Tribal Soul von MarySae (Das Tor zu deinen Träumen) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Verzerrte bunte Flecken tanzten vor ihren schmerzenden Augen und zwangen sie immer wieder zum Blinzeln. Etwas Dunkles, Schweres lag in der Luft und nahm ihr fast alle Sinne. Überall um sie herum herrschte eine gespenstische Dunkelheit. Eine eisige Schwärze, die nur hin und wieder von blassen Schemen und hellen Flecken unterbrochen wurde, die jedoch keine Form zu besitzen schienen.   Merkwürdige, dumpfe Geräusche mischten sich unter die wabernden Schatten. Klackern und Klopfen. Und so etwas wie ein hohes Zischen, ein Kreischen. Immer wieder. Es kam aus allen Richtungen gleichzeitig und dröhnte unangenehm in ihrem Kopf. Ein muffiger Geruch lag in der Luft. Es kam ihr vor, als gäbe es überhaupt keinen Sauerstoff an diesem Ort; als müsste sie ersticken. Ihr Atem ging flach, ihre Lunge verkrampfte mit jedem verzweifelten Atemzug. Hunderte verschiedene Düfte und Gerüche schienen ihre Sinne komplett zu vernebeln. Doch trotz der Vielfalt gelang es ihr einfach nicht auch nur einen von ihnen irgendetwas Bekanntem zuzuordnen.   Ihr Körper war so seltsam schwer. Kaum ein Muskel reagierte auf ihre Befehle. Sie wollte sich umsehen, begreifen, was gerade um sie herum passierte und wo sie eigentlich war, doch sie konnte sich keinen Millimeter bewegen. Alles war so träge, so gefühllos. Nur ein stechender Schmerz, der pulsierend durch ihren Körper jagte, drang bis in ihr Bewusstsein vor und sie spürte etwas Heißes auf ihrem Rücken. Wie eine Flamme, die sich sekündlich über sie ergoss. Sie wollte schreien, den Schmerz beenden, doch alles an ihr war so unangenehm taub. Selbst die Gedanken schienen so zäh in ihr zu fließen, dass sie nie irgendwo ankamen. Immer wieder versuchte sie ihren Kopf zu heben, der ihr plötzlich viel zu schwer für ihren zierlichen Körper erschien. Sie wusste nicht, ob sie saß, stand oder vielleicht sogar lag. Alles um sie herum war in unerreichbare Ferne gerückt und ihr Gehirn weigerte sich, aus dem Ganzen schlau zu werden.   Schatten krochen durch die Schwärze und irgendwie glaubte sie, Gestalten darin erkennen zu können. Erneut hob sie ihren Kopf und blinzelte solange, bis der seltsame Schleier in ihrem Blick größtenteils vertrieben war. Seltsame Wesen, vermummt in schwarzen Mänteln, ihre Gesichter von weit heruntergezogenen Kapuzen verdeckt, stoben völlig lautlos an ihr vorbei. Ihre Körper schienen sich dabei kaum zu bewegen. Es war fast so, als würden sie über den Boden schweben und diesen überhaupt nicht berühren. Doch das war einfach unmöglich …   Immer wieder stöhnte sie auf, wenn eine neue Woge des Schmerzes ihren Rücken herunter floss und die Hitze in ihrem Inneren weiter anschwoll. Doch trotz des Feuers in ihr drin, überzog eine eisige Gänsehaut jeden Winkel ihres Körpers. Sie wollte sich umdrehen, endlich alles beenden, doch etwas hielt sie am Arm fest. Kalter Schweiß, der von ihrer Stirn perlte, geriet in ihre Augen und ließ die Schemen erneut vor ihr verschwimmen. Mit letzter Kraft drehte sie ihren Kopf zur Seite und bemerkte die spitzen Finger, die sich wie Schlangen um ihren Oberarm schlossen. Doch … es waren keine Finger. Wie die übergroßen Krallen eines Vogels hielten die schwarzen, knochigen Gliedmaßen sie mit aller Kraft an Ort und Stelle. Die scharfen, schuppigen Spitzen bohrten sich schmerzhaft in ihre Haut und hinterließen dort dunkle Striemen. Ein einzelner Blutstropfen schälte sich aus einer aufgekratzten Stelle. Und sie hörte die zweifellose Gewissheit in ihrem Kopf, dass es keine Möglichkeit gab, diesem Wahnsinn zu entkommen.   Ein letzter Schrei entwich ihrer Kehle, als sie plötzlich jegliche Verbindung zu ihrem Körper verlor und die Dunkelheit sich erdrückend über sie legte. Dann war alles ruhig. Kapitel 1: Neonrot ------------------ Es war ein Tag wie jeder andere. Hätte sie zumindest am liebsten gesagt. Aber diese wahnsinnigen Kopfschmerzen, die sie selbst bis in den Schlaf verfolgt hatten, machten es ihr unmöglich überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Mehr als Augenzukneifen und sich stöhnend unter der Bettdecke verkriechen, schien in diesem Moment völlig abwegig zu sein. Und das konstante und nervige Geschrei direkt neben ihrem Bett machte die ganze Situation nicht unbedingt erträglicher.   „Lee, jetzt komm schon! Du kannst doch nicht ewig liegen blieben! Du bist doch sonst nicht so ein Morgenmuffel!“ Schmerz pochte erneut in ihren Schläfen. Hilflos grub sie ihre Finger in das Kopfkissen und hielt die Luft an, bis der Schmerz endlich wieder abebbte. „Eyleen! Jetzt reicht es aber wirklich! Ich gehe gleich ohne dich und dann kannst du zusehen, wie du noch pünktlich zur Uni kommen willst!“ Die Angesprochene ließ ein genervtes Stöhnen hören, wagte es aber trotz der Dringlichkeit in der Stimme ihrer Freundin nicht aus ihrem Bettzeug-Kokon herauszukommen. „Mia, schrei bitte nicht so! Mein Kopf platzt sowieso schon jeden Moment!“ Selbst bei ihrer eigenen flüsternden Stimme antwortete ihr fast berstender Schädel mit einer eigentlich unmöglichen Intensivierung des Pochens. Stöhnend vergrub sie sich noch tiefer in die unendlichen Weiten ihrer Bettwäsche. „Wie spät ist es?“ „Es ist viertel nach sieben und du weißt, dass wir um acht Uhr in der Universität sein müssen! Wir. Kommen. Zu. Spät! Und das wird unseren Professoren so gar nicht gefallen! Erinnerst du dich an letztes Mal? Die Zusatz-Hausarbeit?“ Dies war der erste Fakt an diesem Tag, der sich einen Weg durch die Schmerzen in ihrem Kopf bahnte. Wenn sie nicht sofort aufstünde, würden sie tatsächlich zu spät kommen und das würde wieder ein großes Chaos verursachen!   Mit einem gefluchten „Mist!“ schlug die junge Frau widerwillig die Bettdecke nach hinten und schwang ihre Beine über die Bettkante. Wie erwartet blickte sie sogleich in die schokoladenbraunen Augen ihrer besten Freundin, die natürlich schon vollkommen fertig bekleidet und für die Uni vorbereitet war. Die langen, schwarzen Haare fielen ihr weich den Rücken hinab, das weite schwarze Oberteil mit den lila Streifen und die graue Leggins schmeichelten ihrer Figur und die Brille verlieh ihr wieder diesen – wie Eyleen fand – intelligenten Ausdruck. Mia war alles, was Eyleen immer hatte sein wollen. Verantwortungsbewusst, schlau und für ihre 19 Jahre schon extrem reif. Auch, wenn sie selbst nur zwei Jahre jünger war, kam sie sich neben ihrer Kindheitsfreundin immer vor wie ein kleines Mädchen. „Einen Kaffee, bitte. Mit extra starker Kopfschmerztablette. Ich gehe duschen. Bin sofort da.“ Sich den Schlaf aus den Augen reibend, schlurfte sie aus ihrem kleinen Zimmer und bog nach rechts in das Badezimmer ab. Ungeschickt schälte sie sich aus ihrem Schlafanzug, ließ diesen achtlos auf die weißen Fliesen fallen und nur einen Moment später prasselte bereits das heiße Wasser der Dusche auf sie ein.   Sofort fiel ein großer Teil der Anspannung von ihr ab, die ihren Körper die ganze Nacht festgehalten hat. Eine merkwürdige Spannung, die ein ungutes Gefühl in ihrem Magen hat wachsen lassen, das sie selbst durch den Schlaf hatte spüren können. Das war definitiv eine von den Nächten, die man am besten schnellstmöglich wieder vergessen sollte.   Nachdem sie sich gründlich (aber schnell) gewaschen hatte, verließ sie die Dusche sofort wieder. In wenigen Minuten hatte sie sich abgetrocknet und war bereits in ihre Kleidung geschlüpft. Eine einfache dunkelblaue Jeans, ein rotes T-Shirt und eine zur Hose passende, halblange Jeansjacke, die sie gerne als Ersatzpullover benutzte. Das war bei den kalten Temperaturen dieses viel zu nassen Frühlings zwar ein wenig gewagt, aber etwas in ihr hoffte so den Sommer, oder wenigstens den warmen Teil des Frühlings, endlich hervorlocken zu können. Bevor sie das Zimmer verließ, warf sie noch einen letzten Blick in den Spiegel. Die leicht gewellten, schulterlangen dunkelblonden Haare glänzten noch ein wenig feucht im Licht der Badezimmerlampe. Meerblaue Augen blickten ihr ein wenig erschöpft entgegen und ihre helle Haut war irgendwie noch blasser als sonst. Aber alles in allem war sie vorzeigbar, fand sie. Zumindest für die Rekordzeit, in der sie sich fertig gemacht hatte. Nicht mal zehn Minuten! Sie war schon beinahe etwas Stolz auf sich!   Sie schlüpfte durch die Holztür und lief in die Küche, die sich gleich schräg gegenüber befand. Wie sie erhofft hatte, stand bereits eine große dampfende Tasse Kaffee auf dem kleinen Küchentisch und eine bekannte weiße Tablette wartete ebenfalls auf sie. Sie warf ihrer Freundin, die lässig, aber ein wenig verstimmt, an der Küchenzeile lehnte, einen dankbaren Blick zu und machte sich über ihr „Frühstück“ her.   „Mia, jetzt guck mich nicht so an! Ist eben mal passiert“, kam es von der jungen Frau, als sie ihren nun geleerten Kaffeebecher in die Spüle stellte und nach einem Apfel aus der Schale direkt daneben griff. „Wie lange wohnen wir nun schon zusammen?“ Nach diesem Kommentar fiel es ihr schwer sich das Seufzen zu verkneifen. Jetzt fing sie tatsächlich damit wieder an … „Knappe zwei Jahre“, meinte die Blonde, die ohne ihre Freundin anzusehen, in den Flur ging, um sich die Schuhe anzuziehen. Doch die schweren Schritte hinter ihr wichen nicht von ihrer Seite. „Genau! Und seit exakt zwei Jahren muss ich dich in regelmäßigen aus dem Bett jagen, damit wir nicht irgendwo hin zu spät kommen!“ Während Eyleen mit ihren Schnürsenkeln kämpfte, band ihre Freundin ihre langen schwarzen Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammen und nahm die bereits an der Haustür bereitstehende Schultasche in die Hand. Danach stemmte sie ungeduldig in Hände in die Hüfte. „Ja, ja, das weiß ich alles und ich bin dir auch sehr dankbar für alles, was du für mich tust, aber ich mach das wirklich nicht mit Absicht!“ Mit einem schnellen Handgriff schnappte sie sich ebenfalls ihre Tasche, zwängte den Apfel durch deren schmale Reißverschlussöffnung hinein, und huschte zur Tür. „Und du machst das doch sehr gut! Bis jetzt haben wir es eigentlich immer pünktlich geschafft! Na ja, fast“, meinte sie lächelnd, als sie im Hausflur darauf wartete, dass die Schwarzhaarige die Haustür abschloss. Diese seufzte, doch nicht ohne, dass ihre Mundwinkel ein klein wenig zuckten. „Eine tolle beste Freundin hab ich mir da angelacht!“ Nun war das Lachen klar und deutlich in ihrer Stimme zu hören, auch, wenn sie sich Mühe gab, es bloß nicht auf ihrem Gesicht zu zeigen. „Selbst schuld!“ Plötzlich lag ein entspanntes Lachen in der Luft, wodurch selbst die Kopfschmerzen auf einmal unwichtig erschienen.   Schnellen Schrittes drängten sich die beiden Freundinnen durch die Menschenmassen, die sich gemächlich über den Fußweg schoben. Männer mit Anzügen und Aktenkoffer und Frauen in Rock und Bluse, deren Pfennigabsätze nervig auf dem Gehweg klapperten. Schon oft hatten sie darüber geflucht, dass ihre Schule ganz in der Nähe eines Industriegebietes lag, in dem es von verschiedenen Bürokomplexen nur so wimmelte. Autos, wohin das Auge blickte, die sich nur langsam über die verstopften Straßen quälten und Fußgängerampeln, die ganz klar den Straßenverkehr den Fußgängern vorzogen. Wer da nicht schnell und risikobereit war, stand gerne mal mehrere Minuten lang an den einzelnen Fußgängerüberwegen. „Was hast du jetzt nochmal?“, brachte Eyleen kurzatmig hervor, als sie geschickt einem im Weg stehenden Bürotypen auswich. „Die Müller. Politische Theorie. Wie jeden Mittwoch um diese Uhrzeit.“ Die Blondine grinste, als sie die kurz angebundenen Sätze ihrer Freundin hörte. Mia war nicht gerade die sportlichste, weshalb sie es umso mehr hasste, sich beeilen zu müssen. „Du weißt, dass ich mir nicht mal meinen eigenen Stundenplan merken kann, geschweige denn deinen. Ich weiß nur, dass wir nach meiner Basis der Volkswirtschaftslehre-Vorlesung eine Runde Makroökonomie zusammen genießen und dann endlich wieder nach Hause gehen können!“ Das Geräusch der Schritte hinter ihr verstummte, was die Blonde innehalten ließ. Tatsächlich hatte Mia sich gegen eine große Backsteinmauer gelehnt, wobei sie schwer atmend die Hände in die Hüfte stemmte. Ihr Gesicht leidend verzerrt. Wahrscheinlich hatte sie gerade nicht unbedingt angenehme Seitenstiche. „Endlich ist gut“ keuchte sie und rollte genervt die Augen. Im Gegensatz zu Eyleen nahm Mia ihr Studium mehr als ernst. Der Traum, einmal Lehrerin an einem Gymnasium zu werden, begleitete sie schon ihr ganzes Leben. Eyleen hingegen …   „Jetzt komm schon! Wir sind doch schon fast da! Ich sollte dich wirklich öfter mit zum Laufen nehmen, damit du endlich mal in Form kommst!“, grinste die Jüngere, die mit dem Thema Kondition bisher noch nie Problem gehabt hatte, und verdrängte die nervigen Gedanken an die Zukunft aus ihrem Kopf. Aber nur, weil sie gut laufen konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie wirklich sportlich war. Alle Sportarten, die mehr verlangten, als nur die Füße zu bewegen, lagen ihr ganz und gar nicht. „Nerv mich nicht.“ Eyleen lachte über die halbherzige Beschimpfung, als Mia möglichst würdevoll an ihr vorbei ging und dabei krampfhaft versuchte ihre Erschöpfung zu überspielen.   Nur wenige Meter weiter betraten sie das – wie beide fanden – eintönige Schulgelände mit dem großen, quadratischen und in Grautönen gehaltenen Hauptgebäude. Nur das Schild, was direkt am Eingang thronte, ließ erkennen, dass das keine alte Militärkaserne war, sondern eine Universität. Drinnen wirkte der ganze Komplex sofort viel angenehmer. Helle Steinfliesen auf dem Boden und verschiedene, bunte Farben an den Wänden, dazu eine weiß gestrichene Galerie, die über Treppen aus dem Vorraum zu erreichen war. Bänke reihten sich an den Wänden und boten den Studenten eine warme Sitzgelegenheit zum Quatschen und Notizen austauschen. Leuchtstoffröhren, die in modern wirkenden Lampenschirmen von der Decke hingen, tauchten alles in ein helles, aber nicht unangenehmes Licht. Die Glaskästen, die die Wände säumten und die Neuigkeiten und Informationen rund um die Universität beinhalteten, wurden wie immer völlig ignoriert. Auch Eyleen und Mia hielten sich hier eigentlich ganz gerne auf. Dieser Ort war immer noch privater, als der Rest des Campus. Ein kurzes Treffen zwischen ihren Vorlesungen war schon zu ihrem täglichen Ritual geworden.   „Dann wollen wir mal …“, murmelte die Blondine ohne große Begeisterung. Mia hingegen schien schon ihre ersten Kommilitonen entdeckt zu haben und winkte ihnen durch den Raum hinweg zu. „Lee, ich muss los. Wir sehen uns später!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte die Schwarzhaarige los und ließ ihre Freundin allein zurück. Sofort ging Eyleen im Meer der Studenten vollkommen unter. Sie war nicht sonderlich beliebt und hatte auch nicht viele Freunde. Im Gegenteil. Die einzige gute Freundin war Mia. Alle anderen duldeten sie bestenfalls. Doch sie wusste, dass es eigentlich ihre eigene Schuld war. Wirklich Mühe, etwas an der Situation zu ändern und Freunde zu finden, gab sie sich nämlich nicht. Aber das war okay so. Sie brauchte nichts und niemanden. So war es schon immer und so wird es auch immer bleiben.   Der Geräuschpegel schwoll rasch an, als sie die breiten Holztüren durchschritt und ihr sofort die leicht abgestandene Luft des Raumes in die Nase kroch. Dutzende Menschen drängelten sich zwischen den schweren Holzbänken und unterhielten sich über alles Mögliche, von dem Eyleen aber nicht ein Wort verstand. Und als sie schon beim Betreten des Hörsaals mit einem neckenden „Hey Goldlöckchen!“ begrüßt wurde, konnte sie einen genervten Seufzer nur mit sehr viel Mühe unterdrücken. „Ah, das Schwänzer-Trio. Auch mal wieder da? Mit euch hätte ich ja im Leben nicht gerechnet!“ Ohne sie groß eines Blickes zu würdigen, quetschte Eyleen sich in eine der bereits gut gefüllten Holzbankreihen und ließ sich auf einem Klappstuhl am äußeren Ende der Sitzreihe nieder. Ihre Jacke und die Tasche ließ sie unachtsam auf den Boden fallen. Sofort schienen die Jungs sich – zufälligerweise – in genau dem Moment überlegt zu haben, sich direkt hinter der jungen Frau auf die letzten drei freien Stühle niederzulassen und dabei einmal – ebenfalls zufälligerweise – mit Schwung gegen ihre Rückenlehne zu stoßen. Das leise Knacken, was ihr Hals bei der abrupten Bewegung von sich gab, ignorierte sie gekonnt. „Wir möchten natürlich auch was in diesem interessanten Fach lernen.“ Natürlich. Und nebenbei noch jeden ärgern, den sie in die Finger bekamen. Heute war wohl mal wieder sie selbst an der Reihe. „Sehr löblich“, meinte die Blonde sarkastisch und tat so, als wollte sie sich noch mal die wichtigsten Informationen des letzten Unterrichtsblocks ansehen. Der Griff in die Umhängetasche erinnerte sie an ihr noch nicht gegessenes Frühstück und widmete sich nebenbei ihrem leeren Magen. Sie hoffte einfach, dass die drei bemerkten, dass damit das Gespräch beendet war. „Wir nehmen unsere Ausbildung eben sehr ernst!“ Wenn die anderen beiden Jungs in diesem Moment nicht wie kleine Schulmädchen gekichert hätten, hätte sie ihnen vielleicht sogar geglaubt. Doch so beschloss sie einfach ihre Ohren zuzuklappen und möglichst laut mit den Blättern in ihrem Block zu rascheln und geräuschvoll ihren Apfel zu essen. „Du kennst uns eben einfach noch nicht gut genug, Eyleen. Wir sind ja auch erst am Anfang des ersten Semesters. Vielleicht sollten wir uns einfach mal etwas besser kennenlernen.“ Ein kalter Schauer huschte bei seinen Worten über ihren Rücken, der nicht der durch ein geöffnetes Fenster gesenkten Raumluft zuzuschreiben war, und sie gab sich Mühe ein Schaudern zu unterdrücken. Sie hatte schon so viele Horrorgeschichten über das Trio gehört, dass sie es auf jeden Fall vorzog, diese nicht persönlich bestätigt zu bekommen.   Als plötzlich die Gespräche um sie herum verstummten und der Professor den Unterricht eröffnete, gab auch Eyleen sich der Ruhe hin und schaltete ihr noch immer pochendes Gehirn ab. Die Kopfschmerzen hatte sie auf dem Weg zur Uni beinahe vergessen gehabt, doch nun schoben sie sich erneut penetrant in den Vordergrund. Die Tablette hatte nicht sonderlich gut geholfen. Oder ihre Wirkung bereits wieder verloren. Beides war möglich. Der ganze Tag verschwamm vor ihren Augen und sie ließ es geschehen. Sie wusste nicht, was ihr Professor in den 90 Minuten erzählt hatte. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie den Hörsaal verlassen und sich mit Mia in einem anderen Raum getroffen hatte. Und auch in dieser Unterrichtsstunde konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Etwas lag ihr schwer im Magen. Irgendwie fühlte sie sich unwohl und … eigenartig. Doch erklären konnte Eyleen sich das alles nicht. Wahrscheinlich lag es an ihren Kopfschmerzen, dass sie sich wünschte, diesen blöden Tag einfach hinter sich lassen zu können. Morgen wäre bestimmt alles wieder normal. So, wie es immer war.   „Hey, Lee. Ich weiß nicht, ob du überhaupt da bist oder ich heute früh doch alleine losgegangen bin und du nur meiner Einbildungskraft entspringst, aber egal was es ist, ich würde jetzt eigentlich gerne nach Hause gehen.“ Beim Klang ihres Spitznamens schreckte die Blondine auf. Ein wenig verwirrt sah sie sich in dem mittlerweile komplett leeren Raum um, bis ihr Blick auf dem Gesicht der Schwarzhaarigen neben ihr hängen blieb. Ihr rechter Ellenbogen stützte sich auf dem Tisch vor ihr ab, damit sie ihren Kopf darauf auflegen konnte. Ruhig sah sie ihrer jüngeren Freundin entgegen. Eine Augenbraue fragend hochgezogen. Außer ihnen waren alle wohl schon längst gegangen und eine angenehme Stille hatte sich über sie gelegt. Es dauerte noch einige Sekunden, bis die Angesprochene verstand, was eigentlich los war. Sogleich entwich ihr ein tiefer Seufzer. „Sorry, Mia. Ich stehe heute einfach irgendwie komplett neben mir. Keine Ahnung warum.“ Das Massieren ihrer pochenden Schläfe brachte leider nicht den gewünschten Erholungserfolg. „Ja, das habe ich bereits bemerkt. Ich kopiere dir nachher meine Notizen. Dann war der Tag für dich wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.“ Ein dankbares Lächeln huschte über Eyleens Gesicht, als sie ihren nicht einmal angefassten Block wieder zurück in die Tasche steckte und sich unter dem Knacken einiger Gelenke erhob. „Was würde ich bloß ohne dich tun?“ Mia lächelte. „Sei froh, dass wir das wohl nie erfahren werden.“   An der frischen Luft fühlte sie sich sofort wieder wacher. Die Kopfschmerzen schienen erneut ein wenig abzuklingen, als der Duft nach Frühling ihre Lunge füllte. Tatsächlich hatten sich die schon seit Tagen über der Stadt hängenden Regenwolken verzogen und der Sonne mitsamt kleiner, weißer und flauschiger Wolken Platz gemacht. Die angenehmen knapp 20 Grad ließen die Blondine ihre Kleiderwahl vom Morgen nicht bereuen. „Ich wusste gar nicht, dass es heute so schön werden sollte!“, kam es von Eyleen, die sich erst einmal genüsslich der Sonne entgegenstreckte. „War auch eigentlich nicht so angesagt.“ Der leicht skeptische Unterton in Mias Stimme ließ sie schmunzeln. Es klang beinahe so, als würde ihre Freundin nur darauf warten, dass in Sekundenschnelle Wolken aufzogen, jemand kurz „Reingelegt!“ ruft und sie plötzlich doch im Regen standen. „Glück gehabt, würde ich sagen. Kann ja auch mal-“ Ihre letzten Worte waren bloß noch ein Flüstern und gingen im Lärm des Berufsverkehrs unter. Ihre Beine wurden schwer, bis sie plötzlich ihren Dienst ganz versagten und sie mitten auf dem Bürgersteig innehielt. Die Menschen, die mit wütendem Gemurmel an ihr vorbei drängten und sie dabei nicht besonders sanft anrempelten, bemerkte sie kaum. Etwas war anders. Etwas, was ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kleiner Laden, dessen neonrote Beleuchtung überhaupt nicht in diese Umgebung aus modernen, farblosen Bauten passen wollte. Seit wann war der hier? Sie kannte doch die Umgebung mittlerweile ziemlich gut! Hatte sie dieses Gebäude jedes Mal übersehen? Doch das konnte sie sich kaum vorstellen. Die Buchstaben TRIBAL schienen sich beinahe in ihre Augäpfel zu brennen.   „Lee? Was ist denn los? Du bist plötzlich so blass. Ist was passiert? Geht es dir nicht gut?“ Da waren diese Worte. Diese Stimme, die sie kannte, direkt vor ihr. Und doch konnte sie ihre Freundin nicht sehen. Ihr Blick lag reglos auf dem kleinen Gebäude, das wirkte, als würde es jeden Moment von den zwei angrenzenden gläsernen Büroriesen zerquetscht werden. So, als hätte es sich einfach unerlaubt dazwischen gedrängt. „Dieses Geschäft … Seit wann …? Woher …?“ Ihre Worte waren leichter als die Luft selbst. Wieso interessierte sie das überhaupt? Wieso konnte sie nicht einfach desinteressiert mit den Schultern zucken und weiter gehen? Warum stand sie immer noch wie angewurzelt auf der Stelle, als hätte sie einen Geist gesehen? „Ein Geschäft? Was denn für ein Geschäft? Außer denselben Büros, die hier schon seit Jahren stehen, ist hier absolut nichts. Sag mal, bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ Eyleen antwortete nicht. Ihr Mund war staubtrocken. Dieses seltsame Gefühl vom Morgen kroch wieder durch ihre Eingeweide und ließ ihren Magen Achterbahn fahren. Immer wieder las sie dieses Wort, sah die durchdringende rote Farbe der Beleuchtung, die schwarz getönten Frontscheiben dieses einfachen Betonklotzes und diese kleine, schlichte Metalltür. Sekündlich wuchs die Anspannung in ihr. Etwas zog sie in diese Richtung, etwas Starkes und Mächtiges. Etwas … Unnatürliches. Etwas, dem sie nichts entgegenzusetzen hatte.   Plötzlich verstummten alle Geräusche um sie herum und es war, als wäre sie ganz alleine auf der Welt. Kein Brummen von Autos, keine Schritte auf bröckeligem Asphalt, keine Stimmen, keine beste Freundin. Ihre Bewegung kam ihr surreal vor. Als würde sie in Zeitlupe laufen. Und dabei lag immer dieses Geschäft in ihrem Blick. Alles andere erschien auf einmal völlig unwichtig. Nur noch eins zählte …   Sie streckte die Hand nach der Türklinke aus und im nächsten Moment war alles Schwarz. Kapitel 2: (Un-)Sichtbar ------------------------ Mit einem Ruck saß sie aufrecht im Bett. Plötzlich war ihr bitterkalt. Ihr ganzer Körper zitterte. Schweiß hatte ihren Schlafanzug getränkt, der nun unangenehm feucht an ihrer eisigen Haut klebte. Die verzerrten Bilder des Traums spukten noch immer durch ihren Kopf, ohne dass sie einen Sinn zu ergeben schienen. Diese Dunkelheit, diese krallenartigen Finger, diese … Schmerzen. Was war das bloß für ein seltsamer Traum gewesen? Und wie war sie überhaupt nach Hause gekommen?   Rastlos wanderte ihr Blick durch das so vertraute Zimmer. Doch plötzlich erschien es ihr, mit seinen grünen und grauen Wänden und den unzähligen Regalen voller Bücher, nicht mehr so gemütlich und sicher wie noch vor einigen Stunden. Die Tatsache, dass irgendwas anders war, bohrte sich wie die Spitze eines Messers in ihren Verstand.   Ruckartig riss sie die zerknüllte Bettdecke von ihr herunter und hechtete aus dem Bett. Die bunten Punkte, die nun vor ihren Augen tanzten, und das unangenehme Schwindelgefühl ignorierte sie völlig, als sie mit großen Schritten aus ihrem Zimmer hechtete und ins Badezimmer verschwand. Die stets in dem kleinen Raum herrschende Wärme, erschien ihr diesmal einfach nicht genug, um den Eisklumpen, zu dem sie über Nacht geworden war, aufzutauen. Die Schmerzen. Sie erinnerte sich sofort wieder an die flammenden Schmerzen auf ihrem Rücken, die einfach nicht abebben wollten, so sehr sie es auch versuchte. Sie war absolut hilflos gewesen und allein der Gedanke daran ließ einen Knoten der Übelkeit in ihrem Magen wachsen.   Unachtsam riss sie sich beinahe das T-Shirt vom Leib, bis sie ihren Körper im Spiegel erkennen konnte. Sie schluckte schwer, als sie sich betrachtete. Soweit sah alles an ihr normal aus. Dieselbe blasse Haut, dieselben blonden Haare. Nur ihre blauen Augen schienen etwas an Intensität verloren zu haben, aber das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein. Doch das panische Flackern, was sie darin entdeckte, war definitiv echt. Wie in Zeitlupe drehte sie dem Spiegel ihren Rücken zu und versuchte dabei über ihre Schulter zu blicken. Sie hatte Angst, dort etwas zu sehen. Sie hatte Angst davor, dass das doch nicht nur bloß ein Albtraum gewesen war … Ihr Herz setzte aus, als ihre Lunge verkrampfte und sich weigerte, weiter zu atmen. Ihre Beine wurden plötzlich weich wie Gummi und nur mit großer Mühe schaffte Eyleen es, sich am Waschbecken festzuklammern und so aufrecht zu bleiben. Sie wollte schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus. Ein schwarzes Geflecht aus Linien zog sich quer über ihren Rücken. Verschnörkelte Linien, die vom Hals abwärts bis zu ihrer Hüfte ihre gesamte Haut bedeckten. Wie die Reste eines wütenden Feuers hatten sie sich in ihren Körper gefressen.   Aber warum? Ein Tattoo? Wieso hatte sie plötzlich ein Tattoo? Dieser Laden … War das etwa ein Tattoo-Studio gewesen? Hatte sie sich wirklich ein Tattoo stechen lassen? Aber sie wollte doch noch nie eins haben! Sie fand diese Dinger noch nicht mal schön! Und warum konnte sie sich an überhaupt nichts erinnern? Wieso war der gestrige Tag wie ausradiert? Und dieser Albtraum … Diese Schmerzen … Waren das etwa Erinnerungen? Hatte ihr jemand etwas Seltsames zu trinken gegeben? Hatte sie deshalb diese Gedächtnislücken? Die Übelkeit in ihrem Magen ließ sie würgen und in diesem Moment war sie sogar froh darüber, gestern nicht mehr als einen Apfel gegessen zu haben. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Erst, als ihre Beine unter ihr nachgaben und sie langsam in sich zusammen sackte, spürte sie die Kälte der Badezimmerfliesen auf ihrer verschwitzten Haut.   So viele Fragen bohrten sich wie Nadeln in ihren Kopf und Angst ergriff von ihr Besitz. Warum konnte sie sich an rein gar nichts erinnern? Was war bloß mit ihr passiert? „Sieh mal an. Schon wieder zurück?“ Von den Worten aus ihrer Starre gerissen, wandte Eyleen ihren Kopf in Richtung Tür. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass diese geöffnet worden war, doch nun hatte ihre Freundin sich im Türrahmen aufgebaut und funkelte sie aus wütenden Augen an. „M-Mia. Ich habe-“, begann sie, doch das verärgerte Schnauben der Schwarzhaarigen ließ sie innehalten. „Spar dir deine Ausreden, Eyleen. Weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir um dich gemacht habe? Erst siehst du Gespenster und siehst aus, als würdest du auf der Stelle umkippen und im nächsten Moment bist du einfach so verschwunden! Hast dich einfach in Luft aufgelöst! Ich habe nach dir gesucht, aber konnte dich nirgendwo finden! Zwei Stunden lang bin ich ununterbrochen durch die halbe Stadt gelaufen, habe mir die Seele aus dem Leib gebrüllt, dir dutzende SMS geschickt und versucht dich anzurufen!“ Mittlerweile war aus dem wütenden Gemurmel lautes Geschrei geworden, was die Blonde zurückzucken ließ. „Und was hast du gemacht? Ich komme nach Hause und du liegst gemütlich in deinem Bett und schläfst! Sag mal, tickst du noch ganz richtig? Macht es dir Spaß mich so fertig zu machen?“ Eyleen konnte nichts anderes tun, als ihren Gegenüber anzustarren. So wütend hatte sie ihre Freundin noch nie erlebt. Aber wie sollte sie ihr sagen, dass sie selber nicht wusste, was passiert war und wie sie nach Hause gekommen war? Es war einfach alles viel zu verrückt! Doch plötzlich drängte sich eine Tatsache wieder in ihren Kopf. „Mia! Ich wollte nicht-! Ich weiß nicht, was-! Mein Rücken! Sieh doch!“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Wenn Mia das Tattoo sah, würde sie wahrscheinlich noch mehr ausflippen! Besonders, wenn sie die Geschichte dahinter hörte! Aber so gab es wenigstens eine kleine Erklärung dafür, wohin sie so plötzlich verschwunden war. „Deinen Rücken? Wieso zum Teufel soll ich mir denn deinen Rücken ansehen? Willst du dich jetzt auch noch über mich lustig machen?“ Eyleen erkannte, dass Mias Blick tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde über ihren Oberkörper wanderte, doch keine Miene verzog sich in ihrem Gesicht. Es war beinahe, als könnte sie das Tattoo nicht sehen. Aber wie bitte sollte jemand diese riesigen schwarzen Linien übersehen können? „Aber nein, sieh doch! Diese Linien-!“ „Pah. Ich habe keine Ahnung, was du mir da für eine Ausrede auftischen willst, also spar dir die Mühe. Ich habe es satt immer als einzige die Vernünftige sein zu müssen! Sieh halt zu, wie du von nun an allein zur Uni kommst!“ Mit einem lauten Knall schloss sich die Badezimmertür hinter der Schwarzhaarigen und Eyleen war plötzlich wieder allein.   Wie lange sie die geschlossene Tür schon anstarrte, wusste sie nicht. Selbst das Kribbeln ihres mittlerweile eingeschlafenen Beines war kaum mehr als eine unwichtige Ahnung im Hintergrund. Sie hatte das Gefühl, als ob ihre Welt auseinander brach. Seit dem gestrigen Tag schien plötzlich alles schief zu laufen. Sie hatte einen kompletten Filmriss und wusste nicht warum, ihre beste Freundin war so sauer auf sie, dass sie vielleicht nie wieder mit ihr sprach, und über ihren gesamten Rücken zog sich ein riesiges, ungewolltes Tattoo. Tränen sammelten sich in ihren Augen und sie hatte nicht die Kraft, sie zurückzuhalten. Das Zittern ihres Körpers wurde stärker, als sie nun auch noch von regelmäßigem Schluchzen durchgeschüttelt wurde. Mit sehr viel Mühe entledigte die Blondine sich ihrer übriggebliebenen Kleidungsstücke und zwang ihr eingeschlafenes Bein, sie unter die Dusche zu bringen. Als das eigentlich viel zu heiße Wasser nun über ihre Haut strömte und den Angstschweiß von ihr abwusch, sackte sie erneut in sich zusammen und ließ den Tränen freien Lauf.   Sie wusste, dass irgendwas nicht stimmte und das ging weit über einen schlechten Tag hinaus. Sie spürte, dass das keine Kleinigkeit war, um die sie sich sorgte. Nein. Etwas steckte dahinter. Etwas, was sie einfach nicht beschreiben oder gar erklären konnte und noch weniger verstand. Irgendwas war mit ihr passiert. Tief in ihr drinnen schien etwas Unbekanntes zu brodeln und das machte ihr mehr als bloß Angst. Die Eyleen, die dort drinnen hätte sein sollen, war plötzlich nicht mehr zu finden …   Immer wieder wischte sie mit dem Waschlappen über ihren Rücken. Sie wollte es abwaschen. Wollte, dass es verschwand. Doch ihr war klar, dass es nichts nützen würde. Mechanisch richtete sie sich wieder auf und verließ die Dusche. In diesem Moment war sie seltsam ruhig. Ein Entschluss formte sich in ihrem Kopf, der ihr hoffentlich helfen würde, das alles zu verstehen. Sie wusste, dass das die einzige Möglichkeit war, diesen Irrsinn zu überstehen. Als sie das Bad verließ warf sie reumütig einen kurzen Blick auf das Zimmer ihrer Mitbewohnerin, welches direkt gegenüber von ihrem lag. Wie zu erwarten war die sonst eigentlich immer geöffnete Tür diesmal geschlossen. Erneut spürte sie Anfänge von Tränen in ihren Augen brennen, doch sie schluckte sie mitsamt dem Kloß in ihrem Hals herunter.   Als Eyleen ihr Zimmer betrat, hatte die Sonne sich einen Weg durch die hellgrauen Gardinen gebahnt und verzerrte Muster auf den Laminatboden gezeichnet. Die Kälte begann sich in ihrem Körper hochzuarbeiten, als ihre nackten Füße kleine, beinahe unsichtbare Abdrücke auf dem Holzboden hinterließen. Schnell fischte sie sich eine dunkelblaue Jeans, ein graues T-Shirt, einen violetten Kapuzenpullover und alles, was sie sonst noch benötigte, aus dem Schrank, und zog sich an. Ein wenig verwundert bemerkte sie, dass ihre Straßenschuhe direkt neben ihrem Bett standen. Normalerweise zog sie diese immer im Flur aus, um den Dreck von Draußen nicht mit in ihr Reich zu schleppen, aber sobald ihr einfiel, was der Grund dafür sein musste, verdunkelte sich ihr Blick und sie verwarf den Gedanken möglichst schnell wieder.   Sie brauchte nur fünf Minuten, um angezogen im Flur zu stehen. Die leichte, schwarze Jacke, die sie über den Pullover gezogen hatte, war wohl gerade dick genug, um sie vor dem immer noch kühlen Wind zu schützen, ohne sie in der Frühlingssonne zu braten. Als sie sich ihre Tasche um den Hals hängte, warf sie einen letzten Blick auf die Zimmertür ihrer Freundin und vertrieb erneut das unangenehme Gefühl in ihrem Magen. Sie wusste, sie konnte nicht gehen, ohne ihr Bescheid zu sagen. Aber sie wusste auch, dass die Schwarzhaarige jetzt sicherlich nicht mit ihr reden würde. Mit schweren Schritten überwand sie den letzten Meter zu Mias Zimmertür, holte tief Luft und klopfte zaghaft. Die Sekunden vergingen, doch es kam keine Reaktion. Genau wie sie erwartet hatte. Eyleen versuchte gar nicht erst die Klinke hinunter zu drücken, da der Zugang mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verriegelt war. Sie seufzte leise. „Mia? Ich bin kurz weg. Ich bin heute Abend wieder da“, sprach sie leise mit der Tür und hoffte, dass ihre Freundin sie hörte. Nachdem erneut keine Reaktion von der anderen Seite der Wand kam, machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ die Wohnung.   Als die junge Frau nach draußen auf den Gehweg trat, riss sofort ein starker Wind an ihr, der ihre immer noch feuchten Haare sogleich in ihr Gesicht wehte. Sie schloss den Reißverschluss ihrer Jacke und stellte den Kragen auf, um sich wenigstens etwas vor der Kälte zu schützen. Wie erwartet stand die Sonne hoch am Himmel. Der Blick auf die Uhr einer Bankfiliale verriet ihr, dass es schon kurz nach Mittag war. Wie lange hatte sie bloß geschlafen? Trotz des kühlen Windes fror sie nicht. Die Strahlen der Aprilsonne ließen spüren, dass es schon stark auf den Mai zuging. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Sommer endlich den Frühling ablöste.   An diesem Donnerstagmittag war nicht viel los in der Stadt. Die meisten Menschen waren wohl entweder arbeiten oder schon in einer der großen Bürokantinen essen. So fiel es Eyleen leicht den Weg zu ihrem Ziel zu finden. Mit jedem Schritt wuchs ihre Anspannung. Sie hatte es sich genau überlegt: Ein kurzer Gang in das Geschäft, eine einfache Nachfrage und alles wäre gut. Dann wäre klar, was passiert war und was das für ein … Ding auf ihrem Rücken war. Und vor allem, wie sie diese Linien wieder entfernen lassen konnte. Wenn sie jemand damit sah … Das wäre ihr mehr als unangenehm.   Die Blondine bemerkte, wie ihr Gang automatisch immer schneller wurde, bis sie auf einmal rannte. Als sie um die Ecke bog, hätte sie beinahe eine Gruppe Geschäftsmänner umgerannt, die sich nur mit einem schnellen Sprung zur Seite retten konnten. Ihren wütenden Protest ignorierte sie. Gleich würden sich endlich ihre Fragen beantworten und sie konnte sich aufrichtig bei Mia entschuldigen! Sie konnte ihr sagen, wie leid es ihr täte und hoffen, dass sie ihr vergab! Denn es wäre das Allerschlimmste für sie, wenn ihre Freundschaft wegen so etwas zerbrach. Sie waren schon immer mehr als Freunde gewesen. Sie waren wie Schwestern. Und Eyleen hatte ihr so viel zu verdanken. So viel, dass sie es niemals im Leben wieder gutmachen konnte. Und darum würde sie nicht zögern, bis alles wieder so war, wie es sein sollte!   Doch der kleine Funken Hoffnung, der in ihr gekeimt war, wurde sofort wieder von einer Decke aus Fassungslosigkeit und schierer Ungläubigkeit erstickt. Sie wusste, dass es genau hier gewesen war. Hier an dieser Stelle. Aber nun … Dort war kein Geschäft. Da zwischen den beiden Bürogebäuden. Es gab nicht Mal ein Gebäude! Es gab überhaupt gar nichts! Nur ein metallischer Zaun, hinter dem einige übervolle Mülltonnen hervorquellten, und ein Tor, durch das wahrscheinlich Waren an die Unternehmen geliefert wurden. Damit hatte sie die Bestätigung: sie war verrückt geworden. Mia hatte nicht gewusst, wovon sie sprach, als sie ihr das Geschäft zeigte, und sie konnte auch nicht Eyleens panische Reaktion im Badezimmer verstehen. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Hatte ihr Gehirn ihr einen makaberen Streich gespielt? Hatte Mia die ganze Zeit Recht gehabt und sie war wirklich übergeschnappt?   Als zwei junge Frauen plötzlich an ihr vorbei gingen, handelte ihr Körper ganz automatisch. Sie trat einen Schritt nach vorn und blockierte den braunhaarigen Damen den Weg. Diese unterbrachen sogleich ihr Gespräch und sahen Eyleen an. „Entschuldigen sie“ begann sie so ruhig wie möglich. Jetzt hier in Tränen zusammenzubrechen war nicht das, was sie brauchte. „Können sie mir sagen, was mit diesem kleinen Geschäft passiert ist, was sich dort zwischen den zwei Bürogebäuden befunden hatte?“ Mit zitternden Fingern zeigte sie auf den engen Spalt zwischen den Glasbauten und die Damen folgten ihrem Blick. Eyleen bemerkte, wie sie sich einen fragenden Blick zuwarfen, bis eine der beiden das Wort ergriff. „Tut mir leid, aber da können wir ihnen nicht helfen. Soweit ich weiß – und ich arbeite in dem Gebäude dort - “ meinte die Frau mit dem Dutt und deutete auf das rechte Büro „gab es dazwischen noch nie etwas anderes, als den Versorgungsgang für die Kantinen.“ Eyleen nickte bloß mit versteinerter Miene. „Ich verstehe. Trotzdem vielen Dank“, flüsterte sie und trat zur Seite, um die Frauen vorbeigehen zu lassen. Diese warfen der Blondine noch einen kurzen Blick zu und setzten ihren Weg dann fort. Aber nicht, ohne sofort die Köpfe zusammenzustecken und leise miteinander zu tuscheln.   Auf einmal fühlte sie sich leer. Wie eine leere Hülle. Sie wusste nicht warum, doch diese erneute Bestätigung riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Verzweifelt vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. Es fiel ihr schwer sich auf den Beinen zu halten und nicht schon wieder zusammenzubrechen. Sie war sich selbst so fremd. Es war, als wäre sie über Nacht ein anderer Mensch geworden, den sie selber nicht kannte. „Du bist nicht verrückt geworden.“ Eine Stimme hinter hier ließ sie aufschrecken. Mit einer schnellen Bewegung drehte sie sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Zwei junge Männer standen einige Schritte hinter ihr und sahen sie auf eine Art und Weise an, die Eyleen nicht deuten konnte. „Was? Wer…?“, hauchte Eyleen tonlos. Einer der Jungs lächelte beinahe entschuldigend. „Keine Sorge. Du brauchst keine Angst vor uns zu haben.“ Seine Haare waren kurz und schwarz und eine Brille mit dunklem Rand thronte auf seinem Gesicht. Braune Augen, die sie mit einem ruhigen Blick betrachteten, und ein vorsichtiges Lächeln, ließen ihn ein wenig kindlich wirken. Unter der dunkelroten Jacke trug er einen beigefarbenen Pullover und dazu einen blauen Schal, sowie eine schwarze Jeans und lässige Schuhe. Alles in allem machte er einen ruhigen Eindruck auf sie. „Das sagst du zwar, aber sicher wäre ich mir dabei nicht.