COLOURless. von AtriaClara (no colour, no emotion) ================================================================================ Kapitel 1: Farbe. ----------------- Farbe. Was ist Farbe? Was ist dieses Wundermittel, durch das uns die Welt so viel fröhlicher und lebenswerter erscheint? Ich liege auf dem Bett in meiner Zelle, den Blick an die Decke gerichtet. Blau, denke ich. Grün. Rot. Nichts. Ich fühle nichts. Nichts, was diese Worte bedeuten könnten, keinen Grund, sie in meinem Gedächtnis zu behalten. An dem Ort, wo ich jetzt bin, sind Farben ohne Bedeutung. Und doch liege ich hier, wie jeden Tag. Sage die Worte vor mich hin, manchmal laut, manchmal leise. Nur um mich an ihren Klang zu erinnern. Ich habe Angst. Angst davor, was passiert, wenn ich sie vergesse. Ich darf sie nicht vergessen. Sie sind das Einzige, was mir von meinem Leben noch bleibt. Ich setze mich auf. Mein Leben. War es schön? Ich erinnere mich vage an frohe Stimmen, glückliche Stimmen, ihre Gesichter und Namen unrettbar verloren. An nichts sonst. Manchmal, wenn ich mich alleine fühlte in meiner Zelle, habe ich mir vorgestellt, wie mein Leben hätte aussehen können. Es war einmal in einem bunten Land namens Avaria, da lebte in einer bunten Stadt ein buntes kleines Mädchen glücklich mit seinen bunten Eltern und seinen bunten Geschwistern. Es ging in eine bunte Schule und träumte davon, eines Tages Künstlerin zu werden, um Avaria noch bunter zu machen. Es hatte auch zwei beste Freunde, Zoran mit der Zahnlücke und die mächtige Trix, beide so bunt wie sie selbst. Natürlich war mein Leben nicht perfekt gewesen. Als ich dreizehn war, kam mein Bruder bei einem Unfall ums Leben. Mit fünfzehn schaufelte ich mich aus Liebeskummer durch Berge von Eiscreme. Mit achtzehn heulte ich mit meinen Freunden um die Wette, weil die Schule nun vorbei war und wir getrennte Wege gingen. Mit einundzwanzig flog ich dank der intriganten Zicke Mackenzie aus der Kunstakademie und musste meinen Traum vom Avaria bunter machen vorerst begraben. Aber letztendlich hatte ich es geschafft in meinem gelogenen Märchen. Ich hatte mir meine Träume erfüllen können, ich hatte mich verliebt, ich ging in eine vielversprechende Zukunft. Es war eine unvollständige Geschichte auf der Suche nach einem Ende, das es nie geben würde. In meinen Träumen hatte ich die fröhliche Welt, die ich haben wollte, einen kitschigen Schwarzweiß-Film, aber sobald ich die Augen aufschlug, war nichts davon mehr wahr. Und das machte mich fertig. Zweifel begannen an mir zu nagen, ich stürzte in tiefe Depressionen, nur kurz unterbrochen von meinem glücklichen Leben im Märchen. Mir wurde klar, dass ich so nicht weiterleben konnte. Und so beendete ich schweren Herzens die Geschichte, schob sie in die hinterste Ecke meines leeren Gedächtnisses, wo sie seitdem liegt, verstaubt, wie ein altes Buch. Avaria betrat ich nie wieder. Und so sind die Worte schließlich wieder das Einzige, was mir bleibt. Ich lege mich hin. Beschließe, mich wieder an die Arbeit zu machen. "Gelb", sage ich laut. "Orange. Violett." Immer noch nichts. Aber ich darf sie nicht vergessen. Ich darf nicht aufgeben. Niemals. Kapitel 2: Furcht. ------------------ Furcht. Was ist Furcht? Ich bin mir sicher, es früher einmal gewusst zu haben. In meinem verlorenen Leben. Aber hier im Gefängnis bin ich von der Außenwelt völlig abgeschnitten, hier gibt