe. Die brauchte er, um die zahlreichen Narben und frischen Schnitte auf seinem Handrücken zu verbergen. Früher hatten seine Armschützer diese Funktion übernommen, aber die Handschuhe waren um einiges bequemer. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, die drei einzeln gegipsten Finger durch die schmalen Löcher zu bekommen. Schließlich war auch das geschafft und der weiße Schal konnte folgen. Vorrangig verdeckte er damit die blauvioletten Würgemale, die ihm Spencer vor einigen Tagen noch zugefügt hatte. Derzeit überlagerten die Flecken die alten Narben, doch bald würden die Schnitte wieder auf seiner Haut leuchten. Er verabscheute den Schal schon immer, aber ähnlich wie die Armschützer, verbarg er seine Haut vor neugierigen Blicken... Das jetzige Outfit erfüllte denselben Zweck, der Umhang komplettierte alles. Gerade als er fertig war, klopfte es auch schon an seiner Zimmertür. Automatisch zuckte er zusammen und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit, die es im engen Badezimmer natürlich nicht gab. Das Zittern setzte ein und Panik flutete seine Gedanken. In allerletzter Sekunde jedoch, bevor er abdriften konnte, übernahm die Vernunft wieder die Kontrolle. Er riss sich zusammen und ein Blick auf den Wecker klärte auch die Situation: Es war kurz vor sechs Uhr und das da draußen an der Tür war sicher nur Mr. Dickenson, um ihn abzuholen. Langsam verließ Kai das Bad mit seiner Tasche, schloss vorsichtig seine Zimmertür auf und spähte in den Flur. Es war tatsächlich der Team-Manager. Er lächelte freundlich. "Guten Morgen, hast du gut geschlafen? Wenn du bereit bist, können wir dann zum Flughafen aufbrechen. Hast du deine Tasche?" Erleichterung machte sich in Kai breit und langsam konnte er sich ein wenig entspannen. Er nickte Mr. Dickenson zu, schaltete alle Lampen im Zimmer aus, setzte die Kapuze des Umhangs auf und trat in den Gang. Die Tasche wurde ihm kurzerhand abgenommen. Schweigend fuhren sie mit dem Fahrstuhl in die Hotellobby. Glücklicher Weise war um diese Uhrzeit kaum Betrieb und eine müde Hotelangestellte checkte beide aus. Als sie im Auto saßen und zum Flughafen fuhren, ergriff Mr. Dickenson das Wort: "Die Anderen werden in einer halben Stunde nachkommen. Die BBA hat uns übrigens ihr schnellstes Flugzeug geschickt. Wir sind also nicht auf einen Linienflug angewiesen und erheblich schneller wieder in Japan. Sobald alle da sind und die Flugkontrollen durchgeführt wurden, können wir sofort starten. Frühstück gibt es dann an Bord." Kai nickte. Besonders toll hatte er die Neuigkeit nicht gefunden, mit vielen anderen, fremden Leuten reisen zu müssen. Ein eigenes Flugzeug und einen unabhängigen Flugplan zu haben, war um Einiges besser. Mr. Dickenson sah seine Erleichterung und stimmte insgeheim zu. Je eher sie Russland verließen, desto besser war es für sie alle. Nach einer knappen halben Stunde Fahrt erreichen sie den Flughafen. Sie kamen ohne Schwierigkeiten durch die Kontrollen (die BBA hatte Kais Pass die letzten sechs Monate aufbewahrt) und bestiegen das geräumige Privatflugzeug des Typs Cessna Citation II48. Der Innenraum war luxuriös eingerichtet; die Sessel waren mit cremefarbenem Leder bespannt und hatten die doppelte Größe als üblich. Sie waren mit Blick auf den vorderen Teil der Kabine rechts und links des Mittelgangs ausgerichtet. Überall sah man helle Holzvertäfelungen und es gab eine große Sitzgruppe, die um einen Tisch platziert war. Der Inneneinrichter des Flugzeugs hatte wirklich Geschmack. Kai musterte die Sessel rechts und links und entschied sich dann für