“ Der andere schien hingegen von einem ganz anderen Kaliber zu sein. Seine eisblauen Augen hatten einen harten, unnachgiebigen Ausdruck und seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er hatte etwas längere, braune Haare, denen er mit etwas Haargel Form eingehaucht hatte. Unter der braunen Kapuzenjacke trug er ein knallgelbes T-Shirt mit Kette und dazu eine dunkelblaue Jeans, sowie braune Schuhe. Ihm war sein Missfallen deutlich anzusehen und das behagte Eyleen noch weniger, als sowieso schon. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Füße automatisch einen Schritt von den zweien weg machten. Ob sie einfach weglaufen und nach Hilfe schreien sollte? „Liam! Hör auf damit! Sie ist sowieso schon völlig fertig!“, beklagte sich der Schwarzhaarige und warf dabei seinem Freund einen bösen Blick zu. Dieser stieß jedoch bloß ein verächtliches „Pah“ aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst jetzt bemerkte sie, wie muskulös sein Oberkörper eigentlich war. Die Jacke und das T-Shirt spannten sich bei der Bewegung und ließen die Ausmaße seiner Muskeln besser erahnen. Er schien regelmäßig zu trainieren. Sie bemerkte, dass sie plötzlich so etwas wie Bewunderung für den Jungen empfand. „Hör nicht auf diesen Miesmuffel. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, glaub mir“, begann der eine erneut mit einer übertrieben freundlichen Stimme und sah dabei wieder Eyleen an. Langsam fühlte sie sich, als wäre sie ein verschrecktes Rehkitz, das man aus einer Falle befreien wollte, und nicht mehr wie ein Mensch. Sie musste sich zusammenreißen, sonst fing der Typ noch an, ihr beruhigend über den Kopf zu streicheln!   Sie räusperte sich kurz, um ihre Stimme wieder etwas zu normalisieren, und straffte ihren Körper. „Mir geht es gut.“ Die Blondine war richtig stolz darauf, wie fest ihre Stimme klang! Und zickig. Das war doch schon mal ein Anfang! „Ich möchte bloß wissen, was hier los ist!“ Sie war nicht schwach, nein. Sie war stark und brauchte nicht bemuttert zu werden! Ihr plötzlicher Stimmungswandel schien den Brillenträger leicht aus der Fassung zu bringen. Eyleen bildete sich ein, die Mundwinkel des Braunhaarigen leicht zucken zu sehen. „Ja… Ja, natürlich. Entschuldige. Also, ich bin Riley und das ist Liam.“ Er zeigte auf seinen etwas größeren Freund, der einmal kurz nickte. Eyleen nickte zurück. „Wir kamen nicht umhin zu sehen, dass es dir nicht so gut geht, also …“ Den Rest des Satzes ließ der Schwarzhaarige, Riley, in der Luft hängen. Er schien mit seinen Worten zu kämpfen. Immer wieder blickte er schüchtern beiseite. Es fiel ihm also nicht leicht mit Fremden zu reden. Sie war da zum Glück etwas schmerzfreier. „Tja. Mein Leben läuft wirklich gerade etwas aus dem Ruder und ich kann mir einfach nicht erklären, warum. Darum würde ich fast sagen, dass es mir tatsächlich nicht so gut geht. Aber ich wüsste gerne, was euch das angeht.“   „Da will man ihr helfen und dann sowas. Unfreundlich ohne Ende.“ Eine weitere Person tauchte aus dem inzwischen kleiner gewordenen Strom aus Menschen auf. Die Mittagspause war wohl fürs erste vorbei und in der Uni liefen noch die Seminare. Außer ihnen vieren war kaum noch jemand zu sehen. Sie stellte sich links neben Liam und verschränkte ebenfalls die Arme vor ihrer Brust. Ein wenig verdattert starrte Eyleen zu ihr hinüber. Die junge Frau war wunderschön. Ihre hellen goldblonden Haare hatte sie zu einer elegant wirkenden Frisur hochgesteckt, sodass die funkelnden, grünen Ohrringe darunter heraustraten. Ihre Augen besaßen eine merkwürdige Mischung aus Grau und Grün, die aber in ihrem filigranen Gesicht mit den wunderschönen, roten Lippen wie zwei funkelnde Edelsteine wirkten. Ihre helle Porzellanhaut war so dünn und rein, dass Eyleen dachte, sie wäre durchsichtig. Auch ihre Figur war beeindruckend. Sie sah aus wie eines dieser Models auf den Zeitungscovern. Oder vielleicht sogar besser. Sie trug ein hellgrünes Top mit Sternchenmuster und darüber ein hüftlanges, durchsichtiges Oberteil und einen braunen Schal, den sie lässig über die Schultern geworfen hatte. Eine leichte weiße Stoffjacke, die genauso strahlend war, wie die gleichfarbige Jeanshose, die an einigen Stellen modisch zerrissen war, schützte sie vor dem immer noch recht starken Frühlingswind. Ballerinas, in der Farbe des Schals, rundeten ihr Outfit ab. Sie hatte bisher selten ein so naturschönes Mädchen gesehen. „Das ist Chloé, Liams ältere Schwester“, stellte Riley den Neuankömmling vor. Geschwister? Die beiden? Eyleen suchte nach Gemeinsamkeiten bei ihnen, doch außer dem verstimmten Blick und der Tatsache, dass sie beide äußerst schön und attraktiv waren, konnte sie nichts weiter entdecken. Sie kamen wohl nach dem jeweils anderen Elternteil … „Darf ich auch fragen wie du heißt?“ Ein wenig verlegen senkte sie ihren Blick. „Ich heiße Eyleen.“ Sie wagte es nicht, den Geschwistern in die Augen zu sehen. Es war ziemlich offensichtlich, dass die beiden sie nicht leiden konnten. Wie auch immer sie das Minuten nach ihrem allerersten Treffen überhaupt beurteilen konnten. „Ein schöner Name“, grinste Riley und die Blondine lächelte verlegen zurück. Das war ihr wirklich unangenehm.   „Da wir dieses rührselige Gelaber jetzt auch hinter uns haben, können wir endlich zur Sache kommen.“ Eyleens Lächeln war innerhalb einer Sekunde wie weggeblasen. Auf einmal erinnerte sie sich wieder, warum sie eigentlich da waren. „Bist du eine von uns, oder nicht?“ Verwundert zog sie eine Augenbraue hoch. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. „Was meinst du damit? Was soll ich sein?“ Liam verdrehte leicht genervt die Augen, ehe er sie mit hartem Blick bedachte. „Na, ein Dämonenjäger.“ Kapitel 3: Geschichten ---------------------- Mit weit aufgerissenem Mund starrte sie den Braunhaarigen aus großen Augen an. Hatte er das eben wirklich gesagt? Hatte er wirklich von Dämonen gesprochen? In diesem Moment fragte sie sich ernsthaft, ob wirklich sie diejenige war, die langsam verrückt wurde. „Bitte was? Dämonen?“ Plötzlich übernahm die Wut, die sich in ihren Eingeweiden gesammelt hatte, die Oberhand. „Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?“ Ihre Wangen brannten und in ihren Augen funkelte der Zorn. Sie war gerade an einem der schwärzesten Punkte in ihrem Leben angekommen und diesen dahergelaufenen Typen fiel nichts Besseres ein, als sie zu verarschen? Geht’s noch? Doch irgendwie schien ihr kleiner Gefühlsausbruch die anderen gar nicht groß zu stören. Chloé rollte genervt mit den Augen, Riley war ein wenig in Deckung gegangen und Liam sah sie einfach reglos weiter an. Aber Eyleen hätte schwören können, dass kurz etwas in seinen Augen aufgeblitzt war. Etwas, was sie nicht deuten konnte. „Du hast nach einem Geschäft gefragt, was scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war und du nur einmal in deinem Leben gesehen hast. Außerdem hat niemand sonst dieses Gebäude mit der Aufschrift ‚Tribal‘ gesehen.“ Eyleens Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war und machte einer entwaffnenden Fassungslosigkeit Platz. Absolut sprachlos starrte sie ihn an. Woher um alles in der Welt wusste er das? „Du hattest das Gefühl, dass dieser Ort plötzlich im Mittelpunkt der Welt steht und dass irgendetwas dich in diese Richtung zieht. Anscheinend bist du dem Ruf gefolgt“, meinte der Braunhaarige und zog wissend eine Augenbraue hoch. „Nach dem gestrigen Filmriss hattest du heute Morgen wohl ein ziemlich unsanftes Erwachen.“   Eyleen traute ihren Ohren kaum. Ein völlig Fremder hatte einfach so ihre letzten 24 Stunden beschrieben, obwohl er nicht dabei gewesen war! Was war bloß los hier? Oder … War er etwa doch dabei gewesen? Sofort fand die Blonde ihre Stimme wieder. „Wart ihr gestern etwa dabei? Was habt ihr mit mir gemacht? Warum erinnere ich mich an nichts mehr? Und was ist das für ein Tattoo auf meinem Rücken?“ Ein merkwürdiger Schatten huschte über die Gesichter der drei Fremden, als sie das Wort „Tattoo“ hörten. Der Schwarzhaarige seufzte tief. „Du hattest also tatsächlich Recht, Liam. Unglaublich, wie du sowas immer so schnell siehst.“ Der Angesprochene zuckte bloß mit den Schultern. „Natürlich lag ich richtig. So stark wie ihre Aura ist, kann selbst ein Blinder sie eigentlich gar nicht übersehen.“ „Und was machen wir jetzt? Spielen wir wieder Kindergarten?“ Chloé schien von Minute zu Minute gereizter zu werden. Mit ihrem rechten Schuh schürfte sie ungeduldig über den Fußboden, was die letzten kleinen Steinchen des vergangenen Winters wieder aufschreckte. „Du weißt, dass wir ihr es wenigstens erklären müssen. Du kennst die Regeln. Wir haben sie zuerst entdeckt, also liegt es an uns, ihr zu helfen.“ Riley war die Nervosität anzumerken, die ihn beschlich, wenn er mit der Blondine sprach. Obwohl sie so zierlich wirkte, schien sie es trotzdem faustdick hinter den Ohren zu haben. „Streber“, zischte sie und Riley schien darüber ein bisschen pikiert. „Ist mir ziemlich egal, was ihr mit ihr macht. Ich habe meinen Teil erfüllt und sie ausfindig gemacht. Lehrer dürft ihr jetzt spielen.“ Noch bevor Liam den Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte er den anderen bereits den Rücken zugedreht und sich einer Gruppe von Studenten angeschlossen, die gerade aus Richtung Universität tiefer in die Stadt ging. Zwei davon begrüßten ihn sofort mit Handschlag und nur eine Sekunde später war er in der Traube der Studenten nicht mehr zu sehen. Chloé schnaubte. „Vergiss es, Riley. Das ist nun wirklich nichts für mich. Such dir jemand anderes!“ Damit schien das Thema auch für Liams Schwester gegessen zu sein und nur einen Augenblick später standen Riley und Eyleen alleine auf dem Fußweg.   Für einige Zeit blieb es still, während sie ein wenig verdutzt dem Geschwisterpaar hinterher blickten, ohne sie zu sehen. Erst durch das laute Seufzen des jungen Mannes, sah Eyleen wieder zu dem einzigen verbliebenen Gesprächspartner. „Okay, dann machen wir das eben so. Wie immer.“ Ein leicht gequältes Lächeln breitete sich auf Rileys Gesicht aus. „Tut mir leid, dass die beiden sich gerade so aufgeführt haben. Wenn man sie näher kennt, sind sie wirklich nette Leute.“ Das war zu viel auf einmal. Plötzlich war die Wut wieder da. „Das ist mir eigentlich herzlich egal, was die zwei sonst für Menschen sind! Bei mir geht gerade alles fürchterlich schief und dann kommen die daher und dann das! Einer guckt mich an, als hätte ich sein Lieblingshaustier überfahren – mehrmals! - und die andere konnte mich schon nicht leiden, bevor sie mich überhaupt das erste Mal gesehen hat! Und dann labert der noch irgendwas von Dämonen – Dämonen! -, nur um sich dann wortlos zu verziehen! Das ist gerade alles, was mich interessiert!“ Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen wusste Riley nicht, ob er sich wegen seiner Schüchternheit verkriechen oder über Eyleens Wutausbruch lachen sollte. Jedenfalls zuckten seine Mundwinkel gefährlich, was er aber mit größter Mühe zu unterdrücken versuchte. Doch er unterbrach sie nicht, solange sie etwas zu sagen hatte.   „Und du?“, fragte die Blondine weiter und stemmte ganz unbewusst die Hände in die Hüften. „Lässt du mich mit diesen blöden Nicht-Informationen jetzt auch alleine hier stehen und lachst dir beim Gehen leise ins Fäustchen?“ Das schien für den jungen Mann das Zeichen zu sein, sich auch mal zu Wort zu melden. „Nein, das werde ich nicht. Ich werde dir alles erklären, so gut ich kann.“ Er lächelte freundlich „Aber ich befürchte das wird eine lange und verwirrende Geschichte. Wir sollten uns lieber ein wenig hinsetzen.“   Das Café war klein, aber sehr gemütlich. Bilder von Blumen und Wiesen säumten die hellgrün gestrichenen Wände. Die Wand am Eingang war komplett verglast und mit Spitzengardienen verhangen. Trotzdem boten die Fenster einen Blick auf die Straße, wo das Café-Personal Blumenkübel mit Pflanzen in allen Farben aufgestellt hatte, um die dort befindlichen Tische ein wenig vor den Blicken des Durchgangsverkehrs zu schützen. Der Tresen, in dem sie unheimlich lecker aussehende Torten, Kuchenstücke und anderes Gebäck aufgereiht hatten, war aus einem dunklen, edlen Holz gefertigt und stach angenehm aus dem Meer aus hellen Ledersesseln heraus. Ein verführerischer Duft von Backwaren hing in der Luft, der jedem beim Betreten des Cafés sofort den Magen knurren ließ. Zumindest, wenn dieser nicht gerade aus anderen Gründen streikte. Eyleen hatte diesen Ort noch nicht gekannt, aber ihn gleich für einen (hoffentlich stattfindenden) nächsten Ausflug mit Mia vorgemerkt.   Aber vor allem war es leer. Außer Riley und Eyleen war nur eine Gruppe aus drei älteren Damen anwesend, die sich im vorderen Bereich nieder gelassen hatten und gemütlich einen Kaffee tranken. Die beiden hingegen saßen in einer Ecke ganz am Ende des Raums, wo sie möglichst weit vom Tresen und der Toilette entfernt waren, um ungestört reden zu können. Die zwei Tassen Kaffee standen bereits vor ihnen, als Riley ein wenig widerwillig zu erzählen begann. „Das, was ich dir jetzt erzählen werde, wird in deinen Ohren einfach unglaublich klingen. Aber du kannst mir glauben, Eyleen, es ist alles wahr. Ich war selbst am Anfang mehr als skeptisch und hab das alles auch nur schwer glauben können. Doch das letzte Jahr war das Verrückteste meines Lebens.“ Als die Blondine nicht darauf einging, fuhr er fort. „Dieser Laden. Das „Tribal“. Jeder von uns hat ihn in seinem Leben schon einmal gesehen. An ganz unterschiedlichen und teils auch verrückten Orten. Und wir alle sind seinem Ruf gefolgt.“ Ganz automatisch lehnte Riley sich über den Tisch und sah Eyleen direkt ins Gesicht. Seine braunen Augen funkelten vor Aufregung. „Weißt du, nicht jeder Mensch kann dieses Geschäft sehen. Nur ganz bestimmte, auserwählte Personen bekommen die Möglichkeit zu wählen und die meisten davon lehnen unbewusst ab. Es ist so, dass das Tribal diesen Menschen einmal in ihrem Leben erscheint. Irgendwann zwischen dem 15. Und 20. Lebensjahr. Er taucht einfach aus dem Nichts auf und scheint diese Person irgendwie zu rufen.“ Er betonte das letzte Wort besonders und Eyleen wusste sofort, was er damit meinte. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, als sie sich an den Moment zurück erinnerte, in dem ihr die Neonbuchstaben aufgefallen waren. Es war, als gäbe es nichts anderes auf dieser Welt. Zögerlich nickte sie. „Wer sich entscheidet, dem Ruf nicht zu folgen, der wird einfach vergessen und nie wieder auch nur daran denken. Wer jedoch den Laden betritt … Jeder erzählt dort eine andere Geschichte. Manche bekommen alles um sich herum mit, andere fallen sofort in Ohnmacht. Es kommt immer auf den Menschen drauf an. Am nächsten Tag jedoch wacht man einfach Zuhause auf, ohne sich an viel erinnern zu können.“ Das mulmige Gefühl in ihrem Magen wurde stärker. „Ich habe… alles nur sehr verschwommen gesehen“, meinte Eyleen leise und fühlte sich sofort an diesen Albtraum erinnert, der anscheinend wirklich kein Traum gewesen war. „Ging mir nicht anders. Dort gibt es Wesen, die keinen Namen haben. Sie haben beinahe … vogelartige Krallen statt Hände und sie bewegen sich völlig lautlos. Nur ihre Berührung spürt man. Und sie brennt wie Feuer.“ Sofort war die junge Frau hellhörig. Das Brennen … Sie erinnerte sich daran. „Was tun denn diese Wesen? Was wollen sie von mir?“ Sie schluckte hart, doch der Kloß in ihrer Kehle ließ sich nicht vertreiben. Er schnürte ihr die Luft ab. „Du hast es doch heute Morgen bestimmt selbst gesehen, erinnerst du dich?“ Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Natürlich. „Die Linien …“, hauchte sie beinahe tonlos und Riley nickte. Er lehnte sich noch etwas weiter über die hellgelbe Tischdecke. „Ja, genau. Dieses Tattoo nennt man „Tribal“. Wie den Laden selbst auch. Tribal ist eine Art der Tätowierung, die aus vielen, schwarzen Linien besteht. Genau so, wie wir es auf dem Rücken tragen. “ Erst langsam begriff Eyleen, was er ihr damit sagen wollte. „Du … besitzt auch ein Tattoo?“ Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. „Genau wie Liam und seine Schwester, ja. Wir alle sind dem Ruf gefolgt und tragen nun das Zeichen auf unserem Rücken. Das Tattoo, was diese Wesen mit ihren krallenartigen Fingern direkt in unsere Haut tätowieren. Und nur andere Tätowierte – wir nennen uns Tri's - sind in der Lage, es überhaupt zu sehen. Aber das ist noch längst nicht alles.“ Er lehnte sich ein Stück zurück und nippte an seinem Kaffee. Sein Blick schien sich auf einen fernen Punkt zu konzentrieren, den Eyleen nicht sehen konnte.   „Das Tattoo ist aber noch nicht vollständig“, erklärte er weiter. „Es ist nämlich so, dass sich das Tattoo im Laufe des Lebens erweitert. Selbstständig.“ Langsam wurde es wirklich zu abstrus. Wollte er ihr ernsthaft weiß machen, dass sich ein Tattoo ohne Tätowierer selbst erweitert? Wie sollte das denn bitte möglich sein? Riley spürte ihre Ungläubigkeit und zuckte kurz mit den Schultern. „Es ist wirklich so, glaub mir. Keiner weiß genau, wie das funktioniert, aber es tut genau das. Bis zu fünf Erweiterungen kann es geben, auch wenn nur wenige diese Zahl erreichen. Man sagt, dass die zusätzlichen Tattoos die herausragenden Wesenszüge des jeweiligen Menschen symbolisieren. Deshalb gibt es auch keine zwei gleichen Exemplare, auch wenn das Grundgerüst immer dasselbe ist.“ „Das klingt zu verrückt“, Eyleen stöhnte. Plötzlich meldeten sich die Kopfschmerzen wieder zurück. Sie ließ ihren Kopf in die auf dem Tisch aufgestellten Hände sinken und rieb sich die Stirn. Ihr Blick lag auf der pastellfarbenen Tischdecke. „Wie soll das funktionieren? Und warum das alles? Das klingt wie … Magie und es gibt keine Magie.“ „Ist es wirklich Magie? Ich weiß es nicht. Ich konnte es selber lange nicht glauben. Aber die erste Erweiterung kommt sogar schon nach den ersten 24 bis 48 Stunden. Wenn du es selber siehst, wirst du es mir wahrscheinlich glauben können.“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Verrückt. „Ich selber besitze bisher zwei zusätzliche Symbole: Ein Pi-Zeichen, was wohl dafür steht, dass ich sehr gut in Mathe bin oder allgemein sehr viel weiß - intelligent bin -, und ein japanisches Symbol für Freundlichkeit und Vertrauen. Ich bin und bleibe eben ein computerverrückter Nerd.“ Seine Stimme war gen Ende hin plötzlich sehr leise geworden und ein leichter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen. Beschämt wandte er sich ab und sah sich erst mal in dem inzwischen komplett leeren Café um. Noch einmal nippte er an seinem Kaffee. „Na ja, niemand kann genau sagen, für was die Symbole stehen. Nur der jeweilige Träger scheint sich so gut einschätzen zu können, um das Geheimnis hinter der Symbolik deuten zu können. Trotzdem kann ein und dieselbe Eigenschaft bei verschiedenen Menschen andersartige Zeichen besitzen. Zum Beispiel habe ich schon einige Leute getroffen, die völlig unterschiedliche Bilder für die Eigenschaft Mut besaßen. Einen Löwen, zum Beispiel, oder eine Rune, wie Liam sie trägt. Oder sogar das Wort selbst. Wie gesagt, es gibt keine zwei gleichen Tattoos auf der Welt. Jedes ist für sich einzigartig. Wie ein Fingerabdruck.“   „Das ist einfach verrückt“, murmelte Eyleen durch ihre dunkelblonden Haare hindurch, die sich mittlerweile vor ihr Gesicht geschoben hatten. Wie oft hatte sie dieses Wort an diesem Tag eigentlich schon gesagt? „Ja. Ja, das ist es“, stimmte Riley ihr zu und seufzte leise. „Aber das ist bei weitem noch nicht das Verrückteste.“ Einen kurzen Moment blieb es still. Er suchte wohl nach den richtigen Worten. Eyleen sah jedoch nicht auf. „Du hattest mich gefragt, warum das alles, nicht wahr? Natürlich hat das auch einen bestimmten Grund. Sogar einen ziemlich gefährlichen …“ Er seufzte erneut. „Du hast doch sicherlich schon mal im Fernsehen von Menschen gehört, die abgrundtief Böses getan haben. Und du hast garantiert auch schon den Satz gehört, dass kein Mensch von Geburt an böse ist, stimmt’s? Und genauso ist es. Liam hatte doch vorhin das Wort Dämon erwähnt, du erinnerst dich? Und, so verrückt es auch klingen mag, es gibt sie wirklich. Sie leben sozusagen unter uns. Wir konnten sie bisher nur nie sehen.“ Das war das Stichwort für Eyleen aus ihren Haaren aufzutauchen. Plötzlich lag ein harter Ausdruck in ihren Augen. „Das Thema wieder? Erst erzählst du mir von Vogelmenschen, die mit ihren Fingern tätowieren, dann sagst du, dass diese Tattoos sich von Zauberhand selbst erweitern, wenn sich eine bestimmte Eigenschaft herauskristallisiert und dann soll ich auch noch glauben, dass es Dämonen gibt? Ich glaube, langsam hast du mir genug Schwachsinn erzählt. Ich sollte wohl besser gehen.“ Noch bevor sie sich ganz von ihrem Stuhl erhoben hatte, war Rileys Hand bereits nach vorne geschnellt und umfasste nun ihren Unterarm. Ein wenig verwirrt sah sie ihn an. Sein Gesicht war trotz all der Märchengeschichten tot ernst. Ein Flehen lag in seinen Augen. Das Flehen, dass sie ihm doch glauben sollte. Eine Tatsache, die die Blondine sich zum wieder Hinsetzen bewegte. Sofort zog der Schwarzhaarige seine Hand zurück. „Eyleen, ich weiß, wie abartig das alles klingt! Und ich weiß auch, dass du mir das alles gar nicht glauben kannst! Jeder vernünftige Mensch würde an meinen Worten zweifeln und alles als Humbug abtun! Aber bitte, hör mir bis zum Ende zu. Du wirst später merken, dass ich die Wahrheit sage!“ Einige Minuten verstrichen, in denen sie sich bloß schweigend ansahen.   Erst, als die Kellnerin plötzlich an ihrem Tisch stand, tauchten die beiden aus ihren Gedanken auf. Mit einer flüssigen Bewegung nahm sie Rileys leere Tasse hoch und lächelte ihn freundlich an. „Darf es noch etwas sein?“ Riley lächelte zurück. „Ja, bitte noch einen Kaffee und dazu ein Teller mit diesen kleinen, belegten Baguettes.“ Die Kellnerin nickte, sodass ihr schwarzer Haardutt bei jeder Bewegung mitschwang. „Kommt sofort.“ Nach nur gut zwei Minuten war sie bereits wieder am Tisch, um das Bestellte abzuliefern. „Lassen sie es sich schmecken!“ Sie lächelte erneut ihre Gäste an und verschwand wieder hinter den Tresen. „Bedien dich ruhig, die sind lecker!“, meinte Riley, als er sich ein kleines Lachsbaguette nahm und genüsslich hinein biss. Wie auf das Stichwort begann nun Eyleens Magen zu rebellieren, was sie aus ihrer Starre holte. Sie folgte dem Angebot ihres Gegenübers und bediente sich ebenfalls von dem Teller. Tatsächlich legte sich die Übelkeit in ihrem Magen, sobald das Essen ihn erreicht hatte.   „Soll ich weiter erzählen?“ Ein wenig Sorge schwang in seiner Stimme mit, was Eyleen einerseits schmeichelte und andererseits beschämte. „Es gibt also Dämonen, ja? Wie diese in den Filmen? Aber wieso hat sie dann noch niemand gesehen? Und was hat das alles mit dem Tattoo zu tun?“ So viele Fragen und es kamen ständig neue hinzu! „Ja, es gibt sie wirklich. Aber sie sind nicht so, wie man sie aus Gruselgeschichten kennt. Normalerweise besitzen sie keinen physischen Körper, sondern sind eine Art böse Geister. Geister, die mehr und mehr versuchen in unsere Welt einzudringen. Und das ist unser Problem. Du kannst dir das so vorstellen, als gäbe es eine Tür zwischen unserer ganz normalen Welt und der Welt der Dämonen. Doch seit einiger Zeit sind die Dämonen so stark und mächtig, dass sie es schaffen die Tür aufzudrücken und einigen von ihnen gelang es dadurch zu uns zu kommen. Ich weiß, das klingt wie aus einem schlechten Fantasy-Roman, aber das trifft es ziemlich genau.“ Eyleen kniff die Augen zusammen und ließ ihren Kopf wieder auf die Hände sinken. Diese Kopfschmerzen! „Du meinst also, dass Dämonen durch eine eigentlich geschlossene Tür zwischen zwei Parallelwelten zu uns hinüber kommen? Bösartige Geister, die niemand sieht?“ „Genauso ist es. Und weil diese Dämonenwesen keine feste Form haben, nisten sie sich in den Menschen ein.“ „Die nisten in Menschen?“, sagte Eyleen ein wenig zu laut und sah, wie die schwarzhaarige Kellnerin von eben den Kopf hob und in ihre Richtung blickte. Schnell lehnte sie sich ein Stück weiter über den Tisch und senkte ihre Stimme. „Soll das etwa heißen, dass in uns diese Geisterdämonen leben?“ Ein trauriges Lächeln legte sich auf seine Lippen. Sie wusste, was das bedeutete. „Man befürchtet sogar, dass jeder Mensch von einem Schattenwesen besessen ist. Jeder einzelne auf dieser Erde. Sie schleichen sich in die Träume kleiner Kinder und wachsen mit ihnen heran. Wir vermuten, dass diese Dämonen, von denen es stärkere und schwächere gibt, das Herz eines Menschen nach und nach vergiften, bis dieser sich nicht mehr gegen ihn wehren kann. An dieser Stelle übernehmen die Dämonen diesen Menschen und lassen ihn böses tun. Morde, Anschläge, Verbrechen … Ein Großteil dieser Gräueltaten ist auf das Werk dieser Schattenwesen zurückzuführen.“   „Sie sorgen dafür, dass Menschen Andere töten?“ Ihre Stimme war leiser als ein Flüstern. Sie bekam kaum noch Luft. Der Kloß in ihrem Hals schien sie erwürgen zu wollen. Das Blut in Eyleens Körper war zu Eis erstarrt. „Leider ja. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der menschliche Geist den Dämonen nachgibt. Und je böser die Menschen werden, desto mehr Kraft gewinnen die Schattenwesen. Wir befürchten, dass sich die Macht der Dämonen auf einem kritischen Level befindet. Wenn sie es schaffen, stark genug zu werden und das Tor zur anderen Dimension – wir nennen sie passend: die Hölle – zu öffnen, dann wird die Welt wie wir sie kennen wohl bald schon nicht mehr existieren.“ „Und was haben wir damit zu tun?“, hauchte Eyleen tonlos. Sie fühlte sich, als hätte sie keinen Funken Energie mehr ins sich. „Wir Tri's, die dem Ruf des Tribals folgen und das Zeichen tragen, haben die Möglichkeit diese Wesen zu bekämpfen. Nur wir können verhindern, dass die Dämonen weiter ihre Kräfte sammeln.“ „Und wie?“ Sie öffnete ihre Augen erneut und ließ sich in den Stuhl zurück sinken. Plötzlich völlig ausgelaugt sah sie ihren Gesprächspartner an. Obwohl das alles so abstrus, so verrückt klang, war etwas in ihr, was sie davon abhielt weiter daran zu zweifeln. Sie hatte das Gefühl, als würde die Zeit ihr den Weg weisen. „Tattoo-Träger scheinen eine gewisse Immunität gegen das Gift der Dämonen entwickelt zu haben. Warum und weshalb es zum Beispiel gerade dich und mich getroffen hat, kann jedoch niemand sagen. Zwar sind wir immer noch anfällig für ihren Einfluss, können diesen aber besser kontrollieren. Es ist uns möglich die Schattenwesen zu bekämpfen. In der einzigen Umgebung, in der sie existieren können: den Träumen anderer Menschen.“   Wie sie nach Hause gekommen war, wusste Eyleen nicht mehr. Sie war wohl kurz weggetreten – ohnmächtig – gewesen woraufhin Riley die Geschichtsstunde für beendet erklärt und sie nach Hause gebracht hatte. Nun stand sie in dem kalten, dunklen Flur ihrer Wohnung und starrte einfach nur vor sich hin. So vieles ging ihr durch den Kopf, doch gleichzeitig hätte sie schwören können, dass er völlig leer war. Immer wieder kam ihr das Wort „verrückt“ in den Sinn, denn genau das war das alles. Wie sollte sie das Mia bloß erklären? Vor allem, wenn sie es nicht mal durfte? Nicht viel von dem, was Riley auf dem Heimweg zu ihr gesagt hatte, war auch wirklich zu ihr durchgedrungen. Nur diese eine Tatsache: es war verboten mit anderen Menschen darüber zu sprechen, damit keine Panik ausbrach. Panik. Genau. Das war auch die richtige Reaktion, wenn man erfuhr, dass in seinem Körper ein Dämon haust, der versucht einen zum Massenmörder zu machen. Und Panik würde wohl alles nur noch schlimmer machen …   Es war still in der Wohnung. Trotzdem wusste sie, dass jemand da war. Doch dieser jemand sprach anscheinend noch immer nicht mit ihr, denn auch das laute Poltern im Flur hatte keine Reaktion hervor gebracht. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt. Noch bevor sie an die Tür klopfen konnte, gaben die Beine unter ihr nach und sie sackte vor der Zimmertür ihrer besten Freundin zusammen. Kraftlos lehnte sie ihre Stirn gegen das Holz. „Mia? Kannst du mich hören?“ Die Momente verstrichen, doch keine Regung war hinter der Wand zu vernehmen. Eyleen räusperte sich, um ihren staubtrockenen Mund zu befeuchten. „Es tut mir leid, hörst du? Ich kann dir leider nicht sagen, was gestern passiert ist. So sehr ich es auch will. Aber du musst mir dieses eine Mal einfach so vertrauen. Ich verspreche dir, ich werde nie wieder einfach so verschwinden, aber ich brauche meinen Freiraum und meine Geheimnisse – mehr denn je.“ Salzige Tränen brannten auf ihrer Wange und sie musste ein Schluchzen unterdrücken. Sie war am Ende ihrer Kräfte. „Bitte verzeih mir. Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mir noch etwas bedeutet. Ich hab dich lieb, Mia.“ Keine Reaktion.   Sie machte sich nicht einmal die Mühe ihre Kleidung zu wechseln und bevor sie auf der Matratze ihres Bettes angekommen war, hatte die Erschöpfung sie bereits in einen tiefen Schlaf fallen lassen. Kapitel 4: Freundschaft ----------------------- Der nächste Morgen kam schnell. Es kam ihr vor, als hätte sie sich gerade erst hingelegt, doch ein verschwommener Blick auf die auf dem Nachtschrank stehende Uhr bewies, dass es bereits morgens war. Es war 08:10 Uhr. Sie war diesmal sogar einige Minuten vor ihrem Wecker aufgewacht. Sie hatte also noch alle Zeit der Welt, um pünktlich zur Vorlesung um 09:30 Uhr in der Uni zu sein. Nur zwei Seminare. Danach war endlich Wochenende. Ein Wochenende, was sie diesmal um einiges nötiger hatte, als sonst. Das Zimmer war in ein dunkles Dämmerlicht getaucht und trotzdem war es für diese Uhrzeit schon ziemlich hell. Vielleicht gab es heute wieder so einen sonnigen Tag wie … na ja, zumindest vorgestern. Daran, wie das Wetter am gestrigen Tag war, konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Dafür hatte sie wohl zu viel anderes im Kopf gehabt.   „Wenn du um viertel vor nicht fertig bist, Lee, gehe ich alleine. Heute habe ich keine Lust zu rennen.“ Eyleen schreckte hoch, doch alles, was sie noch sehen konnte, war ein schwarzer Haarschopf, bevor die Tür sich wieder leise schloss. Entgeistert starrte sie in Richtung Flur. War das wirklich Mia gewesen? Sie schüttelte den Kopf. Na ja, wer auch sonst … Aber viel wichtiger war: war das ihr ernst gewesen? Nach ihren heftigen Worten … Sie war doch so wütend gewesen, so verletzt … So plötzlich, wie er gekommen war, fiel der Schock wieder von ihr ab und ein helles Lachen erfüllte den Raum. Mia hatte ihr tatsächlich verziehen! Sie kannte diese Art ihrer Freundin nach einem Streit so zu tun, als wäre nichts gewesen, um niemanden dazu zu nötigen, das unliebsame Thema wieder aufgreifen und noch einmal durchleben zu müssen. Wahrscheinlich würde es aber noch einige Zeit dauern, bis sich ihre Beziehung zueinander wieder auf den Zustand vor der ganzen Sache normalisiert hatte, aber ein Anfang war gemacht. Und Eyleen konnte nicht glücklicher darüber sein!   Ein unangenehmes Brennen ließ das Lächeln in ihrem Gesicht verschwinden und sie krümmte sich vor Schmerzen zusammen. Ihr Atem stockte, als ein schmerzvolles Stöhnen in der Luft hing. Es war beinahe so, als würde jemand heißes Wasser über ihren Rücken schütten und ihre Haut damit verbrühen. Doch genauso schnell, wie sie gekommen waren, waren die Schmerzen innerhalb von Sekunden wieder verschwunden. Verdutzt richtete sie sich wieder auf und entkrampfte ihre zittrigen Muskeln. Ihre Hand tastete nach der Stelle auf ihrem Rücken, doch sie konnte natürlich nichts Ungewöhnliches erfühlen. Was war das für ein Gefühl gewesen? Hatte sie sich einen Muskel oder Ähnliches eingeklemmt? Irgendwie … hatte es sich beinahe so angefühlt wie vor zwei Tagen, als … Sofort schoss ein Gedanke durch ihren Kopf, der sie übereilt aus dem Bett stürzen ließ. Um ein Haar wäre sie dabei im Zudeck hängen geblieben und gestützt, doch sie schaffte es, sich kurz vor dem Fallen am Bettpfosten abzustützen, den Stoff dabei abzuschütteln und ungehindert weiterzulaufen. Sie riss ihre Zimmertür auf und hechtete in den Flur. Die Badezimmertür war nur angelehnt und so empfing sie im nächsten Moment die Wärme des kleinen, weiß gefliesten Zimmers. Die Tür fiel hinter ihr klackend ins Schloss, während Eyleen sich aus ihrer Kleidung schälte. Sie trug noch immer die Jeans und den Pullover vom gestrigen Tag. Nachdem der widerspenstige Pulli und das T-Shirt beiseite geschafft waren, wandte die Blondine sofort ihren Rücken in Richtung des Spiegels. Sie musste sich ein wenig auf die Zehenspitzen stellen, um auch den unteren Bereich ihrer Hüfte richtig sehen zu können.   Sie hielt den Atem an, als sie es entdeckte. Es war ganz so, wie Riley gesagt hatte. Die überschlug kurz die Ereignisse der letzten Tage und bemerkte, dass es nun gute 37 Stunden her war, seit sie das Tribal betreten und das Tattoo bekommen hatte. Sie lag genau im Zeitfenster. Ein leichtes Kribbeln erfasste ihre Eingeweide, als sie das neue, filigrane Symbol auf ihrem Rücken betrachtete, das sich nahtlos in die umgebenden, schwarzen Linien einfügte, als wäre es schon immer dort gewesen. Zwei sich haltende Hände, gezeichnet aus schwarzen, verschnörkelten Strichen. Simpel, aber doch kraftvoll. Hände, freundschaftlich ineinander verschränkt. Freundschaft. Wie von Zauberhand war es dort erschienen. Nur angekündigt von dem unangenehmen brennenden Schmerz. Sie musste schwer schluckten, als ihr die Tragweite dieses Ereignisses klar wurde: Es war alles wahr. Jedes Wort von dem, was Riley ihr erzählt hatte, entsprach tatsächlich der Wirklichkeit. Es gab dieses Geschäft und die Tribal-Tattoos, welche niemand außer den Auserwählten sehen konnten. Es gab die Bedrohung der unsichtbaren Wesen, die sich in den Menschen einnisteten, um sie zu übernehmen. Sofort spürte sie eine unangenehme Übelkeit in ihrem Körper rumoren. Bisher hatte sie noch nicht viel Zeit gehabt, um darüber nachzudenken, aber in diesem Moment sah sie sich der vollendeten Tatsache gegenübergestellt. Auch in ihr existierte einer dieser Geister, dieser Dämonen. Irgendwo in ihr drin gab es etwas, das versuchte, ihr immer nur das Schlechte, das Böse einzureden. Sie zu einem Mörder zu machen... Auch, wenn sie sich dazu zwang, die Gedanken fallen zu lassen, konnte sie nicht verhindern, dass diese Fragen sich wie wütende Hunde in ihren Kopf verbissen. Hatte sie auch schon einmal den Wunsch verspürt, jemanden tot sehen zu wollen? Sie erschauderte und beeilte sich, sich etwas kaltes Wasser aus dem Waschbecken ins Gesicht zu spritzen. Sie stöhnte, als auch das die Flut an Gedanken in ihrem Kopf nicht bremsen konnte. Wenn alles stimmte, was Riley ihr erzählt hatte, dann konnte sie dagegen kämpfen. Ihr sollte es möglich sein, diese Wesen zu vertreiben. Wie auch immer sie das überhaupt anstellen sollte.   Doch was war mit all den anderen Menschen? Die, die nichts von der Gefahr ahnten, die in ihnen lauerte? Wie nah dran waren sie der bösen Stimme in ihrem Kopf die Oberhand zu überlassen? Gab es jemanden in ihrem Semester, der bereits kurz davor stand, jemandem etwas anzutun? Es musste nicht gleich Mord sein, das wusste sie. Aber auch Diebstähle, Mobbing und all die anderen bösen Dinge, zu denen der Mensch im Stande war, standen bei den Dämonen hoch im Kurs. Ein weiterer Gedanke schlich sich in ihren Kopf: Wie viel hatte sie bisher verpasst?   Wieder einmal entschied die Blondine sich für den schnellen Gang in die Dusche, doch diesmal brachte das warme Wasser keine Entspannung. Mit einem tiefen Seufzen verließ sie den gläsernen Raum und ging zurück ihr Zimmer. Ohne groß darauf zu achten, was sie herausnahm, zog sie willkürlich eine Hose und einen Pullover aus dem Schrank und warf die Kleidung vom Vortag unachtsam in den Wäschekorb. Es gruselte sie schon auch nur daran zu denken, diesen Stoff wieder anziehen zu müssen. Sie hoffte bloß, dass sich das nach dem Waschen wieder änderte. Das Geld einer Studentin war eben einfach knapp.   Viel pünktlicher als sonst stand Eyleen angezogen und fertig vorbereitet im Flur. Als Mia, aufgeschreckt von den Geräuschen im Vorraum, aus der Küche trat, verrieten ihre leicht hochgezogenen Augenbrauen ihre Verwunderung. Ihre Freundin erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Hättest du etwas dagegen, wenn wir jetzt schon losgehen? Ich würde mir gerne beim Bäcker noch ein Brötchen holen.“ Der Moment des Schweigens ließ Eyleens Lächeln etwas wanken, doch die Schwarzhaarige maß dem Ganzen anscheinend nicht so viel Bedeutung zu, wie sie selbst. „Klar. Ich bin sowieso fertig.“ Sie fasste hinter sich, griff nach ihrer Schultasche und nur einen Moment später traten sie gemeinsam in den Sonnenschein.   Auf dem Weg nahm die Blondine sich besonders viel Zeit für ihre Freundin. Sie konzentrierte sich ganz auf sie und ließ ihr Gespräch nicht ins Stocken kommen. Immer wieder begann sie mit einem neuen Thema, einfach nur, um ihre Stimme zu hören. Es fühlte sich gut an, wie sich ihre Freundschaft wieder in die richtige Bahn zu lenken schien. Ganz einfach dadurch, dass sie beisammen waren. „Ich hab gestern mit meiner Mutter gesprochen“, begann Mia, als Eyleen gerade in ihr gekauftes belegtes Brötchen biss. „Ich fahre gleich nach der Vorlesung zu ihr und komme erst am späten Sonntagabend wieder.“ Sie konnte nicht verhindern, dass ein kleiner Teil von ihr gekränkt war. Natürlich machte Mia das des Öfteren. Es war ja auch schön, dass sie so tolle Eltern hatte und der Kontakt zu ihnen so gut war, aber für Eyleen bedeutete das immer, mehrere Tage lang allein zu sein. Doch wenn sie genau darüber nachdachte … Vielleicht war das im Moment gar keine so schlechte Idee. „Oh, schön!“, meinte sie so enthusiastisch wie möglich und versuchte das auch wirklich ernst zu meinen. „Dann grüß deine Eltern ganz lieb von mir! Ist ja schon eine ganze Weile her, dass ich die beiden gesehen habe. Vielleicht sollte ich auch bei Gelegenheit wieder vorbeikommen.“ „Stimmt. Da würden sie sich bestimmt sehr drüber freuen. Meine Mutter fragt sowieso ständig nach dir.“   Anya, Mias Mutter, war eine wundervolle Frau. Nett, freundlich und ausgesprochen hübsch. Mia kam fast ausschließlich nach ihrer Mutter. Wallendes, dickes schwarzes Haar, groß, glatte, reine Haut und Augen, die sie immer wieder an fließende Schokolade in einem Schokobrunnen erinnerte. Und auch ihr Vater Christopher war ein sehr toller Mann. Er kümmerte sich rührend um seine Familie, arbeitete sehr hart als Arzt, um ihnen etwas bieten zu können, und war zu jedem ungemein freundlich. Allein mit ihm in einem Raum zu sein und sein breites, ehrliches Lächeln zu sehen, konnte so manche Krankheit augenblicklich heilen. Sie beide haben Eyleen ohne zu zögern aufgenommen, als sie Hilfe brauchte und nicht mehr weiter wusste. Dafür war sie ihnen ausgesprochen dankbar. Und auch die Miete für die Wohnung und die Nebenkosten wurden Monat für Monat von ihnen bezahlt. Eine Tatsache, die die Blondine schon länger etwas verstimmte, da sie sich schlecht dabei fühlte, das hart erarbeitete Geld von anderen ohne Gegenleistung auszugeben. Doch Mias Eltern hatten ihre Bedenken bloß freundlich abgetan und ihr gesagt, sie müsse sich keine Sorgen darum machen. Aber sobald es ihr möglich war, würde sie auf eigenen Füßen stehen, das hatte sie sich geschworen.   Eyleen lächelte. Es fühlte sich wirklich manchmal so an, als wäre sie eine Tochter der Familie, die es eigentlich immer hätte geben sollen. So, als wäre sie seit ihrer Geburt dazu bestimmt gewesen, in diese Familie zu kommen. „Ich hoffe doch, sie macht sich nicht wieder zu viele Sorgen. Bei unserem letzten Telefonat hab ich ihr auch schon gesagt, dass alles in Ordnung ist.“ Mia kicherte neben ihr und schüttelte nur wissend den Kopf. „Du kennst meine Mutter doch. Sie denkt, dass wir bloß sagen, dass alles gut ist, um sie nicht zu beunruhigen.“ Eyleen seufzte, doch ihre Lippen blieben zu einem Lächeln verzogen. „Natürlich. Es wäre auch zu abwegig anzunehmen, dass alles so läuft, wie es sollte.“ Sie unterdrückte das unangenehme Gefühl, welches sich bei diesen Worten in ihrem Magen einnistete. Anya konnte gar nicht ahnen, wie recht sie eigentlich hatte.   Obwohl sie sehr gemütlich zur Uni geschlendert waren, war es noch früh, als sie den sonnendurchfluteten Innenhof verließen und das Gebäude betraten. Zum Abschied schlossen die beiden Freundinnen sich einen Moment lang in die Arme, bis Mia um die nächste Ecke verschwunden war. Im Gegensatz zu ihr hatte die Schwarzhaarige nur eine und nicht zwei Vorlesungen. Sie würde also eher nach Hause gehen können, um ihre Sachen zu packen. Sie würden sich vor Sonntagabend nicht wiedersehen. Irgendwie war das jedes Mal noch ein seltsames Gefühl. Allein der Gedanke daran, so lange alleine zu sein, behagte ihr noch immer nicht. Auch, wenn sie wusste, wie blöd das eigentlich war. Sie war wohl früher zu lange allein gewesen. Diese Gefühle ließen sich einfach nicht abschütteln.   