es nichts Furchterregendes. Eine Gefühlsregung mehr, die ich nie wieder brauchen werde. Hier bin ich sicher. Nichts, vor dem ich mich- Ein dumpfer Knall lässt die Wände zittern und den Boden erbeben. Staub rieselt von der Decke. Ich fahre zusammen und sehe von meinem Kissen auf. Von draußen ist lautes Gelärme zu hören. Gefangene, die brüllend an ihren Gitterstäben rütteln, Wärter, die in ihren schweren Stiefeln die Gänge hinunterlaufen und Befehle rufen. Viel zu spät springt jetzt auch die Alarmsirene an. Ich setze mich verwundert auf. Mit vorsichtigen Schritten nähere ich mich meiner Zellentür und sehe durch das kleine vergitterte Fenster, das darin eingelassen ist. Draußen hasten die Gefängniswärter in ihren weißen Uniformen vorbei, die Gesichter entschlossen, die Gewehre schussbereit. Verwirrt versuche ich, die Ursache dieses Aufruhrs zu entdecken, doch ich finde nichts. Einer der Wärter brüllt mit sich überschlagender Stimme einen Befehl, worauf alle anderen sich auf der Stelle auf ihre Position begeben. Angespannte Stille herrscht im Gang. Die Jäger haben ihre Falle aufgestellt und warten auf die Beute. Aber dann- Noch ein Knall ertönt, doch schärfer diesmal, näher. Und plötzlich ist die Uniform eines Wärters rot gesprenkelt, er sinkt schreiend in sich zusammen und tut seinen letzten röchelnden Atemzug in einer Lache aus Blut. Ich sollte erschrocken sein, betroffen, vielleicht sogar traurig. Aber ich beachte den toten Wächter gar nicht, ich starre nur auf die rote Farbe. Jetzt fällt es mir wieder ein. Mohnblüten. Rote Sprenkel auf den Wiesen im Sommer. Eine strenge Stimme, die mich ermahnt, sie auf keinen Fall zu pflücken. Dunkelrot verfärbte Blätter, die im Herbst von den Bäumen fallen. Laubhaufen, wie gemacht, um hineinzuspringen. Jene Abende voller Licht, die ich allein am Strand verbrachte, um mir den Sonnenuntergang anzusehen. Und diesen einen Abend, ab dem ich dabei nicht mehr allein war. Rote Haare, neben mir in der Meeresbrise wehend und tanzend, wie eine Kerzenflamme im Wind. Das Prickeln auf meiner Haut, wenn sie meinen Hals berührten. Das also ist Rot. Wie konnte ich es jemals vergessen? Und so stehe ich da, glücklich lächelnd inmitten des ausbrechenden Gefechtes. Lasse meine neuen Erinnerungen noch einmal vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen, während die vermeintliche Beute zum Angriff übergeht und die Wärter verzeifelt versuchen, ihr Leben zu retten, während Gefangene rasend an ihren Gitterstäben rütteln, während Blut über das sterile Weiß der Gefängniswände spritzt, Rot, wunderbares Rot. Ich bin so glücklich über meine neugewonnene Farbe, dass ich die Angreifer erst bemerke, als sie an meiner Zellentür vorbeirennen. So viele Farben, so viele Menschen - meine Augen werden groß vor Staunen. Vor meinen Augen verschwimmen sie alle zu einer einzigen bunten schreienden Masse, die nur das Grün ihrer Kleidung zu verbinden scheint. Kurz tauchen wunderschöne Bilder von endlosen grasbewachsenen Ebenen und lichtdurchfluteten Wäldern in meinem Kopf auf, bevor mich plötzlich ein höllischer Lärm auf brutale Weise zurück in die Realität holt. Das Gefecht beginnt. Unzählige Schüsse erklingen draußen vor meiner Tür, Mündungsfeuer blitzen auf. Todesschreie klingen, als würden sie von Tieren stammen und nicht von Menschen. Instinktiv weiche ich von meiner Türe zurück, meine Hände pressen