einen Platz ganz hinten. Von dort aus hatte er eine gute Übersicht über den Passagierraum und konnte nicht von hinten überrascht werden. Das war wichtig für ihn, da er sich nicht entspannen konnte, wenn er nicht wusste, was hinter seinem Rücken passierte. Er würde gleich mehrere Stunden auf engem Raum mit vielen Personen "gefangen" sein und schon bei dem Gedanken daran musste er die Panik niederkämpfen. Immerhin war völlig unklar, wie sich seine Teamkameraden verhalten würden. Kai setzte sich und machte sich so klein wie möglich. Er hatte schmerzhaft gelernt, dass es besser war, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gedanklich ging er noch einmal durch, was er vermeiden sollte, wenn er sich nicht verraten wollte: Er durfte nicht ständig zusammenzucken, wenn man ihn ansprach und er durfte nicht anfangen zu zittern, wenn ihn jemand berührte. Der Alte Kai sagte zwar wenig, aber er beteiligte sich wenigstens ab und zu an einem Gespräch. Er hatte lange nicht mehr gesprochen, doch er hoffte, seine Stimme würde halbwegs fest und sicher klingen. Er musste lediglich die Kontrolle behalten, dann würde alles gut gehen. Wie auf ein Stichwort trafen in diesem Moment auch die anderen Bladebreakers ein. Es gab ein wenig Gedrängel an der Eingangsluke, doch dann betraten die vier übrigen Teammitglieder das Flugzeug: Zuerst kam Tyson, der laut gähnend darüber lamentierte, dass sie das Frühstück hatten ausfallen lassen, gefolgt von Max, der versuchte, ihn zu beruhigen. Kenny folgte ihnen kopfschüttelnd. Es war kurz nach sieben Uhr und die beiden machten einen Heidenlärm. Zuletzt ging Ray an Bord, dann wurde auch schon die Tür verschlossen. Wie immer war es eine Offenbarung für Kai, den Chinesen zu sehen, und er prägte sich jedes Detail ein. Das Team war gegen halb sieben vom Hotel abgeholt worden. Die Fahrt zum Flughafen verlief in angeregter Diskussion. Die gestrigen Ereignisse waren aufregend gewesen und sie fragten sich, ob es denn wahr wäre, dass ihr Teamcaptain wieder da war. Ray hatte alle Hände voll zu tun, die Euphorie zu bremsen. Nicht, weil er ein Spielverderber sein wollte, sondern weil zu viel Aufregung für Kai sicher nicht gut war. Erstaunlicherweise legte sich das Thema wie von selbst, als sie am Flughafen ankamen und nicht wie üblich zum Linienflug-Check-In geführt wurden, sondern zum privaten Abflugterminal. Selbst Tyson hielt seinen Mund, als sie in Nullkommanichts durch die Flughafenkontrollen waren und auf den eleganten Privatjet zugingen, die neue Cessna Citation II48 - das schnellste Zivilflugzeug der Welt. Die BBA hatte einen exklusiven Vertrag mit dem Flugzeugentwickler und durfte stets die Prototypen ausgiebig testen. Man hatte zwar vergessen, ihnen die Änderung des Flugplans mitzuteilen, aber das war zu verschmerzen. Ein Flug im Privatflugzeug war viel angenehmer als ein Linienflug. Ray vermutete, dass die Änderung des Flugs vor allem mit Kai zu tun hatte. Das war ganz gut, ein ruhiger Flug war sicher das Beste für ihren Teamcaptain. Allerdings schien auf einen ruhigen Flug keine Aussicht zu bestehen, da Tyson lauthals zu nörgeln anfing: "Was? Wir fliegen los, sobald wir an Bord sind? Was ist Frühstück? Im Hotel sagt man uns, es gäbe am Flughafen was zu Essen und jetzt haben wir gar keine Zeit dafür, weil wir sofort abheben, wenn wir an Bord sind. So eine Gemeinheit! Die BBA will uns wohl verhungern lassen!" Tyson schien sich gar nicht mehr einzukriegen, selbst als Max versuchte, ihn zu beruhigen. So fielen die Bladebreakers laut streitend in den Privatjet ein. Während sich Max und Tyson