Eyleen wartete extra so lange, bis sie den Professor schon am Ende des Ganges entdeckte, um den Hörsaal zu betreten, damit sie nicht in Verlegenheit kam, mit jemand anderem sprechen zu müssen. Als sie den kleinen Raum betrat, saßen die anderen bereits auf ihren Plätzen. Schnell huschte sie in die hintere Reihe, wo zu ihrer Verwunderung noch niemand saß. Zwar waren die beiden Vorlesungen, die sie jetzt hatte, nur im Kreis ihres eigenen 30-köpfigen Jahrgangs, weshalb der Saal nicht einmal zur Hälfte gefüllt war, aber trotzdem waren die hinteren Plätze normalerweise am begehrtesten. Doch sie beschwerte sich nicht und setzte sich so weit nach hinten, dass es nicht den Anschein erweckte, dass sie nicht mitmachen und zuhören wollte, aber sie gleichzeitig ihre Ruhe hatte.   Danach verschwammen die Minuten zu einem einzigen Brei aus Nichts. Immer wieder versuchte sie, dem Unterricht zu folgen, aber ihr Vorsatz hielt jedes Mal nur ein paar Momente, bis die Stimme des Professors wieder zu einem entfernten Rauschen wurde.   Alles, was ihr in den letzten Stunden passiert war, hatte sich nagend in ihrem Gehirn eingenistet und jetzt fiel es ihr unglaublich schwer, an etwas anderes zu denken. Sie beobachtete die Menschen in diesem Raum. Jeden einzelnen. Und jedes Mal, wenn ihr Blick länger auf einem verweilte, suchte sie nach irgendwelchen Anzeichen, dass sie wirklich von Dämonen besessen waren. Hatte der Junge in der ersten Reihe gerade in die Tasche seines Freundes gegriffen und dort etwas herausgeholt, als dieser nicht hinsah? Oder hatte das braunhaarige Mädchen dort am Fenster eben das Mädchen vor ihr hasserfüllt angestarrt? Eyleen wusste, dass sie sich Dinge einbildete. Dass sie nach einer logischen Erklärung für all das suchte, um die Sache herunterspielen zu können. Oder war sie doch dabei das Ganze aus tiefstem Herzen zu glauben? Sie wollte doch einfach nur wissen, dass sie all das nicht umsonst durchmachte …   Ein leises Brummen, dem sie normalerweise überhaupt keine Beachtung geschenkt hätte, weckte nun ihre Aufmerksamkeit. Im ersten Moment verstand sie gar nicht, wieso. Immer wieder hörte man in einem Saal voller Menschen eines dieser Smartphones vibrieren. SMS, Chatnachrichten, Benachrichtigungen. Eyleen hatte sich damit nie wirklich anfreunden können. Und trotzdem besaß auch sie eines dieser Dinger. Das war aber nur darauf zurückzuführen, dass Mia ihr letztes Jahr (entgegen ihres absoluten Widerwillens) eins zum Geburtstag geschenkt hatte. Nur für Notfälle, versteht sich. Damals hatte sie nach einiger Diskussion beschlossen, ihrer Freundin einfach nachzugeben.   Für einen Moment wunderte sie sich noch, warum das Vibrieren eines Handys sie überhaupt so aufgeschreckt hatte. Jedenfalls bis ihr etwas klar wurde. Niemand saß nah genug bei ihr, damit sie dieses leise Geräusch hätte hören können! Das musste bedeuten … Sie griff mit ihrer Hand in die Tasche und versuchte das kleine Gerät in den Weiten des Stoffs zu ertasten. Und als ihre Finger es umschlossen und das Display durch einen Tastendruck aufleuchtete, erwartete sie eine Nachricht von Mia darauf zu sehen. Vielleicht hatte sie noch etwas vergessen? Doch ein Blick verriet ihr, dass es nicht ihre Freundin war, die ihr diese SMS geschickt hatte. In Wahrheit kannte sie die Nummer überhaupt nicht. Nach kurzem Zögern beschloss Eyleen es zu wagen und öffnete daraufhin die Textnachricht.   „Hallo Eyleen. Ich bin es, Riley. Ich hoffe, es geht dir wieder besser! Du fragst dich jetzt bestimmt, wie ich an deine Nummer komme, nicht wahr? Ich war so frei gestern kurz in deine Kontakte zu schauen, als du in Gedanken versunken warst. Ich dachte, es wäre vielleicht nützlich … Für Notfälle ... Entschuldige bitte! Jedenfalls. Wir gehen heute Abend auf die Jagd. Ich dachte, du würdest es gerne mal mit eigenen Augen sehen.“   Darunter stand noch eine Ortsbeschreibung mit Adresse: „Fischrestaurant ‚Aquamarin‘, Sommerallee 14, die Gasse hinter der Bushaltestelle, 20 Uhr“   Gebannt starrte sie auf das Display ihres Mobiltelefons, selbst dann noch, als es längst wieder in den Ruhemodus gewechselt war. Zwei weit aufgerissene Augen starrten ihr nun von dort entgegen, wo sich eben noch die Buchstaben tummelten. Sie brauchte einen Moment um zu begreifen, dass diese verschwommene Gestalt ihre eigene war.   Entgegen ihrer eigenen Erwartung störte sie es überhaupt nicht, dass Riley sich ihre Nummer besorgt hatte. Viel mehr erschauderte sie bei dem Gedanken, dass sie so abwesend gewesen war, es nicht zu bemerkten, obwohl es direkt vor ihr geschehen war. Aber viel mehr als das, verursachte das Wort „Jagd“ ein unangenehmes Ziehen in ihrem Magen. Was genau verstanden sie unter einer Jagd? Was würde denn hinter diesem Restaurant passieren? Würden sie einfach so Passanten überfallen? Wollten sie wirklich gegen Dämonen kämpfen? Aber wie bekämpfte man diese überhaupt? Hatte Riley nicht irgendwas von Träumen erzählt? Aber, wie soll denn so etwas überhaupt möglich sein?   Die Blondine starrte lange auf das Handy, was in ihren zitternden Fingern lag. Sie wusste gar nicht, wie viel Zeit eigentlich vergangen war, bis sie kurz aufblickte und bemerkte, dass der Professor gar nicht mehr dort unten stand, sondern eine Kollegin ihn bereits abgewechselt hatte. Das Display erwachte erneut für einen Moment zum Leben. 12:05 Uhr. In gut 25 Minuten wäre die Vorlesung vorbei. Sie hatte also siebeneinhalb Stunden zu überbrücken. Doch das würde nicht schwer fallen. Im sinnlosen Umherlaufen ohne ein Ziel zu haben, konnte Eyleen kaum einer etwas vormachen.   Dies war ihre Chance, das alles endlich zu verstehen. Doch warum schrie alles in ihr? Warum wollte ihr Körper sie drängen, das alles schnellstens zu vergessen und bloß nicht in die Nähe dieser Straße zu gehen? Warum war ihr ganzer Körper am Zittern? Sie wusste die Antwort. Sie leuchtete klar in ihrem Kopf: Sie hatte Angst. Wahnsinnige Panik vor dem, was dort vor ihr lag. Angst davor sich selbst eingestehen zu müssen, dass sie wirklich so schwach war, wie sie sich in den letzten Stunden fühlte...   Mehr als einmal hatte sie sich dabei ertappt, wie sie dabei war aufzugeben und doch nach Hause zu gehen. Aber dennoch stand sie nun dort am vereinbarten Treffpunkt, mit wahnsinnig zitternden Knien, und wartete darauf, dass die anderen auftauchten. Die Nacht hatte sich bereits über die Stadt gelegt und alles war an diesem Abend seltsam ruhig. Nur wenige Autos fuhren diese Straße entlang und noch weniger Menschen waren dort am Rand der Stadt unterwegs. Mit jeder Minute, die quälend langsam zu verstreichen schien, wuchs die Nervosität in ihrem Körper zu einem dichten, steinharten Kloß in ihrem Magen heran. Lange, gleichmäßige Atemzüge sollten beruhigend wirken und die hektische Atmung wieder etwas normalisieren. Nur mit einem klaren Kopf war das Kommende zu ertragen. Und vor allem zu verstehen. Aber nicht nur die Tatsache, dass sie wahrscheinlich wirklich gleich einen bösen Geist sehen würde, bohrte sich wie ein Messer in ihren Kopf. Sie wusste auch, dass sie gleich wieder ihren Blicken ausgesetzt sein würde. Und noch wusste sie nicht, was schlimmer war …   „Eyleen!“ Jemand rief ihren Namen, was die Blondine heftig zusammenzucken ließ. Sie hob ihren Kopf so dermaßen schnell, dass etwas in ihrem Nacken lautstark mit einem Knacken protestierte. Ein stechender Schmerz raste durch ihren Kopf, den sie unauffällig durch das leichte Drehen ihres Halses wieder verschwinden zu lassen versuchte. „Hi“, sagte sie nur leise zur Begrüßung und richtete ihren Blick wieder auf das Kopfsteinpflaster vor ihr. Natürlich hatte sie es schon aus weiter Entfernung gesehen. Diesen abweisenden Blick von Liam und seiner Schwester. Aber genau das war ja zu erwarten gewesen. Natürlich freute sich bloß Riley sie zu sehen. Aber mehr konnte sie wohl nicht verlangen. „Du bist also tatsächlich gekommen“, fügte der Schwarzhaarige hinzu, als er sich zu der jungen Frau gesellte. Die anderen beiden waren wortlos an ihr vorbei tiefer in die finstere Gasse gegangen. Natürlich. „Ich habe dir doch auf die SMS geantwortet und gesagt, dass ich komme.“ Der Unterton seiner Frage war ihr nicht entgangen, was die Unsicherheit, die sie eben noch empfunden hatte, ein wenig von einem gewissen Trotz überlagern ließ. Er wartete wohl immer noch auf den Moment, in dem sie heulend vor ihm zusammenbrach! Doch das würde nicht passieren! Das damals im Café war eine Ausnahme gewesen. Sie würde nie wieder Schwäche zeigen. Nicht vor fremden Menschen. Das Lächeln auf seinem Gesicht wirkte nun etwas gequält. Mit einer Hand kratze er sich sichtlich verlegen am Hinterkopf. „Aber ja, so war das auch nicht gemeint, entschuldige. Komm lass uns den beiden hinterher gehen.“   Eyleen ließ es einfach auf sich beruhen und gemeinsam betraten sie die enge Gasse, die unauffällig zwei größere Gebäude teilte, und wurden sogleich von der Dunkelheit verschluckt. Nur wenig Licht verirrte sich in diesen Teil der Stadt. Es gab keine Straßenlaternen in diesem Bereich. Nur einige Fenster der nahen Häuser leuchteten wie Glühwürmchen in einem dichten Wald und wären der Mond und die Sterne nicht gewesen, hätten sie sehr wahrscheinlich gar nichts vor Augen erkennen können.   Die Silhouetten der anderen beiden waren ein Stück weiter vor ihnen nahe der Wand eines großen Gebäudes zu erkennen. Sie hatten ihren Blick auf die Neuankömmlinge gerichtet und sobald Eyleen und Riley nah genug waren, schlüpften sie wie Zauberhand durch die Betonmauer hindurch, als wäre diese überhaupt nicht da. Verwundert blickte sie an die Stelle, wo die Geschwister eben noch gestanden haben, doch erst beim Näherkommen entdeckte sie den großen Spalt in der Mauer, der wohl als geheimer Eingang auf das Gelände genutzt wurde. Riley trat automatisch vor und bestätigte ihre Vermutung. Nervös sah sie sich noch einmal in der völlig leeren Gasse um, bevor sie den anderen hinterher kletterte. Auf der anderen Seite der Mauer wucherte das Unkraut. Sie schlugen sich durch hüfthohes Gras und Brennnesseln und hinterließen eine Spur aus platt getrampelten Pflanzen. Einige Meter weiter vor ihnen ragte die große Halle in den Himmel. Soweit Eyleen sehen konnte, stand das Gebäude schon lange leer. Schmierereien aus Graffiti bedeckten die mit Moos überzogenen Betonwände und die wenigen Fenster waren alle zerborsten. Auch die Vordertür hing nur noch halb in ihren Angeln. Anscheinend hatte jemand sehr unsanft mit einem Brecheisen oder ähnlichem die Tür so ausgebeult, dass ein Betreten ohne große Anstrengung möglich war.   Wie Eyleen geahnt hatte, war es Liam, der sich zuerst in das Gebäude drängelte, dicht gefolgt von Chloé. Riley warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, ehe auch er die Halle betrat. Eine Mischung aus Nervosität und Angst brodelte in ihrem Magen, doch sie ließ sich ihr Zögern nicht anmerken. Schnell huschte sie hinterher und musste gleich ihr Tempo etwas erhöhen, um die anderen nicht aus den Augen zu verlieren. Ihr Weg führte sie quer durch die anscheinend völlig leere Halle, doch es war einfach zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können. Links von sich glaubte sie jedenfalls eines oder mehrere Tore erkennen zu können. War das mal eine Werkstatt gewesen? Erst als sie die gegenüberliegende Seite erreicht hatten, hielten die Geschwister und Riley inne. Eyleen beobachtete, wie Liam etwas aus seiner Tasche zog und sich damit an der Tür zu schaffen machte. Ein erschrockenes Keuchen drang aus ihrer Kehle, was in der Stille des Ortes unglaublich laut widerhallte. War sie jetzt etwa in eine Einbrecherbande geraten? Erst als nur einen Augenblick später ein leises Klacken ertönte und sie einen besseren Blick auf das Gerät werfen konnte, welches Liam benutzt hatte, dämmerte es ihr. Er brach die Tür gar nicht auf. Er hatte einen Schlüssel. Schnell tarnte sie das Keuchen als Hustenanfall und achtete gar nicht weiter auf die teils wissenden Blicke, die auf ihr lagen.   Allerdings sagte niemand etwas dazu. Jeder von ihnen tat so, als wäre nichts gewesen. Sie hatten wohl keine große Lust darauf, sich zu erklären. Wortlos führte der Braunhaarige die Gruppe in den kleinen, engen Raum und schloss die Tür hinter ihnen wieder ab. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Eyleen und eine Gänsehaut überzog ihren Körper, doch sie schluckte es einfach herunter. Egal was jetzt passierte, nun war es zu spät für einen Rückzug. Ein alter Schreibtisch, ein zerbeulter Aktenschrank, eine heruntergefallene Glaslampe und zwei vernagelte Fenster ließen den früheren Zweck dieses Zimmers erahnen. Auch, wenn es seit mehreren Jahren schon nicht mehr als Büro genutzt wurde, lag immer noch etwas Geschäftiges in der Luft. Eine verblasste Erinnerung an alte Zeiten, wo hier noch wichtige Geschäfte abgewickelt wurden und Menschen tagtäglich ein- und ausgingen. Noch während sie sich umsah und sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, hörte sie jemanden neben sie treten und nur einen Moment später ruhte eine Hand auf ihrer Schulter. Rasch blickte sie wieder in Richtung der kleinen Gruppe. „Pass auf, jetzt wird es erst richtig interessant.“   Doch Eyleen hörte seine Worte schon gar nicht mehr, denn alles ging viel zu schnell. Soeben hatte ein heller Blitz den Raum erhellt und ihre Augen geblendet. Für eine Sekunde war sie verwirrt. Woher kam plötzlich dieses Licht? Gab es hier noch Strom? Ein silberner Kreis war urplötzlich auf Liams Innenhandfläche aufgetaucht, der kontinuierlich zu pulsieren schien. Ein rundes Gebilde, das ein wenig so aussah, wie eine selbst leuchtende CD. Doch das Licht kam nicht von etwas auf seiner Hand. Sie strahlte von ganz allein. Ihr Atem stockte, als sich ein schwarzes, spitzes Etwas unaufhaltsam aus dem Lichtkreis schob und sich bis über ihre Köpfe hinweg in Richtung der Decke schraubte. Es erinnerte Eyleen an ein Stück Treibgut, welches das Meer erbarmungslos aus den Fluten heraus an Land drückte. Als das Ding schlagartig stoppte und noch einige Sekunden über Liams Handfläche schwebte, griff der Braunhaarige mit der anderen Hand nach dem oberen Ende, worauf der Lichtkreis im selben Moment aus seiner Hand verschwand.   Doch nur einen Augenblick später war das Geschehene völlig unwichtig, denn jetzt war die Spitze des Schwertes nur noch ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Kapitel 5: Geisterwelt ---------------------- Eyleen wollte zurückweichen, doch selbst wenn die Mauer in ihrem Rücken das nicht verhindert hätte, hätte sich ihr Körper keinen Millimeter bewegt. Je länger sie hinsah, desto besser erkannte sie die Form eines Schwerts, wie sie es schon dutzende Male in irgendwelchen Fernsehserien oder Filmen gesehen hatte. Und doch war dieses dort mit nichts von all denen vergleichbar. Das Material war so tiefschwarz, dass nicht mal der kleinste Lichtreflex darin zu sehen war. Es wirkte beinahe nicht real, weil es so völlig anders war, als alles, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Dieses Schwert schien keine richtige Form zu haben, doch gleichzeitig wirkte es scharf und spitz. Irgendwie strahlte es eine Kälte aus, die beinahe greifbar war. Konnte so ein Material überhaupt existieren?   „Wir nennen sie die „Klinge““, plauderte Riley neben ihr plötzlich lehrermäßig drauf los. Passend dazu richtete er nebenbei seine Brille. „Sie ist unsere einzige Waffe im Kampf gegen die Dämonen. Jeder Tri besitzt die Fähigkeit ein solches Schwert heraufzubeschwören. Das Tattoo verleiht uns so die Macht zu kämpfen und, was beinahe noch wichtiger ist, die Traumwelt zu betreten.“ Liam senkte das Schwert und wandte sich von Eyleen ab, die immer noch wie zu Stein erstarrt auf den jungen Mann blickte. „Mit der Hilfe unserer Klinge können wir das Tor zur Traumwelt öffnen und sie betreten.“ „Traum-welt?“, flüsterte Eyleen und versuchte erneut den Kloß in ihrem Hals herunter zu schlucken, um wieder atmen zu können. „Ja. Die Traumwelt ist eine Art Zwischenwelt. Nur in ihr können die körperlosen Dämonen überleben. Sie schleichen sich in die Albträume von Kindern und gelangen so in die Gedanken der Menschen. Du wirst sehen, der Ort, an den wir jetzt gehen, ist mehr als merkwürdig. Alles ist so … Ach, ich kann es gar nicht beschreiben. Das musst du mit deinen eigenen Augen gesehen haben, sonst glaubst du noch, ich müsse zum Psychiater!“ Er kicherte ein wenig über seinen Witz und Eyleen schwieg weiter. Sie beobachtete Liam ganz genau. Er hatte sich nun vor die Wand gestellt, die als einzige vollkommen freigeräumt war. Ein Kalender, der dort wohl mal gehangen hatte, war unachtsam auf den Boden geschmissen worden. Er hatte die Augen geschlossen und hielt das Schwert in seiner rechten Hand. Seine Spitze kratze über den Boden, doch es verursachte nicht die kleinste Macke. So, als wäre es vollkommen stumpf.   Ruckartig schloss sein Arm mitsamt der Klinge nach oben und er begann einen großen, runden Kreis auf die Wand zu ziehen. Dort, wo das seltsame Material den Beton berührte, schienen sich kleine Schlangen wie aus dem Nichts zu materialisieren, die dort langsam an der Wand entlang glitten. Sie waren klein und vollkommen Schwarz. Es schien, als wären sie aus demselben Material wie das Schwert gemacht zu sein. Liam führte die Klinge ganz langsam in einem Bogen herum und immer mehr von diesen Schlangen bedeckten an diesen Stellen die zerschlissene Tapete. Nachdem gut ein Viertel des Kreises mit der Klinge nachgefahren wurde, waren die einzelnen Schlangen bereits zu einem schwarzen Fleck verschmolzen und nur am äußersten Rand hatten sie einige Lücken hinterlassen, die Eyleen bei näherem Hinsehen an merkwürdige Zeichen erinnerten. „Liam ist gerade dabei das Tor zur Traumwelt zu zeichnen. Diese Zeichen, die du dort sehen kannst“, er zeigte auf den äußeren Ring des Kreises, „sind alte Runen. Runen, die es uns ermöglichen unseren Körper zu verlassen und die Zwischenwelt zu betreten.“ Das ließ Eyleen aufhorchen. „Wie bitte? Was heißt denn den Körper verlassen?“ Riley schmunzelte. „Tja, es heißt genau das. Die Traumwelt ist keine andere Dimension, wie man es gerne in Si-Fi-Filmen sieht. Es ist eine Welt, die eigentlich gar nicht existiert. Darum sind auch die Dämonen in der Lage als Geister dort einzudringen. Kein fester Körper aus dieser Welt kann dort hingelangen.“ Er lehnte sich gegen den alten Schreibtisch und verschob diesen mit einem bedrohlichen Knartzen ein wenig. „Also, es ist so. Sobald wir durch dieses Portal in die Traumwelt gehen, wird sich unser Geist, unsere Seele, unser Bewusstsein oder wie auch immer du es nennen möchtest, von unserem Körper trennen. Während wir also dort hineingehen, bleiben unsere Körper hier an dieser Stelle zurück. Darum haben wir uns auch hier in dieser Ruine eingeschlossen.“ „Damit niemand unsere leeren Körper findet?“ Eyleen drückte sich enger an die Wand, damit ihre Beine nicht auf die Idee kamen, doch noch unter ihr nachzugeben. „Richtig. Sie werden hier bleiben. Beinahe so, als würden wir schlafen. Im Stehen. Das dürfte für die meisten anderen ein ziemlicher Schreck sein, da die Körper so auch locker als Leichen durchgehen könnten.“ Die Blondine zuckte bei dem Wort zusammen. „Na ja, nicht ganz jedenfalls. Immerhin atmen die Körper weiter und sie bleiben auch stehen. Das tun Leichen ja meistens nicht. Jedenfalls habe ich schon von einem Fall gehört, in dem ein Tri gefunden und ins Krankenhaus gebracht wurde. Wenn er seine Freunde nicht gehabt hätte, dann wäre er wohl …“ Riley ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen und Eyleen war ihm irgendwie dankbar dafür. Im Moment wollte sie absolut nicht wissen, dass wirklich mit dem Kerl passiert war.   Liam hatte inzwischen dreiviertel des Kreises ausgefüllt, also würde es wohl nicht mehr lange dauern. Seine Schwester lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand neben ihm. Irgendwie schien sie ein wenig genervt zu sein. Riley hatte seine Erklärungen vor einigen Minuten erst mal beendet und war dazu übergegangen, seinen Freund mit abwesendem Blick zu beobachten. Doch so lange sie warteten, nutze Eyleen die Gelegenheit kurz mit ihm zu sprechen. „Du hattest übrigens recht. Es ist tatsächlich passiert.“ Es überraschte sie selbst, dass ihre Stimme kaum lauter als ein Flüstern war, weshalb sie schon fürchtete, er würde sie gar nicht hören können. Doch die Furcht war unbegründet. „Du hast deine erste Erweiterung also bekommen?“ Echte Neugier lag in seinen Worten. Eyleen nickte aufgeregt. „Ja, es ist heute Morgen einfach so aufgetaucht! Kurz nachdem ich mich mit meiner Mitbewohnerin nach einem Streit wieder versöhnt hatte. Es hat plötzlich auf meinem Rücken gebrannt und dann war es auch schon da. So, als wäre es immer schon dort gewesen.“ Riley nickte wissend. „Darf ich auch wissen, was für ein Zeichen es ist?“ Bei ihm klang die Frage so, als wäre es etwas Privates, über das man eigentlich gar nicht spricht. Doch es machte ihr nichts aus, es ihm zu sagen. Sie erhoffte sich dadurch weitere Informationen dazu. Der Schwarzhaarige schien wirklich ausgesprochen gut über alles Bescheid zu wissen. „Zwei Hände, die sich festhalten. Und, als ich es sah“, fügte die Blondine noch leiser hinzu „hatte ich das Wort Freundschaft im Kopf … Immer und immer wieder.“ Der Schwarzhaarige sah sie nachdenklich an. „Das wird es dann wohl auch sein. Eine deiner stärksten Eigenschaften ist es anscheinend, dass du eine sehr gute Freundin bist.“ Nur mit Mühe schaffte Eyleen es, bei dieser Bemerkung nicht laut aufzulachen. „Ich? Eine gute Freundin?“ Sie verdrehte ihre Augen, als ob sie gerade einen richtig schlechten Witz gehört hätte. „Nein, ganz sicher nicht. Mia ist meine einzige Freundin. Außer ihr habe ich niemanden. Wie soll ich da dann gut drin sein?“ Der junge Mann zuckte grinsend mit den Schultern. „Na ja, vielleicht kennst du dich einfach selbst noch nicht gut genug.“ Doch ehe Eyleen über seine Worte überhaupt nachdenken konnte, schien es auch schon loszugehen. Sofort schnürte die Nervosität wieder ihre Kehle zu.   Chloé hatte sich von der Wand abgestoßen und sich neben ihren Bruder gestellt, der das Schwert wieder hatte sinken lassen. Der Kreis war nun vollkommen Schwarz. Auch dort schien das Licht, wie bei einem Schwarzen Loch, einfach verschluckt zu werden. Nur die Runen, die nun den kompletten Rand zierten, begannen plötzlich leicht zu schimmern. Ein unheimlicher weißer Glanz lag dadurch in der Luft, der verzerrte Schatten in die Umgebung zeichnete. Ein Frösteln huschte trotz dicker Kleidung über Eyleens Körper. „Los jetzt, bevor wir hier noch Wurzeln schlagen.“ Nun war die Ungeduld nicht mehr nur in Chloés Gesicht abzulesen, sondern sie schien sie jetzt mit jeder Faser ihres Körpers auszustrahlen. Eyleen war froh, dass die Blondine gerade nicht in ihre Richtung sah, sonst hätte sie ihr das Augenrollen wahrscheinlich ziemlich übel genommen.   Es war keine Überraschung mehr, dass Chloé den ersten Schritt machte. Mit einem großen Schritt überwand sie die wenigen Zentimeter, die sie von dem schwarzen Tor trennte und streckte ihre rechte Hand danach aus. Es gab einen hellen Lichtblitz und dann war alles wieder ruhig. Für einen kurzen Moment fragte sie sich, ob überhaupt etwas passiert war, oder das Tor vielleicht nicht richtig funktioniert hatte, aber als ihr der leere, abwesende, beinahe tote Blick der jungen Frau auffiel, wusste sie, dass sehr wohl etwas passiert war. Sie hatte es bloß nicht sehen können. Und in diesem Moment kam ihr der eben noch makaber klingende Vergleich mit den stehenden Leichen gar nicht mehr so abwegig vor...   „Ich gehe vor, okay Eyleen? Ich empfange dich dann auf der anderen Seite, ja? Mach dir keine Sorgen. Dir wird nichts passieren!“ Die Angesprochene nickte automatisch, ohne etwas dabei zu empfinden. Rileys Worte waren zwar bestimmt nett gemeint, aber im Moment schienen ihre Eingeweide zu Eis erstarrt zu sein. Immer mehr Zweifel nagten an ihr und fraßen sie von innen her auf. Sie bemerkte kaum, dass es einen erneuten Lichtblitz gab und der Schwarzhaarige plötzlich nicht mehr neben ihr stand. Die Stille in dem alten Büro schrie in ihrem Kopf.   Eyleen rührte sich nicht. Ihr Körper zitterte und kein Muskel schien ihr zu gehorchen. Die Wand in ihrem Rücken war eisig, doch sie dankte ihr dafür, dass sie sie an Ort und Stelle hielt. Ohne den stabilen Beton hinter ihr hätte sie schwören können, dass sie auf einem sinkenden Schiff stand. Sie verlor mehr und mehr den Halt und es gab nichts, woran sie sich klammern konnte. „Es ist beängstigend, natürlich, aber du darfst dieser Angst in dir nicht nachgeben.“ Erst als seine Stimme erklang, wurde ihr bewusst, dass sie gar nicht alleine war. Es gab noch jemanden, den sie völlig vergessen hatte. Ihr Blick wanderte durch den Raum und sie entdeckte ihn an der Stelle am Schreibtisch, an der Riley noch vor ein paar Sekunden gelehnt hatte. Seine Augen lagen auf ihr, doch diesmal lag kein Spott und keine Verachtung darin. Im Gegenteil. Sie wirkten ruhig, geduldig und beinahe … freundlich. Etwas, was Eyleen umso mehr aus dem Konzept brachte. „Du hast dich entschieden, dem Ruf zu folgen. Ob bewusst oder nicht. Nur diejenigen, die wirklich zu alldem hier bereit sind, entscheiden sich für das Leben eines Tri's. Du weißt es wahrscheinlich jetzt noch nicht, aber du bist mehr als bereit für diesen Schritt.“ Sie war sprachlos. War das wirklich der Liam, der sie die letzten Stunden nur von oben herab angesehen und sie als lästigen Klotz am Bein gesehen hatte? Wieso war er auf einmal so … freundlich und hilfsbereit? Der Braunhaarige schien den Ausdruck auf ihrem Gesicht problemlos deuten zu können, denn ein kleines Lächeln legte sich auf seine dünnen Lippen. In seinen Augen funkelte ein Glanz, den Eyleen ihm überhaupt nicht zugetraut hätte. „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin nicht ganz so ein großes Arschloch, für das du mich hältst. Komm, gib dem Ganzen eine Chance. Es ist leichter, es zu verstehen, wenn man den Schritt wagt und es mit eigenen Augen sieht.“ Eyleen zögerte noch immer, doch die Klammer bröckelte langsam von ihrem Körper ab. Das Zittern ebbte ab. „Dir wird nichts passieren, das verspreche ich.“   Sie hielt die Luft an, als der Tri direkt vor ihr stehen blieb. Sein Ausdruck war ruhig und seine tiefen, eisblauen Augen strahlten eine Aufrichtigkeit aus, die es einfach unmöglich machte, seinen Worten nicht zu glauben. Er streckte seine Hand nach ihr aus und sie ergriff diese, ohne zu zögern. Nur einen Moment später hatte er sie durch den Raum geführt und ihre Fingerspitzen schwebten nur Millimeter über der Mitte des schwarzen Kreises. Nun hieß es: Jetzt oder nie. Sie gab sich einen Ruck und berührte das Gebilde vor ihr. Ein Sog erfasste sie und riss sie förmlich von den Füßen. Beinahe so, als wäre sie aus dem Auge eines Monstertornados getreten und in seine Fänge geraten. Panisch kniff sie ihre Augen zusammen und versuchte sich gegen den Wind zu stemmen, doch ehe sie überhaupt reagieren konnte, war plötzlich alles wieder ruhig. Vor lauter Angst wagte sie es nicht, ihre Augen zu öffnen. Aber ihr wurde sehr schnell klar, dass sie bereits mitten drin war. Sie konnte es sofort spüren. Ihr Körper war leicht. Beinahe wie eine Feder, die sanft im Wind flatterte. Er fühlte sich noch immer so an, wie sie es gewohnt war, aber irgendwie gab es da noch etwas Neues in ihr. Wahnsinnig viel neues. „Eyleen?“ Rileys Stimme kam von dicht neben ihr und nach einem tiefen Atemzug wagte sie einen Blick in diese neue Welt.   Im ersten Moment war sie enttäuscht. Es sah alles noch genauso aus wie immer. Sie stand noch immer vor der Wand, ihre Hand nach dem Portal ausgestreckt, das aber plötzlich seine Farben umgekehrt hatte. Das Loch an sich war nun Weiß und die Runen Schwarz. Aber sonst … Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, aber sie sah zu ihrer Verwunderung nur Riley. Von den Geschwistern war keine Spur zu sehen. „Wo sind Liam und Chloè?“, fragte sie mit einer Mischung aus Neugier und Unbehaglichkeit. „Ach, die beiden sind schon draußen und sondieren die Lage. Du weißt schon, heute sind wir auf einen kleinen, ruhigen Trip ohne Zwischenfälle aus.“ Er lächelte, doch sie verstand den ernsten Sinn hinter seinen lockeren Worten. Sie wollten es nicht riskieren in eine gefährliche Situation zu kommen. Nicht mit einer Schwachstelle wie ihr im Schlepptau. Doch obwohl sie eigentlich hätte böse sein sollen, weil sie nur eine Last in ihr sahen, war sie gar nicht so unglücklich mit dieser Art der Vorgehensweise. Schnell wechselte sie das Thema. „Sind wir hier wirklich …?“ Sie wusste nicht, wie sie die Frage stellen sollte, daher hoffte sie, der Schwarzhaarige würde erahnen, was sie wissen wollte. „Ja, das hier ist die Traumwelt. Zugegeben, sie ist auf den ersten Blick nicht sonderlich beeindruckend. Zumindest noch nicht.“ Er grinste kurz und fuhr dann fort. „Du musst wissen, es ist so: Die Traumwelt ist im Großen und Ganzen nur eine Abbildung der realen Welt. Die Menschen hier wissen nicht, dass sie träumen. Die Bilder, die ihnen ihr Gehirn vorspielt, sind nur Trugbilder. Das hier ist das wahre Träumen, doch die meisten Menschen werden es nie begreifen. Menschen träumen ihr Leben. Sie tun all das, was sie im wachen Zustand auch tun würden: Sie gehen zur Arbeit, treffen sich mit Freunden oder Familie, faulenzen in ihren eigenen vier Wänden oder gehen einkaufen. Das wäre nicht besonders spektakulär, wenn da nicht der Traum-Aspekt wäre. Wundere dich also bitte nicht, wenn plötzlich ein Formel 1-Rennen mitten in der Stadt ausgetragen wird, dir Dinosaurier über den Weg laufen oder du ein Haus betrittst und plötzlich am Strand stehst und dir Wellen um die Füße spülen. Immerhin sind wir hier in einem gigantischen Traum.“ Er lachte wieder. Er schien Eyleens geschockten Gesichtsausdruck sehr erheiternd zu finden. „Hier gibt es Dinosaurier?“ Eyleens Stimme klang wie ein hohes Fiepen, als sie diese Worte zwischen ihren Zähnen heraus presste. Sie kam nicht umhin sich vorzustellen, dass sie in eine Straße einbog und ihr plötzlich ein T-Rex seine messerscharfen Zähne vor das Gesicht hielt. „Wie gesagt, jeder kann träumen, was er will. Aber genau das ist auch ein Problem. Hier sind einfach zu viele Menschen, die gleichzeitig träumen. Diese Welt wüsste gar nicht, was sie zuerst machen sollte. Steht da nun eine Dino-Herde im Park? Oder gibt es genau dort ein Konzert? Oder spielen Hunde dort am Tisch Poker? Das alles wäre auch für uns viel zu viel. Du könntest dich gar nicht auf eine Sache konzentrieren und würdest nur einen matschigen Brei erkennen.“ So verwirrend das auch alles klang. Irgendwie erschien ihr das einleuchtend. „Um das zu verhindern, ist es uns gelungen, die Kraft des Tribals so zu nutzen, dass wir immer nur den Traum desjenigen sehen, der uns am Nächsten ist. Natürlich kann das in einer Gruppe variieren, aber trotzdem ist das für den eigenen Geist wirklich schonender. Und jetzt komm!“, wechselte er plötzlich das Thema. Auf einmal wirkte er aufgeregt wie ein kleines Kind, dass seinen Eltern etwas unheimlich Wichtiges zeigen möchte. „Lass uns nach draußen gehen. Dann siehst du es mit deinen eigenen Augen.“   Riley war schon losgelaufen, da hatte Eyleen noch nicht einmal die Funktion ihrer Beine herausgefunden. Sobald sich ihre Starre gelöst hatte, folgte sie dem Schwarzhaarigen in die Halle hinaus und ging geradeaus auf das kaputte Tor zu, durch das sie in der realen Welt auch hineingegangen waren. Draußen erwartete sie herrlicher Sonnenschein und beinahe sommerliche Temperaturen. Irgendjemand in der Nähe hatte wohl schon beschlossen, dass nun der Frühling zu Ende war. Sie schlüpfte hinter Riley durch die Mauer und fand sich in der kleinen Gasse wieder, die nun deutlich einladender wirkte. Die Mauern zogen sich auf beiden Seiten des Weges entlang, doch überall wucherte grüner, saftiger Efeu, der das Grau beinahe vollständig verdeckte. Hatte es diese Pflanzen eben auch schon gegeben? Hatte sie die im Dunkeln nur einfach nicht gesehen? Riley gesellte sich zu ihr, während sie zurück zu der Straße mit der Bushaltestelle gingen. „Ihr könnt euch also im Traum die ganze Stadt angucken?“, brach es neugierig aus Eyleen heraus. Sie hatte beschlossen, dass es noch nicht gruselig war, also würde sie versuchen, noch einiges an Informationen in Erfahrung zu bringen. „Nein, nicht die Ganze. Das Portal schafft uns einen Einstiegspunkt, der es uns erlaubt, uns in einem Umkreis von ungefähr drei Kilometern zu bewegen. Wenn du weiter gehen würdest, würdest du irgendwann gegen eine Art unsichtbare Mauer laufen. Sehr schmerzhaft, muss ich dazu sagen.“ Die Blondine lächelte leicht. Das klang so, wie diese gemeinen Labyrinthe aus Glas, die es gerne auf Jahrmärkten gab. „Und wie verlässt man diese Welt wieder?“ Riley zuckte mit den Schultern. „Genauso, wie du sie betreten hast. Durch das Portal. Du solltest also auf keinen Fall vergessen, wo das Portal sich befindet und durch welches du gegangen bist. Es kann nämlich durchaus sein, dass du hier auf andere Tri's stößt. Wenn du aber den Traum durch ein anderes Portal verlässt, als das, durch welches du ihn betreten hast, kann es passieren, dass dein Geist deinen Körper nicht wiederfinden kann und das ist wirklich unangenehm und kann … böse enden.“ Das war wohl wieder eins dieser Themen, bei denen der junge Mann nicht zu tief in die Details gehen wollte. Eyleen erschauderte trotzdem.   „Und wie lange kann man …?“ Sie stockte und die Frage blieb ihr im Hals stecken. Als sie das Ende der Gasse erreicht hatten und auf den Bürgersteig vor ihnen traten, erwartete sie ein ganz unerwarteter Anblick. Statt der Straße, die dort eigentlich hätte sein sollen, floss nun ein Fluss zwischen den Häuserschluchten entlang. Kleine, helle Punkte wippten friedlich auf den Wellen und bei genauerem Hinsehen erkannte Eyleen hunderte weiße Papierboote, die auf dem Wasser immer tiefer in die Stadt vordrangen. Gebannt starrte sie auf die bizarre Szene vor ihr. „Tja, Träume müssen nicht immer einen Sinn ergeben.“ Ein Kichern ertönte neben ihr und sie sah aus den Augenwinkeln, dass Riley auf jemanden zeigte. Ein kleiner Junge, kaum 5 Jahre alt, hockte dort am Ufer und blickte mit strahlenden Augen den kleinen Papierbooten hinterher. Eyleen wurde ganz warm ums Herz, als sie das glückliche Lachen des Kindes hörte. Wundervoll.   Der Tri stupste sie nach ein paar Minuten an und bedeutete ihr, die Straße weiter entlang zu gehen. Sie waren kaum fünf Meter gegangen, da wandelte der Fluss neben ihnen sich wieder zu dem, was er eigentlich hätte sein sollen: eine Straße. Nun erinnerte nichts mehr an den Traum des kleinen Jungen, was sie fast schon ein wenig traurig stimmte. „Interessant, oder?“, griff ihr Gefährte das Gespräch wieder auf und sie nickte zustimmend. „Definitiv.“ „Die Träume von Kindern sind etwas Wundervolles. Mystisch und magisch und voller vergessener Fantasie.“ Eyleen wollte ihm gerade zustimmen, doch als jemand neben sie trat, hielt sie erschrocken inne. „Ja, Riley, das sind sie. Aber nur so lange, bis sie kommen und das alles zerstören.“ Aus Liams Worten sprach der blanke Hass. In diesem kleinen Satz konnte sie all die schlimmen Erinnerungen hören, die ihm in diesem Moment wohl durch den Kopf gingen. Sofort empfand sie großes Mitleid mit denen, die sich diesen Weg ausgesucht hatten. Also auch mit ihr selbst.   „Wie sieht es aus?“ Sie setzten sich wieder in Bewegung. Es waren nur noch ein paar Meter, bis sie die Kreuzung zu einer weit größeren Straße erreichen würden. „Chloé hatte wohl recht. Hier hinten ist alles ziemlich ruhig.“ Riley nickte. „Sie war ja auch gerade erst hier. Deine Schwester hat ein hervorragendes Gespür für Risikofälle. Es hätte mich sehr gewundert, wenn sie danebengelegen hätte.“ Wieder legte sich ein Lächeln auf die Lippen des Braunhaarigen. „Dass du so viel Wert auf ihre Gabe legst, hört sie sicherlich gern.“ „Oh ja, das tut sie.“ Chloé war wie aus dem Nichts neben ihrem Bruder aufgetaucht und selbst sie hatte den Hauch eines Lächelns auf den Lippen. Plötzlich wurde Eyleen wieder bewusst, wie schön die junge Frau eigentlich war! Es raubte ihr immer wieder den Atem. „Ich habe ein Paar von ihnen im Park gefunden. Wenn du ihr die Stadien erklären willst, dürftest du dort gute Anschauungsobjekte finden.“ Der Seitenblick, den sie Eyleen im Gespräch mit Riley zugeworfen hatte, war so kurz gewesen, dass sie wahrscheinlich nicht mehr als ein Rausch an Farben gesehen haben konnte. Der Schwarzhaarige schob seine Brille zurecht und nickte wissend. „Welche Stufe?“ Chloé wechselte einen schnellen Blick mit ihrem Bruder, ehe sie antwortete. „Bis Stufe 4.“ Riley blickte erschrocken, was das flaue Gefühl in Eyleens Magen wieder anfachte. Doch die anderen beiden sahen deutlich gelassener aus. Liam grinste sogar über das ganze Gesicht. „Na, dann haben wir doch den Kandidaten für unsere heutige Vorführung. Nicht schlecht, Eyleen“, meinte er in ihre Richtung gewandt. In seinen Augen funkelte die Kampfeslust. „Dann bekommst du heute sogar schon deine erste Jagd zu sehen.“ Kapitel 6: Jagd --------------- Liams Kommentar behagte ihr gar nicht. Stur richtete sie ihren Blick geradeaus und versuchte das Zittern, was ihre Muskeln wieder lähmen wollte, zu unterdrücken. Jetzt würde sie also bald erfahren, was wirklich mit Jagd gemeint war. Und was waren das für Stadien, von denen Riley gesprochen hatte? Was genau würde sie dort in dem Park gleich erwarten? Während Riley noch immer ein bisschen blass um die Nase war, brodelte in dem Geschwisterpaar eine Vorfreude, die eigentlich nichts Gutes verheißen konnte.   Sie bogen um die Straßenecke und in der Ferne sah Eyleen schon den Ort, auf den die Gruppe zusteuerte. Sie war bisher nie dort gewesen. Ein paar Mal mit dem Bus vorbei gefahren, aber näher war sie diesem Fleckchen Land bisher nie gekommen. Ihre Wohnung lag auch eigentlich am ganz anderen Ende der Stadt. Hier in dieser Gegend war sie selten unterwegs. Aus diesem Grund sah sie sich immer wieder genauestens um. Aufgeregt musterte sie jeden Winkel dieser Straße und der nahestehenden Hochhäuser und fragte sich insgeheim, wie es hier wohl in der Realität aussah. Gab es diese bunte Skulptur dort an der Straßenecke wirklich oder war die bloß jemandes Fantasie? Als sie gerade eine weitere Straße überquerten und dem Park immer näher kamen, zog plötzlich eine Wolke aus tausenden Luftballons über sie hinweg. Die Sonne, die die kleinen Gummiformen traf, ließ sie glitzern und funkeln und warf bunte Flecken auf die Straße. Und nur einen Meter weiter stand ein junges Mädchen auf der Straße und starrte gebannt in die Luft.   Insgesamt war Eyleen überrascht, wie viele Menschen auf dieser Straße unterwegs waren. Es war tatsächlich beinahe so, als würde sie einfach einen kleinen Spaziergang durch die Stadt unternehmen. Selbst die Geschäfte, Cafés und Bäckereien schienen geöffnet zu haben. Schüler und Studenten drängten sich durch die Massen an Arbeitern und unterhielten sich angeregt. Immer wieder fuhr ein Auto an ihnen vorbei, ganz so, als sei alles wie immer. Und wenn die Blondine nicht hin und wieder eine Elefantenherde durch die Seitenstraße hätte schlendern sehen, oder die eben noch grauen Häuser plötzlich in Regenbogenfarben erstrahlten, wäre es ihr noch schwerer gefallen, die Fiktion von der Wirklichkeit zu unterscheiden.   „Und, wie findest du es?“ In Rileys Stimme lag echte Neugier. Mittlerweile hatte sie begriffen, dass der Schwarzhaarige wirklich jemand war, der alles immer ganz genau wissen wollte und nicht mit Fragen geizte. Er war wahrscheinlich ein ganz hervorragender Schüler gewesen. „Es ist … unglaublich!“, flüsterte Eyleen, kurz bevor sich die Szenerie wandelte und Schnee die Straßen und Häuser bedeckte, nur damit die weiße Pracht einen Moment später wieder verschwunden war. Viele der umstehenden Menschen hatte die plötzliche Kälte anscheinend gar nicht bemerkt, doch der Blondine war sie in Mark und Bein gegangen. Die Träumer waren also wirklich nicht in der Lage die fantastischen Dinge aller anderen zu sehen. Sie waren von ihrer eigenen kleinen Traumblase umgeben. „Wie gesagt, es ist wirklich schwer zu erklären, solange man es nicht gesehen hat.“ Riley grinste nun über beide Ohren. Er hatte einen zufriedenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Beinahe so, als wäre es sein Verdienst, dass es ihr fast die Sprache verschlagen hatte.   Kurz bevor die Gruppe den Park erreichte, zog eine Horde Wölfe an ihnen vorbei. Das Knurren der Tiere lag in der Luft, doch mehr als einen Seitenblick hatten sie für die Tri’s wohl nicht übrig. Trotzdem spürte Eyleen das Herz in ihrer Brust aufgeregt schlagen. „Verletzt werden kann man hier aber nicht, oder?“ Obwohl sie sich bewusst war, dass sie wahrscheinlich wie ein kleines, verängstigtes Mädchen klang, wollte sie ihre Frage unbedingt beantwortet haben. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass alle ihrer Begleiter ein kleines Lächeln auf den Lippen trugen. „Wir sind hier in einer nicht existenten Traumwelt. Dein realer Körper wird keinen Schaden davon tragen. Aber mit einer Truppe Wölfe solltest du dich trotzdem nicht anlegen. Schmerzen kann man auch hier empfinden.“ Der amüsierte Unterton verließ Liams Stimme bei seiner Erklärung nicht. Eyleen erschauderte. Genau das hatte sie befürchtet …   Der Park war wirklich wunderschön. Große, saftige Bäume wogten samt ihrer frischen Blätter im Wind. Einige von ihnen trugen sogar Kirschblüten, obwohl diese unter dieser sommerlichen Hitze gar nicht blühen sollten. Auch verschiedenste Blumenarten zierten die Rabatten, die im echten Leben niemals nebeneinander stehen konnten. Hyazinthen blühten mit Rosen und Schneeglöckchen um die Wette, während nebenan Dahlien, Anemonen und Stiefmütterchen wuchsen. Einige Bäume trugen sogar schon ihr Herbstkleid, obwohl andere noch ihre Knospen der Sonne entgegen streckten. Es war ein wundervoller und gleichzeitig surrealer Anblick.   Und überall waren Menschen. Jüngere und ältere. Männer und Frauen. Sie saßen zusammen und redeten, lachten und hatten Spaß. Kinder spielten auf den Spielgeräten eines kleinen Spielplatzes, die Erwachsenen saßen auf den umstehenden Bänken und eine Gruppe Jugendlicher hatte sich an den Rand des Brunnens gesetzt, der den Mittelpunkt des Parks markierte. So musste es wohl an einem sonnigen Samstag auch in der realen Welt aussehen. Eyleen bekam sofort Lust am nächsten Wochenende mit Mia dorthin zu gehen.   „Wir halten nach dem S4 Ausschau. Wenn ihr fertig seid, kommt zu uns“, meinte Liam zu Riley, welcher dessen Vorschlag nickend zustimmte. „Wir brauchen nicht lang“, fügte der Schwarzhaarige noch hinzu, kurz bevor das Geschwisterpaar sich in Richtung des Brunnens aufmachte. „Ein S4?“ Als sie alleine waren, konnte Eyleen ihre Neugier kaum zurückhalten. Obwohl sie Angst vor dem Thema hatte und sich schon beim Gedanken an die Schattenwesen unwohl fühlte, herrschte doch in ihr auch dieser erdrückende Wunsch, alles endlich zu verstehen. „Die Stufen bzw. Stadien der Dämonifizierung sind eine Art Skala, mit der wir den Fortschritt der Besessenheit eines Menschen deuten können. Bei jedem Menschen dauern die Stufen unterschiedlich lange. Viele erreichen nicht einmal das Ende der Skala, während andere es schon als Teenager tun. Insgesamt gibt es sechs Stufen. Die Stufe 0 bezeichnet Kleinkinder unter 4 Jahren, da diese noch nicht „richtig“ denken können. Sie versuchen zwar die Welt zu verstehen und lernen neugierig neue Dinge, aber erst ab dem 4. Lebensjahr entwickelt sich das Gehirn soweit, dass ein Eindringen in die Gedanken und Träume für die Dämonen möglich ist. Die erste Stufe ist die, in der die Menschen schon besessen sind, sie aber überhaupt nichts mitbekommen. Sie sind noch komplett Herr ihrer Sinne und spüren keinerlei Einfluss. Aber ab der zweiten Stufe treten die ersten Erscheinungen auf. Sie sind immer öfter schlecht gelaunt oder lästern deutlich lieber über andere. Die ersten bösen Gedanken wie Neid und Missgunst nisten sich in ihrem Kopf ein und sie sehen in allem gerne nur das Schlechte, doch mehr als das passiert noch nicht. Hier in der Traumwelt sind diese äußerst schwer von der ersten Stufe zu unterscheiden. Menschen dieser Stufe verschwimmen nur ganz, ganz selten.“ Dieses Wort ließ Eyleen stutzten. Bis eben hatte sie ihm aufmerksam zugehört und versucht, das alles zu verstehen, aber nun war sie etwas verwirrt. „Verschwimmen? Was meinst du denn damit?“ Riley nickte. „Sieh mal dort“, meinte er und zeigte auf eine Frau, die nur ein Stück von ihnen entfernt auf einer Bank saß und ein Buch las. Sie war Anfang 30 und trug einen kurzen, schwarzen Rock zu einer hellgrünen Bluse. Ihre Strickjacke, die sie zweifelsohne für eine Wetteränderung als Notfallmaßnahme dabei hatte, und eine mehrfarbige Umhängetasche lagen neben ihr auf der Bank. Ihre langen, schwarzen Haare wehten im sanften Wind. Eyleen betrachtete sie, doch sie konnte einfach nicht verstehen, was Riley ihr zeigen wollte. „Was soll denn mit ihr sein?“, fragte sie frustriert. Denn so sehr sie sich auch konzentrierte, sie sah einfach nichts! „Lass uns noch ein Stück näher herangehen“, sagte Riley geduldig und bedeutete ihr, vorauszugehen. Die Blondine ging ein paar Schritte vorwärts, bis sie nur noch knapp einen Meter von der jungen Frau entfernt stand. Diese reagierte überhaupt nicht auf den Neuankömmling, sondern blätterte einfach erneut eine Seite ihres Buches um.   Gerade, als Eyleen wieder anmerken wollte, dass sie nichts erkennen konnte, sah sie es plötzlich und sprang einen Schritt zurück. Ihr erschrockener Aufschrei hing in der Luft, doch niemand drehte sich zu ihr um. Was war das? Dieser … Schatten, der dort hinter ihr schwebte? Nein, nicht hinter ihr, in ihr. Er war kaum zu erkennen und doch eindeutig zu sehen. Eine schwarze Gestalt waberte um den Körper der Frau herum, so, dass sie sich teilweise aufzulösen schien. Es waren immer nur Millisekunden, doch es geschah. „Was ist das?“, quiekte die Tri und blickte sich hastig nach Riley um. Zu ihrer Erleichterung stand er wieder direkt neben ihr. „Das, Eyleen, ist einer der Dämonen. Diese Frau ist ein Stufe drei Typ. Ab dieser Stufe empfinden andere Menschen die Person als zunehmend unsympathisch. Man könnte sie schon fast als „böse“ beschreiben.“ Diese Frau war böse? Aber … sie sah doch überhaupt nicht gemein oder hinterhältig aus! „Hier in der Traumwelt verschwimmt ihr Körper immer öfter und vor allem, sichtbarer. Du siehst ihn ja. Er schwebt wie eine Dampfwolke um sie herum. Dort, hinter ihrem Kopf. Da ist sein Gesicht, siehst du es?“ Eyleen schluckte schwer. Sie wagte es kaum in die Richtung ihres Gesichtes zu sehen, doch jetzt, wo Riley es so offen gesagt hatte, wurde ihr Blick praktisch davon angezogen. Und tatsächlich. Sie sah seine groteske Maske, seine verzerrte Fratze, dunkle, rote Augen und ein weißes Gebiss voller gebleckter Zähne. Seine Haut war schwarz und schrumpelig und voller Falten. Sie wirkte beinahe ledern und machte den Eindruck, als wäre sie eiskalt. Das war der Stoff aus dem Albträume gemacht waren. Eyleen wich einen weiteren Schritt zurück. Bloß weg von diesem Ding!   „Ab dieser Stufe ist das Ausmaß bereits zu erkennen“, erklärte Riley weiter, ohne ihre Antwort abzuwarten. „Dies ist das mittlere Stadium der Dämonifizierung, wenn du die 0 nicht mitzählst. In der vierten Stufe wird es langsam gefährlich. Dort ist der Mensch hinter dem Dämon kaum noch zu erkennen und ab diesem Zeitpunkt ist er für uns greifbar. Dann können wir ihn bekämpfen und hoffentlich zurückdrängen. Komm mit“, meinte er dann, wandte sich von der Schwarzhaarigen ab und nickte einmal in Richtung des hinteren Teil des Parks. „Wir treffen uns dort drüben mit den anderen.“ Mechanisch folgte sie ihm über das rote Kopfsteinpflaster. Sie fühlte sich in diesem Augenblick wie ein Roboter, der bloß die Befehle seines Schöpfers befolgte. Ihr Kopf war leer. Es war ihr nicht mehr möglich klar zu denken. Eine schwere Decke aus Müdigkeit hatte sich über sie gelegt und drohte nun, sie zu zerquetschen.   Sie linste kurz in Richtung von Liam und Chloé, als sie direkt hinter den beiden stehen geblieben waren und bemerkte, dass ihre Blicke auf einen Punkt fixiert zu sein schienen. Mit einem mulmigen Gefühl wandte auch sie sich in die Richtung, in die die anderen nun schauten und entdeckte sofort das Ziel. Ihre Kehle schnürte sich bei dem Anblick zusammen und sie bekam keine Luft mehr. Schlug ihr Herz überhaupt noch? Sie wusste es nicht mehr. „Das ist die Stufe vier. Das vorletzte Stadium, das ein Mensch erreichen kann, bevor der Dämon ihn ganz übernimmt.“ Das Ding war noch menschlich? Es saß zwar ganz normal zwischen anderen Menschen auf einer Bank, bewegte sich aber nicht. Es tat auch nichts außer dort zu sitzen. Eyleen starrte es aus großen Augen an. Es war kaum noch etwas von den Merkmalen übrig, die man einem Menschen zusprach. Es hatte zwar noch die ungefähre Größe einer Person und auch alle Gliedmaßen, die es hätte haben sollen, aber sonst erinnerte kaum noch etwas an daran. Das dort war ein Monster. „Der Mensch ist kaum noch zu erkennen. Bloß die Proportionen erinnern noch ein wenig daran. Ab dieser Stufe stehen Verbrechen jeder Art auf der Tagesordnung. Selbst ein Mord ist in Ausnahmefällen schon möglich. Von diesem Zeitpunkt dauert es nicht mehr lang, bis das Schattenwesen auch in der realen Welt die komplette Kontrolle übernimmt. Dieses Stadium ist unsere einzige Chance die Dämonen zu vertreiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass es die fünfte Stufe erreicht! Das zu verhindern, ist unsere Aufgabe.“   „Und in der sind wir ziemlich gut.“ Liam hatte ein Lächeln auf den Lippen, als er das Schwert, welches er zum Zeichnen des Tores benutzt hatte, auf das Wesen richtete. Nur einen Meter trennten es von seinem Ziel. Doch der Dämon reagierte immer noch nicht. Eyleen starrte auf die Klinge. Sie hatte das Gefühl, sie sähe plötzlich so … anders aus. Es war nicht mehr bloß Schwarz. Nun schien das Material zu pulsieren. Weiße Wellen schoben sich über die Oberfläche des Schwertes, beinahe so, als hätte es einen Herzschlag. Als würde es leben. Allerdings blieb ihr keine Zeit, die Waffe weiter anzustarren, denn im nächsten Moment machte Liam einen Satz nach vorne und ließ sein Schwert auf den wehrlosen Gegner niedersausen. Als es ihn an der Schulter berührte, breitete sich ein unheimlich helles Licht aus, was Eyleen sofort verschluckte. Sie hatte kaum die Gelegenheit die Augen zu schließen, bevor das Licht schon wieder verebbt war.   Panik erfasste sie, als die Umgebung, in der sie vor einigen Sekunden noch gestanden hatte, plötzlich einer ganz anderen Szenerie gewichen und sie ganz allein war. Der sonnendurchflutete Sommertag war einem dunklen Raum gewichen, in dem ein beißender Gestank in ihrer Lunge kratzte. Ein Hustenschauer hielt sie in ihrem Griff, der ihr schon die Tränen in die Augen trieb. Panik erfasste sie, als mehr und mehr dunkler Rauch den Raum füllte und sie kaum noch etwas erkennen konnte. Ein Sofa stand nicht weit von ihr entfernt. Der Couchtisch war bereits umgeworfen worden. Die Regale an den Wänden, die Büchern, DVDs und einem Plasmafernseher einen Platz boten, waren bereits von schwarzem Ruß überlagert und der Inhalt kaum noch zu identifizieren. Ihre Beine waren schwer, als sie sich durch den Raum zu der einzigen Tür, die sie erkennen konnte, vorarbeitete. Als ihre Hand die Klinke berührte schrie sie auf vor Schmerz, als das viel zu heiße Material sich in ihre Haut brannte. Mehr und mehr Qualm trat unter der Tür hervor und Eyleen glaubte, etwas durch den Spalt flackern zu sehen. Langsam wurde ihr klar, was eigentlich passierte und das erschütterte sie bis ins Mark.   Sie flüchtete. Wohin wusste sie selbst nicht. Hauptsache weg von der Tür. Auf der gegenüberliegenden Seite kauerte die junge Frau sich vor eine große Holzvitrine, deren Inhalt vollkommen mit dunklem Staub bedeckt war. „Ich werde hier sterben. Elendig verbrennen.“ Eyleen schrak zurück, als plötzlich dicht neben ihr eine Stimme erklang. Ein Mann um die 40 Jahre saß neben ihr, die Knie an die Brust gezogen und die Arme ganz fest darum geschlungen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er völlig außer sich auf die Wohnzimmertür, als erwarte er, dass das Feuer jeden Moment durch sie hindurch brach. Seine Haut war kalkweiß und außer einem schmutzigen T-Shirt und einer Stoffhose trug er nichts weiter. Der Mann hatte Todesangst, das war nicht zu übersehen. Doch was sollte sie zu ihm sagen? Sie war selber starr vor Angst! Und dazu wusste sie nicht einmal, was überhaupt vor sich ging!   „Ich werde sterben. Verbrennen. So grausam …“ War das sein Albtraum? Der Albtraum, durch den der Dämon in ihn eingedrungen war? Musste er in dieser Stufe jede Nacht durch diese Situation? Jede Nacht seiner schlimmsten Angst hilflos gegenüber stehen? Das war grausam. Einfach nur unmenschlich, das jemandem anzutun. Es war kein Wunder, dass die Menschen so im wachen Zustand langsam verrückt wurden und Dinge taten, die sie wahrscheinlich selbst niemals für möglich gehalten hatten. Was für eine brutale Art, jemanden zu foltern. Einfach widerlich. Eyleen räusperte sich und wandte sich dem Mann zu. Sie schluckte die Panik runter, die sie lähmen wollte. Sie musste irgendwas für ihn tun. Er durfte einfach nicht so leiden! Das war nicht fair! „Hören sie, es wir alles gut, okay?“ Ihre Stimme schreckte den Mann auf. Es schien, als hätte er sie erst dadurch überhaupt bemerkt. Seine Angst und der immer wiederkehrende Albtraum hatten ihn sich völlig in sich selbst zurückziehen lassen. Weg von dem Wahnsinn. Verwunderung blitzte kurz in seinen Augen auf, doch seine Furcht war einfach zu groß, um sich Gedanken darüber zu machen, wer sie eigentlich war. „Nein. Nein! Das Feuer kommt! Es wird mich verbrennen!“ Blitzartig entknotete er seine Gelenke und sprang auf Eyleen zu. Sie schrie auf, als der Mann sich an ihre Arme hängte und seinen Kopf in ihrem Schoß vergrub. Sie spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. In seinen Worten hängen Tränen. „Ich werde sterben, genau wie mein Vater!“ Das war also der Grund. Langsam konnte sie ihn verstehen. Und im nächsten Moment war sie ganz ruhig.   Verschwunden war die Panik. Keine Angst quälte sie mehr. Es kümmerte sie nicht mehr, was mit ihr passieren würde. Ob dieser Albtraum, in dem sie gefangen war, auch ihr etwas antun konnte. Das war alles bedeutungslos geworden. Dort lag dieser Mann in ihren Armen. Die Panik hatte sich bis in die Tiefen seines Herzens gefressen. Er konnte sich davon nicht befreien. Der Griff war einfach zu fest. „Nein, da irren sie sich. Die Tragödie muss sich nicht wiederholen. Es wird alles gut, das verspreche ich ihnen.“ Das Schluchzen des Mannes stoppte. Wie in Zeitlupe hob er seinen Kopf und schaute sie an. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ihre Hände lagen auf seiner Schulter. „Es tut mir leid, was mit ihrem Vater geschehen ist“, erzählte sie weiter. „Aber glauben sie mir, dieses Feuer wird ihnen nichts tun. Sie haben Familie, nicht wahr?“ Er starrte sie noch immer an, doch nach einer ganzen Weile nickte er. Ihr Lächeln wurde breiter. Er nahm sie wahr! Öffnete sich ihr! Vielleicht konnte sie ihm etwas helfen. Sie musste einfach! „Und glauben sie wirklich, dass ihre Familie dabei zusieht, wie sie in einem brennenden Haus gefangen sind? Glauben sie nicht, dass sie alles versuchen werden, sie zu retten?“ Seine Augen öffneten sich – wenn das überhaupt ginge – noch weiter. „Und sie haben doch bestimmt auch Nachbarn. Eine dieser älteren Damen, die in jeder Nachbarschaft wohnen und die meiste Zeit des Tages an ihren Fenstern stehen, um durch die Gardinen zu linsen.“ Ein kleiner Funke trat in seine bis eben noch leeren Augen. Das war ihr Antwort genug. „Es gibt so vieles, was sie tun können! Feuer- und Rauchmelder werden sie warnen, wenn etwas passiert! Ein vorsichtiger Umgang mit Kerzen oder Kaminöfen und nichts kann passieren! Und natürlich gibt es auch immer noch die Feuerwehr. Mutige Männer und Frauen, die tagtäglich ihr Leben riskieren, um anderen Menschen zu helfen. Vertrauen sie ihren Mitmenschen und besonders denen, die sie lieben. Sie werden sie nicht im Stich lassen!“   Sein Zittern stoppte. Die Panik zog sich aus seinen Augen zurück und er atmete wieder langsamer und gleichmäßiger. Seine verkrampften Hände lockerten sich ein wenig, doch er ließ sie nicht los. Es schien beinahe so, als wäre sie eine Art Rettungsanker für ihn. „Vertrauen … Ja, natürlich. Es ist nicht so wie bei meinem Vater. Ich muss … einfach nur besser aufpassen. Meine Frau, meine Kinder … Sie sind immer da.“ Eyleen nickte ihm beruhigend zu. Nun trat auch auf seine Lippen ein leichtes Lächeln. Er hatte seine Angst überwunden.   Ein lauter Aufschrei ließ das Mädchen zusammenzucken. Im selben Moment bemerkte sie, wie der Körper des Mannes in ihren Armen in sich zusammensackte. Seine Augen waren geschlossen und er war ohnmächtig. Was bitte sollte das jetzt bedeuten? Vor ihr bewegte sich etwas. Sie hob ihren Blick und starrte in die Rauchwolken, die noch immer das Zimmer durchzogen. Der Gestank nach verbranntem Material lag auch jetzt noch in der Luft und das Feuer nagte weiterhin an der Tür. Müsste es nicht langsam verschwinden? Immerhin hatte er seine Angst doch überwunden, oder etwa nicht? Hatte sie mit ihrer Rede überhaupt etwas erreicht? Wieder sah sie eine Bewegung vor sich und sie konzentrierte sich vollkommen auf den Qualm. Etwas war dort. Stand dort im Rauch. Zwei leuchtend rote Punkte und etwas Weißes blitzten in der Dunkelheit … Und dann sah sie ihn. Den Dämon. Seine Augen waren auf sie gerichtet, das Maul war gefletscht. Ein Knurren drang aus seiner Kehle, das Eyleen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dieses Schattenwesen hatte nichts mehr mit denen zu tun, die sie an diesem Tag gesehen hatte. Seine Gliedmaßen waren seltsam proportioniert. Seine Beine waren lang und unheimlich dünn. Seine Knie waren gebogen unter der Last seines schlaksigen Körpers. Seine zu langen Arme erinnerten sie an die Arme eines Gorillas, nur dass dieses Ding dort Klauen anstatt von Fingern hatte. Und auch sein Gesicht erschien ihr alles andere als menschlich. Es war viel zu lang und spitz für ein lebendes Wesen und seine lederne Haut wirkte rau und unnatürlich. Auch die beiden Hörner auf seinem Kopf passten so gar nicht ins Bild. Eyleen hatte in ihrem Leben noch nie eine solche Angst empfunden.   Das Wesen schrie auf und ging tiefer in die Hocke. Diese Bewegung erinnerte stark an einen Löwen. Ein Raubtier kurz vor dem Angriff. Im nächsten Moment passierte alles gleichzeitig: Eyleen schrie, als das Ding blitzschnell auf sie zusprang, doch nur Zentimeter, bevor seine Klauen sie durchbohren konnten, stoppte es ab und begann aus der Mitte heraus Weiß zu glühen. Ein letzter wütender Schrei des Dämons erklang und im nächsten Augenblick saß sie wieder in dem kleinen Park. Verschwunden war das Haus, das Feuer, und verschwunden war das Schattenwesen. Stattdessen stand plötzlich Liam vor ihr. Das Schwert genau an der Stelle erhoben, wo es eben seinen Gegner durchbohrt hatte. „Eyleen! Oh mein Gott, Eyleen! Ist alles in Ordnung?“ Sie fühlte, wie jemand seine Hand auf ihre Schultern legte, doch sie schaffte es nicht, den Blick von dem Braunhaarigen abzuwenden, der auch sie immer noch ansah. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht, den sie nicht deuten konnte. „Eyleen? Hey!“ Als das Gewicht von ihrem Schoß verschwand, fand sie endlich ihren eigenen Körper wieder und spähte zur Seite. Chloé war anscheinend neben sie getreten und hatte den Mann, der eben noch an sie geklammert war, von ihr runter gezogen. Doch nur einen Moment, nachdem sie ihn dort auf dem Kopfsteinpflaster abgelegt hatte, begann sein Körper immer transparenter zu werden, bis er sich vollständig aufgelöst hatte. Erschrocken keuchte sie nach Luft. „Es ist alles okay, Eyleen. Er ist bloß aufgewacht, das ist alles.“ Das war das erste Mal, dass die Blondine direkt mit ihr gesprochen hatte. Auch sie hatte diesen seltsamen Ausdruck in den Augen, den sie einfach nicht deuten konnte. „Er ist … wach?“, flüsterte sie und eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Doch zeitgleich begann ihr Körper zu brennen und sie spürte, wie das Feuer sich über ihren Rücken ergoss. Sie schnappte erschrocken nach Luft und ihre Hand legte sich automatisch an die Stelle an ihrer rechten Schulter, um das Feuer zu ersticken. Nach nur wenigen Sekunden ebbten die Schmerzen ab. Ihre Verkrampfung löste sich und sie sackte noch weiter in sich zusammen. Doch jemand hielt sie an Ort und Stelle. Ein Blick über die Schultern verriet ihr, dass Liam nun hinter ihr stand und sie an den Schultern aufrecht hielt. „Es geht mir gut! Nur ein bisschen ausgelaugt“, beteuerte sie sofort und ließ damit das Feuer unerwähnt. Keiner der anderen schien etwas bemerkt zu haben. Und zu ihrer Überraschung ließ der Braunhaarige sie tatsächlich los. Sie schüttelte kurz den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können, und richtete sich dann mühsam auf. Der Schwindel hatte sich bereits gelegt.   „Liam! Was zum Teufel ist passiert?“ Riley schien außer sich zu sein und bestätigte damit Eyleens Verdacht, dass das so nicht geplant gewesen war. „Wieso hat dieser Dämon uns getrennt? Woher kam dieses starke Licht? Eyleen konnte sich doch überhaupt nicht wehren! Sie hätte verletzt werden können!“ Der Angesprochene wartete die Tirade seines Freundes geduldig ab, ehe er kurz mit den Schultern zuckte. „Wir haben den Guten wohl mächtig unterschätzt. Das war wohl einer der stärkeren Sorte. Doch ich hatte nichts Verdächtiges bemerkt.“ Er warf einen kurzen Blick auf seine Schwester, die nur mit dem Kopf schüttelte. „Gewaltig unterschätzt, würde ich sagen! Das hätte nicht passieren dürfen!“ Trotz der Todesangst, die Eyleen eben durchlebt hatte, fand sie Rileys Reaktion ein wenig unfair seinen Freunden gegenüber. „Riley, es geht mir gut, okay? Das war bestimmt keine Absicht gewesen! Es kann doch immer mal wieder etwas schief gehen! Gib den beiden nicht die Schuld!“ Damit hatte anscheinend niemand gerechnet. Alle Blicke lagen plötzlich auf ihr. Ein Ausdruck von Verwirrung lag in ihren Augen. Ach ja, sie war ja das kleine, verängstigte Mädchen. Sie durfte gar nicht solche Reden schwingen, sondern musste weinend in der Ecke sitzen. Sofort war der ihr so gut bekannte Trotz wieder da. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, damit niemand merkte, wie sehr ihre Finger noch zitterten und legte genervt den Kopf schief. „Ihr habt mich etwas auf dem falschen Fuß erwischt, das muss ich zugeben. Und das Ding war aber auch ekelhaft.“ Sie schüttelte sich. „Als der Kerl mich angeschrien hat, hab ich mich aber beinahe mehr erschrocken, als vor dem Viech. Aber noch mal brauche ich so eine Überraschungsaktion wirklich nicht.“   Sie war plötzlich so wahnsinnig müde. Als Liam plötzlich auflachte, wandten sich alle erschrocken ihm zu. Doch er grinste nur. „Nicht schlecht, Kleine. Du bist ja wirklich taff. Hätte ich dir überhaupt nicht zugetraut!“ Eyleen funkelte ihn finster an. „Nenn mich nicht „Kleine“!“, knurrte sie, was sein Grinsen nur verbreiterte. „Fauchen tut sie auch schon wie eine kleine Löwin! Eine Löwin in Form eines Kätzchens. Ich glaube, mit dir kann es echt noch lustig werden!“ Beide sahen sich tief in die Augen und sie bemerkte ein seltsames Funkeln darin. Skepsis machte sich in ihr breit.   „Hör auf sie zu ärgern, Liam! Ich bring sie jetzt nach Hause! Sie sollte sich ausruhen.“ Sich auszuruhen klang wirklich verlockend. „Tut euch keinen Zwang an. Geht ruhig! Wir räumen hier noch ein bisschen auf.“ Im nächsten Moment waren Chloé und ihr Bruder zwischen den Bäumen des Parks verschwunden. Kapitel 7: Training ------------------- Der Weg zurück war mühsam gewesen. Sie hatten den ganzen Weg zum Portal durch die Traumwelt-Stadt laufen müssen. Nach den Erlebnissen von diesem Tag war ihr das wirklich etwas schwer gefallen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft gefunden, sich über die absurdesten Dinge zu wundern, die sie gesehen hatte (Irgendjemand hatte wohl zu viel Blümchen gegen Untote gespielt). Doch sie hatte sich nicht ein Mal beklagt. Allgemein war ihr Rückweg ausgesprochen schweigsam verlaufen. Riley hatte kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Als sie durch das Tor wieder in die reale Welt trat und der Sog sie erneut erfasste, war sie viel zu müde, um sich zu erschrecken. Beinahe kam es ihr auch schon vertraut vor. Riley brachte sie zu seinem Auto, nachdem er die Tür wieder hinter ihnen verriegelt hatte (Und nun wusste sie: Es gab zwei Schlüssel für diese Tür und Riley besaß den anderen). Eyleen hatte einen letzten Blick auf die zwei verbliebenen Tri’s geworfen, die reglos und beinahe tot aussehend die Wand angestarrt hatten. Der Anblick würde ihr wohl immer einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Daran konnte man sich gar nicht gewöhnen …   Es dauerte nur gut 20 Minuten, bis sie Eyleens Wohnung erreichten. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits kurz nach ein Uhr Nachts war. Kein Wunder, dass die Straßen wie ausgestorben gewesen waren. Ihr Kopf war erfüllt von der Vorfreude, endlich in ihr gemütliches Bett fallen zu können! Riley hielt direkt vor ihrer Wohnungstür. Leicht verschlafen machte sie sich an dem Verschluss ihres Gurtes zu schaffen, der sich irgendwie nicht öffnen wollte. Es dauerte länger als üblich, bis das vertraute Klick-Geräusch ertönte. „Eyleen?“ Als sie ihren Namen hörte, hielt sie kurz vor dem Öffnen der Beifahrertür noch mal inne. Als sie zur Fahrerseite hinüber sah, lag sein Blick bereits auf ihr. Unter seiner neutralen Maske schien etwas zu brodeln. „Ja?“, fragte sie in die Stille, nachdem einige Momente verstrichen waren, ohne, dass er etwas gesagt hatte. „Es war schön, dass du heute dabei warst. Tut mir leid, dass dein erstes Mal so … chaotisch war. “ Er gab also sich die Schuld, dass bei der Jagd etwas schiefgelaufen war? Und so wie er sie ansah dachte er bestimmt, dass er ihre Angst nur noch schlimmer gemacht hatte. Doch Eyleen sah das etwas anders. „Mach dir da keine Gedanken drüber. Mir geht es gut, ehrlich! Klar hat mich das alles sehr mitgenommen und geschockt, aber ehrlich gesagt bin ich auch ziemlich erleichtert!“ Ein kleines Lächeln erschien in ihrem Gesicht, was ihren Gegenüber bloß noch mehr verwirrte. „Erleichtert? Worüber?“ „Dass ich endlich weiß, was hier vor sich geht! Ob das Ganze allerdings gut oder schlecht ist, dass … weiß ich zurzeit auch noch nicht.“ Sie zuckte leicht mit ihren Schultern und wandte sich wieder der Tür zu. Sie brauchte wirklich mal eine Minute, um darüber nachdenken zu können.   Als sie aus dem Auto ausgestiegen war, lehnte sie ihren Kopf noch einmal durch die offene Tür zurück in das Wageninnere. „Danke fürs Vorbeibringen. Und … Danke für die Einladung.“ Sie schloss die Autotür und ging in Richtung des Hauseingangs. Hinter ihr hörte sie, wie der Schwarzhaarige wegfuhr und die Stille der Nacht sich wieder um sie legte. Schnell huschte sie durch die Tür, weil sie langsam die Kälte der Frühlingsnacht in ihren Knochen spürte. Sie lief die paar Steintreppen bis zu ihrer Wohnung und seufzte erleichtert, als sich die Wohnungstür wieder hinter ihr schloss. Unschlüssig, was sie nun tun sollte, blieb sie reglos im Flur stehen. Die Eindrücke des Tages prasselten wie Regentropfen auf sie ein und ihr Kopf wusste nicht, welche er zuerst verarbeiten sollte. Erst als sich ein Detail aus dem Fluss an Gedanken heraus sonderte, kehrte Leben in ihre Beine zurück. Unachtsam ließ sie ihre Jacke auf den Boden sinken, dort, wo sie vor einigen Stunden bereits ihre Schultasche hingelegt hatte, und ging hinüber ins Badezimmer. Sie zog ihren Pullover und das T-Shirt aus und begann trotz der warmen Zimmertemperatur zu frösteln. Schnell wandte sie sich um und brauchte nur Sekunden, um das neue Symbol zu erkennen. Auf ihrer rechten Schulter zierte nun eine Blume ihre Haut. Fein eingearbeitet in den Rest des Tribal-Tattoos. Eine Lotusblüte aus feinen, schwarzen Fäden. Sacht berührten ihre Finger das filigrane Kunstwerk, worauf ein Wort besonders laut in ihren Gedanken widerhallte: Mitgefühl. War das ihre zweite herausragende Eigenschaft? Das Empfinden von Mitgefühl? Natürlich sorgte sie sich um die Menschen, die ihr am Herzen lagen, aber brauchte es nicht etwas mehr, um auf diese Weise mitfühlend zu sein?   Eyleen schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Zu müde.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern und sie entschied sich, das Grübeln auf Morgen zu vertagen. Sie entledigte sich auch dem Rest ihrer Kleidung und schlüpfte in die schon bereitliegende Schlafkleidung, die bei ihr immer aus einer Jogginghose und einem T-Shirt bestand. Nachdem sie noch schnell ihre Zähne geputzt hatte, schlurfte sie hinüber in ihr Zimmer und kaum, dass die Decke sie bedeckte, war sie auch schon eingeschlafen.   .   Als sie erwachte und die Sonne bereits knallend auf ihr Fenster schien, wunderte sie nicht. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigte ihre Vermutung, dass sie bis kurz vor zehn Uhr geschlafen hatte. Sie war zwar nicht unbedingt ein Frühaufsteher, aber dass sie so lange schlief, kam dennoch sehr selten vor. Dafür bemerkte sie aber sofort eines: Sie fühlte sich gut. Keine Kopfschmerzen, kein Albtraum. Sie hatte wunderbar geschlafen und war sofort putzmunter. Sie schlug die Decke zurück und trottete ins Bad. Nach einem kurzen Frischmachen, ging sie in die kleine Küche, um sich dort eine Schüssel mit Cornflakes zurecht zu machen, und dann ins Nebenzimmer zu verschwinden. Das Zimmer war das größte ihrer Dreizimmerwohnung und Mia und sie hatten beschlossen, dort ein gemeinsames Wohnzimmer einzurichten. Für Möbel und Accessoires hatten sie nicht viel Geld gehabt, doch mit ein bisschen Kreativität hatten sie es sich wirklich schön gemacht, wie sie fanden. Sie hatten alle Möbel in schlichtem schwarz/weiß gehalten, um – je nach Laune – farbige Dekoration dazu kombinieren zu können. Die weiß gestrichenen Wände waren mit vielen bunten Bildern und Fotos von ihren Bewohnerinnen geschmückt. Der helle Holzfußboden, der zum Teil unter einem hellgrauen Flokati-Teppich verschwand, erhellte den Raum noch zusätzlich. Ein schwarzes Stoffsofa stand an die hintere Wand gerückt, und diente als Ruhepol. Ein weißer Couchtisch, der durch seine abgerundeten Kanten und Verzierungen ein wenig altmodisch wirkte, passte perfekt zu den zahlreichen Kommoden und Schränken, deren goldene Knäufe im Licht schimmerten. Einige Pflanzen und Dekorationsobjekte rundeten die Einrichtung ab. Eyleen fand jedes Mal, wenn sie den Raum betrat, dass sie gute Arbeit geleistet hatten. Das Zimmer wirkte gemütlich und beruhigend und das war genau das, was sie jetzt brauchte.   Die Blondine ließ sich auf das Sofa fallen und versank sogleich in den zahlreichen Kissen. Mit einer Hand balancierte sie ihre Cornflakes-Schale, während sie mit der anderen den Fernseher einschaltete. Sie ließ die Nachrichten laufen ohne dem Sprecher wirklich zuzuhören und aß dabei ihr Frühstück. So langsam krochen die Gedanken wieder in den Vordergrund. All die Dinge, die geschehen waren, und all das, was sie in den letzten vier Tagen gelernt hatte. Noch immer bekam sie eine Gänsehaut, wenn sie nur daran dachte. Dämonen lebten unter ihnen. Im Kopf von jedem von ihnen. Ein böser Geist, der dich so lange deine schlimmsten Albträume durchleben ließ, bis dein Herz und dein Kopf schwach genug waren, damit er das komplette Handeln übernehmen konnte. Was für ein absolut schrecklicher Gedanke…   Und wieder erwischte sie sich dabei, wie sie in sich hineinhorchte und nach irgendeinem Zeichen suchte, dass auch in ihr so ein Monster tobte. Sie glaubte, es spüren zu müssen, jetzt, nachdem sie von dem Geheimnis wusste. Doch sie fand nichts in sich. Oder war das sogar Teil ihrer List? Dass es sich exakt wie eine eigene Entscheidung anfühlte? Kannten diese Wesen den Menschen so gut, dass es ihn zu etwas zwingen konnte, ohne, dass dieser es bemerkte? War das etwa die innere Stimme, die auch als Bauchgefühl bezeichnet wurde? War es wirklich so leicht einen Menschen zu einer Marionette zu machen?   Ein leises Piepsen ließ die 17-jährige aufblicken. Im Fernsehen lief jetzt anscheinend eine Reportage über das Herstellen irgendeiner Käsesorte. Sie schaltete das Gerät aus, stellte ihre Schüssel mit den restlichen, inzwischen matschigen Cornflakes auf den Tisch und krabbelte vom Sofa. Sie wusste, was dieses Geräusch gewesen war, und das machte sie neugierig. Draußen im Flur beugte sie sich zu der Jacke herunter, die sie beim Heimkommen vor die Garderobe hat fallen lassen, und kramte so lange darin herum, bis sie den Gegenstand in der rechten Jackentasche herausgezogen hatte. Tatsächlich verkündete das Display ihr eine eingegangene Nachricht. Wieder von einer unbekannten Nummer. Die Neugier wuchs. Als sie die SMS abrief und die ersten zwei Worte las, legte sich kurz ein Schatten über ihr Gesicht, doch sie schluckte den gedanklichen Kommentar erst mal hinunter.   „Hey Kätzchen! Ich denke mal, du weißt, wer ich bin, nicht wahr? Hab mir von dem Nerd deine Nummer geklaut. Nicht schlecht, was du gestern abgeliefert hast! Ich weiß, dass du viel mehr getan hast, als du zugibst. Du bist nicht sonderlich schwer zu durchschauen. Von mir aus kannst du aber ruhig weiter das kleine ängstliche Mädchen spielen. Das steht dir irgendwie. ;-) Aber egal. Ich dachte, du hättest vielleicht Interesse daran zu wissen, wie du die Klinge beschwören kannst. Nur für den Fall, dass du beim nächsten Mal wieder die Heldin spielen willst. Komm nachher um 12 Uhr in die alte Fabrik. Du kennst ja den Weg. Aber lass dich von niemandem sehen! Bis später, Kätzchen!“   Liam hat sich von Riley die Nummer geklaut? Wieso hat er denn überhaupt geschrieben und nicht Riley? Will er jetzt auf einmal den Lehrer spielen? Jetzt, nachdem er den ganzen anderen Kram seinem Freund zugesteckt hatte? Hatte sie ihn so beeindruckt, dass er sie plötzlich nicht mehr als nutzlos betrachtete? Aber was hatte sie denn so großartiges getan? Mehr als Panik schieben und Reden schwingen hatte sie doch überhaupt nicht zustande gebracht! Das war ja wohl wirklich nichts Beeindruckendes gewesen …   Sie ging ein paar Schritte zurück ins Wohnzimmer und warf einen Blick auf die Uhr. 10:34 Uhr. Sie hatte also noch gut eineinhalb Stunden, um sich zu überlegen, ob sie sich dort wieder mit den Tri’s traf und in der Traumwelt lernte mit dem Schwert rumzufuchteln, oder ob sie sich tiefer ins Sofa vergrub und tunlichst versuchte, nicht an das Thema zu denken.   Doch sie wusste die Antwort bereits. Wenn ein Thema erst mal ihre Neugierde geweckt hatte, dann ließ es sie so schnell nicht wieder los. Und zudem hatte sie sich für den Weg entschieden, auf dem sie gerade ging. Sie trug das Tribal auf dem Rücken. Und auch, wenn es eine unterbewusste Entscheidung gewesen war, empfand sie es trotzdem als ihre Entscheidung. Sie hatte die Möglichkeit einigen Menschen das Schicksal des Mannes vom Vortag zu ersparen. Ihnen zu helfen, den Dämon loszuwerden und wieder in Frieden leben zu können. Ohne einen Gedanken an Hass und Wut. Und ohne die Erfahrung, sich selbst zum Monster werden zu sehen…   Plötzlich konnte sie es kaum noch erwarten, dass es 12 Uhr wurde. Kaum war sie angezogen und ausgehfertig, da trat sie auch schon hinaus in den wunderschönen Vorsommertag. Dieser Apriltag war einfach perfekt um nach draußen zu gehen. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel und beglückte die Welt mit guten 25 Grad. Die dünne Strickjacke, die sie über ihr T-Shirt gezogen hatte, hatte sie nach wenigen Metern bereits in ihre Umhängetasche verbannt und genoss nun das angenehme Gefühl von Wärme auf ihrer Haut. Als sie die Bushaltestelle erreichte, war in der Ferne auch schon der richtige Bus zu erkennen. Die Haltestellen-Uhr zeigte gerade 11:30 Uhr. In 20 Minuten würde sie die an dem Treffpunkt sein. Es blieb ihr also keine Zeit mehr, um nervös zu sein. Verträumt blickte sie auf aus dem Fenster. Viele Menschen waren an diesem Samstag unterwegs. Autos und Fußgänger säumten die Straßen und Parkplätze der nahen Einkaufszentren. Die meisten von ihnen erledigten wahrscheinlich ihre Wochenendeinkäufe, um sich dann ein paar gemütliche Stunden mit der Familie zu machen. Und sie alle dachten nicht im Geringsten daran, dass es irgendwas gab, vor dem sie sich fürchten müssten und sie davon nicht einmal etwas ahnten...   Als sie den Bus verließ, begann ihr Magen sofort zu vor Aufregung zu kribbeln. So unauffällig wie möglich trat sie in die kleine Gasse. Bei Tageslicht machte sie einen komplett anderen Eindruck. Tatsächlich waren große Teile der Mauern und Zäune mit Efeu und anderen Kletterpflanzen bedeckt. Gleich wirkte der schmale Gang längst nicht mehr so bedrückend, wie er es noch am Abend zuvor getan hatte. Und trotzdem wollte sie die Zeit, die sie dort verbrachte, möglichst gering halten. Als die Höhe des Eingangs erreicht war, wandte Eyleen sich um und suchte die ganze Gasse entlang nach Anzeichen, dass jemand sie beobachten könnte. Aber weit und breit war niemand zu sehen. Daher beschloss sie, es zu wagen. Sie schob ein paar der Efeuranken zur Seite und schlüpfte durch das Loch. Sofort strichen die Grashalme über ihre Jeanshose und gaben leise, kratzende Geräusche von sich. Die Blondine folgte der Spur aus leicht platt getretenem Grünzeug, bis sie die aufgehebelte Tür vom letzten Mal erreichte. Und diesmal fiel ihr auch das große, verblichene Schild über dem Eingang auf. „Joeys Repairs“ prangte in großen Buchstaben auf einer teils zersplitterten Plastikschale, die früher wahrscheinlich sogar beleuchtet gewesen war. Und auch die vielen Hebebühnen, die im Boden verankert waren, die im Beton eingelassenen Gruben und die dutzenden Werkzeugschränke fielen ihr beim Betreten der Werkstatt dieses Mal sofort ins Auge. Alles war mit Staub und Dreck bedeckt und doch konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie es zu seinen besten Zeiten wohl einmal ausgesehen haben könnte.   Ihre Füße trugen sie in Richtung des alten Büros, in dem die anderen wahrscheinlich schon auf sie warteten. Kurz davor blieb sie einen Moment lang stehen, um noch einmal tief durchzuatmen. Mit einer Mischung aus Vorfreude und Anspannung dachte sie an die Dinge, die sie gleich sehen würde. Sie wusste nur eins: Es würde unglaublich werden. Zaghaft klopfte sie an die Tür und wartete darauf, eine Stimme von innen zu vernehmen. Als diese jedoch nicht kam, widmete sie sich der Türklinke, die sich ganz einfach herunterdrücken ließ. Unter leisem Quietschen öffnete sich das Metall und gab den Blick auf den im Dämmerlicht liegenden Raum frei. Die beiden mit Brettern vernagelten Fenster schluckten das Meiste von dem Sonnenlicht, welches auf sie drauf schien. Die wenigen Strahlen, die sich einen Weg hindurch bahnten, ließen die in der Luft schwebenden Staubfusseln golden glitzern. Erst als sie den Raum betreten hatte und die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, hatten ihre Augen sich soweit an die Lichtverhältnisse gewöhnt, dass sie auch den Rest des Zimmers wahrnehmen konnte.   Liam stand nur einen Meter von ihr entfernt. Sein Blick war hochkonzentriert, als er mit seiner Klinge die letzten Zentimeter des Portals auf die Wand zauberte, um die kleinen, schwarzen Schlangen ihre Arbeit erledigen zu lassen. Eine gute Minute beobachtete sie die sich bewegenden Linien, ehe die Runen am Rand des Tors begannen ihr schummriges Leuchten abzugeben. „Das Tor hält bloß 12 Stunden. Danach löst es sich einfach wieder auf. Aber länger als sechs Stunden am Stück sollte eh niemand in der Traumwelt bleiben. Das ist auf Dauer nicht gut für die Psyche.“ Während er sprach betrachtete er ununterbrochen das nun vollständige Portal und würdigte den Neuankömmling keines Blickes. Normalerweise hätte es sie geärgert, dass er sie wie Luft behandelte, aber in diesem Moment brannte eine für sie viel wichtigere Frage auf ihrer Zunge. „Wo sind denn die anderen?“ Waren Riley und Chloé etwa schon vorgegangen? Aber das war ja nicht möglich. Das Portal war doch eben erst fertiggestellt worden! In diesem Moment wandte er sich ihr zu und auf seinem Gesicht lag ein gehässiges Lächeln. Seine Augen funkelten selbst in diesem Dämmerlicht gefährlich. „Außer uns ist niemand hier. Und es wird auch niemand sonst kommen.“ Der Schauer, der ihr nach seinen Worten über den Rücken lief, war eisig. Ihr Herz setzte kurz aus, nur um dann doppelt so schnell wie normal zu schlagen. Sie wusste nicht, woher dieser Fluchtreflex plötzlich kam, aber es fiel ihr wahnsinnig schwer ihm zu widerstehen. Seine Augen funkelten belustigt. Es machte ihm Spaß sie zu ärgern. Er ging seelenruhig an ihr vorbei und auch ohne, dass sie sich zu ihm umdrehte, wusste sie genau, was er vorhatte. Einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Schloss und sie war eingesperrt. Zusammen mit ihm. Es war ein Test, soviel war klar. Er wollte wissen, ob sie feige war und einen Rückzieher machte. Nein, er wollte seine Vermutung nicht bestätigt wissen. Liam war sich hundertprozentig sicher, dass er recht hatte. Aber diese Genugtuung würde sie ihm nicht geben. Sie war nicht schwach! „Na, wenn alle da sind, dann können wir ja jetzt loslegen. Nicht, dass wir uns noch so lange anstarren, bis dein schönes Kunstwerk wieder von der Wand verschwindet.