noch am Eingang balgten, schauten sich Ray und Kenny um. Der Jet war elegant und vornehm ausgestattet. Die cremefarbenen Sessel links und rechts des Mittelgangs sahen sehr bequem aus. Ganz hinten saß ihr Teamcaptain und beobachtete die Szene. Mit einer Mischung aus Glück und Sorge musterte Ray ihn. Kai hatte den Umhang abgenommen und ihn zusammengefaltet auf seine Beine gelegt. Darunter trug er eine schwarze Hose, einen schwarzen Pullover und den weißen langen Schal, der sein Markenzeichen war. Alles schien normal zu wirken, wenn man nicht allzu genau hinsah, aber Ray kannte seinen Captain besser als jeder andere. Kai hatte früher nie langärmlige Kleidung getragen, sondern stets körperbetonte Muskelshirts. Und war es nur der Blickwinkel oder waren die Sachen viel zu groß und zu weit für ihn? Auch der Blick war nicht ganz so cool und desinteressiert, wie es den Anschein haben sollte, sondern es lag eine gewisse Wachsamkeit und Vorsicht darin. Der Eindruck von gestern Abend schien sich zu bestätigen: Das war zwar Kai, aber auch gleichzeitig ein völlig anderer Mensch. Gerade wollte sich Ray einen Platz suchen, als Mr. Dickenson die Streithähne getrennt hatte und nun an alle das Wort richtete: "Guten Morgen. Nachdem Tyson so freundlich ist, seinen Hunger für eine kurze Minute zurückzuschrauben, kann ich euch einige Dinge sagen, bevor wir starten. Ich habe ein paar gute Neuigkeiten und eine kleine schlechte, und weil ja alle sowieso die schlechte zuerst hören wollen, lasse ich euch nicht warten. Wir, also die BBA, hatten noch ein paar kleine organisatorische Dinge zu klären, also werdet ihr, wenn wir angekommen sind, erst mal zu euren Wohnungen gefahren. Morgen früh geht es dann aber wirklich los. Wir haben ein wunderbares kleines Ferienhaus in den Bergen für euch aufgetrieben mit allem, was das Herz begehrt. Ihr habt dann zwei Wochen Zeit, euch zu erholen und zu entspannen, ohne dass euch die Presse oder die BBA nerven wird. Derzeit sind auch keine Wettkämpfe angesetzt. Das nächste Turnier findet erst im März statt, also bleibt euch dieses Mal genug Zeit, euch um die wichtigen Dinge zu kümmern. Jetzt solltet ihr euch aber einen Platz suchen und anschnallen, denn wir heben gleich ab. Sobald wir in der Luft sind, gibt es auch Frühstück." Die letzten Worte waren an Tyson gerichtet, der schon wieder losmosern wollte. Ob aus Gewohnheit, Unbehagen oder Rücksichtnahme, keiner von ihnen suchte sich einen Platz in der Nähe von Kai. Lediglich Ray ließ sich auf den Sessel gegenüber fallen, so dass sie nur durch den Gang getrennt wurden. Aus dieser Position konnte er nicht nur das Flugzeug, sondern auch den Russen beobachten. Kai hatte die Rede stillschweigend verfolgt, doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er hatte Rays besorgten Blick und grübelte nach, was er falsch gemacht haben könnte. Das Team war keine fünf Minuten da und er hatte bereits einen Fehler gemacht und sich nicht wie der Alte Kai verhalten. Anders ließ sich dieser Blick nicht deuten. Doch was? Er hatte sich beherrschen können und war ausnahmsweise nicht zusammengezuckt, als die Vier laut polternd den Jet betreten hatten. Er hatte sich Mühe gegeben, leicht desinteressiert zu schauen, wie er das früher immer tat. Und trotzdem hatte seine Maskerade nicht lange gehalten. Er ging zum wiederholten Mal seine mentale Liste durch, als das Flugzeug abhob. Der Start verdrängte kurzzeitig die Grübeleien, denn der Abflug bedeutete, dass er endlich Russland verlassen würde und damit ein ganzes Stück schwerer für Biovolt zu erreichen wäre. Er würde