“ Demonstrativ gelassen stemmte sie eine Hand in die Hüfte und warf mit der anderen die Tasche auf den neben ihr stehenden Schreibtisch. Ohne sich zu ihm umzudrehen, klopfte sie ungeduldig mit dem Fuß. Nun wirbelten noch mehr Staubfusseln in den einfallenden Sonnenstrahlen.   „Das Kätzchen zeigt wieder ihre Krallen. Ich muss sagen, du beeindruckst mich mehr und mehr. Jede andere hätte schon mindestens einen Nervenzusammenbruch bekommen.“ Sie hatte also recht gehabt. Es machte ihm großen Spaß sie zu Ärgern und aus der Reserve zu locken. Aber das würde sie nicht zulassen. „Wie gut, dass ich nicht „jede andere“ bin“, zischte sie und nutzte die Gelegenheit, um schnellstmöglich das Thema zu wechseln, ehe ihr Gespräch doch noch in einen Streit ausartete. „Das heißt also, du willst mir heute was beibringen?“ Sie legte extra viel Hohn in ihre Worte, denn was er konnte, konnte sie schon lange. Er hingegen ließ sich nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. Ihm machte die ganze Situation anscheinend unglaublichen Spaß. „Einen besseren Lehrer als mich wirst du nirgendwo finden. Wenn du es also nicht raffst, liegt das ganz allein an dir.“ Pikiert schnaubte sie lautstark. „Wollen wir doch mal sehen, wie blöd ich mich anstelle.“   „Du weißt sicherlich, warum wir hier sind. Sonst wärst du auch nicht gekommen.“ Plötzlich hatte sich die Stimmung völlig verändert und die Luft kühlte spürbar ab. „Auch, wenn du glaubst, dass alles dort hinter diesem Portal nicht real ist, so kannst du auch dort schwer verletzt werden. Ich werde dich nicht schonen, darum sage ich es dir gleich jetzt und hier: Du kannst dort drinnen auch problemlos deinen Tod finden.“ Ihr Körper versteifte sich. Der Blick war starr auf das Portal gerichtet. „Zwar haben die Dämonen nicht die Möglichkeit, nachts vor deinem Bett aufzutauchen und dein Herz mit ihren Klauen zu durchbohren, aber sie haben ihre eigenen Methoden, um dich in die Knie zu zwingen.“ Die Frage brannte auf ihrer Zunge, auch wenn sich alles in ihr sträubte, sie zu stellen. „Und die wären?“ „Hat dir das Anschauungsbeispiel nicht schon genug gesagt?“ Von Panik durchzogene Augen. Die Gewissheit, dass nur der Tod der einzige Weg ist. Alleingelassen in seinem schlimmsten Albtraum. Doch. Doch, das hatte es. „Sie können dich foltern. Vielleicht nicht hier im echten Leben, aber dort drüben, hinter diesem Tor, allemal. Dort können sie dir Schmerzen zufügen. Dir Bilder zeigen, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Allein ihre Anwesenheit lässt dir schon einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Und auch die Traumwelt selbst kann dir gefährlich werden. Du solltest dich nie zu lange außerhalb deines Körpers aufhalten. Das kann wirklich schlimme Folgen haben.“ Eyleen schluckte hart und versuchte krampfhaft nicht zu viel in seine Worte hinein zu interpretieren. Sie hatte Angst, dass sie doch die Flucht ergreifen und sich wie ein kleines Mädchen weinend unter der Bettdecke verkriechen würde.   „Willst du immer noch gehen?“ Diesmal lag kein Spott und kein Hintergedanke in Liams Frage. Er ließ ihr wirklich die Wahl zu gehen oder zu bleiben. Eyleen konnte das Zittern ihres Körpers kaum noch unterdrücken. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie geschworen, die Stadt würde gerade von einem Erdbeben heimgesucht. Aber sie hatte sich entschieden. Es gab keinen Weg zurück mehr. Sie wusste, dass sie schon viel zu tief drinnen steckte, um alles zu vergessen. „Ja, will ich“, sagte sie mit fester Stimme und sah dem Braunhaarigen das erste Mal seit ihrer Ankunft direkt in die Augen. Er schien etwas darin zu suchen… Und zu finden.   „Wir fangen damit an dir beizubringen, wie du die Klinge heraufbeschwören kannst“, begann er in einem typischen Lehrer-Ton zu erzählen, ohne weiter auf das vorherige Thema einzugehen. „Aus taktischen Gründen werden wir das aber nicht hier tun, sondern da drinnen. Das Schwert in der realen Welt zu rufen, erfordert einiges an Geschicklichkeit. Selbst gestandene Tri’s haben damit so ihre Schwierigkeiten. Bitte, nach ihnen!“ Mit einer übertriebenen Geste deutete er ihr, dass sie doch als erste durch das Portal gehen sollte. Eyleen merkte, dass er sich anscheinend Mühe gab ernst zu sein und sie nicht zu ärgern, doch alles schien er nicht unterdrücken zu können. Irgendwie fand sie das ein wenig sympathisch. Ganz wenig, versteht sich. Ein weiteres Mal positionierte sie sich vor dem schwarzen Portal und starrte stumm auf das dunkle Nichts. Ihr Herz schlug automatisch mit jedem Zentimeter schneller, den ihre Hand näher an die Wand kam. Mit einem Ruck überwand sie die letzten Millimeter und schon im nächsten Augenblick riss der ungeheure Sog sie von den Füßen. Kapitel 8: Sinnlos? ------------------- Sie fand es einfach unglaublich. Erst riss der Sog so heftig an ihr, dass sie dachte, sie würde ins Nichts stürzen und im nächsten Moment öffnete sie ihre Augen und es sah aus, als wäre nichts gewesen. Und trotzdem wusste sie, dass sie nicht mehr an dem Ort war, an dem sie vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte. Liam war noch nicht da, also beschloss sie hinüber zu den vernagelten Fenstern zu gehen und durch die Lücken der Holzbalken zu schielen. Wer weiß, was für wunderliches sie diesmal sehen würde? Doch damit konnte sie ihre Neugierde nicht befriedigen. Die Schlitze waren einfach zu klein, um vernünftig hindurchsehen zu können. Und als wenn das nicht schon blöd genug wäre, war auch noch das Glas so dreckig, dass ein Hinaussehen auch ohne die Verriegelung unmöglich blieb.   Doch grade, als sie sich frustriert abwenden wollte, waren innerhalb eines Blinzelns alle Holzbretter verschwunden und das Glas kristallklar. Vor Schreck sprang sie einen Schritt zurück. „Du hast diese ganze Sache mit der „Traumwelt“ noch nicht so ganz verstanden, oder?“ Die Stimme hinter ihr erschreckte sie nur noch mehr. Sie hatte den Braunhaarigen gar nicht kommen hören… Doch nur langsam begriff sie den Sinn hinter seinen Worten. Natürlich. Dies war ein Traum. Eine fiktive Abbildung der realen Welt, in der man das, was man sah, mit dem, was man dachte manipulieren konnte. Mit ein bisschen Fantasie war hier wahrscheinlich alles möglich. Selbst im eigentlich wachen Zustand.   Kurz warf sie einen Blick auf den sonnendurchfluteten Hof, auf dem es plötzlich vor Autos und Menschen nur so wimmelte. Männer in Overalls und Werkzeuggürteln liefen geschäftig von einem Wagen zum Nächsten. Waren das Mechaniker? Aber irgendwie sahen die Autos merkwürdig aus. So eckig und kantig und … alt. „Die Werkstatt hat mal meinem Onkel gehört. Ich war früher oft hier, als ich noch ein Kind war.“ Das ließ Eyleen aufhorchen. Wenn das so war, dann ergab die Tatsache, dass er einen Schlüssel für die Räume hier hatte, durchaus Sinn. Und sie hatte wirklich gedacht, er würde hier einbrechen… „Sie steht mittlerweile seit Jahren leer. Darum ist es ein guter Treffpunkt für unsere Jagd. Hier kommt schon lange niemand mehr her. Also kann uns auch niemand in dem seelenlosen Zustand finden.“ Sie nickte verstehend und wandte sich von Liams in den Hof projizierten Gewimmel ab. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass die Fenster wieder ihre ursprüngliche, „reale“ Form annahmen. Die Nervosität verflog langsam und es war ihr wieder möglich, gleichmäßig und ruhig zu atmen.   „Und was genau machen wir jetzt?“ Nun tauchte auch Liam selbst aus seinen Kindheitserinnerungen auf und ließ sich in den roten Sessel neben dem Fenster fallen. Seine Beine hingen locker über der Lehne. Eyleen stutzte. Seit wann stand das Möbelstück denn da? „Du musst erst mal lernen, die Energie des Tribals in dir zu spüren. Nur dann kannst du sie auf deine Hand konzentrieren und die Klinge rufen.“ Er hatte schon seine Augen geschlossen, noch ehe er ausgeredet hatte. Die Blondine legte den Kopf schief. „Die Energie des Tribals?“ Ein schlichtes Nicken seinerseits. Die Theorie zu lehren schien ihm an seinem Lehrer-Job eher weniger zu gefallen. „In deinem Körper spürst du sie nicht bzw. nur sehr schwach. Seit das Tribal auf deinem Rücken ist, ist sie aber da. Bei mir fühlt sich alles seitdem ein bisschen, na ja, eben wärmer an. Eigentlich ist es kaum zu bemerken, aber wenn man es weiß, dann ist es möglich sie zu finden. Das Konzentrieren der Macht in der Mitte der Handfläche fühlt sich ein bisschen so an, wie eine abgeschwächte Version des Erscheinens einer neuen Erweiterung.“ Das Brennen kannte sie mittlerweile nur zu gut. Dass sie aber bereits die zweite von fünf Erweiterungen besaß, behielt sie erst einmal für sich.   Sofort horchte sie in sich hinein. Sie schloss ihre Augen und suchte. Irgendetwas, was anders war als sonst. Sie suchte nach dem Gefühl, welches sie bereits beim Erwachen nach ihrem Treffen mit dem Tribal-Studio hatte. Diese Gewissheit, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte… Und tatsächlich fand sie etwas. Es war ihr nicht möglich zu definieren, was es genau war, aber da war etwas! Etwas Warmes… Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich diese Wärme in ihrer Hand sammeln würde und wie es sich anfühlen könnte. Ein fiebriges Gefühl tauchte in ihr auf und sie musste sich zwingen weiterzumachen und nicht den Versuch abzubrechen. Ohne die Klinge konnte sie sich nicht wehren, sich nicht schützen. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung mit dem Dämon… Sie konnte nicht kämpfen. Und vor allem hatte sie keine Chance den Menschen zu helfen.   Als ihre linke Hand anfing zu brennen, riss sie erschrocken die Augen auf. Tatsächlich schien eine merkwürdige Hitze durch ihren Körper zu fließen, die sich nun auf ihrer Handinnenfläche sammelte. Liam hatte recht gehabt. Es fühlte sich tatsächlich wie beim Entstehen einer Erweiterung an! Beinahe so, als würde ein glühendes Stück Holz ihre Haut versenken. Und dann ging alles ganz schnell. Ein heller Blitz blendete sie für den Bruchteil einer Sekunde und als sie wieder die Augen öffnete, hatte sich auf ihrer Haut ein silberner Kreis aus Licht gebildet. Ein helles Funkeln lag über ihm und es schien, als würde er glimmen. Und schon im nächsten Augenblick schob sich etwas Schwarzes durch den Kreis und wuchs mit jeder Sekunde in die Länge. Sie wusste nicht, wie lange es wirklich dauerte, bis das Ding aus ihrer Hand gewachsen war, doch für sie kam es vor, als wären es Stunden gewesen. Immer mehr von diesem Nichts wuchs aus ihrem Körper und plötzlich schwebte sie direkt vor ihr. Schwarz und geheimnisvoll. Nur die kleinen weißen Wellen schoben sich in einem scheinbar nicht zufälligen Muster durch die dichte Schwärze. Eins, zwei, drei, vier, fünf, längere Pause. Und dann das ganze wieder von vorn. Ganz automatisch streckte sich ihre Hand dem Griff der Klinge entgegen. Ihr Körper zitterte. Sie hatte ihre Finger kaum unter Kontrolle. Sie schienen plötzlich so kalt zu sein. Als wäre sämtliches Blut aus ihnen gewichen. Es waren nur noch Zentimeter, die sie von der Waffe trennten. Einer Waffe, die Dämonen bekämpfen sollte. Diese Wesen… Diese roten Augen… Dieser entstellte Körper. Diese Fangzähne und Krallen… Dieser Schrei. Im nächsten Moment wich sie erschrocken zurück und die Klinge war verschwunden. Schwer atmend blickte sie auf ihre Hand, die nun wieder so normal wie eh und je erschien. Der Lichtkreis war verschwunden und das Schwert ebenfalls.   In ihr verkrampfte sich alles. Das Zittern ihrer Gliedmaßen wurde noch stärker. Schwindel überfiel sie und sie taumelte ein Stück zurück, bis sie die Wand in ihrem Rücken spürte. In genau diesem Moment gaben ihre Beine unter ihr nach und sie ließ sich an der Mauer hinabgleiten, bis sie auf dem Fußboden saß. Auf einmal fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Was war bloß passiert? „Eyleen? Bist du okay?“ Die junge Frau hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Augen geschlossen hatte. Erst als die Stimme dicht neben ihr sie wieder daran erinnerte, dass sie gar nicht alleine war und es überhaupt nicht so dunkel sein dürfte, brachte sie ihre Augenlider mit großer Mühe dazu, sich wieder zu öffnen. Ihre Sicht war ein wenig verschwommen und sie hörte seine Stimme nur gedämpft in ihren Ohren, doch es war unverkennbar er, der neben ihr hockte. Wer sollte es auch sonst sein? Sie holte tief Luft und nickte ihm schwach zu. Mit den Fingern rieb sie sich dabei über die Augen, um den Schleier aus ihrem Blick zu entfernen. „Mir geht’s gut. Hab mich nur erschrocken.“ Sie blinzelte ein paar Mal, ehe sie in der Lage war, ihn richtig zu erkennen. Oder spann sie etwa doch noch rum? Das konnte ja schlecht Sorge sein, die dort in seinen harten eisblauen Augen schimmerte. Liam war jemand, der sorgte sich um nichts und niemand. Wahrscheinlich nicht mal um seine Schwester. Und schon gar nicht um sie…   Er schüttelte den Kopf und ließ sich dabei im Schneidersitz neben ihr nieder. Einfach so, als könnte er nicht verstehen, was gerade passiert war. Sofort spürte Eyleen diesen kleinen, fiesen Stich in sich. Fand er sie etwa so schlecht, dass er über ihre Unfähigkeit nur den Kopf schütteln konnte? Aber nein. Sie würde sich nicht von diesem arroganten Schnösel beleidigen lassen… „Ich hatte es eigentlich nicht mehr für möglich gehalten, dass du mich ein weiteres Mal dermaßen überraschst.“ Er hatte die Augen geschlossen und massierte mit einer Hand seine Schläfe. „Mittlerweile glaube ich, dass du gar kein Neuling mehr sein kannst.“ Eyleen verstand überhaupt nichts. „Was willst du damit sagen?“, fragte sie misstrauisch. Sie wusste noch nicht, ob das, was er sagte, gut oder schlecht für sie war. „Als Anfänger solltest du gar nicht in der Lage sein, die Klinge heraufzubeschwören! Du solltest nicht mal die Energie des Tribals spüren können! Die Schnellsten von uns brauchen mindestens zwei Wochen, um überhaupt etwas zu Stande zu bringen! Und du…!“ Er wirkte ein wenig fassungslos. Immer wieder schüttelte er ungläubig seinen Kopf. „Das heißt also… Aber die Klinge! Sie ist doch verschwunden, ehe ich sie greifen konnte!“ Liam zuckte bloß mit den Schultern. „Das? Das war nichts. Du hast dich bloß vor dieser für dich neuartigen Energie erschrocken. Du hättest die Klinge problemlos nehmen können, wenn deine Gedanken nicht so abgeschweift wären.“ Die Erinnerung an den Schrei des Dämons. Das hatte sie also so aus dem Konzept gebracht! „Beim nächsten Versuch bist du wahrscheinlich schon in der Lage, die Klinge zu führen. Und es würde mich nicht mehr überraschen, wenn du damit schon jeden Schwertkampf gewinnen würdest.“ Durch seinen braunen Haar-Pony hindurch blickte er zu ihr hinauf. Kurz blitzte darin etwas auf und Eyleen ahnte, was es war. Sie konnte nicht verhindern, dass sie etwas eingeschnappt klang. „Ich habe bisher keine Schwertkampfstunden genommen, falls du darauf hinaus willst.“ Jetzt lachte er und erhob sich wieder. Seine Hand streckte er ihr entgegen. „Noch einen Versuch, Kätzchen?“   Eyleen wusste nicht, wie lange sie schon dort in diesem kleinen Raum mitten in der Traumwelt trainierten. Ab und zu vernahmen sie von außerhalb des Gebäudes seltsame Geräusche und Laute und als plötzlich ein Dinosaurier direkt vor ihrem Fenster brüllte, hätte die Blondine sich um ein Haar vor Angst in die Hose gemacht. „Hier in der Nähe wohnt so ein absoluter Dino-Freak“, hatte Liam ihr erklärt. „Der Kerl träumt wirklich täglich davon!“ Das würde also das vermehrte Aufkommen von fleischfressenden Urzeitreptilien erklären. Und trotzdem wunderte sie sich darüber. „Aber es ist mitten am Tag! Wer schläft denn samstagnachmittags?“ „Vielleicht ist er arbeitslos oder ein Student? Keine Ahnung. Du kannst ihn ja mal fragen, wenn du ihn triffst. Anscheinend hat er gerade einfach nichts Besseres zu tun, als sich mal wieder von einem Dinosaurier fressen zu lassen.“ Damit hatte Eyleen das Thema auch fallen gelassen und sich wieder ihren Übungen gewidmet. Tatsächlich war das Heraufbeschwören der Klinge kein Problem mehr. Sie fand sehr schnell die Wärme in ihrem Inneren und konnte die Waffe mühelos an sich nehmen. Doch das Aufrechterhalten der Energie fiel ihr noch etwas schwer. Am Anfang blieb das Schwert nur gute fünf Minuten, ehe es urplötzlich verschwand, doch mittlerweile kam sie beinahe an die Stunde heran. Liam hatte ihr ein paar Grundhaltungen gezeigt, wie sie mit der Waffe umzugehen hatte. Aber das alles kostete sie wahnsinnig viel Kraft.   „Ich habe noch mal über gestern nachgedacht“, fing Liam, der in der letzten Zeit schweigend auf seinem Sessel gesessen und sie beobachtet hatte, plötzlich an. „Du hast den Dämon da wirklich wütend gemacht, weißt du?“ Eyleen stutzte. „Wieso?“ „Du hast ihm anscheinend seine Nahrung genommen. Das fand er wohl weniger witzig.“ Ein kleines, schadenfrohes Lächeln umspielte seine Lippen, als er an die Situation zurück dachte. Ihre Stirn runzelte sich verwirrt. „Was soll ich gemacht haben? Seine Nahrung?“ Erst jetzt hob der Braunhaarige seinen Blick und sah ihr direkt in die Augen. „Riley hat dir sicherlich erzählt, dass die Dämonen unser Herz und die Gedanken vergiften, um von uns Besitz zu ergreifen, nicht? Jedenfalls ist das nicht alles. Sie leben von unseren schlechten Gefühlen. Wenn wir Angst haben, werden sie umso stärker. Darum zeigen sie den Menschen ja auch ihre schlimmsten Albträume und rufen böse Gedanken hervor. Nämlich damit sie verbotene Dinge tun, was wiederum die Furcht in ihnen wachsen lässt. Gefängnisstrafen, Verlust eines geliebten Familienmitglieds oder sogar der eigene Tod im Kugelhagel mit der Polizei. Und je schlimmer die Angst des Besessenen ist, desto schneller wird der Dämon genug Kraft gewonnen haben, um ihn zu übernehmen. Diese Schattenwesen leben von der Angst anderer. Du solltest also lernen, dich nicht vor ihnen zu fürchten, denn in der Traumwelt bist selbst du von ihnen angreifbar. Dämonen können zwar einen Menschen nicht verlassen, nachdem sie einmal in ihn eingedrungen sind, aber sie können trotzdem die Angst anderer, die in ihrer Nähe sind, fressen. Du würdest ihn also bloß stärker machen, anstatt ihn zu bekämpfen.“ Keine Angst haben? Vor diesen gruseligen Viechern, die nichts anderes wollen, als jemandem wehzutun? Das klang eher nach einem Ding der Unmöglichkeit.   „Was passiert eigentlich mit einem Dämon, wenn man ihn besiegt?“ Die Frage brannte ihr schon länger auf der Zunge und dies schien der perfekte Moment zu sein, um sie zu stellen. Konnten Geisterdämonen wirklich sterben? Eine ganze Weile blieb es ruhig. Eyleen ließ das Schwert sinken, welches sie eben noch für ihre Übung erhoben hatte. Sie hatte kaum noch Kraft in den Armen und sie spürte bereits, wie ihr die Klinge wieder entglitt. „Wir können sie vertreiben, ja.“ Liam schien seine Worte sorgfältig zu wählen. Zu sorgfältig. Sofort drehte sich Eyleens Magen um. „Aber wir können sie nicht töten, wenn es das ist, worauf du hinaus willst.“ Die Blondine blieb stumm und reglos. „Wenn wir sie mit der Klinge durchbohren, saugt die Waffe die gesamte böse Energie, die der Dämonen durch das Quälen des Menschen gesammelt hat, in sich auf. Wie ein Schwarzes Loch. Dadurch wird die Person von ihren Albträumen und bösen Gedanken erlöst. Und trotzdem… Der Dämon bleibt in ihrem Körper und die Menschen sind weiterhin anfällig für die Manipulation. Besonders nach dem, was sie unter dem Einfluss der Wesen, schon getan haben.“ Eyleen schluckte schwer und die Klinge verschwand aus ihren Fingern. Sie sah zu Liam hinüber, der nun angespannt aussah. „Wir können die Menschen also nicht endgültig von den Dämonen befreien?“ Der Tri schüttelte den Kopf. „Es kann gut sein, dass wir dem jungen Mann von gestern sehr bald wieder über den Weg laufen werden. Es hängt einfach davon ab, wie stark er ist.“   Sie ließ den Kopf hängen. Plötzlich kam ihr alles so sinnlos vor. „Warum machen wir das alles dann überhaupt? Das ist doch so völlig sinnlos!“ Sie schreckte hoch, als sie ihre Gedanken plötzlich laut ausgesprochen hörte. Doch nicht aus ihrem Mund. „Das ist es, was dir gerade durch den Kopf geht, hab ich recht?“ Sie wagte es nicht, Liam anzusehen. Es war ihr unangenehm, dass er sie dabei ertappt hatte. „Den Gedanken hatten wir alle einmal. Aber solange wenigstens die Möglichkeit besteht, dass wir diese Biester aufhalten und zurück in die Hölle schicken können, ist das für die meisten Ansporn genug. Wir können den Menschen ihr Leben wiedergeben. Ist das nicht Grund genug es wenigstens zu versuchen? Den Rest jedoch müssen sie aus eigener Kraft schaffen…“   Die abendliche Luft war frisch geworden. Kaum war sie Zuhause angekommen, war sie schon in ein bequemeres Outfit geschlüpft und hatte es sich mit einem frischen Kaffee im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Schön eingegraben unter ihrer Kuscheldecke und einem entspannten Fernsehprogramm. Liam hatte sie ziemlich bald nach Hause gejagt. Man sollte ja nicht zu lange in der Traumwelt bleiben, das würde nur schaden. Eyleen hatte nichts dagegen gehabt. Sie war sowieso völlig am Ende ihrer Kräfte und gerade merkte sie, dass auch der Kaffee ihre Müdigkeit nicht vertreiben konnte. Selbst seine eher unfreundliche Geste, sie einfach an der Bushaltestelle stehen zu lassen und mit seinem Auto an ihr vorbei zu fahren, hatte sie gar nicht als so schlimm empfunden. Riley hätte sie nie alleine gehen lassen, davon war sie ziemlich überzeugt. Liam aber wusste, dass sie okay war (müde, aber okay) und dass sie ein wenig Zeit für sich brauchte. Und tatsächlich hatte sie die ruhige Busfahrt sehr genossen. Trotz der vielen Menschen, die um diese Uhrzeit unterwegs gewesen waren. Sie hatte schnell einen freien zweier Sitzplatz gefunden, war an das Fenster heran gerutscht und hatte träumerisch die vorbeiziehende Stadt beobachtet, ohne dabei groß etwas zu sehen. Sie hätte sogar beinahe ihre Haltestelle verpasst, weil sie gar nicht mitbekommen hatte, dass die Zeit so schnell verflogen war. Ob jemand während der Fahrt neben ihr gesessen hatte, wusste sie genauso wenig.   Und nun hatte sie sich vorgenommen, den Abend auf der Couch zu verbringen. Aufräumen, saubermachen und Wäsche waschen würde sie ausnahmsweise auf nächste Woche verschieben. Wenn sie am morgigen Sonntag wenigstens die herumliegenden Sachen wegräumen würde, würde Mia nicht einmal etwas von ihrer Faulheit merken.   Aber was würde sie jetzt tun? Wie würde sie mit all den Informationen, die sie in den letzten Tagen gehört hatte, umgehen? Schloss sie sich der Gruppe an? Riley würde sie sicherlich aufnehmen und Liam fände sie vielleicht interessant genug, um sie erst einmal mitspielen zu lassen. Doch Chloé wäre ziemlich sicher dagegen. Und so wie sie sich benahm, hatte sie garantiert das letzte Wort bei Entscheidungen aller Art. Würde sie dann alleine gegen die Dämonen kämpfen? Ein klares Nein. Sie hatte noch immer keine Ahnung, wo sie da eigentlich hineingeraten war. Dämonen, die in den menschlichen Träumen hausten? Ihre Wirte schlimme Dinge tun ließ? Dämonen, die in der Lage waren, die Tri‘s zu verletzten oder sogar umzubringen? Nein. Das konnte sie nicht alleine durchstehen. So stark und mutig war sie einfach nicht. Da brauchte sie weder andere noch sich selbst belügen.   Aber sie wollte helfen, dass wusste sie tief in ihrem Inneren. Für sie würden die meisten Wochenenden in Zukunft genauso aussehen. Sie würde kämpfen. Irgendwie.   Noch ehe sie wusste, was sie eigentlich tat, zog sie ihre Hand unter der Decke hervor und starrte diese an. Dort, wo sie in den letzten Stunden mehr als einmal den Lichtkreis heraufbeschworen hatte, war nun nichts als Haut. Neugierig suchte sie nach der Wärme, die in ihrem Körper irgendwo versteckt liegen musste. Doch wie Liam es bereits angedeutet hatte, fand sie nichts. Es gelang ihr nicht, die Kraft des Tribals in ihrer Hand zu sammeln und so die nachtschwarze Klinge heraufzubeschwören. Sie fand nichts Greifbares. Sie fand überhaupt nichts.   Seufzend ließ sie ihre Hand wieder sinken und widmete sich erneut dem laufenden Fernsehprogramm. Obwohl es erst 18 Uhr war, musste sie sich richtig anstrengen, um ihre Augen offen zu halten. Immer wieder senkten sich ungewollt ihre Augenlider und versperrten ihr so den Blick auf die Sendung, die sie gerade sah. Sie schnaubte verärgert und versuchte sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. Sie hatte doch so lange geschlafen! Wie konnte sie denn schon wieder müde sein? Erst das Knurren ihres Magens brachte sie auf eine Idee, wie sie sich wachhalten konnte.   Schnell schlug sie die Decke zurück, schaltete den Fernseher aus und verschwand in die Küche. Doch selbst trotz der langen Vorbereitungszeit ihres Leibgerichtes – Lasagne –, gab sie es um halb neun endgültig auf. Sie hatte sich kaum ins Bett gelegt, da war sie auch schon eingeschlafen und ihr letzter Gedanke war: Wird das jetzt immer so sein? Kapitel 9: Teambildung ---------------------- Grummelnd zog sie ihre Decke weiter über den Kopf. Sie wollte einfach nicht aufstehen. Es war sieben Uhr morgens und dank ihrer sehr frühen Bettgehzeit war sie schon seit einer halben Stunde putz munter. Und trotzdem weigerte sie sich das Bett an einem Sonntag schon um diese Uhrzeit zu verlassen. Während sie sich weiter davor sträubte und überlegte, wie lange sie so liegen bleiben konnte, prasselte der Regen unheimlich laut gegen die Fensterscheibe. Ab und zu war in der Ferne sogar ein Donnergrollen zu vernehmen. Das gute Wetter hatte also erst einmal ein jähes Ende genommen. Dabei hatte sie wirklich Gefallen daran gefunden. Doch in diesem Augenblick war das nur ein weiterer Grund für sie im Bett liegen zu bleiben. Wäre da nicht…   Widerwillig und nur unter gemurmelten Protest, schlug sie die Decke zurück und kroch aus dem Bett. Schnell huschte sie in den Nebenraum, um ihrem drängelnden Körper endlich nachzugeben. Nach nur einem kurzen Aufenthalt im Badezimmer, suchte sie sich ein gemütliches Outfit für einen ruhigen Tag Zuhause zusammen. Diesmal aber wirklich. Dennoch griff sie beinahe reflexartig nach ihrem Smartphone und ließ das Display aufleuchten. Keine neuen Nachrichten. Natürlich nicht. Mia würde erst gegen Abend zurückkommen und brauchte ihr deshalb nicht schreiben. Und die anderen… Die machten gerade wer weiß was. Vielleicht gaben sie sich auch zur Abwechslung einen Tag frei oder schliefen nach ihrer letzten Tour noch friedlich in ihren Betten. Ob sie letzte Nacht wieder auf Dämonenjagd gewesen waren? Liam hatte kein Wort darüber verloren. Aber sowohl Chloé, als auch Riley, hatte er nichts von ihrem Geheimtraining erzählt. Oder mittlerweile vielleicht doch?   Wie dem auch sei. Sie würde an diesem Tag einfach mal nicht vor die Tür gehen. Ihr Schädel brummte immer noch von all den Dingen, die ihr in den letzten paar Tagen passiert waren. Daher hatte sie sich vorgenommen, die nächsten Stunden zu nutzen, um etwas Sinnvolles zu tun. Und so verflogen die Stunden wie Minuten. Ein kurzes Frühstück, dann ein wenig die Wohnung aufräumen, um sich anschließend in Ruhe für die Vorlesungen vorbereiten zu können, und den Abend mit einem entspannten Film und der übriggebliebenen Lasagne vom Vortag ausklingen zu lassen. Und tatsächlich fühlte sie sich abends vollkommen entspannt und ausgeruht. Aber sie wusste, dass das nur deshalb war, weil sie sich vorgenommen hatte, nicht über die Ereignisse der letzten Tage nachzudenken. Dafür hatte sie noch genug Zeit.   Ein leises Klicken, gefolgt von einem Rumpeln, ließ sie von dem Film aufblicken. Durch die Glastür konnte sie erkennen, dass das Licht im Flur eingeschaltet worden war und sie wusste sofort was das bedeutete. Doch… Kurz blickte sie auf die Uhr. 19:24 Uhr. War es nicht eigentlich noch viel zu früh? Ein ungutes Gefühl nistete sich sofort in Eyleens Magen ein und sie beschloss nach ihrer Freundin zu sehen. Sie schubste die Decke unachtsam von ihr herunter, zog ihre Hausschuhe an, ehe sie die Tür zum Flur öffnete und das dort herrschende Chaos begutachtete. Ein Koffer und eine Reisetasche blockierten den Weg zur Haustür, während davor ein Knäul aus einer Jacke, einer Handtasche und Stiefeln lag. Und alles war triefend nass. Der Regen hatte wohl noch immer nicht aufgehört. Doch von Mia gab es keine Spur. Erst, als das Rauschen von Wasser an ihre Ohren dröhnte, wusste sie, warum ihre eigentlich so ordentliche Freundin es so eilig gehabt hatte. Nur einen Moment später trat sie aus dem Badezimmer. In ihren langen Haaren hingen noch die Wassertropfen, die nun im Licht der Flurlampe wie Glitzer schimmerten. Jedoch wurde all das ganz schnell unwichtig, als die Blicke der Freundinnen sich begegneten. Ein Kloß bildete sich im Hals der Blonden, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.   „Hey Mia, schon zurück? Wie war es?“ Schon bevor die Angesprochene zu einer Antwort ansetzte, hatte sie den Flur durchquert und versuchte nun ihren Kleidungsberg wieder zu ordnen. „Hi, Lee. Schön war es. Wie immer. Ich soll dich schön grüßen!“ „Danke“, meinte Eyleen, doch etwas in Mias Stimmlage alarmierte sie. Sie wusste genau, wenn ihre Freundin ihr etwas verheimlichte. „Und sagst du mir auch, warum du dann so mies drauf bist oder soll ich so tun, als könnte man das nicht so auffällig in deinem Gesicht ablesen?“ Die Schwarzhaarige seufzte laut, als sie ihre Jacke an den Garderobenhaken hängte. Bevor sie mit ihren Koffern in ihr Zimmer ging, sah sie kurz zu der im Türrahmen stehenden Frau. „Meine Mutter war irgendwie nicht gut drauf. Sie hat mich die meiste Zeit ignoriert oder irgendwelche blöden Sprüche gemacht. Selbst mein Vater wusste nicht, was in den letzten Tagen mit ihr los war.“ Mia liebte ihre Eltern über alles. Natürlich machte sie sich sofort Sorgen um sie. Selbst für Eyleen klang das alles sehr merkwürdig. Warum lud Anya ihre Tochter überhaupt erst ein, wenn sie gar keine Lust hatte, mit ihr was zu unternehmen? Außerdem klang es überhaupt nicht nach ihr, dass sie ihr eigenes Kind ignorierte. Sehr ungewöhnlich. „Ach, mach dir da nicht so viele Gedanken drüber“, sagte Eyleen und versuchte möglichst locker rüber zu kommen. „Sie hatte wohl einfach mal einen schlechten Tag. So einen hat doch jeder ab und zu. Du wirst sehen, beim nächsten Mal ist sie wieder ganz die Alte.“ Mia nickte bloß, aber sie schien ein wenig besser gelaunt zu sein. Sie wollte wohl einfach glauben, dass es stimmte.   „Ja, bestimmt. Ich bildete mir wahrscheinlich einfach zu viel darauf ein. Aber wie dem auch sei. Ich bring dann Mal meine Sachen weg“, kam es von ihr, als sie ihre Taschen in ihr Zimmer brachte. „Im Kühlschrank steht noch eine Portion Lasagne, wenn du Hunger hast! Bedien dich!“ Nach einem lauten „Oh super! Ich verhungere schon fast! Danke!“ seitens ihrer Freundin, ließ Eyleen den mittlerweile wieder aufgeräumten Flur hinter sich und sank zurück auf das Sofa. Aber auch, wenn sie wirklich glaubte, dass Anya einfach nur ein bisschen schlechte Laune gehabt hatte, ließ sie der Gedanke nicht los. Schon wieder nicht. Das passierte in letzter Zeit eindeutig zu oft. Genervt wickelte sie sich wieder in die Decke ein und zwang sich, sich nur auf den Film zu konzentrieren und darauf zu hoffen, dass die nächste Woche wieder besser werden würde.   Doch ihr wurde sehr schnell klar, dass die neue Woche genauso chaotisch anfing, wie die Alte geendet hatte. Die erste Vorlesung begann um 8 Uhr. Für Eyleen die schlimmste Zeit des Tages. Und natürlich war sie wieder etwas spät dran, was Mia augenscheinlich nicht so gut gefiel. Dann regnete es noch immer in Strömen und ein heftiger Wind war aufgefrischt, der jeden Versuch einen Regenschirm mitzunehmen, sinnlos machte. Daher waren sie beide mehr als triefnass, als sie sich in die Eingangshalle der Uni retteten. Grummelnd wrang Mia ihre langen Haare aus und hinterließ damit eine kleine Wasserpfütze auf dem Steinfußboden. Eyleen konnte nicht anders, als leise darüber zu kichern, was ihr gleich einen grummligen Seitenblick einbrachte. „Wir sehen uns später!“, meinte Eyleen immer noch lächelnd und die Freundinnen verließen die Eingangshalle in Richtung ihrer Hörsäle. Als Eyleen den Hörsaal betrat und es dort augenscheinlich keinen Platz mehr gab, war der Anflug von guter Laune sofort wieder verschwunden. Und es half auch nichts, dass der Professor seinen bereits begonnenen Unterricht nur für sie unterbrach und nicht besonders glücklich über ihre Verspätung war. Auch, wenn es ihr nichts half, entschuldigte sie sich und ging zu einer Reihe, wo sie noch zwei leere Plätze ausfindig machen konnte. Dummerweise lagen die jedoch für sie unerreichbar in der Mitte der Bankreihe. Nachdem sie also die Gruppe von Mädchen aufscheuchen musste, die nur wegen ihr einen Platz weiter rutschen mussten, hatte sie endlich die Möglichkeit einmal kurz durchzuatmen. Die wütenden Blicke, die auf ihr lagen, ignorierte sie. Was hatte sie eigentlich getan, um all das zu verdienen?   Ohne sich weiter sinnlos aufzuregen, kramte sie in ihrer Schultasche, nahm den Block und den Taschenrechner und widmete sich den Aufgaben, die vorne bereits der Projektor an die Wand warf. Rechnungswesen. Der beste Start in so eine grausige Woche… Der Saal leerte sich sehr schnell, nachdem die Stunde vorbei war. Nur Eyleen blieb noch etwas sitzen und schrieb die restlichen Notizen von der Tafel ab. Eilig hatte sie es sowieso nicht. In der nächsten Stunde hatte sie eine Freistunde und musste erst um 11 Uhr wieder hier sein. Und da der Hörsaal erfahrungsgemäß in dieser Zeit sowieso nicht genutzt wurde und die Marketing-Vorlesung auch hier stattfand, bot es sich förmlich an, einfach sitzen zu bleiben. Von dem Schulpersonal störte das zum Glück auch niemanden. Während die anderen sich gerne in andere Winkel der Universität verzogen, hatte die Blondine wenigstens ihre Ruhe, um sich weiter in ihre Unterlagen zu vertiefen.   „Du bist Eyleen, hab ich recht?“ Der Klang ihres Namens ließ sie aufschrecken. Eigentlich hatte sie angenommen, dass alle anderen schon gegangen waren und selbst wenn nicht, mit ihr redete normalerweise niemand freiwillig. Vor ihr standen zwei Jungs, die sie schon ein paar Mal in einer Vorlesung gesehen hatte. Einer von ihnen hatte kürzere schwarze Haare, die er sorgsam mit Haargel hin drapiert hatte. Er trug einen schlichten braunen Pullover, der die exakte Farbe wie seine Augen hatte, und dazu eine normale, blaue Jeans. Sein blonder Freund hingegen hatte schulterlanges, gestuftes Haar, trug eine graue Jeans und ein weißes Hemd, das er aber sehr locker über einem brauen T-Shirt trug. In seinen bernsteinfarbenen Augen glitzerte die Neugier. „Ja, bin ich. Und wer seid ihr?“, antwortete sie, als sie den ersten Schock überwunden hatte, und legte dabei ihren Stift vor sich auf das Pult. „Stimmt es, dass du ein Tri bist?“ Jetzt war sie wirklich vollkommen überrascht. Sie hatte ja mit vielem gerechnet, aber bestimmt nicht damit. Wahrscheinlich war ihr verdutzter Gesichtsausdruck Antwort genug, denn der Schwarzhaarige wartete gar nicht auf ihre Antwort. „Ich bin Oliver und das ist Sven. Wir wollen, dass du in unser Team kommst.“ Das ging ihr alles viel zu schnell. „Moment mal, Moment mal! Könntet ihr mir erst einmal sagen, was hier eigentlich los ist? Seid ihr auch…? Und woher wisst ihr, dass ich…?“ Die Gedanken rasten in ihrem Kopf und es fiel ihr schwer ihre Fragen vernünftig zu priorisieren. „Wir wissen, dass du noch ganz neu bist und wir sagen auch nicht, dass du dich jetzt sofort entscheiden musst“, begann der Blonde und lehnte sich gegen ihren Pult, „Du kannst auch erst einmal … auslernen, damit du auch richtig kämpfen kannst. Liam ist ein guter Lehrer.“ Beide nickten unisono. „Er hat mir auch schon ein paar echt coole Dinge beigebracht. Du hast wirklich Glück.“ „Aber danach schließt du dich dann unserem Team an.“   Erstaunt blickte sie die Beiden an. Erst nach und nach begriff sie, was dieser Oliver und dieser Sven überhaupt von ihr wollten. Und was das alles überhaupt zu bedeuten hatte. Erstens: Die beiden waren auch Tri’s und wussten über alles Bescheid. Zweitens: Sie waren bisher nur ein Zweierteam und scheinen das für nicht ausreichend befunden zu haben. Und drittens: Sie nahmen den erstbesten Neuling, von dem sie gehört hatten, um ihn vorzeitig an ihr eigenes Team zu binden, bevor ihnen jemand anderes zuvor kommen würde. Sie verlangten von ihr, dass sie Menschen ihr Leben anvertraute, die sie überhaupt nicht kannte und bei denen ihr auch keine Zeit blieb, sie überhaupt erst mal kennen zu lernen! „Es tut mir leid, aber das kann ich jetzt noch nicht sagen.“ Eine freundliche Absage, aber ohne die Tür ganz zu schließen. „Ich weiß erst seit ein paar Tagen, dass es überhaupt etwas da draußen gibt, von dem nur ganz wenige Bescheid wissen. Ich… Ich möchte zunächst begreifen, in was ich dort hineingeraten bin, bevor ich so eine wichtige Entscheidung treffen kann. Bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann.“   Ihre Gesichter zeigten keine Regung, doch Eyleen ahnte, dass ihnen diese Antwort nicht so gleichgültig war, wie sie taten. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, als sie ihren Blicken begegnete. Gleich darauf wandten sie sich ab und zuckten betont cool mit ihren Schultern. „Überleg nicht zu lange“, war alles, was die beiden sagten, ehe sie den Hörsaal durch die Vordertür verließen. Sofort graute es der Blondine vor den restlichen Stunden. Sie spürte jetzt schon die Blicke der Zwei in ihrem Nacken… Liam… Sie hatten Liam erwähnt und dass er ihnen schon einiges beigebracht hatte. Sie kannten sich also gut…   Plötzlich verspürte sie eine leichte Wut in ihrem Magen brodeln und sie griff nach dem Handy, das neben ihr auf dem Tisch lag. Schnell suchte sie die Unterhaltung mit ihm und schrieb ihm dort eine kurze Nachricht. Immerhin war alles seine Schuld.   „Na großartig. Irgendwelche Freunde von dir standen eben plötzlich vor mir. Sie kennen mich zwar nicht, aber da du ausgeplaudert hast, dass ich ein Neuling bin, haben sie anscheinend schon ohne mich beschlossen, dass sie mich in ihr Team aufnehmen werden! Egal, was ich davon halte! Wieso sollte man mich auch vorher fragen? Wirklich nette Freunde hast du! >:-( “   Sie ließ ihre Worte extra scharf klingen, um ihre gereizte Stimmung bestmöglich an ihn weiterzugeben. Eigentlich wollte sie noch so viel mehr schreiben, doch sie fand einfach nicht die richtigen Worte. Darum drückte sie schnell auf Senden, legte das Smartphone vor sich auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Eyleen konnte es kaum fassen, wie bestimmend die Beiden eben gewesen waren! Eine einfache Frage hätte es auch getan! Dann hätte sie vielleicht sogar anders geantwortet! Aber nach der Nummer eben war sie sich ziemlich sicher, dass sie mit denen nichts zu tun haben wollte! Sie brauchte niemanden, der sie herum schubste! Das war für sie definitiv kein Teamwork! Das Summen ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Immer noch eingeschnappt griff sie nach dem Gerät und entdeckte eine Antwort von Liam.   „Ob du es glaubst oder nicht, ICH habe nichts gesagt. Bedank dich bei Chloé. Aber lass mich raten: Olli und Sven, stimmt’s? Die beiden sagten jedenfalls, dass sie dich aus der Schule kennen. Und, hast du ja gesagt? ;-) “   Sie schnaubte. Er machte sich tatsächlich wieder lustig über sie! Selbst, wenn er es ihnen nicht direkt gesagt hatte, hatte er ja trotzdem mit ihnen gesprochen, sonst wüsste er nicht so gut Bescheid! Darum wusste er bestimmt von ihrem Vorhaben! Und trotzdem hatte er sie nicht davon abgehalten! So ein blöder…!   „Ich habe zwar nicht direkt nein gesagt, aber nach dem Auftritt habe ich nicht vor meine aktuelle Meinung ins Positive zu ändern! Sag deinen anderen Freunden, die noch in der Teambildung stecken, sie sollen gefälligst nicht so arrogant sein und nicht frei über meinen Kopf hinweg entscheiden! Ich habe da auch noch ein Wörtchen mitzureden!“   Nachdem sie ein weiteres Mal ihren Text versendet hatte, fühlte sie sich gleich besser. Plötzlich erschien es ihr falsch ihm die Schuld an allem zu geben. Vielleicht waren die Beiden nicht umsonst nur zu zweit. Kann ja sein, dass sie schon andere Tri’s mit dieser Masche vergrault hatten und deshalb niemand mehr in ihr Team eintreten wollte. Wundern würde sie es jedenfalls nicht. Wer ließ das schon lange mit sich machen?   Als das Handy das nächste Mal summte, hatte sie es noch gar nicht aus der Hand gelegt gehabt. Eine weitere Nachricht von ihm.   „Natürlich, Kätzchen, mach ich doch gerne! Und gut, dass du abgelehnt hast! ;-)“   Ungläubig blickte sie auf das Display. Was sollte der Satz nun wieder bedeuten? Wahrscheinlich freute er sich einfach darüber, dass sie so noch eine Weile in seinem Team bleiben und er sie länger ärgern konnte. Das würde definitiv zu ihm passen…   Die Freistunde verging und der Saal füllte sich erneut. Wieder schwoll der Lärmpegel an, bis die Professorin die Vorlesung eröffnete und Eyleen tauchte gedanklich so gut es ging in die Vorlesung ein.   „Irgendwas stimmt mit dir doch nicht. Das kannst du einfach nicht vor mir verbergen.“ Eyleen zuckte ertappt zusammen. Sie nahm ihren Blick von dem Blatt, auf das sie sich gerade eine sinnlose Notiz gemacht hatte und sah zu der Schwarzhaarigen neben ihr, welche sie mit dunklen Augen musterte. Dies war eine von zwei Vorlesungsblöcken, an denen sie zusammen teilnahmen. Aber das auch nur, weil Mia sie bisher aus Zeitgründen einfach noch nicht geschafft hatte. Die Blondine seufzte. Wie recht ihre Freundin doch hatte. Vor ihr konnte man wirklich nichts verbergen… Tatsächlich hatte sie in den letzten Minuten an die Sache mit ihrem Tribal-Tattoo und den Dämonen gedacht, trotz ihrer angestrengten Versuche, genau das nicht zu tun. Und scheinbar sah man ihr an, dass sie etwas beschäftigte. „Kennst du das Gefühl“, begann Eyleen vorsichtig, während sie immer den Gedanken an das Erzählverbot im Hinterkopf hatte, „wenn dir etwas durch den Kopf geht, was du jemandem erzählen möchtest, du es aber nicht kannst? Und zwar aus Gründen die du selbst total abwegig findest und gleichzeitig für total sinnvoll hältst?“ Mias Augenbraue wanderte fragend nach oben. Natürlich. „Tut mir leid! Ich erzähle wohl nur unsinniges Zeug“, meinte die Tri dann und versuchte das Thema mit einem Lächeln wieder fallen zu lassen. Sie wusste, dass es sinnlos war mit Mia darüber zu reden, ohne, dass sie von dem Thema überhaupt wusste. „Natürlich kenne ich das Gefühl. Glaub bloß nicht, dass du die einzige bist, die manchmal so seltsame Gedanken hat.“ Der Ernst in ihrer Stimme ließ ihre Freundin aufhorchen. „Frau Palaos – meine Psychologie-Professorin – meinte immer: „Selbst denen, die man liebt, kann man nicht alles erzählen. Das liegt in der menschlichen Natur. Wir könnten es einfach nicht ertragen, komplett gläsern zu sein. Darum behalten wir gewisse Dinge für uns, so unwichtig sie manchmal auch erscheinen mögen. Diese kleinen Dinge sind das, was unsere Seele beschützt.“.“ Nun war es an Eyleens Augenbraue sich skeptisch nach oben zu ziehen. War klar, dass Mia wieder aus einer ihrer Vorlesungen zitierte. Das tat sie gerne, wenn man sie etwas fragte. „Du meinst also, der Mensch braucht Geheimnisse, um nicht komplett den Verstand zu verlieren?“ Die Schwarzhaarige lächelte über die legere Zusammenfassung, nickte jedoch. „Ziemlich genau das, ja. Aber wir müssen aufpassen, dass diese Geheimnisse uns nicht von innen heraus auffressen, denn irgendwann werden sie zu groß, um sie alleine zu tragen.“   „Weißt du eigentlich, dass ich jetzt auch nicht viel schlauer bin als vorher?“ Eyleen schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin ja auch keine Psychologin. Deine Probleme musst du schon selbst lösen.“ Auch in Mias Stimme war nun die Leichtigkeit zurückgekehrt. Sie hatten das schlimme Thema wohl hinter sich gelassen. „Denk dran: Du hast zuerst mit dem Thema angefangen!“ „Du hättest aber auch sagen können, dass ich mir das nur einbilde.“ „Ach, so. Verstehe. Du hast deinen Job getan, indem du nachgefragt hast, und hast jetzt ein reines Gewissen. Und ich hätte so tun sollen, als wäre nichts, um dich aus der Verantwortung zu nehmen, etwas tun zu müssen?“ Nun konnte Mia das Lächeln einfach nicht mehr zurück halten. „So könnte man es durchaus ausdrücken, ja.“ „Na, du bist mir ja eine“, schimpfte Eyleen halbherzig, doch sie kam nicht umhin, die Idee wirklich gut zu finden. Ziemlich gut durchdacht, das musste sie neidlos anerkennen. Das war Mia. Das war ihre beste Freundin.   „Ach übrigens. Ich bin da neulich zufällig über ein nettes, kleines Café gestolpert, welches wir unbedingt mal ausprobieren müssen! Hast du heute Abend Lust?“ Kapitel 10: Aura ---------------- Mia liebte das kleine Café genauso sehr, wie sie selbst. Genauso, wie Eyleen es bereits vermutet hatte, als sie das Fleckchen zum ersten Mal sah. Sie kannte ihre beste Freundin wohl einfach zu gut. Nachdem auch Eyleen ihre letzte Vorlesung hinter sich gebracht hatte, hatten sie sich dort getroffen, wo Riley sie das letzte Mal hingebracht hatte. Natürlich war die Frage aufgekommen, wie sie denn dieses kleine, sehr gut versteckte Geschäft gefunden hatte, weil das doch weit ab ihrer üblichen Wege lag, aber mit der Ausrede eines ausgedehnten Spaziergangs und dem Belauschen des Gesprächs einiger Mädchen aus ihrem Jahrgang, war das Thema auch schnell vom Tisch gewesen. Es war ein schöner Abend gewesen, an dem sie über alles und jeden geredet hatten. So viel Zeit hatten sie schon länger nicht miteinander verbracht und sie hatten beide gemerkt, dass es dafür definitiv wieder Zeit gewesen war.   Vor dem Schaufenster einer kleinen Modeboutique hielt sie inne. Der eine grüne Pullover, den die Schaufensterpuppe trug, gefiel ihr ausgesprochen gut. Wenn sie diesen Monat nicht schon so viel Geld für neue Kleidung ausgegeben hätte, hätte sie dem wahrscheinlich nicht widerstehen können. So blieb ihr aber nichts weiter übrig, als sich möglichst schnell abzuwenden, um nicht doch noch schwach zu werden. Nach der einzigen Vorlesung an diesem Vormittag, hatte sie nun zwei Blöcke frei und beschlossen in der Zeit ein wenig durch die Stadt bummeln zu gehen. Zum Glück war die Stadtmitte nicht allzu weit von der Universität entfernt, sodass sich der Ausflug zeitlich lohnte. Ein wenig blöd war nur, dass Mia wegen ihrer gerade stattfindenden Kurse nicht mitkommen konnte. Aber auch alleine machte es so mehr Spaß, als die vier Stunden in einem Hörsaal abzusitzen und gelangweilt aus dem Fenster zu starren.   Der Regen hatte zum Glück über Nacht wieder aufgehört und nur eine dicke Wolkendecke zurückgelassen. Da aber kein Wind ging, waren die neun Grad auch mit einem dünneren Pullover gut aushaltbar. Außerdem war an einem Dienstagvormittag so herrlich wenig los in den Geschäften. Die Meisten waren schließlich arbeiten oder in der Schule. Die engen Straßen der Altstadt, die gesäumt von mehrstöckigen Häusern waren, die den unterschiedlichsten Arten von Einkaufsläden Unterschlupf boten, waren bis auf wenige Menschen wie leergefegt. Da konnte man endlich mal entspannt und in Ruhe ein bisschen bummeln. Dennoch wusste Eyleen, dass etwas anders war, als sonst. Sie spürte es regelrecht in jeder Faser ihres Körpers. Sie achtete viel mehr auf ihre Mitmenschen, als sie es noch vor einiger Zeit getan hätte. Die Menschen waren für sie nicht mehr nur gesichtslose Gestalten, die zufällig neben ihr her gingen, sondern einzelne, unterschiedliche Individuen mit einer ausgeprägten Persönlichkeit, die sie mit jeder Geste zur Schau stellten. Ein bisschen merkwürdig fand sie es schon, andere Leute zu beobachten, aber irgendwie fühlte sie sich dabei wohler. Sie wollte einfach nicht mehr alle anderen ignorieren. Besonders seitdem sie wusste, dass jede Beobachtung am Ende vielleicht sogar Leben retten konnte…    Das unangenehme Rumpeln in ihrem Magen holte sie wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Es war Mittagszeit und sie hatte an diesem Morgen noch nichts außer einer Banane gegessen. Wenn sie die restlichen zwei Vorlesungen überstehen wollte, hatte sie keine andere Wahl, als sich irgendwo in einem der kleinen Cafés und Imbissbuden etwas zu Essen zu organisieren. Aber das würde nicht schwer fallen. Sie kannte diese kleine Pizza-Bude um die Ecke schon seit Jahren und für sie machten einfach die besten Pizzen der Stadt. Das wäre also eine super Anlaufstelle.   Luigis Pizzeria lag nur eine Straße weiter. Ein kleines Gebäude in dessen unterstem Stockwerk sich das Lokal befand, wie die übergroße Plastikpizza über dem Eingang schon von weitem verriet. Viel Platz war dort drinnen nicht, aber an schönen Tagen standen genug Tische und Stühle vor der Tür, um sich keine Sorgen um die Platzsuche machen zu müssen. Doch an diesem Tag mit dem relativ schlechten Wetter, war es auch kein Problem einen der wenigen Tische im Innenbereich zu ergattern. Außer ihr waren bloß ein junges Pärchen und ein älterer Mann anwesend. Die anwesenden Angestellten schienen einen ziemlich gelangweilten Eindruck zu machen. Deshalb wunderte es sie auch nicht, dass der erste Mitarbeiter bereits an ihrem Tisch stand, als sie sich gerade hingesetzt hatte. Schnell bestellte sie ein Getränk und ihre Lieblingspizza und lehnte sich entspannt in ihrem Stuhl zurück. Ihr Blick fiel auf die zahlreichen Gemälde von italienischen Landschaften, die die rauen Wände säumten und die Weinflaschen, die zur Dekoration auf Holzregalen standen. Die dunklen Möbel schufen einen starken Kontrast zu den weißen Wänden und der ebenfalls hell gestrichenen Decke. Der Duft von frischen Zutaten hing in der Luft, was Eyleens Magen nur noch stärker grummeln ließ. Doch sie war sich sicher, dass sie nicht lange warten würde, da sie anscheinend die einzige war, deren Bestellung noch offen war.   Genau in dem Moment betraten drei Mädchen das Lokal. Doch sie schienen keine Anstalten zu machen sich hinsetzen zu wollen, was Eyleen etwas verwunderte. Bei genauerem Hinsehen bemerkte sie, dass alle drei aufgeregt tuschelten und immer wieder einen Blick auf die Straße warfen. Selbst die eben noch gelangweilten Kellner hatten ihren Platz hinter der Theke verlassen und waren nach vorne an die Scheibe gegangen. Als selbst das Pärchen anfing immer wieder nach draußen zu schielen, übernahm das schlechte Gefühl in ihrem Magen die Oberhand und sie stand von ihrem Platz auf, um ebenfalls in den vorderen Bereich des Restaurants zu gehen und einen Blick zu riskieren. In der Mitte des Raumes blieb sie stehen und es dauerte nicht lange, ehe sie das bemerkte, was die Anwesenden so beunruhigte. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße standen zwei Männer, die sich lautstark anbrüllten. Selbst durch die geschlossene Eingangstür waren ihre Stimmen gut zu hören. Einer von ihnen, ein stämmiger Mann mit dichtem Bart, war bereits unnatürlich rot im Gesicht, was seine vor Wut verzogene Miene absolut angsteinflößend aussehen ließ.   Eine Gänsehaut bildete sich auf Eyleens Armen, als der Streit zu eskalieren schien. Plötzlich flogen die Fäuste und noch ehe sie begreifen konnte, was genau passierte, zerriss ein lauter Knall die Luft. Danach geschah alles wie in Zeitlupe. Der schmächtige, junge Mann brach in sich zusammen, während der Bärtige sich umdrehte und in der nächsten Häuserschlucht verschwand. „Oh mein Gott! Er hat ihn erschossen!“, schrie jemand und eine weibliche Stimme schrie entsetzt auf. „Ruft die Polizei!“   Doch Eyleen konnte nichts tun. Ihr Körper war wie gelähmt. Ihr Blick lag noch immer auf der reglosen Gestalt auf der anderen Straßenseite, unter der sich langsam eine dunkle Pfütze zu bilden schien. Erst als sich eine Menschentraube um die Leiche versammelt hatte und ihr Blickkontakt zu ihm abbrach, schien sie ihre Beine wieder spüren zu können. Mechanisch und immer noch am ganzen Körper zitternd, ging sie zurück zu ihrem Platz. Vorbei an dem Pärchen, dass sich weinend in den Armen lag. Sie hatte also soeben ihre erste Leiche gesehen. Doch was noch viel schlimmer war, als dieser grausige Mord auf offener Straße, war das gewesen, was niemand außer ihr hatte sehen können. Dieser schwarze Schatten, der die Gestalt des Mörders umgeben hatte. Diese blutroten, leeren Augen…   „Das ist es, wozu diese Dinger uns treiben. Sie machen uns ebenfalls zu Monstern.“ Eyleen schreckte zurück und sah sich panisch um, bis sie den braunhaarigen Mann neben sich entdeckte, der mit abwesendem Blick auf den Tumult auf der Straße schaute. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sich jemand zu ihr gesetzt hatte. Was bitte machte er überhaupt hier? „Liam?“ Obwohl sie wusste, dass er es war, war sie zu sehr von seiner Anwesenheit überrascht, als dass sie ihren Augen hätte glauben können. Nun sah er zu ihr und die Blondine schrak vor seinem Blick zurück. Seine Mimik sprach von großem Schmerz und aufrichtigem Mitleid. „Hier, nimm“, meinte er plötzlich und reichte Eyleen ein weißes Stück Stoff. Ein Taschentuch. Erst in diesem Moment bemerkte sie die heiße Flüssigkeit, die auf ihrer Haut brannte. Sie weinte. Ein bisschen verlegen nahm sie seine Hilfe an und wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte ihre Atmung wieder zu normalisieren. „Danke“, flüsterte sie leise und atmete ein weiteres Mal tief durch.   „Wie ich sehe, hast du auch ein Talent dafür zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.“ Am liebsten hätte Eyleen seine Anspielung als lächerlich abgetan, aber tief in ihr drin musste sie ihm zu ihrem Bedauern recht geben. „Ich befürchte auch, ja.“ Sie strich sich ihre blonden Haare hinter die Ohren und versuchte die lauten Geräusche auf der Straße zu ignorieren. In der Ferne hörte sie bereits die Sirenen heulen. „Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest. Das war wirklich kein schöner Anblick.“ Seine ganze Mitleidstour kam ihr so merkwürdig vor. Normalerweise war der Tri jemand, der seine Mitmenschen gerne bis aufs Blut reizte und dann noch einen blöden Spruch riss, bevor er ausversehen etwas Nettes sagte. Diese Freundlichkeit passte überhaupt nicht zu ihm. Auch, wenn sie nicht leugnen konnte, dass sie wahnsinnig froh war, dass er da war. „So etwas sollte niemand mit ansehen müssen. Das ist einfach nur grausam.“ Sie schüttelte fassungslos ihren Kopf. „Da hast du wohl recht. Doch ich denke, du weißt, dass nicht dieser Mann alleine schuld an seinen Taten hatte, nicht wahr?“ Natürlich nicht. Es war kaum zu übersehen gewesen. „Ich habe ihn gesehen. Seine Aura. Aber nur kurz. Und erst, als es passiert war. Diese stechend roten Augen… Aber wie ist das möglich? Wie kann der Dämon hier sein? Hier, in unserer Welt?“ Fragend sah sie den Braunhaarigen an, der wieder seine ruhige, undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte. „Sie werden mit jeder schlimmen Tat, die ein Mensch begeht, immer stärker. Dabei kann es passieren, dass ihre Macht auf einen so hohen Level steigt, dass der Dämon für uns selbst in dieser Welt sichtbar wird. Es kommt nicht oft vor und sie können diese Macht auch nicht lange aufrechterhalten. Es ist mehr so ein… Funke an Energie. Aber für uns ist das das Zeichen, dass für diesen Menschen wahrscheinlich jede Hilfe schon zu spät kommt.“ Eyleen sog scharf die Luft ein. „Zu spät? Was meinst du damit?“ So wie er dort an der Stuhllehnte lehnte, wirkte er plötzlich unheimlich müde. Er schloss kurz seine Augen, ehe er fortfuhr. „Der Dämon hat bereits so große Macht über den Menschen, dass wir kaum in der Lage sein werden, ihn noch zu vertreiben. Selbst wenn wir ihn in der Traumwelt bekämpfen, ist er bereits so stark, dass es nur wenige Tage dauern würde, ehe er wieder denselben Einfluss auf seinen Wirt hat, wie jetzt. Selbst, wenn wir ihn immer wieder vertreiben würden, wäre der Mensch so geschädigt, dass er nur noch in sein altes Muster zurückfallen könnte. Hier sind nicht mehr wir gefragt, sondern ab diesem Punkt kann nur noch die Polizei helfen.“ Sie wollte protestieren, ihm an den Kopf werfen, dass sie ihn nicht so einfach aufgeben sollen, doch senkte sie den Blick und blieb still. Es gab also auch Fälle, für die alle Hoffnung verloren war. Damit war er wohl ein fortgeschrittener Stufe 5 Dämon. Er war kaum noch menschlich, sondern nur noch ein gefährliches Monster. „Verstehe.“   In diesem Moment trat ein junger Kellner an ihren Tisch, der auch noch unnatürlich Weiß im Gesicht war. Seine Augen waren ungewöhnlich weit aufgerissen und wirkten beinahe stumpf. Er stellte Eyleens bestelltes Getränk mit zitternden Fingern vor ihr auf den Tisch, behielt die Pizza jedoch unschlüssig in der Hand. Natürlich verstand sie sofort. „Dankeschön. Lassen sie die Pizza ruhig hier.“ Sie schenkte ihm ein kleines, aufmunterndes Lächeln, was ihn dazu veranlasste, das Gericht vor ihr auf den Tisch zu stellen. Er blickte kurz zu Liam hinüber, doch der erstickte die Frage des Kellners im Keim. „Für mich nichts, danke.“ Der junge Mann nickte und ging wieder zurück in die Küche. Doch jetzt, wo sie die Pizza vor sich stehen sah, schien ihr doch sämtlicher Appetit vergangen zu sein. So gut das Teigstück auch aussehen mochte. „Du solltest etwas essen. Du hast einen leichten Schock. Wahrscheinlich ist dir schon ein bisschen schwindelig und schlecht. Iss und es wird dir gleich besser gehen.“ Innerlich seufzte sie. Er hatte recht. Schon wieder. „Bedien dich“, meinte sie, als sie die Pizza in kleine Stücke zerteilt und den Teller in die Mitte des Tisches gestellt hatte. Selbst an dem so taffen Liam konnte das dort draußen nicht spurlos vorbeigegangen sein. Und tatsächlich ließ er sich nicht zweimal bitten und schnappte sich ein Stück von der Pizza. Eyleen tat es ihm gleich und tatsächlich schien sich schon beim ersten Biss ihr gurgelnder Magen wieder etwas zu beruhigen.   Blaues Licht funkelte rhythmisch durch die große Glasfront und ließ das Innere der Pizzeria in regelmäßigen Abständen aufleuchten. Draußen vor dem Fenster parkten nun mehrere Polizeiwagen und ein Krankenwagen. Ob es vielleicht doch noch nicht zu spät für den Mann war? Doch sie zwang sich nicht darüber nachzudenken und nahm sich ein weiteres Stück Pizza. „Wie hast du mich eben eigentlich gesehen?“ Die Frage brannte ihr schon seit ihrer Begegnung auf der Zunge. Außerdem war sie dankbar für dieses harmlosere Thema. Der Braunhaarige lächelte, bevor er erneut in sein Pizzastück biss. „Man glaubt es kaum, aber es war purer Zufall. Ich bin gerade die Straße entlanggegangen, als es passierte. Ein Schrei hier aus der Pizzeria hat mich dann erschreckt und mich dazu gebracht durch das Schaufenster zu sehen. Na, und dabei bist du mir dann ins Auge gefallen. Welch glückliche Fügung, nicht wahr, Kätzchen?“ Und da war er wieder. Der alte Liam, der ihr inzwischen schon ziemlich vertraut war. „Trifft sich sowieso gut, dass wir uns hier sehen. Ich wollte dir heute sowieso noch schreiben.“ „Warum?“, fragte sie verblüfft. Was könnte er von ihr wollen?  „Morgen Abend um 20 Uhr gehen wir wieder auf Jagd. Das machen wir jeden Mittwoch und Riley dachte, du würdest gerne mitkommen.“ Eyleen runzelte die Stirn. „Riley dachte das? Und wieso fragst du mich dann?“ Liam grinste breit. „Ich bin eben gerne anderen voraus. Kann also gut sein, dass der Nerd dich auch noch anschreiben wird. Betrachte dich also als vorgewarnt.“ Da war wieder dieses Funkeln in seinen blauen Augen, das er immer hatte, wenn er sich darüber freute, andere zu ärgern.   Sofort sackte ihr Herz noch ein ganzes Stück tiefer. Das Pizzastück in ihrem Mund schmeckte plötzlich merkwürdig sauer, weshalb sie es ungekaut herunterschluckte. „Ihr… geht wieder auf die Jagd?“ Sie hoffte, dass ihre Stimme bei dem Gedanken nicht genauso zitterte, wie ihre Finger es bereits taten. Schnell ballte sie ihre Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. „Die Jagd-Zeiten unter der Woche teilen wir uns mit den anderen Gruppen, die hier in dieser Stadt aktiv sind. Du kannst es also einen „Arbeitsplan“ nennen.“ Liam grinste. „Und unsere Gruppe zieht immer Mittwoch nachts los. Am Wochenende sind dann meistens alle unterwegs. Das ist unsere bevorzugte Jagd-Zeit, da sich die Aktivitäten prima hinter Alibis vor anderen verstecken lassen.“ Er zuckte mit den Schultern und griff nach dem letzten Stück Pizza. Eyleen war das ganz recht so, denn sie hatte das Gefühl, dass ihr Magen mehr davon nicht verkraften würde. „Alibis wie Discogänge und Filmabende vermute ich.“ „Ganz genau. Klappt super. Solltest du dann auch mal probieren.“ In diesem Moment sank ihre Laune ganz in den Keller, doch sie gab sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Geheimniskrämerei hatte aber keinen Zweck, das wusste sie.   „Das wird bei mir nicht gehen. Ich… habe keine Freunde. Jedenfalls niemanden außer meiner Mitbewohnerin.“ Das ließ den Braunhaarigen aufhorchen. Sein Blick wanderte augenblicklich weg von dem Trubel, den er die ganze Zeit durch das Schaufenster hindurch beobachtet hatte, und landete direkt auf ihrem Gesicht. Krampfhaft tat die Blonde so, als würde sie das Landschaftsgemälde an der Wand hinter ihm betrachten, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. „Dann wirst du dir wohl etwas ganz raffiniertes einfallen lassen müssen! Bin schon sehr gespannt auf deine wasserdichte Ausrede! Ein Bücherklub? Nächtliches Sportprogramm? Oder das Meditieren auf einem Friedhof? Vielleicht gehst du ja auch unter die Graffitikünstler? Ob deine Freundin dir das abkaufen würde?“   Eyleen wusste gar nicht was sie sagen sollte. Er ging gar nicht weiter auf das für sie unangenehme Thema ein, sondern steigerte sich lieber in die Ideenfindung? Kein blöder Spruch? Keine zweideutige Andeutung? Hatte ihm der Tag heute die Stimmung vermiest? Aber, würde er sich dann so kaputt lachen? Doch noch ehe sie sich entschieden hatte, was sie tun sollte, knirschte plötzlich sein Stuhl, während er sich von seinem Platz aus erhob und sich kurz streckte. „Wie dem auch sei“, begann er und legte einen Geldschein auf den Tisch, passend für ihre Rechnung. Sein merkwürdiges Grinsen hielt Eyleen davon ab nachzufragen, was das eigentlich sollte. Sie konnte es sich schon denken. „Du weißt, wo du uns morgen findest. Bleib bis dahin lieber Zuhause. Nicht, dass ich dir beim nächsten Verbrechen wieder über den Weg laufe.“   Kaum, dass sie registriert hatte, dass er sich in Bewegung gesetzt hatte, war er auch schon zur Tür hinaus. Alles, was sie danach noch bewusst wahrnahm, war der schwarze Sack auf der Krankenbahre, der in diesem Moment in den Krankenwagen geschoben wurde, bevor der Wagen davon brauste.   Das Knallen der Tür, die ins Schloss fiel, ließ Eyleen heftig zusammenzucken. Sie hatte ein weiteres Mal auf Autopilot geschaltet und war in diesem Modus irgendwie nach Hause gekommen. Doch auch dort, in ihrer sicheren Wohnung, konnte sie dieses schwammige Gefühl in ihrem Kopf nicht ausschalten. Sie war zu schwach. Schon wieder. Eine Tatsache, die sich wie ein nerviger, spitzer Nagel in ihr Bewusstsein bohrte. „Eyleen? Was machst du denn schon hier?“ Wahrscheinlich aufgeschreckt von den Geräuschen, war die Schwarzhaarige aus ihrem Zimmer getreten und sah nun verdutzt zu ihrer Freundin hinüber. Doch es dauerte nur einen Moment, ehe sich ihr fragender Gesichtsausdruck in etwas anderes veränderte. Sie hatte es sofort bemerkt, natürlich. „Hey Mia. Ich konnte heute nicht wieder in die Uni gehen. Ich bin grade nicht ganz so gut drauf.“ Die Blondine gab sich gar keine Mühe ihren Geisteszustand zu verstecken, das wäre nur vergeudete Mühe. „Was ist passiert?“ Und wieder traf die junge Frau genau ins Schwarze. Sie musste nicht fragen ob etwas passiert war, sondern hatte das schon längst geschlussfolgert. Sie konnte in ihr lesen wie ein offenes Buch. So praktisch das manchmal auch war, oft machte ihr das auch Angst… „Ich war vorhin Pizza essen. Freistunde, du weiß schon“, begann Eyleen und legte dabei kraftlos ihre Tasche ab, um sich danach von Jacke und Schuhen zu entledigen. „Eigentlich war alles gut, doch plötzlich kam es auf der Straße zu einer Rangelei zwischen zwei Männern. Und dann…“ Sie war bereits in ihrer Zimmertür angekommen und drehte sich ein letztes Mal zu Mia um. „Jemand wurde erschossen. Ich habe heute meine erste Leiche gesehen.“   Ihre Mitbewohnerin ließ sie für den Rest des Abends in Ruhe, wofür Eyleen ihr unendlich dankbar war. Sie wusste, dass sie überreagierte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Nun war ihr klar, dass sie bereits tief in der Sache drinnen steckte. So tief, dass es ihr nicht mehr möglich war, dort wieder heraus zu kommen. Dies war das letzte Mal, dass sie ihre Schwächen so offen zeigen durfte. Nur noch dieses eine Mal. Ab dem nächsten Tag musste sie stark sein, und zwar nicht nur zur Schau, wie sie es die ganzen letzten Jahre getan hatte, sondern aus ihrem innersten Kern heraus.   Sie war jetzt eine Tri, eine Dämonenjägerin, und es war jetzt an der Zeit, sich auch endlich dessen würdig zu benehmen. Kapitel 11: Rettungsring ------------------------ Die Nacht war traumlos und dennoch fragte sie sich nach dem Aufwachen insgeheim, ob nicht auch sie in der Nacht dort durch die Traumwelt wandelte, so, wie jeder andere Mensch es tat. Nur weil sie ein Tri und dadurch in der Lage war in einer Parallelwelt Dämonen zu jagen, hieß das noch lange nicht, dass sie nicht auch immer noch ein normaler Mensch war, der schlief und träumte. Es wäre also nur logisch, wenn auch ihre Träume sich dort abspielten. Wie sehr es sie doch interessieren würde, welche Wunder sie wohl dort vollbrachte? Welche ihrer geheimsten Wünsche hatte sie sich dort schon erfüllt? Was für fantastische Magie konnte sie wirken? Sie hoffte zumindest, dass es irgendwas ziemlich Cooles war!   Der Morgen lief eigentlich ab wie immer. Eyleen ließ sich zweimal von Mia aus dem Bett jagen, ehe sie sich relativ ausgeschlafen ins Bad begab. Als sie dann trotzdem noch pünktlich im Flur stand und ihre Freundin sie skeptisch betrachtete, wiegelte sie das aufkommende Thema mit einem einfachen Lächeln ab. Und obwohl die Fragen schon in Mias Augen blitzten, beließ sie es dabei. Eyleen fühlte sich gut. Und irgendwie konnte sie nach dem gestrigen Tag selbst kaum glauben, wie gut es ihr ging. Sollte man einen Tag, nachdem man einen Mord live auf der Straße beobachtet hatte, wirklich schon wieder so gut gelaunt sein? Aber andererseits würde es niemandem etwas bringen, wenn sie von nun an nur noch Trübsal blies und sich nicht mehr aus dem Haus traute. Das würde den armen Mann auch nicht wieder zurück bringen…   Sie hatte einen Entschluss gefasst und den würde sie durchziehen. Mit allen Mitteln.   „Ach Mia“, meinte sie auf dem Schulweg zu ihrer Freundin und dabei um einen neutralen und lässigen Ton bemüht. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute Abend noch mal weg gehe. Ich habe mich um die Ecke bei einem Fitnessstudio angemeldet. Ich möchte mal wieder etwas fitter werden. Vielleicht kann ich dadurch auch etwas für meine Konzentration tun.“ Die Blondine lächelte vor sich hin. Sie fand die Ausrede eigentlich wirklich gut. Und der Punkt mit der gesteigerten Konzentration würde auch Mia nicht kalt lassen, wo sie doch immer so den Moralapostel spielen musste. „Fitnessstudio? Wirklich?“ Eyleen vermied es tunlichst ihr direkt in die Augen zu sehen und tat so, als würde sie interessiert die an ihnen vorbeiziehenden Häuserfassaden betrachten. Der Ton ihrer Freundin zeugte von echter Überraschung. „Ich bin einfach nicht der Typ, der draußen in der Kälte rumturnen kann. Oder Hitze, je nachdem. Wenn ich also wirklich ein bisschen Sport treiben will, dann muss ich das Wohl oder Übel in einem Fitnessstudio machen. Außerdem gibt es dort sogar eine Sauna!“ Sie musste gestehen, dass das wirklich sehr gut klang. Vielleicht könnte sie trotzdem eine Mitgliedschaft kaufen und einfach an anderen Tagen dorthin gehen. Dann wäre ihr kleines Alibi auch nur noch teilweise gelogen… „Wie kommt das denn auf einmal? Versteh mich nicht falsch, du kannst natürlich machen, was du willst, und vielleicht hilft dir der Sport wirklich, besser in der Uni zu werden, aber du hattest die letzten Jahre nie auch nur eine Andeutung in diese Richtung gemacht. Wieso also grade jetzt?“ Damit die Schwarzhaarige ihre verräterische Grimasse nicht sehen konnte, wandte Eyleen schnell ihren Kopf in die andere Richtung und tat so, als würde sie etwas in ihrer Tasche suchen. Das erste, was ihr in die Hände fiel, war ihr Lippenpflegestift, den sie gleich darauf herausholte und benutzte. Inzwischen hatte sie sich auch wieder gefangen. „Du hast wahrscheinlich gemerkt, dass ich die letzten Tage oder Wochen etwas neben mir stand“, meinte sie vorsichtig und legte ihren Pflegestift zurück in die Tasche. „Und weil ich befürchte, dass Abwarten und Tee trinken bei mir nicht hilft, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Und irgendwie kam ich eben auf Sport. Ich bin sowieso immer so steif vom ganzen Rumsitzen. Es kann also im Grunde nicht schaden.“ Und wieder ein Lächeln, das sie trotz ihrer innerlichen Schuldgefühle versuchte so ehrlich wie möglich zu meinen. Doch sie musste sich zusammenreißen! Es war immerhin zu Mias eigener Sicherheit!   „Also ich muss sagen, ich finde das wirklich gut!“ Eyleen blickte verwundert zu ihrer Freundin. So viel Begeisterung für ihre Idee hatte sie von ihr überhaupt nicht erwartet. „Die Bewegung wird dir bestimmt gut tun! Und dann kommst du auch endlich mal vor dir Tür.“ Das erklärte natürlich vieles. Mia hielt sie also für eine extreme Stubenhockerin. Womit sie ja auch nicht ganz unrecht hatte… „Hey, ich bin doch vor der Tür!“, kicherte sie, nun deutlich erleichtert. „Ja, aber nur weil du musst. Wenn du heute keine Vorlesungen hättest, würdest du den ganzen Tag nicht aus deinem Zimmer kommen.“ Zwischen ihren Worten seufzte sie immer wieder. Beinahe wie eine Mutter, die ihrem Kind zum hundertsten Mal etwas erklären wollte, aber innerlich eigentlich schon aufgegeben hatte. Die Tri hingegen sah die Sorgen ihrer Freundin etwas lockerer. „Ach, komm schon Mia. Ich mag mein Zimmer eben! Und du weißt, dass ich dort drin auch Vernünftiges tue! Lesen, zum Beispiel. Und wie heißt es so schön? Lesen bildet!“ In diesem Moment betraten sie das Universitätsgelände und Mia schluckte sichtlich ihren Kommentar einfach hinunter, um es dabei zu belassen. Sofort waren sie umringt von müde dreinblickenden Studenten mit Coffee-To-Go-Bechern vom dem Bäcker gegenüber, die sich ein Gähnen kaum verkneifen konnten. „Und trotzdem ist es gut, wenn du deinen Kokon auch mal verlässt“, hauchte Mia noch fast tonlos, ehe sie um die nächste Ecke verschwand.   Als die Vorlesungen am Vormittag schon beendet waren und die beiden Freundinnen ihren dringend benötigten Wocheneinkauf hinter sich gebracht hatten, hatte Eyleen sich kurz in ihr Zimmer zurückgezogen. Tatsächlich war während der ersten Vorlesung eine SMS von Riley eingetrudelt, mit der Einladung zu ihrer Jagd. Eyleen hatte gleich darauf eine kurze Antwort geschrieben und zugesagt. Das Treffen mit Liam ließ sie dabei unerwähnt. Es waren nur noch ein paar Stunden, ehe sie wieder in die Traumwelt gehen würde. Ein wenig nervös war sie ja schon. Was würde wohl bei dieser Jagd passieren? Hoffentlich war das letzte Treffen mit dem Dämon ein einmaliger Ausrutscher gewesen… Wenn das so weiter gehen würde, würde sie bald einen Herzinfarkt bekommen!   Sie warf einen kurzen Blick auf die Tasche neben sich. Tatsächlich hatte sie sich ein paar alte Sportklamotten aus dem Schrank gesucht und diese unachtsam in eine zerfledderte Sporttasche getan. Noch immer hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre beste Freundin so anlog. Doch sie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab. Mia durfte von den Dämonen nichts erfahren! Wie also sollte sie ihre ständigen späten Ausflüge sonst erklären? Sie musste es einfach tun! Nur so konnte sie sie beschützen…   Als sie pünktlich um kurz vor 20 Uhr die Werkstatt betrat, waren die Geschwister bereits dort. Sogar das Portal prangte schon fertig an der Wand und tauchte alles in einen weißen Schimmer. Nur von Riley war noch nichts zu sehen. Mit einem freundlichen Hallo begrüßte sie die beiden und stellte ihre Sporttasche auf dem alten Schreibtisch ab. Eyleen spürte die Blicke der Anwesenden in ihrem Rücken, doch sie machte keine Anstalten in irgendeiner Weise darauf zu reagieren. Und zu ihrer Überraschung fragten sie auch nicht nach.   „Entschuldigt die Verspätung!“ Unter lautem Quietschen öffnete sich die Eisentür, als Riley den Raum betrat. Er schien gerannt zu sein, denn sein Atem ging schwer und sein Kopf war Rot wie eine Tomate. „Ich wurde aufgehalten!“ „Hallo Riley“, begrüßte Eyleen ihn freundlich, was ihr einen verdutzten Blick von ihm einbrachte. Glaubte er etwa immer noch, dass sie ihm die erste, etwas danebengegangene Jagt übel nahm? Völlig außer Puste und unfähig etwas zu sagen, nickte er ihr lächelnd zu und legte im gleichen Moment seine Umhängetasche ab. Er atmete noch einmal tief durch, ehe sich seine Atmung endlich wieder normalisiert hatte.   „Okay, da nun alle da sind, lasst uns endlich los gehen. Ich habe morgen früh einen wichtigen Termin.“ Chloé hatte ihren üblichen, genervten Ton angeschlagen, der keine Widerrede und schon gar keine weitere Verzögerung duldete. Doch diesmal rollte sogar Liam kopfschüttelnd seine Augen. Natürlich so, dass es seine Schwester nicht sah. Als er Eyleens Blick auf sich bemerkte, schlich sich ein Grinsen auf sein Gesicht und er zuckte bloß resigniert mit den Schultern. Um das gehässige Lächeln auf ihrem Gesicht zu verstecken, sah sie schnell zur Seite. Genau so sah ein kleiner Bruder aus, dem seine große Schwester so richtig auf den Nerv ging.   Eyleen hörte Chloé wütend schnauben und vermutete, dass der kurze Blickkontakt zwischen ihr und Liam doch nicht so unauffällig gewesen war, wie sie gedacht hatte. Sie wagte es aber nicht, die Blondine direkt anzusehen. Und nur einen Moment später ließen die Vier sich von dem Sog in die Traumwelt ziehen.   Ein lauer Frühlingswind strich ihr um die Nase, als die junge Blondine ihre Augen wieder öffnete. Die Tür des Büros stand offen und die Geräusche der Traumstadt drangen dumpf bis zu ihnen vor. Doch Chloé wartete nicht, bis Eyleen sich wieder halbwegs von der Reise durch das Traumtor erholt hatte, sondern stiefelte sofort in Richtung Ausgang. Liam, Riley und sie folgten ihr schnellstmöglich. Als die Gruppe vor die Tür der alten Werkstatt trat, hielten alle so abrupt inne, dass die neue Tri erst mal direkt in Liam hinein lief. Mit einem kurzen „Hey!“ beschwerte sie sich bei dem jungen Mann und rieb sich die schmerzende Nase. Doch als keine Erwiderung von ihm kam, begriff sie, dass etwas nicht stimmen musste. Ein Blick um den Braunhaarigen herum lenkte nun auch ihre Aufmerksamkeit auf die erfahrenste Tri unter ihnen. Der kalte Schauer ließ nicht lange auf sich warten.   Chloés Blick war statt in die Ferne gerichtet. Ihre Augen milchig. Beinahe so, als wäre sie so tief in Gedanken versunken, dass sie kaum noch etwas um sich herum mitkriegen dürfte. Sah sie gerade etwas, was die anderen nicht sehen konnten. Und die Jungs schienen darauf zu warten, dass sie sie aufklärte. Minuten vergingen und niemand rührte sich vom Fleck. Eyleen wurde mit jeder Sekunde nervöser. Das Gefühl, dass scheinbar auch diese Jagt nicht viel ruhiger werden würde als die letzte, ließ sie schwer schlucken. Jetzt würde sie beweisen müssen, dass sie ihren eigenen Entschluss auch wirklich durchziehen konnte.   Etwas in ihrem Augenwinkel ließ sie den Blick von der immer noch weggetretenen Tri abwenden. Nicht weit von ihnen entfernt, nur ein Stück die Gasse weiter hoch, waberte so etwas wie schwarzer Rauch über einem Häuserdach hervor. Ein Feuer? Doch dieser Rauch schien sich nicht gen Himmel zu wälzen. Eher im Gegenteil. Er waberte exakt an dieser einen Stelle, so als ob eine große unsichtbare Kugel ihn umschloss und am Platz hielt. Aus irgendeinem Grund verstärkte dieser Anblick ihr schlechtes Gefühl nur noch. Das war kein normaler Traum. Das dort war etwas anderes. Etwas Schlimmeres.   „Riley?“, flüsterte sie leise und zog mit zwei Fingern an dem T-Shirt-Saum des Schwarzhaarigen. Tatsächlich bekam sie so seine Aufmerksamkeit. „Was ist das?“ Ergänzte sie ihre Frage sofort und zeigte in Richtung der wabernden Schwärze. „Was meinst du?“ Seine Antwort verblüffte sie. Sah er diese Wolke etwa nicht? Aber so groß wie sie war, konnte man diese doch gar nicht übersehen! „Diese schwarze Wolke dort!“ Obwohl sie immer noch flüsterte kam ihr ihre eigene Stimme unglaublich laut vor. Sie wollte auf keinen Fall Chloés Konzentration stören.   „Sieh mal an, Schwesterherz. Du bekommst langsam wirklich Konkurrenz!“ Liam lautes Lachen hing plötzlich in der Luft und Eyleen zuckte, erschrocken von der plötzlichen Lautstärke, zusammen. „Pah.“ Meine diese nur und sah nicht mal zurück, ehe sie sich in Richtung der Gasse begab. Liam lachte einfach weiter. „Hey Riley. Du solltest dich beeilen, sonst ist sie über alle Berge!“ Der Schwarzhaarige schaltete – im Gegensatz zu Eyleen – sofort und lief der Tri hinterher. Und noch ehe Eyleen selbst begreifen konnte, was los ist, setzte auch Liam sich in Bewegung.   „Komm schon, Kätzchen!“, rief er ihr über die Schulter hinweg zu. „Arbeit ist angesagt!“ Die junge Frau verdrehte seufzend die Augen. Das war ja mal wieder alles super! „Ich weiß, dass du es liebst mich im Dunkeln zu lassen“, meinte sie, als sie ihn eingeholt hatte, „aber würdest du mir vielleicht freundlicherweise verraten, was hier schon wieder los ist?“ Riley und Chloé waren die Gasse in die gewohnte Richtung entlang gegangen, während Liam sofort in die andere gesteuert war. Direkt auf den schwarzen Rauch zu. Eyleen ahnte nichts Gutes. „Ach was, ich brauch dir gar nichts sagen. Du weißt doch sowieso schon wieder alles. Du bist doch das kleine Wunderkätzchen!“ „Wunderkätzchen?“, quiekte sie schockiert über den neuen, total albernen Spitznamen. „Echt jetzt?“ Aber sofort besann sie sich anders und schluckte den Kommentar, der ihr schon auf der Zunge lag, wieder herunter. Wenn er es so wollte… „Okay. Ich schätze mal, wir sind heute ein Team. Das habe ich daraus geschlussfolgert, dass Chloé mich sowieso nicht mag und Riley sofort wusste, was du mit deinem kryptischen Gekicher meintest.“ „Nah dran“, bekam sie als Antwort. Das Lächeln breit auf seinem Gesicht. „Und anhand von Chloés… Showeinlage, der leicht angespannten Stimmung, die dabei herrschte, und der Tatsache, dass wir grade auf diese tiefschwarze, gruselige Wolke aus Rauch zusteuern, die Riley scheinbar nicht mal sehen konnte, schlussfolgere ich, dass es gleich richtig heftig wird.“ Liams Lächeln verschwand von seinem Gesicht. „Wie gesagt. Du weißt doch ganz genau, was hier los ist.“   Als die zwei um die Ecke bogen, waren sie bereits mitten drin. Der schwarze Rauch war nur wenige Meter von ihnen entfernt. Tatsächlich hing dieser wie eine Glocke über einem bestimmten Punkt. Und Eyleen brauchte nicht lange, um die Ursache dafür auszumachen. Sie hatte zwar erst einmal einen gesehen, doch diesen Anblick vergas man nie. „Ein S4?“ Es fiel ihr schwer überhaupt Luft zu holen. Sie fand diese Dinger einfach abstoßend. „Und dazu noch ein ganz besonderer, wie du anscheinend sehen kannst.“ Im nächsten Moment hielt Liam bereits sein Schwert in der Hand. Kampfbereit. Eyleen trat einen Schritt zurück. Konnte sie ihm wirklich eine Hilfe sein? „Ich bin dieses Mal zwar der falsche Lehrer, da musst du schon meine Schwester fragen, aber ich kann dir trotzdem sagen, was du siehst. Nur wenige Tri's sind in der Lage das überhaupt zu sehen. Wenn ein S4 sich… entwickelt, sehen einige von uns eine Art schwarze Wolke, die sich um sie herum bewegt. Ähnlich wie bei der 3. Stufe, doch dabei ist die Intensität so gering, dass alle Tri's diese Form sehen können.“ Eyleen schluckte. „Im Gegensatz zu diesem Statdium hier. Das ist kein Rauch, sondern die Kraft, die bereits zu stark für ihre Stufe sind. Dieser S4 wird jeden Moment zu einem S5 aufsteigen. Und dann ist es zu spät für uns…“   Ein Poltern schwoll an und Eyleen zuckte erschrocken zusammen. Wie aus dem Nichts materialisierten sich steinerne Mauern um sie herum, bis sie eine undurchdringliche Kuppel um sie und den Dämon bildeten. Und obwohl es eigentlich stockdunkel sein müsste, da es keinerlei Lichtquellen gab, war das Innere der Kuppel hell erleuchtet. Einen Moment lang übernahm Panik die Gedanken der Blondine, doch sie beruhigte sich wieder, als sie begriff, dass Liam der Verursacher war und nicht der Dämon. „So stören uns die Träume der anderen hier nicht. Das kann nämlich manchmal echt nervig sein. Und außerdem kann das Ding so nicht weglaufen.“ Eyleen nickte, ging aber nicht weiter auf Liams Erklärung ein. So etwas hatte sie sich schon gedacht. „Du hättest mich aber wenigstens vorwarnen können…“ Diesen kleinen Kommentar konnte sie sich einfach nicht verkneifen und sofort war sein altbekanntes Grinsen wieder da. „Du gönnst mir aber auch gar keinen Spaß!