endlich von Balkov loskommen. Ein kurzer Moment des Glücks durchströmte ihn, doch er hielt sich in Grenzen. Noch waren sie im russischen Luftraum und erst wenn sie in Tokio landeten, würde er sich wirklich entspannen können. Es dauerte eine Weile, bis sie die endgültige Flughöhe erreicht hatten und das Flugzeug stabilisiert war, doch eine knappe halbe Stunde nach dem Start wurde endlich Tysons Wunsch erfüllt und das Frühstück aufgetragen. Freudig versammelte sich das Team um den Tisch und die Sitzgruppe in der Mitte des Gastraumes, als der Ring für den Blauhaarigen freigegeben wurde. Das Frühstücksbüffet ging bereits in der ersten Runde K.O.. Ray schüttelte resigniert den Kopf. In den vier Jahren, in denen sie zusammen bladeten, hatte Tyson noch nie gute Tischmanieren gezeigt. Das würden sie nie in seinen Dickschädel rein bekommen. Seufzend stand er auf. Sein Blick fiel auf Kai, der gedankenverloren aus dem Fenster sah. Was er auch dachte, es schien positiv zu sein, denn ein kleines, feines Lächeln umspielte seine Lippen. Das war gut. Vielleicht würde er ja auch am Frühstückskampf teilnehmen. "Kommst du mit frühstücken?" Die vertraute Stimme riss Kai aus seiner Grübelei. Er drehte sich zum Sprecher um, was sich aber als taktischer Fehler erwies. Sofort zogen ihn die goldenen Augen Rays in ihren Bann. Sie blickten sanft und freundlich, so vertrauenserweckend. Die Frage realisierte er erst Sekunden später und er konnte als Antwort nur hilflos nicken. Natürlich würde er tun, was sein Tiger wollte, solange er ihn nur so anfunkelte. Leicht benommen stemmte er sich aus dem Sessel hoch. Mit dem gebrochenen Bein konnte er nur schwer das Gleichgewicht halten, doch er schaffte es, sich zu stabilisieren, bevor Ray zufassen und ihn halten konnte. Das war Glück, denn auch wenn Kai ihn nicht enttäuschen wollte, hätte er den Gedanken nicht ertragen, von Ray berührt zu werden. Er war noch nicht bereit, jemandem so viel Vertrauen zu schenken. So gingen sie nacheinander schweigend zur Sitzgruppe und ließen sich am Tisch nieder. Die Japaner staunten nicht schlecht, ihren Captain hier am Frühstückstisch zu sehen, doch glücklicherweise sagten sie nichts. Sie warfen ihm aber vereinzelte Blicke zu, die ihn nervös machten. Noch hatte er alles unter Kontrolle, doch sie konnte ihm jeden Moment wieder aus der Hand gleiten. Seine Teamkameraden waren schon fleißig am essen, doch er sah sich unschlüssig um. Es gab ein so großes Angebot an Speisen, dass er sich nicht entscheiden konnte, zumal er nicht wirklich Hunger hatte. An irgendeinem Punkt hatte er das Hungergefühl besiegt gehabt und seitdem war es nicht wiedergekommen. Er aß das, was man ihm hinstellte oder auch nicht. Das war sicher einer der Gründe, weshalb seine Kleidung jetzt wie ein Sack an ihm hing, wenn auch nicht der einzige. Wenn er aber normal sein wollte, dann sollte er auch wie normale Leute regelmäßig essen. Aufgrund der vielen kulturellen Einflüsse, die jedes Teammitglied mitbrachte, war das Frühstück eine bunte Angelegenheit. Es gab Maultaschen, Reissuppe, Pancakes und aus irgendeinem Grund stand besonders Kenny auf traditionellen russischen Milchbrei, etwas, das Kai nie verstanden hatte. Er verabscheute diese "Spezialität" seit seiner Kindheit mit Leidenschaft. Daneben gab es die üblichen Dinge: Marmelade, Toast, Cornflakes und Joghurt. Kai kapitulierte schließlich und entschied sich für Joghurt, etwas, das sie alle gerne aßen. Vorsichtig löffelte er seine Schüssel aus. Er wusste gar nicht, wann er überhaupt zuletzt so etwas gegessen hatte. In der Abtei sicher