“   Sie verkniff sich das Lächeln, was schon auf ihren Lippen lag und konzentrierte sich auf das Monster dort direkt vor ihr. Diese langen, unnatürlichen Gliedmaßen, diese schwarze, ledrige Haut, diese roten Augen. Und sofort spürte sie diese Eiseskälte, die sie in Gegenwart dieser Monster immer von innen her aufzufressen schien. Ein höchst unangenehmes Gefühl.   „Dann wollen wir mal!“ Liam brachte sein Schwert in Position und in demselben Augenblick richteten sich die feuerroten Augen des S4 direkt auf ihn. Es machte den Anschein, als könne er die Schwingungen der Waffe wahrnehmen. So schnell sie konnte beschwor auch Eyleen ihre Klinge, um sich im Notfall verteidigen zu können.   Ihr Herz schien still zu stehen, als Liam mit einem lauten Schrei und gezogener Waffe auf das Monster zu rannte. Die Rauchschwaden schienen ihn beinahe zu verschlucken, als er vor dem Biest in die Höhe sprang und aus gut drei Metern auf seinen Gegner hinab sauste. Erst im letzten Moment schien dieser zu begreifen, dass er angegriffen wurde, und hob grade noch rechtzeitig den Arm, um seinen Kopf vor dem Schwert zu schützen. Die Klingt schnitt ihn tief in sein Fleisch und rotes Blut quoll daraus hervor. Liam zog seine Waffe wieder an sich, sprang zurück und startete eine neue Attacke. Eyleen trat entsetzen einen Schritt zurück. Sie konnte nicht fassen, wie real dieses Wesen mittlerweile war! Damals, als sie diesem S3 begegnet war, war der Dämon bloß eine blasse Figur hinter dem Menschen. Doch dieses Wesen her war beinahe nur noch ein Monster. Von dem Menschen, der eigentlich in ihm stecken müsste, war nichts mehr zu sehen. Der Mensch hatte bereits aufgehört zu existieren.   „-fe!“ Eyleen horchte auf. Hatte sie dort nicht eben etwas gehört? „-ilfe!“ War das… eine menschliche Stimme? „Ich-!“ Immer und immer wieder drangen Wortfetzen leise wie eine Windböe an ihr Ohr, doch es war niemand zu sehen. Der Dämon, Liam und sie waren die einzigen in dieser Steinkuppel! Es war doch niemand-! „Hilf mir! Ich ertrinke!“ Plötzlich verlor sie den Boden unter den Füßen. Es war, als würde der Asphalt unter ihr schmelzen und sie in die Tiefe ziehen. Ehe sie wusste, was geschah, bekam sie schlagartig keine Luft mehr und Wasser drang in ihre Lunge ein. Aber- Wasser? Tiefe Schwärze umhüllte sie und so sehr sie sich panisch auch umsah, konnte sie doch nichts außer Massen von Wasser erkennen. War sie in einem Meer gelandet? Doch wo war die Oberfläche? Wie konnte sie hier wieder herauskommen? Ihre Lungen schrien nach Sauerstoff und langsam begannen die Gedanken in ihrem Kopf zu verschwimmen. Fühlte sich so das Ertrinken an? Wie damals in diesem Albtraum aus Feuer… Wie…   „Eyleen, atme!“, schrie plötzlich jemand neben ihr und sie erkannte seine Stimme sofort. Liam war noch da! Sie war diesmal nicht alleine in diesem- Traum! Und da verstand sie es. Natürlich. Sie hatte es die ganze Zeit gewusst, es jedoch nicht bemerkt! Der tiefe Atemzug fühlte sich so gut wie noch nie an. Sie war in einem Traum! Natürlich! Sie konnte doch unter Wasser atmen! Wieso hatte sie da nicht früher dran gedacht?   „Liam?“, rief sie in die Stille des Meeres hinein. Sie schwamm noch immer inmitten der Fluten und sie konnte keinen Unterschied zu ihren Schwimmrunden letzten Sommer erkennen. Das Gefühl von Wasser auf ihrer Haut und in ihrer Kleidung. Es fühlte sich so wahnsinnig echt an! „Dieser Mistkerl meint einfach die Spielregeln ändern zu können!“ Der Tri tauchte lautlos neben ihr auf. Der Blick starr nach vorne gerichtet; die Klinge kampfbereit. „Der glaubt doch echt uns seine Regeln aufzwingen zu können!“ „Ich höre sie!“ Die Dringlichkeit in Eyleens Stimme ließ den Braunhaarigen aufhorchen. „Wen hörst du?“ „Sie! Die Frau! Sie ruft um Hilfe! Sie ist noch da, Liam! Der Dämon hat sie noch nicht verschluckt! Wir können sie noch retten!“ Es war ihr ernst. Sie wusste einfach, dass es noch nicht zu spät sein konnte! Diese Frau… Sie rief nach Hilfe! Und Eyleen würde alles tun, um sie zu retten!   Liam drehte seinen Kopf zu ihr und im nächsten Moment sahen sie sich tief in die Augen. Sein Blick war intensiv, so intensiv, wie sie es nur selten gesehen hatte. Es fiel ihr schwer ihm standzuhalten. Erst, als sein gewohntes Lächeln auf seinem Gesicht erschien, wurde sein Blick wieder weicher. „Weißt du was, Kätzchen? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, aber ich werde dich nicht davon abhalten, es zu tun. Zeigen wir es denen!“ Nun war es an Eyleen verschmitzt zu lächeln. „Aber sowas von!“   Sie hatte Liam nicht gehen sehen, aber dennoch wusste sie, dass er nicht mehr da war. Sie hatte ihre Augen geschlossen und ließ sich vom Wasser treiben. Die Wortfetzen schwebten fast lautlos in der Schwärze. Doch sie waren da! Sie bildete sich nichts ein! Da rief jemand nach Hilfe! Es war noch nicht zu spät…   „Hilf mir!“   Ein Ruck ging durch ihren Körper, als sie plötzlich gegen etwas Hartes krachte. Als sie ihre Augen öffnete sah sie eine junge Frau Ende 20. Mit ihren schwarzen, langen Haaren, die wie Spinnenseide im Wasser schwebte, erinnerte sie Eyleen sehr an ihre Freundin Mia und plötzlich wurde ihr ganz schwer ums Herz. Verzweifelte Augen blickten in die Ferne. Ihre Arme ruderten wild im Wasser, doch sie schien kein Zentimeter voran zu kommen. Sie schluckte Wasser, sie hustete. Und immer wieder rief sie panisch nach Hilfe. Sie verstand es nicht. Die Frau war so sehr in ihrem Albtraum versunken, dass sie diese ganzen Unstimmigkeiten nicht bemerkte. Für sie war es bloß ein immerwährender Kampf um ihr Leben…   Eyleen packte ihre Arme und zog sie zu sich, doch das Mädchen bemerkte sie überhaupt nicht. Im Gegenteil. Sie versuchte sich aus dem Griff der Tri zu befreien. „Es ist alles gut, hörst du mich? Du brauchst keine Angst zu haben! Du wirst nicht ertrinken, das verspreche ich dir!“ Keine Reaktion. „Bitte, hörst du mich? Lass uns nach oben schwimmen! Zurück an die Wasseroberfläche! Ich kann dich retten! Du wirst leben, hörst du?“ Das Mädchen zuckte zusammen. Jetzt lag ihr Blick direkt auf Eyleen. Ihr Körper hatte den Versuch zu schwimmen aufgegeben und nun trieben sie beinahe reglos im Wasser. „Leben? Ich werde… leben?“ „Ja, das wirst du! Gib nicht auf! Die Oberfläche ist ganz nah! Es ist nur noch ein Stück! Auch, wenn du meinst, dass du in deinen Problemen untergehst und du keinen Horizont siehst… Er ist da! Er ist immer da! Du darfst du einfach nicht stehen bleiben! Du musst weiter gehen! Deine Freunde und deine Familie werden immer direkt hinter dir gehen! Du wirst nie allein sein, hörst du?“   Obwohl sie eben noch mitten im Meer versunken waren, durchbrachen sie im nächsten Moment die imaginäre Wasseroberfläche und ein graues Wolkenband schwebte nun über ihren Köpfen. Die junge Frau hustete wild und schnappte gierig nach Luft. Die schwarzen Haare klebten ihr mitten im Gesicht. Doch noch immer war die Panik nicht aus ihrem Blick verschwunden. „Sieh mich an und halt dich an mir fest! Ich bin dein Rettungsring! Ich lass dich nicht ertrinken! Hilfe ist gleich da, vertrau mir!“ Grüne Augen. Sie hatte tiefgrüne Augen. Eyleen konnte so viel darin lesen. Wie verzweifelt musste dieses arme Mädchen sein? Wie tief musste diese Angst schon in ihr sitzen, dass sie mit so jungen Jahren um ein Haar zu einer Verbrecherin geworden wäre? Was war ihr bloß passiert? „Ist das…?“ Eyleen blickte auf, als sie plötzlich dicht neben sich Geräusche hörte. Und tatsächlich. Sie lächelte. Ihre Worte hatten etwas erreicht. „Ein Schiff?“ „Ja, ein Schiff! Du bist gerettet!“ Und im nächsten Moment erklang das freudigste Lachen, was Eyleen je in ihrem Leben gehört hatte. Ein Lachen, welches vor Glück nur so triefte. „Gerettet…“ Im nächsten Moment war das Meer verschwunden und sie landete unsanft auf hartem Asphalt. In ihrem Schoß lag die junge Frau, die eben noch in ihren Armen bewusstlos geworden war. „Liam, jetzt!“, schrie Eyleen und hoffte, dass er sie hören konnte. Wie zur Antwort ertönte ein hohes, markerschütterndes Kreischen, welches die Kuppel voll auszufüllen schien. Die Tri erkannte gerade noch, wie sich die schwarze Rauchwolke an der gegenüberliegenden Steinwand in Luft auflöste und nur ein braunhaariger Mann zurück blieb. Nur eine Sekunde später waren die Steinkuppel und das Mädchen in ihren Armen verschwunden.   „Geschafft“, hauchte sie und atmete einmal tief ein und wieder aus. Erst jetzt bemerkte sie, wie wild ihr Herz eigentlich in ihrer Brust schlug. „Alles klar?“ Liam war unbemerkt vor sie getreten und hatte sich zu ihr gehockt. „Ja, alles klar“, antwortete sie ihm und lächelte ihm kurz zu. „Gut gemacht!“ Er erwiderte die Geste. „Du aber auch, Wunderkätzchen. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, was du eigentlich genau getan hast.“   „Es war ja nicht anders zu erwarten von dem berühmten Liam Harper. Dein Ruf eilt dir wirklich nicht umsonst voraus.“ Noch ehe die Tri etwas erwidern konnte, ertönte eine ihnen unbekannte Stimme, die sie beide aufhorchen ließ. Drei junge Menschen, die Eyleen bisher noch nie gesehen hatte, standen nur wenige Meter entfernt an eine Häuserwand gelehnt da und sahen zu den beiden hinüber. Wie lange standen sie wohl schon so da? Hatten sie den Kampf irgendwie beobachtet? In der Mitte stand ein großer, junger Mann mit dunkler Haut, dessen schwarzbraune Haare als Rasterzöpfe nach hinten geflochten waren und ihm bis in den Nacken fielen. Er trug lässige Kleidung und sein rechter Fuß spielte mit seinem Skateboard auf dem Bürgersteig. Rechts neben ihm war da noch ein weiterer junger Mann, der einige Jahre jünger als sein Freund zu sein schien. Er hatte blonde Haare und trug dazu ein nach hinten gedrehtes Käppi. Seine Skaterhandschuhe passten ebenfalls zu seinem sportlichen Kleidungsstil, der ihn wahrscheinlich jünger wirken ließ, als er wirklich war. Die Dritte im Bunde war eine junge Frau mit knallroten Haaren, die sie zu einem Dutt gebunden hatte. Im Gegensatz zu ihren Freunden, schien sie sich lieber fein zu kleiden. Sie sah trotz ihrer jungen Jahre aus, als wäre sie eine hochrangige Fachkraft aus einem erfolgreichen Unternehmen. Und dennoch schaffte sie es, modern und nicht altbacken zu wirken.   Eyleen stutzte etwas, als sie langsam begriff, dass diese drei Leute nicht aus dieser Traumwelt stammten. „Tut uns leid, dass wir euch so einfach beobachtet haben, aber ihr wisst ja wie das ist. Manchmal kann man einfach nicht weggucken.“ Während die Gruppe zu ihnen hinüber kam, klaubte Eyleen sich langsam vom Boden auf und versuchte bloß nicht so müde auszusehen, wie sie sich gerade fühlte. „Hi, ich bin Matthew“, begann der anscheinend Älteste von ihnen mit den Rastazöpfen, „und das sind die Isabelle und Daniel.“ Ein kurzes Nicken ihrerseits erwiderte Eyleen höflich. „Freut uns, euch kennen zu lernen“, begann Liam. Dabei hatte er wieder sein übliches Grinsen aufgesetzt. „Das hier ist Eyleen und ich bin Liam, aber mich kennt ihr ja schon.“ Wenn ihm seine Bekanntheit unangenehm war, dann ließ er sich das überhaupt nicht anmerken. Matthew lachte laut auf. „Das muss sicher merkwürdig für dich sein. Aber du bist unter den Tri's eine kleine Berühmtheit. Keiner schwingt die Klinge so gut und sicher wie du. Natürlich spricht sich das schnell herum.“ „Na ja, man tut, was man kann, nicht wahr?“ Liam ging zwar auf das Gespräch ein, aber trotzdem schien er eine gewisse Distanz zu den Neuankömmlingen zu wahren und Eyleen fragte sich insgeheim, warum das so war. Misstraute er ihnen etwa? Hatte er einen Grund dafür?   „Wohl wahr. Aber, wir wollen euch auch gar nicht lange stören. Nach diesem Kampf mit einem so hochrangigen S4 seid ihr sicherlich ziemlich erschöpft.“ „War jedenfalls schön euch kennen zu lernen!“, fügte Isabella noch hinzu, ehe sie in der Gasse verschwanden, aus der sie vor wenigen Moment aufgetaucht waren. Und dann waren Liam und Eyleen wieder alleine.   „Das war ja jetzt irgendwie... merkwürdig. Etwas... kurz angebunden, vielleicht.“ Eyleen hatte das Treffen beinahe als unangenehm empfunden. Die Blicke der Drei lagen die ganze Zeit auf ihnen. Sie schienen jede ihrer Bewegungen genau beobachtet zu haben. Und dann war sie nicht einmal kurz zu Wort gekommen und hatte so etwas wie „Hi!“ sagen können! „Nicht alle Menschen sind Labertaschen, Kätzchen. Und Tri's erst recht nicht. Dafür haben wir viel zu viele Geheimnisse.“ Obwohl Liams Stimme eigentlich wie immer klang, war Eyleen der leise Unterton darin nicht entgangen. „Und Tri's sind ohnehin etwas... skeptisch und verschwiegen Fremden gegenüber, hab ich Recht?“ Er zuckte flapsig mit den Schultern. „Kannst du es uns verdenken?“ Eyleen dachte einen kurzen Moment darüber nach, ehe sie mit einem resignierten „Nein.“ darauf antwortete. Nach allem, was sie bisher schon erlebt hatte...   „Dann lass uns mal nachsehen, wie Chloé und Riley sich mit ihrem S4 geschlagen haben“, meinte Liam und beendete damit das Gespräch. Kurz darauf steuerte er schon in Richtung ihrer gewohnten Gasse. „Auch, wenn sie niemals so cool dabei ausgesehen haben können, wie wir.“ „Was für ein Angeber“, murmelte Eyleen, nicht ohne ein Lächeln auf den Lippen, ehe sie sich aufmachte ihm zu folgen. Kapitel 12: Verschwunden ------------------------ Wie erwartet hatten Chloé und Riley sich sehr gut gegen die Dämonen geschlagen. Sogar so gut, dass sie in der Zeit, in der Liam und Eyleen ihren Dämonen besiegt hatten, sie gleich noch zwei weitere bezwungen hatten. Riley hatte etwas blass und verschwitzt ausgesehen, als er Eyleen unter vier Augen von Chloés doch sehr rabiaten Kampfmethoden erzählte. Anscheinend hatte die Tri nicht sonderlich gute Laune gehabt und das an allem und jedem ausgelassen. Liam hingegen hatte ihre Geschichte etwas ausgedünnt weitergegeben und auch das Treffen mit den anderen Tri’s hatte er unerwähnt gelassen. Wirkliche Details hatten die anderen beiden nicht erfragen können, egal wie sehr seine Schwester es auch versucht hatte. Der jüngeren Blondine war das ganz recht gewesen. Im Grunde hatte sie ja wieder einmal nicht sonderlich viel zum Sieg gegen das Monster beigetragen. Also durfte Liam sich ihretwegen auch die ganzen Lorbeeren einheimsen. Tatsächlich hatte Chloé drei weitere S4 in ihrer näheren Umgebung ausmachen können (die wohl noch nicht stark genug waren, damit auch Eyleen sie bemerken konnte), doch alle hatten einstimmig beschlossen, diese Aufgabe auf nächstes Mal zu verschieben. Bei den drei Fällen wäre es wohl nicht so eilig. Aber die Schuldgefühle, die deswegen in ihren Eingeweiden randalierten, konnte Eyleen nicht ganz abstellen. Immerhin überließen sie einfach so drei weitere Menschen ihren schlimmsten Albträumen noch ein paar Tage länger, obwohl sie ihnen auch einfach helfen könnten. Wer wusste schon, was für schreckliche Dinge sie in der Zeit noch in ihrem Leben tun würden, die sie später bis zu ihrem Tod bereuen würden? Doch wie immer schien Liam ihre Gedanken gelesen zu haben, weshalb er sie auf dem Rückweg einmal unbemerkt von den anderen zur Seite gezogen hatte. „Eyleen, wir können die Welt nicht an einem einzigen Tag retten. Wir machen die Sache wahrscheinlich nur schlimmer, wenn wir müde und unkonzentriert in den Kampf gehen würden. Wir hätten dort im Meer auch ziemlich einfach ertrinken können, wenn wir es vor Müdigkeit nicht geschafft hätten die Szene für uns so anzupassen, dass wir atmen konnten. Auch wenn es nur ein Traum war, hätten wir aus Reflex auch im richtigen Leben den Atem viel zu lange anhalten können. Wenn wir uns selbst verletzen, helfen wir bestimmt niemanden.“ Er hatte recht und sie wusste es. Und dennoch waren ihre Gedanken bei all den Menschen, denen sie noch nicht helfen konnten. Woher nahmen sie sich das Recht, die eine Person zu retten und die andere ihrem Schicksal zu überlassen? Als Eyleen gegen halb 12 völlig erschöpft die Wohnung betrat, war bereits alles dunkel gewesen. Mias Zimmertür war geschlossen, also schlief sie sicherlich schon. Immerhin hatte sie ja auch, im Gegensatz zu ihr selbst, am nächsten Tag Vorlesungen. Trotzdem erleichtert darüber, sich nicht noch den Abend eine Lügengeschichte ausdenken zu müssen, machte sie sich so leise wie möglich frisch und verzog sich dann in ihr Bett. Es dauerte keine 10 Minuten, da war sie bereits eingeschlafen. Und jetzt lag sie bereits seit einer guten Stunde in ihrem Bett und starrte auf das Buch vor sich. Doch wie viel sie bisher wirklich gelesen und im Kopf behalten hatte, wusste sie nicht. Ihre Gedanken waren überall, aber nicht bei ihren Uni-Aufgaben. Es war Samstag und die zwei Freundinnen hatten eine ruhige Restwoche verlebt. Mia hatte gar nicht groß wegen Eyleens Fitnessstudiobesuch nachgefragt. Sie hatte nur wissen wollen, ob sie einen schönen Abend gehabt hatte und das hatte die Blondine ziemlich wahrheitsgemäß bejaht. Danach hatte ihre Freundin auch schon auf ein anderes, weniger kritisches Thema gewechselt. Und da sie an diesem Samstag bereits die Hausarbeit erledigt hatten, einkaufen gewesen waren und sich ein sehr gutes Mittagessen gekocht hatten, hatte Eyleen beschlossen, sich noch ein bisschen dem Lernstoff zu widmen. Mit mäßigem Erfolg. Ihr Handy lag griffbereit neben ihr und alle paar Minuten riskierte sie einen Blick auf das Display. Nach der Ankündigung vom Mittwoch, dass sie sich so bald wie möglich um die verbliebenen, bekannten S4-Dämonen kümmern wollten, hatte sie eigentlich mit einer Einladung zum Jagen gerechnet, doch bisher blieb das kleine elektronische Gerät ruhig. Vielleicht gönnten sie ihr noch einen Tag Pause und nahmen sie zunächst nur mittwochs mit in die Traumwelt. Vielleicht glaubten sie, Eyleen war noch nicht so weit, gleich an zwei Tagen mit in den Kampf zu ziehen. Dabei fühlte sie sich eigentlich fit. Wahrscheinlich war sie noch keine allzu große Hilfe, aber sie arbeitete ja daran. Das musste man ihr immerhin zugestehen! Und so versuchte sie sich wieder auf ihr Lehrbuch zu konzentrieren. Die ersten Hausarbeiten zum Abschluss des Semesters standen an und die wollte sie auf keinen Fall verhauen. Darum war sie ziemlich stolz auf sich, dass sie die letzten Tage bereits gut vorgearbeitet hatte. Vielleicht war bei ihr wirklich noch nicht alle Hoffnung verloren! Grade als Eyleen einen Post-it an die gerade gelesene Stelle geklebt hatte und sich darauf eine Notiz machen wollte, schrillte ein lauter Ton neben ihr auf, der sie vor Schreck den Stift verreißen ließ. Nun hatte das Buch einen langen grauen Strich auf der Seite. Das Handy neben ihr war plötzlich zum Leben erwacht und zeigte einen eingehenden Anruf an. Als sie Rileys Namen auf dem Display las, ging sie natürlich sofort ran. „Hi Riley, was gibt’s?“, eröffnete sie das Gespräch da sie glaubte, den Grund des Anrufes bereits zu kennen. „Eyleen, sag mal…“, der zögernde Unterton ihres Gesprächspartners ließ sie aufhorchen. „Hast du zufällig etwas von Liam gehört? Ich meine, hatte er dir gesagt, was er heute… vor hatte?“ Das Herz der jungen Frau rutschte in ihre Hose. Diese Fragen konnten nichts Gutes bedeuten. „Liam? Nein, er hat mir nichts gesagt. Über sowas haben wir nicht gesprochen. Wieso? Ist etwas passiert?“ Kurzes Schweigen am anderen Ende. „Na ja, wie soll ich sagen? Liam ist nicht wie vereinbart zur Jagd aufgetaucht.“ Eyleen warf einen kurzen Blick zur Uhr. 18:34 Uhr. „Chloé versucht ihn schon seit Ewigkeit zu erreichen, aber er geht einfach nicht ans Handy. Und da dachte ich, du wüsstest vielleicht…“ Er ließ den Satz in der Luft hängen, doch sie wusste, was er meinte. Liam kam zu spät zu einer Verabredung und ging dann nicht mal ans Telefon? So, wie sie ihn kennengelernt hatte, klang das nach etwas, was er nie tun würde. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und war froh darüber, dass sie sich gerade nicht auf ihren zitternden Beinen halten musste. Sie wusste nicht, ob diese ihren Körper wirklich getragen hätten. „Nein, ich… weiß wirklich nichts. Oh je, Riley. Ob ihm etwas zugestoßen ist?“ Ihr Mund war plötzlich trockener als eine Wüste im Sommer. Ihr Herz schlug schmerzhaft in ihrer Brust. Sie machte sich wirklich Sorgen um den Blödmann! „Keine Sorge, es wird bestimmt gar nichts sein. Wir werden ihn garantiert gleich finden! Er hört nur sein Handy nicht, oder so. Ist garantiert auf lautlos. Es ist bestimmt alles gut!“ Riley wollte sie beruhigen, aber das klappte nur bedingt, weil sie seine Verunsicherung ziemlich deutlich in seiner Stimme hörte. „Wir werden jetzt-“ „Riley, komm endlich her!“, schallte es plötzlich irgendwo hinter ihm durch die Luft. Eyleen konnte dumpf Chloés Stimme hören. „Wir gehen ihn suchen. Ich melde mich, wenn wir ihn gefunden haben! Bis später!“ Er klang gehetzt, so als würde er der Blonden bereits hinterherlaufen müssen, ehe er das Gespräch ohne eine Antwort von ihr abzuwarten beendete. Eyleen starrte mit wild pochendem Herzen auf das nun wieder schwarze Display. Liam war verschwunden und selbst Chloé schien das mehr als merkwürdig vorzukommen. Immerhin kannte sie ihn gut. Sie wusste wahrscheinlich, wenn er einfach nur keine Lust hatte oder ihm etwas dazwischen gekommen war. Liam hätte sich dann doch bestimmt gemeldet! Aber so… Wenn ihm nun wirklich etwas passiert war? Wenn… Was wenn er wieder der Gruppe von Tri’s von der letzten Jagd begegnet war und zwischen ihnen irgendetwas vorgefallen war? Liam war sowieso etwas misstrauisch gewesen! Was, wenn sie wirklich… „böse“ waren? Mit einem Ruck sprang die Tri von ihrem Bett auf und riss dabei ihr Lehrbuch mit zu Boden. Ohne sich weiter darum zu kümmern verließ sie ihr Zimmer und suchte eilig nach ihren Schuhen und der Umhängetasche. Von dem Gepolter aufgescheucht, kam auch Mia Sekunden später dazu. Verwundert blickte die Schwarzhaarige sie an. „Eyleen? Wo willst du denn jetzt noch hin? Was ist denn los?“ „Sorry, Mia. Ich muss dringend los! Ich erzähl dir alles später!“ Sie zog sich ihre Jeansjacke über und verließ nur eine Minute später die Haustür. Doch sobald die frische Luft dieses Abends sie umfing, blieb sie stocksteif stehen. Sie wollte beim Suchen helfen, um Liam schnellstmöglich wieder zu finden, doch…Wo sollte sie überhaupt hingehen? Wo sollte sie ihn denn suchen? Sie kannte den Tri doch gar nicht gut genug, um zu wissen, wo er sich normalerweise aufhielt! Da waren Chloé und Riley doch deutlich besser für geeignet! Und dennoch… Sie konnte doch nicht einfach in der Ecke sitzen und darauf warten, dass Riley sich endlich meldet! Was, wenn sie ihn an diesem Tag gar nicht mehr fanden? Im Grunde konnte er überall sein! Doch ihre Beine hatten sich bereits bewegt, noch bevor sie eine Antwort auf ihre Frage gefunden hatte. Dann würde sie eben ziellos herumlaufen! Vielleicht stieß sie dabei tatsächlich auf einen Hinweis! Und wenn nicht, dann hatte sie es wenigstens versucht und sie konnte ihre Aktion als spontanen Spaziergang tarnen. Sie nahm den erstbesten Bus in Richtung der alten Werkstadt. Sie wusste zwar, dass Riley und Chloé dort wahrscheinlich schon intensiv gesucht hatten, aber es war einfach ihre beste (und einzige) Anlaufstelle. Immer wieder sah sie auf ihr Handy in der Hoffnung, dass alles nur halb so schlimm wäre und Riley ihn bereits gefunden hatte. Doch es passierte nichts. Wie lange sie schon durch die angebrochene Dunkelheit gelaufen war, wusste sie nicht. Seit sie gekommen war, lief sie gefühlt jede Straße, jede Gasse entlang und suchte nach irgendwelchen Anzeichen auf Liam. Der Kerl konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Und wenn er wirklich vorhatte zur Jagd zu kommen, dann musste er doch hier in der Nähe sein! Erschöpft hielt Eyleen irgendwann kurz inne, um einmal richtig Luft zu holen. Sie stand vor einem alten Bürogebäude, nicht so weit entfernt von der Werkstatt, wenn sie sich nicht irrte. Autos fuhren unregelmäßig an ihr vorbei und Menschen waren weit und breit nicht zu sehen. Einige wenige Straßenlaternen glimmten in kaltem Weiß von oben herab. Nicht viele Gebäude waren dort in der Nähe. Auf der anderen Seite war hinter einem hohen Zaun ein großer Industriepark gelegen. Sie konnte Bagger und andere große Baustellenfahrzeuge hinter einer Reihe von Bäumen erkennen und eine einzelne große Lagerhalle. Auf ihrer Seite der Straße gab es noch ein paar weitere Bürogebäude, die durch große Parkplätze oder Grünanlagen voneinander getrennt waren. Alle Fenster waren dunkel. Es war wohl niemand um diese Zeit mehr hier. Doch gerade, als sie die Straße weiter entlanggehen wollte, hörte sie ein dumpfes, metallisches Krachen und ihr war so, als hörte sie daraufhin Stimmen ganz in ihrer Nähe. Und nachdem sie so lange niemanden gesehen hatte, kam ihr das etwas seltsam vor. Vielleicht hatten diese Leute ja etwas für sie Relevantes gesehen? Eilig lief sie den Bürgersteig entlang und spickte um jede Ecke, bis sie auf ihrer linken Seite eine kleine Straße bemerkte, die der Gasse an der Werkstatt sehr ähnelte. Der Asphalt war bröckelig und von tiefen Löchern durchsiebt und auf beiden Seiten waren hohe Steinmauern, die nur selten durch Tore und Türen unterbrochen wurde. Doch immerhin war diese Gasse breit genug, damit zumindest ein Auto hindurch passten konnte. Tatsächlich konnte sie zwischen mehreren Müllcontainern schwarze Schemen erkennen. Die Straßenlaternen waren ausgeschaltet, sodass es beinahe stockdunkel war. Irgendwie kam ihr in diesem Moment ihre Absicht diese Leute anzusprechen mehr als dämlich vor. Sie sollte wohl einfach umdrehen und möglichst unbemerkt wieder verschwinden. Doch gerade, als sie sich abwenden wollte, sah sie, wie eine dieser Personen zu Boden ging und mit einem lauten Knall gegen einen der Container stieß. Eine Schlägerei? Ein Überfall? Sie konnte doch nicht einfach gehen und so tun, als ob sie nichts gesehen hätte! Aber was konnte jemand Kleines wie sie schon ausrichten? Sollte sie vielleicht Hilfe holen? Als im nächsten Moment plötzlich ein Licht aufflackerte und die am Boden liegende Person beleuchtete, waren all ihre Zweifel vergessen. Ihr Herz setzte aus, als sie den Mann mit den braunen Haaren erkannte. „Liam!“ Alle Vorsicht beiseite lassend stürmte sie die Gasse entlang auf den Tri zu. Dieser hatte sich bereits mühsam aufgerappelt und sich beim Klang seines Namens ruckartig umgedreht. Seine Augen wurden ungewöhnlich groß, als er Eyleen bemerkte. „Eyleen? Was zum Teufel machst du hier?“, fragte er sie, als sie bei ihm angekommen war. Doch anstatt zu antworten besah sie zunächst seine Wunden. Und sie war erschrocken darüber, wie viele sie fand. Er schien eine Platzwunde am Kopf zu haben, denn seine haselnussbraunen Haare waren am Hinterkopf rötlich gefärbt. Zahlreiche Kratzer bedeckten die Haut auf seinen Armen, die sie problemlos sehen konnte, da er trotz des kalten Wetters keine Jacke trug. Selbst sein Gesicht war blutverschmiert und einige blaue Stellen, die wahrscheinlich von Faustschlägen stammten, zeichneten sich jetzt bereits ab. Was war bloß mit ihm passiert? „Eyleen, verdammt! Verschwinde gefälligst!“ Doch es war bereits zu spät. Gerade, als Liam sie wieder in Richtung der Straße schieben wollte, hatte ihnen eine große Gestalt den Weg dorthin abgeschnitten. Erst jetzt bemerkte die Tri, dass sie von vier fremden Männern umstellt waren. Und da begriff sie, dass sie gerade alles nur noch schlimmer gemacht hatte. „Wen haben wir denn da? Ist das deine kleine Freundin?“ Das Licht eines Handys blendete sie direkt in den Augen und ehe sie irgendwie reagieren konnte, stieß sie schon mit dem Rücken gegen den nahestehenden Müllcontainer und Liams Silhouette hatte sich schützend vor ihr aufgebaut. „Sorry Männer, ich hatte ja schon gesagt, dass ich nicht länger mit euch spielen kann. Ihr bringt meine ganze Abendplanung durcheinander. Und anscheinend werde ich sogar schon richtig vermisst. Wenn ihr uns dann entschuldigen würdet…“ Seine Stimme war hart und angespannt und Eyleen blieb das Herz stehen. Ihr wurde mit jeder Sekunde mehr bewusst, wie gefährlich diese Situation eigentlich war. Und sie war blindlings und ohne nachzudenken hineingerannt. Wie diese nervigen Mädchen in den Actionfilmen immer, über die sie sich selbst sonst gerne aufregte. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein? „Nicht so schnell. Wir haben dir schon gesagt, dass du hier nicht lebend wieder rauskommst. Und die Kleine jetzt leider auch nicht mehr. Auch, wenn wir mit ihr vorher noch ein bisschen Spaß haben werden. Sonst wäre es ja reine Verschwendung.“ Eyleen konnte den Mann zwar nicht sehen, aber seine rauen Worte ließen einen eisigen Schauer über ihren Körper laufen. Sie konnte nicht verhindern, dass Angst ihre Muskeln lähmte und sie stocksteif wurde. „Als ob ich zulassen werde, dass ihr sie auch nur anfasst!“ Eyleen hatte keine Ahnung, was genau passierte. Sie musste sich zwingen ihre Augen offen zu halten. Zwei der Männer waren auf Liam zugestürzt, doch irgendwie hatte er es geschafft, sie zu Boden zu werfen. Doch sie blieben nicht lange liegen. Immer wieder schlugen sie auf ihn ein und die Blondine konnte es nicht verhindern, dass sie jedes Mal laut kreischte. Sollte sie Hilfe holen? Laut schreien? Oder die Polizei anrufen? Konnte sie nicht irgendwas tun? Doch als Liam ihr plötzlich zu rief, dass sie laufen solle, dann lief sie. Sie lief so schnell sie konnte in Richtung der Straße, von der sie gekommen war. Vielleicht konnte sie dort ein Auto anhalten…? Aber als hinter ihr ein schmerzerfüllter Schrei ertönte, blieb sie ruckartig stehen. Liam taumelte zurück. Die Hände auf seinen Bauch gedrückt. Selbst in der Dunkelheit bemerkte sie den großen dunklen Fleck auf seinem T-Shirt. Sie schrie laut seinen Namen und stürzte zu ihm zurück. Gerade, als sie ihn erreichte, sackte der Tri plötzlich in sich zusammen und riss Eyleen, die seine Schultern gepackt hatte, mit sich zu Boden. Das Licht des Handys traf auf seine reglose Gestalt und die Blondine sah erschrocken diesen riesengroßen Blutfleck auf seiner Kleidung. Immer wieder rief sie aus voller Kehle mit tränenschwerer Stimme seinen Namen, doch seine Augen blieben geschlossen. Es gab keine Reaktion mehr von ihm. War er etwa…? Er konnte doch nicht…! „Das war es dann wohl.“ Die Männer näherten sich ihr. Ein gieriges Lachen lag in der Luft. Sie konnte kaum den Blick von ihrem Freund abwenden, doch die Angst war einfach zu groß. Die Männer hatten sie umzingelt. In ihren Augen glänzte dumpf der Hass und einer von ihnen hielt ein blutiges Messer in der Hand. Und trotz ihres Tränenschleiers erkannte sie es endlich. Den Grund für all das hier. Diese blutroten Augen, die über den Köpfen der Männer zu schweben schienen. Diese dunkle Aura, diese eisige Kälte, die ihr inzwischen nur zu gut bekannt war… „Warum tut ihr das?“, krächzte sie verzweifelt, während Liams Haut an ihrer immer kälter wurde. Sie wusste, dass das Leben gerade unaufhaltsam mit jeder Millisekunde aus dem Körper des Tri‘s wich. Und das brachte ihren Oberkörper beinahe zum Bersten. „Warum?“ „Weil ihr uns im Wege steht, ganz einfach. Ihr hättet einfach eure Nasen aus unseren Angelegenheiten raushalten sollen.“ Das waren nicht die Männer, die dort sprachen, das war ihr erschreckend schnell bewusst. Diese Dämonen sprachen durch sie. So sehr hatten sie diese Menschen bereits unter ihrer Kontrolle. Eyleen umschlang den bewusstlosen Körper in ihren Armen stärker, als ob sie ihn damit vor weiterem Unheil bewahren könnte. Gleich würden sie sterben und es gab so viel, was sie bereute. So viel, was sie gerne noch getan hätte! Und so viel, was sie gerne verhindert hätte! So viel, was sie gerne noch gesagt hätte. Doch, sie war einfach zu schwach… Nein! Sie hatte sich vorgenommen, nicht mehr schwach zu sein! Genau das war es, was sie unbedingt verhindern wollte! Egal, wie viel Angst sie hatte! Sie würde nicht aufgeben! Das hatte sie sich geschworen! Vorsichtig legte sie Liams Kopf auf den Boden und stand auf. Ihre zittrigen Beine machten das beinahe zu einem Ding der Unmöglichkeit, und doch gab sie alles. Sie trat einen Schritt vor, sodass sie zwischen Liam und den Männern stand und nahm ihre Arme in einem wahrscheinlich lächerlichen Versuch der Verteidigung vor ihren Oberkörper. Die Männer waren lädiert, ja. Liam hatte ihnen schon den einen oder anderen Schlag verpasst. Aber trotzdem waren sie immer noch 10 Mal stärker als Eyleen. Und es waren so viele. Aber sie würde nicht kampflos untergehen… „Lasst uns gefällig in Ruhe! Verschwindet!“ Zunächst blieb es für einige Sekunden ruhig, ehe lautes Gelächter durch die Luft dröhnte. „Die Kleine will sich mit uns anlegen!“ „Ich fass es nicht!“ „Kann kaum stehen und ist vom Heulen komplett verrotzt, aber spielt hier die Heldin!“ „Das ist ja richtig niedlich!“ „Haltet die Klappe!“, rief Eyleen immer und immer wieder, um den Spott der Männer nicht an sich herankommen zu lassen. Sie versuchte, ihn zu übertönen. Sie schloss ihre Augen und anstatt endlich stark zu sein, liefen ihr immer mehr Tränen über die Wangen. Sie konnte nichts tun, nichts! „Ihr Mistsäcke!“ Wieder eine Stimme. Wieder Schreie und plötzlich… War es still. Nur langsam traute Eyleen sich ihre Augen zu öffnen, doch was sie sah, verblüffte sie. Die Männer. Sie lagen auf dem Boden und keiner von ihnen rührte sich mehr. Jemand hatte sie tatsächlich niedergeschlagen! Sofort hielt sie Ausschau nach ihren Rettern und sie konnte nicht glauben, wen sie vor sich stehen sah. „Matthew? Daniel? Was?“ Sie waren es wirklich! Die beiden Tri‘s, die sie vor ein paar Tagen im Traumland getroffen hatten! Aber wieso waren sie hier? „Hey Eyleen. Keine schönen Umstände, um sich mal richtig zu begegnen. Aber das spielt jetzt keine Rolle! Lass uns das nachher klären“, meinte Matthew und ließ etwas mit ohrenbetäubendem Lärm fallen. Das als Waffe benutzte Stahlrohr blieb im Schatten des nahen Containers liegen. Er ging an ihr vorbei, bis er direkt über dem immer noch regungslosen Liam stand. Sein Blick schweifte über seinen Körper. Mit der Hand tastete der Schwarzhaarige nach dem Verletzten. Ihr Herz rutschte ihr in die Kniekehlen, als Matthew Liams Hände von seiner Wunde am Bauch nahm und das T-Shirt anhob. Eine große, lange Wunde klaffte in seinem Unterleib, die immer noch stetig blutete. Es sah schlimm aus. Sehr schlimm. Eyleen zitterte am ganzen Körper. „Er lebt, ist aber schwer verletzt. Ich weiß, wer ihm helfen kann! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Mit einem Ruck hob er den Verletzten hoch, sodass er ihn nun vor seinem Oberkörper tragen konnte. „Komm schon! Wir müssen ihn sofort hier weg bringen!“, meldete sich der blonde Daniel zu Wort und packte sie am Handgelenk. Taumelnd ließ sie sich die ersten Schritte von ihm mitziehen. Doch sie war innerlich hin und her gerissen, als sie zusammen durch die Dunkelheit rannten. Konnte sie ihnen wirklich vertrauen? Immerhin meinte Liam, man sollte nicht jedem vertrauen! Nicht einmal anderen Tri’s. Aber… Hatte sie überhaupt eine andere Wahl? Das einzige, was in diesem Moment zählte, war, dass Liam am Leben blieb! Er durfte einfach nicht sterben! Die weißen Schwaden ihres Atems hingen in der Luft, als sie in einen Laufschritt verfiel, um die Tri’s nicht in diesem dunklen Labyrinth aus Straßen und Gassen zu verlieren. Kapitel 13: Leben ----------------- Vor einem großen, anscheinend leer stehenden Gebäude hielten sie inne. Sie waren jetzt eine Ewigkeit - die wahrscheinlich nur mehrere Minuten gedauert, sich für Eyleen aber wie Stunden angefühlt hatte - im Zick-Zack durch den Stadtteil gerannt und hatten, zu ihrer Verwunderung, nicht ein menschliches Wesen getroffen. Kein Fußgänger, kein Auto, nichts. Gab es an einem Samstagabend wirklich niemanden, der sich hierher verirrte? Ihr Blick schweifte über das verfallene, mehrstöckige Gebäude. Viele der Fenster waren vernagelt oder eingeschlagen und überall war Graffiti, dessen quietsch bunte Farben surreal auf der zerstörten Oberfläche aussahen. Steine waren aus dem Mauerwerk herausgebrochen und sammelten sich nun zu ihren Füßen. Pflanzen überwuchsen die Gehwegplatten, wodurch der ehemalige Vorgarten nur noch aus wie ein verwüstetes Stück Wald aussah. Dreck und Moos klebten auf dem rissigen Beton, über den zahlreiche Ranken und Kletterpflanzen das Mauerwerk erklommen. Während Matthew noch immer den verletzten und bewusstlosen Liam auf den Armen trug, sprang Daniel an ihm vorbei zu der marode aussehenden Holztür, um diese für ihn zu öffnen.   Als sie in die Finsternis der Bauruine eintraten, wurde Eyleen auf einmal ganz schlecht. Tat sie wirklich gerade das Richtige? Wäre es nicht besser gewesen einfach einen Krankenwagen zu rufen? Und gleich die Männer an die Polizei zu übergeben? Sie konnten ja ruhig die Wahrheit erzählen! Wahrscheinlich, jedenfalls. Natürlich kannte sie die Vorgeschichte nicht, aber konnte die so schlimm sein, dass es die Polizei nicht erfahren durfte?   „Ash? Ashley? Wo bist du?“ Während er einmal quer durch die erdrückende Dunkelheit rannte, durch die Eyleen sich nur an der Wand tastend durchhangeln konnte, öffnete sich irgendwo weiter hinten unter lautstarkem Protest eine der Türen und ein schwacher Lichtschimmer fiel auf den verschmutzen Fußboden. Staub wirbelte auf, als Matthew durch die Tür ins Innere der Wohnung verschwand. „Hey! Sag mal, spinnst du? Warum brüllst du hier so rum und rennst mich dann noch über den Haufen?“ Die Blondine folgte den Jungs, ehe die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Obwohl es den Anschein machte, als würde niemand mehr in dieser Wohnung leben, wirkte der Flur erstaunlich ordentlich. Es gab zwar keine persönlichen Gegenstände, die auf einen Hausbewohner hindeuteten, aber entlang des Flures waren kleine Metallhalterungen aufgebaut, in denen flackernde Kerzen ihre tanzenden Schatten an Wand und Decke warfen. Es gab keine Tapeten und keine Möbel. Nur ein alter PVZ-Fußboden bedeckte zumindest stückweise den grauen Häuserbeton.   Stimmen drangen aus dem Raum am Ende des kurzen Wohnungsflurs, denen die Tri sofort nachging. „Ashley, hilf ihm!“            „Du meine Güte!“ Eyleen blieb im Türrahmen stehen. Ihr Körper war zu Stein erstarrt und trotz ihres heftigen Atems schien kaum Luft ihre Lungen zu erreichen. Matthew hatte den verletzen Liam auf ein zerschlissenes, grünes Sofa gelegt. Das einzige Möbelstück weit und breit. Weitere Kerzen umrandeten den Raum und schwarze Vorhänge verdunkelten die Fenster völlig, doch ansonsten gab es dort überhaupt nichts. Abgesehen von dem großen, schwarzen Traumtor mit den weißen Runen, das die Wand an der fensterlosen Stirnseite des Raumes zierte natürlich. Das erklärte auf jeden Fall so einiges.   Als sie Liams schmerzvolles Stöhnen vernahm, riss sie ihren Blick von dem Traumtor weg und näherte sich dem Sofa auf zitternden Beinen.  Eine junge Frau, vielleicht Mitte 20, hatte sich über Liam gebeugt und starrte ihn mit erschrockenen Augen an. Sie hatte lange, schwarze Haare, die ihr in tausenden Locken auf den Rücken fielen, eine dunkle Hautfarbe, die Eyleen an Vollmilchschokolade erinnerte, und trug ein gelbes Sommerkleid mit weißen Kniestrümpfen. Die junge Tri traute sich kaum zu atmen, als sie beobachtete, wie das ältere Mädchen Liams Wunden unter die Lupe nahm. Ihr war mittlerweile einfach nur noch schlecht. Panik und Angst vernebelten ihre Sinne und die Konturen ihrer Umgebung schienen immer wieder vor ihren Augen zu verschwimmen. Wenn Liam sterben würde, was würde sie bloß Riley und… Chloé sagen?   „Es ist alles okay, hörst du?“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter und aus Reflex zuckte sie ein Stück zurück. Daniel ließ sich davon nicht beirren und tat so, als hätte Eyleen sich überhaupt nicht bewegt. „Das ist Ashley, Matthews Freundin und auch eine Tri. Auch, wenn sie in einem anderen Team ist, als wir… Jedenfalls ist sie Ärztin, oder zumindest fast fertig mit ihrem Studium. Und ist sie gut darin! Sehr gut sogar. Du kannst ihr wirklich vertrauen. Sie kriegt deinen Freund schon wieder hin!“ Eine Medizinstudentin? Matthews Freundin? Und sie war auch eine Tri? Matthew stand immer noch schwer atmend dicht hinter ihr. Seine Arme, die er eben noch stark angespannt hatte, um Liams Gewicht tragen zu können, hingen nun schlaff und träge an seinen Seiten herab. Er schien plötzlich keine Kraft mehr in sich zu haben. Nur in seinen graublauen Augen brannte noch ein intensives Feuer. „Daniel, meine Tasche!“, verlangte Ashley plötzlich lautstark und im selben Moment war der Druck von Eyleens Schulter verschwunden. Nur einen Augenblick später tauchte er erneut in ihrem Sichtfeld auf und stellte eine große, schwarze Tasche neben der Schwarzhaarigen ab.   Dann ging alles ganz schnell. Die junge Tri war kaum in der Lage der Medizinstudentin zuzusehen. Sie zog Liam das Hemd aus und desinfizierte die Wunde. Das ganze Blut färbte das weiße Handtuch vollkommen Rot. Nadel und Faden bohrten sich durch die Haut des Verletzten, um das klaffende Loch in seinem Bauch zu verschließen, das wie ein kleiner Vulkan immer mehr Blut zu spucken schien. Mit der Hilfe ihres Freundes verband sie schließlich die Wunde, wodurch ein weißes Stoffband Eyleen - zu ihrer Erleichterung – den Blick auf die Stichwunde versperrte. Sie sagte kein Wort, als sie sofort danach den Rest seines Körpers untersuchte. Am Kopf verblieb sie lange und tupfte auch eine Stelle sehr gründlich mit einer übelriechenden Flüssigkeit ein. Fieber schien er allerdings keines zu haben, hörte man die Schwarzhaarige murmeln, nachdem sie ihre Hand von seiner Stirn zog. Das war doch gut, oder?   „W-wie geht es ihm?“ Die Stimme der Blondine klang piepsig und hol, als sie sich endlich durchrang die unheilvolle Stille in dem Raum zu durchbrechen. Sofort schien sich die Anspannung der Anwesenden merklich zu lösen. „Die Wunde ist nicht tief und es wurden keine lebenswichtigen Organe getroffen. Er hat viel Blut verloren und deshalb ist er bewusstlos, doch ihr habt ihn rechtzeitig herbringen können. Er hat unglaubliches Glück gehabt.“ „Ein Glück… Danke. Vielen Dank…“, weinte Eyleen und versuchte das salzige Nass mit ihren bebenden Händen aus den Augen zu vertreiben. Vor lauter Erleichterung gaben ihre Beine unter ihr nach und eine Sekunde später saß sie auf dem fleckigen Fußboden. In sich stieg der Druck an, Liam eine saftige Kopfnuss dafür zu verpassen, dass er ihr solche Angst gemacht hatte!   „Du magst ihn wirklich sehr, stimmt‘s?“ Eyleen bemerkte erst, dass Daniel neben ihr auf dem Boden saß, als er sie direkt ansprach. Plötzlich fingen ihre Wangen wie mit flüssigen Feuer übergossen an zu brennen, doch sie ließ das nicht näher an sich heran kommen. Das war es einfach nicht. „Nein, so… ist es nicht. Liam war derjenige, der mich… den Tri in mir… entdeckt hatte. Er war der Erste, der mir diese ganze Tribal-Sache erklärt und gezeigt hatte. Riley hatte zwar auch einiges an Erklärungen übernommen, aber bei Liam wirkte die ganze Sache irgendwie… realer.“ Sie seufzte einmal und atmete tief durch, bevor sie sagte: „Und er ist der einzige Mensch, der mich nicht für einen hoffnungslosen Fall hält.“ Daniels lachen neben ihr ließ sie aufblicken. Fragend hob sich eine ihrer Augenbrauen. „Sorry, ich hab nicht über dich gelacht! Aber ich hab schon so viel von dem berühmten Tri Liam gehört und das, was du erzählst, klingt irgendwie so gar nicht nach ihm!“ Jetzt lächelte auch Eyleen. Das konnte sie sich sehr gut vorstellen. „Das glaub ich gerne. Er ist auch nur in Ausnahmesituationen nett. In 90 Prozent aller Fälle ist er einfach ein richtiger Idiot!“   „Selber… Idiotin.“ Eyleen sprang auf und hechtete zum Sofa, als seine schwache Stimme den Raum erfüllte. „Bleib gefälligst liegen“, zischte Ashley, als Liam sich unter Stöhnen aufzurichten versuchte. Doch er ließ sich nicht davon abhalten. Die Blondine hielt die Luft an, bis der Tri sich halbwegs aufrecht aufgesetzt hatte. „Du bist verletzt. Nicht lebensgefährlich, aber wenn du hier so rumhampelst und die Wunde wieder aufreißt, dann kannst du problemlos verbluten!“ „Das wird schon nicht passieren“, gab Liam kalt zurück und in Eyleens Hals bildete sich ein nervöser Knoten. „Du könntest ruhig mal ein bisschen freundlicher sein, Liam. Immerhin haben wir dir dein Leben gerettet!“ Matthew hatte sich mit verschränkten Armen hinter seiner Freundin aufgebaut und schaute seinen Gast grimmig an. „Und nicht nur deins!“ Das war das erste Mal, dass Liams Blick auf Eyleen fiel. Der Kloß in ihrem Hals erschwerte ihr noch immer das Atmen und ihr Herz schlug vor Anspannung verkrampft gegen ihren Brustkorb. Liam benahm sich merkwürdig. Etwas stimmte hier nicht. „Ja, ja, Danke fürs helfen. Ich weiß zwar nicht wirklich, was genau zum Schluss passiert ist, aber anscheinend habt ihr uns da raus geholt. Das war sehr nett von euch, doch wir müssen jetzt leider schon wieder los.“ Liam versuchte aufzustehen, doch Matthew schubste ihn mit einem einfachen Stoß zurück auf das Sofa. Er stöhnte schmerzerfüllt, als er gegen die Rückenlehnte stieß. „Liam!“ Eyleen stand nun direkt neben ihm vor dem Sofa, doch sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Ihre Hände hingen nutzlos in der Luft; halb nach ihm ausgestreckt. „Was ist los, Harper? Kannst du unsere Gegenwart so wenig ertragen, dass du es nicht einmal aushältst, nur 10 Minuten mit uns in demselben Raum zu verbringen?“ Plötzlich waren Matthews Augen ungewöhnlich kalt. Einen Blick, den Liam genauso erwiderte. „Ach, wundert dich das wirklich?“   „Okay, okay. Anscheinend wird das hier so eine der üblichen Testosteron-Runden. Da bin ich raus, Jungs. Meine Arbeit ist hier erledigt!“ Mit einem sehr auffälligen Kopfschütteln verließ Ashley den Raum und kurze Zeit später war das Klicken der Haustür zu hören. Doch außer Eyleen schien das niemand so wirklich mitbekommen zu haben. Als Liam einen weiteren Versuch startete, aufzustehen, streckte die Blondine ihre Hände nach ihm aus, um ihn zu stützen, doch noch bevor sie ihn erreicht hatte, zog sie plötzlich etwas an ihrem nach hinten zurück. Ein leises „Au!“ entwich ihr, als sie Daniels Hand bemerkte, die sich ziemlich fest um ihren Oberarm gelegt hatte und sie so daran hinderte Liam zu helfen. „Lass sie gefälligst los“, zischte Liam zwischen seinen geschlossenen Zähnen hindurch und bedachte Daniel dabei mit einem Blick, der selbst Eyleen einen Schauer über den Rücken jagte. Den blonden Käppiträger hingegen schien das nicht zu beeindrucken. Er hielt ihren Arm weiterhin fest umschlossen, wodurch ihre Jeansjacke an ihrer Haut kratzte.   „Du tust ja glatt so, als wären wir Schwerverbrecher.“ Matthew verschränkte seine Arme mit so einer Kraft, dass einzelne Muskeln und Äderchen bereits unter seiner Kleidung hervortraten. Eyleen die ganze Situation mehr als unangenehm. „Ich habe euch am Anfang nicht erkannt, aber mittlerweile weiß ich genau, wer ihr seid. Und was ihr damals getan habt.“  Was sie getan hatten? Eyleen rutschte innerhalb einer Sekunde das Herz in die Hose und sie versuchte sofort Daniels Hand mit ihren zitternden Fingern zu lösen, doch gegen seinen festen Griff kam sie nicht an. „Die alte Geschichte? Wirklich? Reitest du immer noch darauf herum?“ Liam hatte es mittlerweile geschafft, sich vollständig aufzurichten und Eyleen fand, dass auch sein Gesicht nicht mehr ganz so blass war. Das Funkeln in seinen eisblauen Augen zumindest zeigte keine Spur mehr von Schwäche. „Wieso sollte ich das nicht? Du und deine Freunde habt damals Menschenleben gefährdet! Und das nur, weil ihr cool sein und den bösen Mann ganz alleine fassen wolltet! Der Kerl hat auf seiner Flucht 3 Menschen angeschossen und zwei davon lebensgefährlich verletzt, die auch gut hätten tot sein können! Und wofür das Ganze? Weil jemand einen blöden, unsinnigen Spruch abgelassen hat, dass ich als Anfänger schon besser bin als du, Matthew! Nur deshalb wären beinahe Menschen gestorben!“   Die blonde Tri hielt die Luft an, während sie Liams wütenden Worten lauschte. Sie verstand nicht jedes Detail der Geschichte, doch ihr war klar, dass Matthew damals einen großen Fehler gemacht hatte. Wenn sie sich vorstellte, jemand wäre dem Mann - dem Mörder - vor der Pizzeria hinterher gelaufen und der hätte auf dabei noch andere Menschen angeschossen und diese lebensgefährlich verletzt… Schrecklich. Matthews Augen waren reglos. Dunkel und kalt. Statt Grau hatten sie in diesem Moment eher die Farbe des tiefsten Nachthimmels.   „Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen, Harper.“ In Matthews kalter Stimme klang die Drohung unverhohlen heraus. „Das werde ich auch. Und du lass endlich Eyleen los.“ Bei dem letzten Satz hatte er sich Daniel zugewandt, der diesmal seinen Worten auch nachkam. Sofort als sie frei war, ging sie einige Schritte von ihm weg in Richtung Tür. Liam war mit wenigen Schritten bei ihr und schob sie mit sich zur Tür. „Was auch immer du von uns halten magst… Vergiss nicht, dass wir dir und deiner kleinen Freundin heute das Leben gerettet haben.“ Liam hielt kurz inne und der Druck gegen Eyleens Rücken verschwand. Ein letztes Mal wandte er sich in Richtung der beiden Männer und meinte: „Das werde ich nie“, bevor sie zusammen das Haus verließen.   Die Nacht war kalt geworden. Eisiger Wind wehte durch die Bäume und ließ deren Blätter geräuschvoll rauschen. Auf Eyleens verschwitzter Haut kam er ihr gleich nochmal eisiger vor. Ob es kann der kalten Abendluft lag, dass sie so zitterte, oder dass es die Tatsache war, dass sie nervlich völlig am Ende war, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie Angst davor hatte, dass Liam mit ihr sprach. Sie wagte es nicht in seine Richtung zu sehen.   „Du hättest da eben sterben können, Eyleen. Warum bist du überhaupt gekommen?“ Seine Stimme war ruhig und trotzdem spürte sie die Dringlichkeit darin. Das Zittern wurde stärker, so sehr sie auch versuchte es zu unterdrücken. „Riley rief an. Chloé und er haben dich gesucht. Ob ich vielleicht wüsste, wo du wärst. Da konnte ich einfach nicht mehr Zuhause sitzen bleiben. Es tut mir leid.“ „Es tut dir leid? Ist das dein Ernst? Du kannst dich doch nicht einfach so in einen Straßenkampf einmischen! Wir wären beide beinahe draufgegangen!“ „Ich habe es versucht, okay?“ Tränen stiegen heiß und brennend in ihre Augen. Sie hatte keine Kraft mehr sie zurück zu halten. Sie wandte sich zu ihm um. Sein Gesicht war tief im Schatten vergraben und doch sah sie seinen erschrockenen Ausdruck, als er ihre Tränen bemerkte. „Ich habe versucht stark und mutig zu sein. Ich habe versucht nicht der Schwäche in mir nachzugeben. Mich nicht von der Angst überwältigen zu lassen. Und dennoch konnte ich nichts tun. Ich habe alles falsch gemacht. Es ist alles meine Schuld… Hasse mich ruhig, wenn du willst. Ich würde es genauso tun. Ich war nutzlos, wie immer. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht.“ Mit jedem ihrer Worte wurde sein Gesicht härter. Seine eisblauen Augen hatten nun die Farbe von einer aufgewühlten See.   „Liam! LIAM!“ Zwei dunkle Gestalten, die sich zwischen den schwach glühenden Straßenlaternen nur durch ihre Bewegungen vom Schwarz der Nacht abhoben, näherten sich ihnen im Laufschritt. Schnell erkannte sie Chloés goldene Mähne und Rileys Strubbelkopf, die, je nach Lichteinfall der in der Umgebung befindlichen Lichter, ihre Farbnuancen veränderten.   „Tja, deine Freunde haben sich bestimmt große Sorgen gemacht.“ Mit einer zügigen Handbewegung wischte Eyleen sich das Feuchte von den Wangen, doch gegen das Brennen darauf konnte sie nichts tun. „Es wird Zeit, dass du zu ihnen gehst.“ Liam schaute abwechselnd zwischen seinen Freunden und Eyleen hin und her. Man sah ihm die Unsicherheit förmlich an. Eine Premiere für Eyleen. Doch sie verstand. Ein trauriges Lächeln huschte für eine Sekunde über ihre Lippen. So blitzschnell, dass er es wahrscheinlich nicht einmal bemerkte. „Lass mich nur eins noch sagen, bevor wir von nun an getrennte Wege gehen werden: Ich bin wirklich froh, dass du noch lebst.“ Im nächsten Moment war sie auch schon in die entgegengesetzte Richtung los gerannt und in der Dunkelheit verschwunden.   Mia hatte ihr angesehen, dass etwas nicht stimmte, als die Blondine spät abends die gemeinsame Wohnung wieder betrat. Ihr war klar gewesen, dass man ihr die Geschehnisse der letzten Stunden deutlich ansah. Spuren der Tränen im Gesicht, zerzauste Haare, Schweiß vom Laufen klebte an ihrer Haut und Flecken in der Kleidung. Es konnte gar nicht sein, dass ihr das n i c h t auffiel. Und trotzdem. Zu Eyleens Verwunderung hatte sie nichts gesagt. Sie hatte nur dort gestanden, in der Tür zum Wohnzimmer, hatte sie ruhig angelächelt und gesagt: „Schön, dass du wieder da bist!“ Danach war sie einfach zurückgegangen und hatte sich wieder auf das Sofa gesetzt, den Film gespannt verfolgend. Die Aktion hatte Eyleen einen Stich ins Herz gejagt. Das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte. Mia war doch sonst immer wie eine Mutter für sie gewesen. Immer streng, immer am schimpfen, selbst wenn ihr nur beim Essen etwas auf die Kleidung tropfte. Immer hatte sie diesen mütterlichen Ton gehabt. Damals hatte sie ihn noch gehasst. Wie oft hatte sie Mia gesagt, sie solle damit aufhören? Jetzt tat sie es. Und nun wünschte sie sich, es wäre wieder alles so wie damals.   Eyleen war ins Badezimmer geschlurft, weil ihr für das Füßeanheben die Kraft fehlte. Sie war den gesamten Weg zurück gerannt, ohne sich nur einmal umzudrehen. Sie wusste nicht, was hinter ihrem Rücken passiert war, als sie gegangen ist. Sie war nur froh, dass Liam wieder dort war, wo er hingehörte. Die Dusche hatte sie mit neuem Leben erfüllt und als die frische Jogginghose und das neue T-Shirt ihre Haut bedeckten, fühlte sie sich gleich wie neu geboren. Ein entspanntes Seufzen verließ ihre Lippen als sie sich zurück auf ihr Bett fallen ließ. Die Uhr auf ihrem Nachtschrank zeigte mittlerweile 22:41 Uhr. Ihre Gedanken kreisten noch immer in ihrem Kopf wie der Mond um die Erde. Immer wieder ließ sie den Abend Revue passieren. Auch, wenn sie das eigentlich gar nicht wollte. Es war einfach schon zu spät, um sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Morgen war Sonntag und da hatte sie noch genug Zeit für solch unschöne Dinge. Wenn sie nicht gleich ins Bett gehen würde, könnte sie für nichts mehr garantieren.   Umso mehr schreckte sie das laute Schellen der Türklingel hoch. Innerhalb von Millisekunden saß sie wieder aufrecht im Bett. Wer klingelte denn bitte um kurz nach halb 11 Uhr an fremden Haustüren? Noch ehe Eyleen reagieren konnte, streckte plötzlich ihre Freundin Mia ihren schwarzen Haarschopf durch ihre Zimmertür. Ihr Gesicht sprach Bände. „Ist für dich.“ Die Blondine schluckte schwer, weil es nur eine Person gab, die etwas von ihr wollen könnte. Doch das war eigentlich unmöglich. Und vor allem war es ganz schlecht.   Mechanisch richtete sie sich auf und ging steifgliedrig in Richtung der Haustür. Sie sah sein schiefes Lächeln schon von weitem und ihr Herz rutschte vor Schreck in ihre Schuhsohlen. Was zum Teufel machte er hier? Was sollte sie Mia sagen?   Unbewusst ließ Eyleen eine Art Sicherheitsabstand zur Tür. Mia hatte sich hinter ihrem Rücken in ihr Zimmer zurückgezogen, doch auch ohne hinzusehen wusste sie, dass ihre Freundin immer noch sehr präsent war. „Du warst vorhin so schnell weg, obwohl ich noch nicht fertig war.“ Er grinste noch immer. Er versuchte also diese doch ziemlich unangenehme Situation etwas mit seiner üblichen Haltung aufzulockern. Eyleen nahm die Vorlage gerne an. Im Stenkermodus ließ sich so etwas viel einfacher bewältigen. „Tja, ich wollte dir halt noch die Zeit geben, deine Gesichtszüge wieder zu ordnen. Nicht, dass du für immer mit einer Grimasse rumlaufen musst.“ Er verschränkte kurzerhand die Arme vor der Brust und lehnte sich schräg gegen den Türrahmen. Sein Lächeln wurde, wenn es geht, nur noch breiter. Wenn die Tri nicht genau wüsste, dass er eigentlich recht schwer verletzt war, dann hätte sie ihm überhaupt nichts angemerkt. Bis auf ein paar Flecken in der Kleidung und Kratzer und blaue Flecke auf der Haut sah er nicht groß anders aus als normalerweise. Zum Glück verdeckte seine Lederjacke den großen Blutfleck auf seinem T-Shirt komplett. „Wie immer sehr zuvorkommend, Kätzchen.“ Danach schwieg er und starrte seine Gegenüber nur stumm an. Eyleen wurde es immer unwohler in ihrer Haut, woraufhin sie das Gespräch wieder aufnahm.   „Und was willst du jetzt hier? Kannst du mir mal erzählen, wie ich meiner Freundin deinen nächtlichen Herrenbesuch erklären soll?“ Das war wirklich eine Frage, die ihr keine Ruhe ließ. Sie spürte Mias Blick richtig in ihrem Nacken brennen. „Was ist denn deine sonstige Ausrede?“ Immerhin senkte er seine Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war. Das konnte die Schwarzhaarige unmöglich hören. „Fitnessstudio“, gab sie genauso leise zurück. „Na, da kannst du doch was draus machen.“ Er zwinkerte ihr zu. Sie verdrehte nur die Augen. Aber ja, das ging. „Hör zu“, fuhr er weiter so leise fort, obwohl das Klicken einer Tür hinter ihnen Mias Rückzug verkündete. „Es tut mir leid, was da eben passiert ist. Ich wollte nicht, dass du wegen meiner Dummheit in Gefahr gerätst. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich weiß, dass du mir da ziemlich aus der Patsche geholfen hast. Dafür wollte ich mich unbedingt bei dir bedanken.“ Ihre Wangen brannten wie Feuer. Das war ihr alles mehr als unangenehm. Sie hatte doch gar nichts tun können! „Du brauchst mir nicht danken. Ich hatte gar nichts tun können.“ Sie senkte ihren Blick. „Im Gegenteil. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht. Ich höre noch immer, wie sie sich über mich lustig machen…“ Das tiefe Lachen der Männer… Wie ein Echo hallte es in ihrem Kopf wieder. „Nein, das stimmt nicht. Du hast nicht unbedingt den besten Auftritt hingelegt, aber erwischt hätten sie mich sehr wahrscheinlich trotzdem. Aber weil du da warst, stehe ich jetzt noch hier. Hier in deiner Haustür und kann dich nerven.“ Das Grinsen wollte seine Lippen nicht verlassen. Meinte er wirklich ernst, was er da sagte? „Du solltest dich eher bei Matthew und Daniel bedanken. Ohne die beiden wären wir jetzt beide…“ Das letzte Wort blieb ihr im Hals stecken.   Als er seufzte, verschwand auch erstmals seine gute Laune. „Ja, vielleicht habe ich ihnen Unrecht getan. Vielleicht hätte ich die alte Geschichte nicht noch mal aufwärmen sollen. Ich weiß, wo ich seine Handynummer her bekomme. Ich schreibe ihm noch mal.“ Ein Schauer der Erleichterung lief über ihren Rücken, ehe sie zustimmend nickte. Was auch immer sie damals für einen Fehler gemacht hatten. Diesmal waren sie diejenigen, die zwei Menschenleben gerettet hatten.   „Mittwoch wollen wir wieder los. Du bist doch bestimmt wieder dabei, oder? Eine kleine Runde auf dem Laufband drehen?“ Und da war sein Lächeln wieder. Eyleen hingegen war gar nicht zum Lachen zumute. „Ich soll wieder mitkommen? Ist das wirklich eine gute Idee? Ich meine… Du bist ja auch noch verletzt und…“ „Ach, das ist doch nur ein Kratzer“, fiel er ihr gleich ins Wort. Sofort war die Tri auf 180°. „Nur ein Kratzer? Ernsthaft? Ich zeig dir gleich, was ein Kratzer ist!“ Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, hatte sie ihm bereits unbewusst mit der Faust gegen seinen linken Arm geschlagen. Erst danach wurde ihr bewusst, was sie grade getan hatte. Schnell ruderte sie zurück. „Ah, ich… Tut mir leid…“ „Alles okay. Wenn du mit deinen kleinen Fäustchen zuhaust, merk ich das doch gar nicht.“ Eyleen seufzte tief. Sofort war alle Sorge um ihn verschwunden. „Du solltest wirklich besser gehen. Auch Kratzer müssen erstmal verheilen. Und ich bin grade nicht mehr in der Lage dazu dein Geschwätz zu ertragen.“ Liam setzte ein Schmollgesicht auf, das man nicht mal einem kleinen Kind geglaubt hätte. Eyleen war kurz davor zu lachen, doch diesen Triumph gönnte sie ihm gerade nicht. „Das trifft mich wirklich hart, Kätzchen.“ „Geh weg!“, meinte sie und schob ihn (sanft) aus der Tür hinaus. „Ruh dich gefälligst aus! Und keine verrückten und dämlichen Aktionen mehr!“   Als er in Richtung Treppe ging, war sein breites Grinsen wieder da und er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Wir sehen uns dann Mittwoch!“, lachte er noch, ehe er außer Sichtweite war. Völlig erschöpft schloss Eyleen die Tür. So ein Chaos! Schlurfend schlich sie zu ihrer Zimmertür hinüber und freute sich endlich schlafen zu können. Doch noch ehe sie die Tür auch nur erreicht hatte, tauchte Mias Kopf erneut im Türrahmen ihres Schlafzimmers auf. „Wer war das denn?“ Da war sie wieder, ihre Neugierde. Eyleen versuchte ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. „Das ist Liam. Ich hab ihn im Fitnessstudio kennen gelernt. Ist ein ziemlich arroganter und eingebildeter Typ, aber irgendwie auch ganz nett. Er war wohl ziemlich betrunken und kam auf die tolle Idee, die Klingelschilder hier nach meinem Namen abzusuchen. Ich hatte ihm nur die Straße gesagt, in der ich wohne. Witzig, was für Leute man so kennen lernt.“ Das hatte er nun davon! Jetzt stand er als verrückter Trunkenbold da! Eyleen musste zugeben, dass sie das ungemein befriedigte. „Also alles in Ordnung. Gute Nacht!“   Und keine fünf Minuten später war es mucksmäuschenstill in der Wohnung. Kapitel 14: Vertrauen --------------------- Am Sonntag weigerte Eyleen sich auch um 11:05 Uhr noch aus dem Bett zu kriechen. Egal, wie fordernd die Zahlen auf ihrem Wecker auch leuchteten! Nicht, dass sie wirklich bis dahin geschlafen hätte, denn die Gedanken überrollten sie am frühen Morgen wie eine Lawine, aber solange sie dort eingekuschelt in ihre Bettdecke war, kam ihr die Last eben dieser nicht ganz so schwer vor. Mia war schon früh durch die Wohnung geschlichen, was aber der Blondine nicht verborgen blieb. Doch trotz der nächtlichen Ausnahmesituation schien alles beim Alten zu bleiben. Das dachte sie zumindest, bis sie erneut von der Türklingel aufgeschreckt wurde. Es wunderte sie schon fast gar nicht mehr, dass erneut Mia in ihrem Türrahmen auftauchte und Besuch für sie verkündete. An das letzte Mal, dass so viele Leute etwas von ihr wollten, konnte sie sich schon gar nicht mehr erinnern.   Liam war es diesmal nicht, dessen war sie sich 100 prozentig sicher. Dann blieb eigentlich nur noch Riley, oder… „Chloé?“ Eyleen hatte kaum die Tür verlassen, da stand die großgewachsene Blondine auch schon vor ihr. Sie trug ein langes, blaues Kleid, welches ihren wohlgeformten Körper sehr gut zur Schau stellte, ohne übertrieben zu wirken. Ihre goldblonden Haare fielen in perfekten Wellen über ihre Schultern und landeten dort auf der weißen Strickjacke, die passend zu der Handtasche und den Schuhen abgestimmt war. Der Blick in ihren graugrünen Augen war hart, aber nicht unbedingt unfreundlich. „Faulenzt du immer noch im Bett? Zieh dich an, wir gehen einen Kaffee trinken.“ Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Die junge Tri zögerte nicht lange. Der Schock über Chloés plötzlichen Auftritt und die Neugier, was sie wohl von ihr wollte, trieben sie an. Während sie sich Kleidung zusammensuchte und kurz ins Badezimmer verschwand, ließ Chloé es sich nicht nehmen, ihr Zimmer einmal genau unter die Lupe zu nehmen. Eyleen wusste nicht, ob ihr das so wirklich gefiel.   Keine 10 Minuten später verließen sie das Haus. Die Zeit, bis sie das von der Tri auserwählte Café betraten, verlief größtenteils schweigend. Die ältere Blondine hielt es anscheinend nicht für nötig ihre Aktion zu erklären und ihre Begleiterin beließ es dabei. Erst als sie - fernab aller anderen Gäste – an einem Tisch im Café Holze saßen und beide ihre bestellten Kuchen und Kaffetassen vor sich stehen hatten, fing Chloé an zu reden.   „Meinem Bruder geht es gut. Er schläft zwar immer noch, aber ich habe nach ihm gesehen. Die Stichwunde wurde gut versorgt und die Platzwunde am Kopf ist nicht so schlimm, wie sie aussah. Bis auf ein paar kleinere Schnitte und Kratzer hat er nichts Bedrohliches abbekommen.“ Sie machte eine Pause, um an ihrem Latte Machiato zu nippen. Eyleen seufzte erleichtert. „Ein Glück.“ „Er will mir nicht wirklich erzählen, was eigentlich genau vorgefallen ist. Er wurde von einer Gruppe Männer abgefangen und in eine Gasse gedrängt. Danach haben sie ihn angegriffen. Und dann bist du aufgetaucht und hast ihm geholfen. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich zu dir gehe. Wenn er es wüsste, wäre er bestimmt nicht damit einverstanden. Aber ich muss dich fragen: Was ist genau passiert?“ Chloés Blick lag die ganze Zeit direkt auf der Blondine ihr gegenüber, welche nicht in der Lage war, ihm auszuweichen. „Ich… Ich weiß auch nicht, was eigentlich los war. Ich bin ihn suchen gegangen, nachdem Riley mich angerufen hatte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich nach ihm sehen sollte, bin ich einfach losgelaufen. Irgendwann hab ich dann laute Geräusche und Stimmen aus einer Gasse gehört und bin gucken gegangen. Es war so dunkel, doch jemand hatte seine Handylampe an. Ich erkannte Liam und bin zu ihm hin. Als wir dann fliehen wollten, wurde er dann von dem Messer…“ Sie stockte und versuchte den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. „Sie hätten uns beinahe getötet, wenn nicht… Wenn nicht diese zwei Tri’s aufgetaucht wären und uns…“ „Moment mal, Tri’s? Welche Tri’s?“, unterbrach Chloé Eyleens geflüsterte Worte. Darüber zu sprechen machte die Geschehnisse wieder unheimlich real. „Also… Wir hatten die Gruppe bereits vor ein paar Tagen in der Traumwelt getroffen. Sie haben uns geholfen.“ Hatte Liam ihr das nicht erzählt? Aber er hatte sie ja auch schon einmal zuvor verschwiegen. Ob es wirklich in Ordnung war, dass sie gerade so aus dem Nähkästchen plauderte? „Verrätst du mir ihre Namen?“ Sie hatte den Blick auf ihre Nusstorte gelenkt, in dem sie mit ihrer Gabel herumstocherte, was der Jüngeren sehr entgegen kam. „Matthew und Daniel. Zu ihnen gehört aber noch ein Mädchen namens Isabella.“   Die Gabel klirrte so laut, als Chloé sie auf ihren Teller fallen ließ, dass einige der Gäste sich mit einem wütenden Blick kurz zu ihrem Tisch umdrehten. Eyleen ließ das unerwartet laute Geräusch in sich zusammenzucken. „Ich verstehe“, sagte sie gepresst und ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. „Deshalb also. Matthew und Daniel. Die beiden haben vor nicht allzu langer Zeit einiges an Gesprächsstoff geliefert. Er war wirklich sauer deshalb gewesen. Weißt du etwas darüber?“ Nun hatte sie die Hände unter ihrem filigranen Kinn zusammengefaltet und die Ellenbogen auf die geblümte Tischdecke aufgestellt, um darauf ihren Kopf abstützen zu können.   Eyleen war ein wenig erstaunt darüber, wie einfach das Gespräch zwischen ihnen beiden verlief. Normalerweise hatte sie eher das Gefühl, dass Chloé am besten nichts mit ihr zu tun haben wollte und sie so gut es ging mied. Aber jetzt… Es fühlte sich leicht an, gut sogar, wie sie miteinander redeten. Selbst bei so einem schweren Thema. Natürlich waren sie angespannt, beide, aber das war das wahrscheinlich absolut natürliche Verhalten, wenn man die Tragweite der Geschehnisse der letzten Wochen, und für Chloé sogar schon Jahre, betrachtete. „Liam war kurz darauf eingegangen, nachdem er wieder aufgewacht war“, fuhr Eyleen fort und stach ein Stück von ihrem Kuchen ab. „Er hatte sich mit Matthew deswegen gestritten, bis beide ziemlich sauer aufeinander waren und wir gegangen sind.“ Chloé seufzte. „Natürlich. Das passt so gut zu meinem Bruder. Die Geschichte hatte ihn damals wirklich mitgenommen. Mehrere Menschen wurden bei einer ähnlichen Situation verletzt, wie sie euch widerfahren ist. Doch damals hatten die beiden es darauf ankommen lassen, indem sie den Täter auf offener Straße gestellt hatten. Mitten am Tag. Sie sagten später, sie hätten nicht gewusst, dass er mit einer Pistole bewaffnet war, sonst hätten sie es nicht getan. Und trotzdem sind sie dem flüchtigen Mann hinterher gelaufen, der dabei wild um sich geschossen und ahnungslose Passanten getroffen hatte. Zum Glück hatten damals alle Opfer überlebt.“ „Aber warum hat Liam das so getroffen? Natürlich, es wären beinahe Menschen gestorben und die beiden Tri’s hätten definitiv anders handeln sollen, aber das hatte doch nichts mit ihm zu tun!“ Irgendwie ergab diese ganze Geschichte keinen Sinn! Doch Chloé schüttelte langsam den Kopf. „Oh doch. Es hatte etwas mit Liam zu tun und das war auch das Schlimme für ihn. Weißt du, Liam ist mein kleiner Bruder. Ich bin seine ältere Schwester. Auch wenn es nur knapp zwei Jahre sind. Meine Eltern haben schon immer zu mir gesagt, dass ich für ihn verantwortlich bin und auf ihn aufpassen muss, wenn er wieder gefährliche Sachen anstellt. Was er auch wirklich oft getan hat und immer noch tut. Und für mich gilt das bis heute noch. Als es mich damals… getroffen hatte und ich zu einer Tri wurde, habe ich mir immer gewünscht, dass er das nicht durchmachen müsse. Auch wenn mir innerlich immer klar war, dass er sich auch für diesen Weg entscheiden würde. Er ist einfach schon immer verrückt und abenteuerlustig gewesen. Dennoch tat ich mein möglichstes, um ihm ein angenehmes Leben zu bereiten in der Hoffnung, dass er dann keinen Grund mehr sieht, ein Tri zu werden. Ein Tri zu sein ist nicht leicht. Man hat viele Geheimnisse vor allen und jedem und begibt sich dabei oft in akute Gefahr, wie Liam wieder eindrucksvoll bewiesen hat. Natürlich wissen die Dämonen, dass wir ihnen auf den Fersen sind und sie wären schön blöd, wenn sie es einfach so hinnehmen würden. Also machen sie Jagd auf uns. So wie wir auf sie. Wir jagen sie nachts und sie uns tagsüber. Denn sie wissen: Wenn wir nicht mehr sind, dann haben sie auch nichts mehr von uns zu befürchten.“ Eyleen schluckte schwer. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Damals, als er zum Tri geworden war, war allen sehr schnell klar, dass Liam nicht war wie jeder andere. Man sah sofort das Talent in ihm. Schon, als er erst zwei bis drei Monate Bescheid wusste, war er bereits besser als so manch anderer, der schon jahrelang trainierte. Zum Beispiel jemand wie Matthew.“ Eyleen umklammerte die Gabel fester mit ihrer Hand. Das Stück Kuchen ruhte immer noch darauf. „Das war es, was Liam gemeint hatte…“, murmelte sie eher zu sich selbst, als zu ihrer Tischnachbarin. „Matthew war sauer darüber, dass ein unerfahrener Neuling so viel besser sein sollte als er, und das, obwohl sie sich bis dahin nicht ein einziges Mal begegnet waren. Und doch schien es ihn so zu stören, dass er beschloss, sich wichtig zu machen. Das ging dann leider ziemlich nach hinten los und alles geriet aus dem Ruder. Liam macht sich bis heute deswegen Vorwürfe. Wenn er nicht gewesen, oder zumindest nicht alle sagen würden, er wäre so talentiert, dann wäre das alles nicht passiert. Liam mag gerne so wirken, als sei ihm alles egal und als würde ihn nichts interessieren, aber hinter seiner Fassade sieht das alles ganz anders aus.“   Eine Weile blieb es still zwischen ihnen. Eyleen nutzte die Zeit, während sie über Chloés Worte nachdachte, um ihren Kuchen aufzuessen. Als sie die Gabel beiseitelegte, sprach sie die Tri noch einmal an. „Aber, warum erzählst du mir das alles? Ich meine, wenn Liam wollte, dass ich das alles weiß, dann hätte er es mir doch gesagt. Spätestens in einer unserer Übungsstunden!“ Chloé zog kommentarlos eine Augenbraue hoch und Eyleen wusste, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Doch zu ihrer großen Verwunderung erschien ein großes, breites Lächeln auf deren Gesicht, während sie sanft ihren Kopf schüttelte. Ihre Haare bewegten sich rhythmisch im Gleichklang. „Genau deswegen erzähle ich dir das, Eyleen. Mein Bruder scheint Gefallen an dir gefunden zu haben. Auf welche Weise auch immer, frag mich nicht. Er hat da definitiv seinen eigenen, verqueren Kopf. Aber ich weiß, dass er sonst nicht so zu seinen Mitmenschen ist. Du bist eine Ausnahme. Nein, die Ausnahme. Du scheinst ihn wirklich sehr beeindruckt zu haben und ich wüsste eigentlich gerne, womit.“ So direkt darauf angesprochen zu werden, ließ Eyleen erstarren. Ihr Kopf glühte plötzlich Rot wie eine Tomate. Beschämt blickte sie auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Was sollte sie Bitte darauf sagen?   „Nein, nein, keine Panik. Ich werde dich jetzt nicht ausquetschen und in deinem Privatleben rumschnüffeln. Mich hat deine Fähigkeit, Dämonen in der Traumwelt ausfindig zu machen, ebenfalls sehr beeindruckt. Es gibt nicht viele Tri’s die das können. Und schon gar nicht so früh in ihrer Entwicklung.“ Eyleen knotete geistesabwesend ihre Finger. Frust fraß sich bei Chloés Worten in ihren Magen. „Ich kann nichts gut, wirklich. Ich bin eigentlich das pure Mittelmaß. Ich weiß auch nicht, was gerade passiert. Das ist alles so… kompliziert.“ Ein langes Seufzen entfuhr ihr und sie entknotete ihre Finger, um sich einmal durch das dunkelblonde Haar zu fahren, das der Schweiß bereits an ihre Haut klebte.   „Ein Rabe für Intelligenz, eine Libelle für Anmut und eine Amaryllis für Stolz. Das bin ich. Das definiert mich“, fing die Blondine nach kurzer Stille wieder an, ohne auf Eyleens Worte weiter einzugehen. „Es ist verrückt, wie ein Tattoo auf seinem Rücken einen Menschen besser kennt, als er sich selbst. Doch ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Frau in mir zu finden, die ich sein soll. Ich weiß nicht ob und wie gut es mir gelingt, aber das wird mein allererstes Ziel sein.“ Plötzlich war die taffe, starke Chloé verschwunden und an dem kleinen Holztisch saß ein ruhiges, beinahe schüchternes Mädchen, das sich selten mal den Luxus zu gönnen schien, wirklich von Grund auf sie selbst zu sein. Dies war die Chloé hinter der taffen Tri. Das war das erste Mal, dass Eyleen der jungen Frau wirklich begegnete.   Etwas regte sich in ihr. Ein warmes Gefühl keimte in ihrer Brust, was sie allen Mut zusammennehmen ließ. „Zwei sich haltende Hände stehen für Freundschaft und ein Lotus für Mitgefühl. Ich weiß noch nicht, was das alles bedeuten soll, aber ich werde es noch herausfinden. Und ich werde alles in meiner Macht stehende tun dir zu helfen, damit du dein Ziel erreichst. Ich bin damals einfach so in euer Leben geplatzt und trotzdem… habt ihr eine Fremde wie mich einfach so bei euch aufgenommen. Ihr habt mir wirklich geholfen. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch getan hätte. Ich war kurz davor durchzudrehen… Und aus diesem Grund werde ich mein Bestes geben, um euch so gut ich kann zu unterstützen. Ich weiß, es klingt kitschig und irgendwie falsch, aber du kannst mir vertrauen.“   Es dauerte nur einen kurzen Moment ehe der schmerzverzerrte Ausdruck von ihrer beiden Gesichter wich. Ein überraschtes Stöhnen hing noch zwischen ihnen. Danach konnten sie sich einfach nur noch erschrocken anstarren. Wortlos standen beide zeitgleich auf und gingen im Eilschritt in die Damentoilette. Zu ihrem Glück war niemand außer ihnen sonst da. „Du willst mir jetzt nicht sagen, dass wir beide gleichzeitig eine Erweiterung bekommen haben, oder?“, meinte Chloé ungewöhnlich trocken, wobei ein Hauch Belustigung daraus zu hören war, während sie sich beide mit dem Rücken zum Spiegel stellten und ihre Oberkörper frei machten. Danach blieb es etliche Momente lang still. „Dann soll ich dir wahrscheinlich auch nicht sagen, dass wir beide grade dasselbe Symbol bekommen haben, oder?“ Schlechter Humor mit einem Hauch von Sarkasmus. Eyleen war nicht in der Lage etwas Sinnvolleres über die Lippen zu kriegen. Das war einfach zu abstrus.   „Vertrauen“, sprachen beide Frauen das Wort, das ihnen ständig im Kopf herum spukte, synchron aus. Dieselbe Eigenschaft zur absolut gleichen Zeit bekommen und dann auch noch dasselbe Symbol tragen? Ein Maiglöckchen. Gezeichnet aus schwarzen, filigranen Linien, umschlungen von einem sanften Blatt aus Kurven. Sie glichen sich bis auf den letzten Strich. Und doch gab es einen großen Unterschied. Eyleens Maiglöckchen beugte sich nach links, einmal über ihr linkes Schulterblatt, während Chloés zur entgegengesetzten Seite kippte. „Das ist verrückt“, hauchte Eyleen, während sie sich ihr T-Shirt wieder überzog. Und Chloé ergänzte lächelnd: „Und ziemlich peinlich. Man könnte ja jetzt meinen, dass wir Freundinnen seien.“ Wegen ihres unsicheren, neckenden Tonfalls war Eyleen sofort klar, dass Chloé auch nicht so recht wusste, was sie jetzt empfinden sollte. Daher ging die junge Tri auf das Spielchen mit ein. „Mega peinlich! Das bleibt unser Geheimnis.“ „Einverstanden! Und wehe du verplapperst dich!“ Eyleen lachte so laut, wie sie es schon lange nicht mehr getan hatte. „Das würde ich nie tun! Du weißt doch, du kannst mir da vertrauen!“   .   „Und? War das wieder jemand, den du im Fitnessstudio kennengelernt hast? Tauchen jetzt noch mehr Leute einfach so vor unserer Tür auf? Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen. In welchem Studio hast du dich nochmal angemeldet? Scheint dort ja sehr lustig zu sein!“ Mias neckender Tonfall konnte Eyleens doch recht guter Laune nichts anhaben. Eher im Gegenteil. „Nein, nein. Na ja, indirekt. Das war Chloé, Liams Schwester. Du weißt schon. Unser verrückter, nächtlicher Besucher gestern.“ Eyleen schob sich noch eine Gabel voll Nudeln in den Mund, an denen sie sich erstmal prompt verschluckte, was in einem Hustenanfall endete. Sie hatte noch einige Zeit mit Chloé im Café verbracht und hatte mit ihr über alles Mögliche geredet. Es war immer noch unglaublich, wie schnell die beiden Freundinnen geworden waren. Vor der Sache mit dem Tribal kannten sie sich überhaupt nicht und danach waren sie sich zunächst gegenseitig nicht geheuer. Aber sobald sie einmal richtig miteinander reden konnten ohne Vorurteile und das Thema Tattoos und Dämonenjagd, waren sie sich plötzlich richtig sympathisch gewesen. Ob sie jemals die dicksten Freundinnen würden, müsste sich über lange Zeit noch zeigen, aber Eyleen war froh, sich endlich nicht mehr vor Chloés Blicken verstecken zu müssen. Sie war froh, endlich die wahre Chloé kennengelernt zu haben.   „Schling das Essen nicht so gierig runter, so als ob du schon seit Tagen nichts mehr bekommen hättest! Da bekomm ich ja glatt ein schlechtes Gewissen!“ Mia hatte wieder ihren üblichen Lehrerton angeschlagen, mit dem sie ihre Kinder später sicherlich sehr gut im Griff hatte. „‘Tschuldigung! Ich habe heute einfach mega Hunger! Weiß auch nicht warum. Muss wohl am Wetter liegen. Wenn es so warm wird, krieg ich immer richtig Kohldampf.“ „Das Wetter, natürlich. Iss vernünftig, dann kleckerst du auch nicht so viel!“   Der Sonntag war fast wieder vorbei und die neue Woche würde bald beginnen. Eyleen war schon sehr auf ihre Jagd am Mittwoch gespannt. Sie hatte sich entschlossen weiterhin mit der Gruppe loszuziehen. Zumindest vorerst noch. Wenn Chloé recht hatte und die Dämonen auch in der realen Welt Jagd auf sie machten, dann hatte sie ohne erfahrene Partner an ihrer Seite keine Chance. Und damit würde sie nicht nur sich, sondern auch ihre Mitmenschen in Gefahr bringen. Das durfte sie nicht riskieren.   Eyleen schob sich grade die letzte Gabel Spaghetti in den Mund, als das Klingen eines Telefons lautstark durch die Küche hallte. Die beiden Mädchen erschraken zunächst, doch Mia fing sich schnell wieder und ging hinüber zum kleinen Telefontischchen nahe der Tür. „Hi Mama!“, sagte sie fröhlich ins Telefon, als sie die Nummer auf dem Display las. Es war eigentlich immer ihre Mutter, die sich meldete. Ihr Vater war am Telefon nicht unbedingt gesprächig. Aber endlich riefen ihre Eltern mal wieder an. Es war jetzt schon einige Zeit her, dass Mia etwas von ihnen gehört hatte. Doch, als das Lächeln auf ihrem Gesicht komplett verblasste und die Schwarzhaarige kreidebleich wurde, wusste Eyleen, dass etwas nicht stimmte. „Papa. Das ist nicht dein Ernst! … Nein, warum? … Papa, das kann doch nicht…! Wo ist sie?“Mia wurde von Sekunde zu Sekunde noch blasser. Ihr Körper zitterte mittlerweile wie Espenlaub. Die Blondine hatte Angst, dass ihre Freundin zusammenbrach. Was war bloß los? Sie lauschte weiter gebannt den einseitigen Gesprächsfetzen. „Was heißt ‚weg‘? Hol sie zurück! … Und was wird dann aus mir? … Papa, nein!“ Tränen rannen über ihre Wangen und tropften wie Donnerschläge auf den Fußboden. „Ja. Ich dich auch.“   Als sie das schnurlose Telefon mit einem lauten „Biep“ zurück in seine Ladeschale gestellt hatte, legte sich eine Stille schwer wie Blei über sie. Keine der Freundinnen bewegte sich oder gab auch nur das kleinste Geräusch von sich. Nur Mias Körper zitterte unkontrollierbar. Irgendwann hielt Eyleen es nicht mehr aus. „Mia? Was ist los? Sag schon!“ Sie blieb dabei jedoch am Tisch sitzen und näherte sich ihrer Mitbewohnerin nicht. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Nähe grade nicht das Richtige war. Die Schwarzhaarige brauchte lange um zu antworten. Ihre Stimme klang erstickt. „Meine Mutter hat die Scheidung eingereicht. Sie ist eben ausgezogen.“ Eyleen starrte sie geschockt an. „Bitte was? Aber… wieso? Das kann doch nicht wahr sein!“ Mia zuckte nur mit den Schultern, dann drehte sie sich weg, sodass ihr Gesicht von der Tri abgewandt war. „Entschuldige, ich muss kurz…“ Den Rest des Satzes ließ sie in der Luft hängen und nur Sekunden später ertönte das Knallen einer zuschlagenden Tür.   Konnte das Leben eigentlich nur noch schlimmer werden? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)