nicht, aber davor vielleicht? "Seit wann isst DU denn Joghurt?" Die polternd formulierte Frage kam natürlich von Tyson und riss Kai aus seinen Gedanken. Verdammt! Das war wohl auch nicht normal für ihn? Die erstaunten Gesichter seiner Teamkameraden, die sich hastig wieder den eigenen Tellern zuwandten, sprachen Bände. Lediglich Tyson schaute ihn immer noch herausfordernd an und wartete auf eine Antwort. Kai legte alle Coolness und Abgeklärtheit in seinen Blick, schaute den Blauhaarigen kalt an und zuckte mit seinen Schultern. Eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein. So viel zu der Vorstellung, er könnte den Anderen etwas vormachen. Er focht ein stummes Blickduell mit Tyson aus, der mit der Antwort nicht wirklich zufrieden war, dann aber ergeben den Kopf senkte und wieder zur Fütterung zurückkehrte. Genervt schob Kai seine Schüssel beiseite. Er hatte sowieso keinen Hunger gehabt und der kleine Zwischenfall hatte sein Übriges getan. Jetzt hatte er wenigstens Zeit, sein Team genauer zu beobachten. Sechs Monate waren eine Menge Zeit und so wie er sich verändert hatte, hatten auch sie das getan (wenn auch vielleicht nicht so gravierend wie er). Kenny besaß einen neuen Laptop, den er wie jeden Morgen mit an den Tisch gebracht hatte, damit Dizzy nicht so allein war (oder war es umgekehrt?). Er schien ein Stück gewachsen zu sein und seine Brille war verändert - allerdings waren die riesigen Gläser geblieben. Von Mr. Dickenson hatte er erfahren, dass Kenny die Leitung des Teams übernommen und seine Aufgabe mit Bravour gemeistert hatte. Das war gut, denn Kai wusste wirklich nicht, ob und wann er sich dem Training wieder widmen würde. Max hatte die größte Veränderung durchlaufen. Er war nicht nur plötzlich der Größte in der Mannschaft, seine Wuschelfrisur war einem Kurzhaarschnitt gewichen. Dazu passten die muskulösen Arme und der breite Oberkörper erstaunlich gut. Wie hatte der brave kleine Halbjapaner zu diesem gewöhnungsbedürftigen Aussehen gefunden? Tyson hingegen sah fast wie immer aus. Seine Diät, die er jeden Monat aufs Neue anfing, hatte, wie zu erwarten, wenig Erfolg gezeigt und er hatte sogar ein bisschen zugelegt, aber der Körperbau verriet, dass ein großer Teil davon Muskeln waren. War das etwa der gute Einfluss von Max oder war es eher andersherum? Auch Ray war kräftiger geworden, doch anders als bei Tyson waren die Proportionen viel feiner und definierter. Während Tyson wie ein Berg wirkte, war Rays Gestalt filigraner und eleganter - eben wie die eines Tigers. Am Tisch hatte sich ein Gespräch entwickelt, doch Kai fiel es schwer, dem Thema zu folgen. Er war zwiegespalten. Er musste wachsam sein, um sich nicht zu verraten. Gleichzeitig fühlte er sich so müde. Er stand ständig unter Anspannung und konnte sich nicht ausruhen. Langsam kam er an seine Grenzen und er hatte keine Ahnung, was passieren würde, wenn er sie überschritt. Im Verlauf der letzten sechs Monate war er zu oft gezwungen gewesen, Grenzen zu überschreiten, doch nun hatte er das Ende erreicht. Würde man ihn zwingen, noch weiter zu gehen, wären die Folgen katastrophal, und es fehlte nicht mehr viel. Vielleicht konnte er sich in Japan endlich davon erholen, auch wenn es ein langer Weg sein würde. Noch in Gedanken erhob er sich und humpelte mühsam zu seinem Platz zurück. Kai spürte die Blicke seiner Teamkameraden, versuchte sie aber auszublenden. Auf seinem Sitz rollte er sich so gut wie möglich zusammen, blickte aus dem Fenster und begann seinen aussichtslosen Kampf gegen den Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)