sich auf meine Ohren. Panik kriecht in mir hoch, ein Gefühl, das ich für verloren hielt, und so erschrecke ich mich beinahe vor mir selbst. Mein Herzschlag wird plötzlich schneller, meine Lippen beginnen zu zittern und ich muss dem immer stärker werdenden Drang widerstehen, mich sofort in eine Ecke zu verkriechen und mich dort zusammenzukauern, bis alles vorbei ist. Eine Weile noch schaffe ich es, presse meine Lippen fest zusammen und versuche, wieder ruhig zu atmen. Aber schon Sekunden später drehe ich mich um, werfe mich auf mein Bett und verkrieche mich zitternd in die hinterste Ecke. Das Schlimmste daran ist nicht die Furcht. Das Schlimmste ist, dass ich nicht einmal weiß, wovor genau ich mich fürchte. Wüsste ich es, könnte ich mich davor verstecken oder mir etwas einfallen lassen, wie ich es loswerde. Vor Furcht, die man benennen kann, kann man wegrennen. Man kann sich vor ihr verstecken, man kann sich vor ihr schützen. Doch die namenlose Furcht bleibt, egal, was ich tue. Sie ist in mir, in jedem Winkel meines Bewusstseins, in jeder Faser meines Körpers. Sie ist ein Teil von mir. Gefühlte Stunden sitze ich so da, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf darin vergraben, während mein Gehirn versucht, eine halbwegs logische Erklärung für meine Furcht zu finden, und mein Körper einfach nicht mehr aufhören will zu zittern. Verzweifelt warte ich. Warte darauf, dass das hier endlich vorbei ist. Ich will nur meine Ruhe, nichts weiter als das! Ich will keine Schüsse, keine Schreie, kein Blut mehr! Was habe ich getan, um so bestraft zu werden? Bitte! Irgendjemand! Macht, dass es aufhört! Da ertönt der Knall einer weiteren Explosion und bohrt sich brutal in mein Trommelfell. Mein Herz krampft sich beinahe schmerzhaft zusammen. Sie sind da, denke ich panisch. Werde ich jetzt getötet? Mein Herz klopft wie rasend, als wüsste es, dass es bald keine Gelegenheit mehr dazu haben würde. Blut rauscht in meinen Ohren. Jede Faser meines Körpers schreit danach, am Leben bleiben zu dürfen. Inmitten von all diesem Chaos fühlt sich mein Kopf so an, als wäre er mit Watte gefüllt, betäubt. In all den Jahren konnte ich mich immer auf meinen Verstand verlassen, auf logisches und rationales Denken. Ich hatte für jede mögliche Ausnahmesituation einen passenden Notfallplan entwickelt, nur für den Moment, in dem es tatsächlich so weit kommen würde. Aber jetzt gerade ähnelt mein Kopf mehr einer unnützen Last. Von all meinen Notfallplänen will mir kein einziger mehr einfallen. Das einzige, das mich hätte retten können, hat mich verlassen. Dann bleibt dir nur noch, um dein Leben zu betteln. Diese Möglichkeit ist so lächerlich, dass ich an einem anderen Zeitpunkt herzhaft darüber gelacht hätte. Aber jetzt ist es meine einzige Möglichkeit. Mein Kopf ist so schwer, dass es gefühlte Stunden dauert, bis ich ihn von meinen Knien gehoben habe. Mein Blick wandert über die zerfetzten Einzelteile meiner Zellentür, verkohlt auf dem Boden liegend wie verbrannte Papierfetzen. Dann langsam an den schweren Stiefeln hoch über den rauen Stoff der grünbraunen Hose bis zu dem schweißfleckigen schwarzen Oberteil. Ich zögere einen Moment - dann sehe ich ihr ins Gesicht. Das Paar dunkelgrüner Augen, das mir daraus entgegensieht, wirkt müde und angespannt, dunkle Ringe zieren ihre Augenlider. Ihr junges Gesicht wirkt so viel älter durch die vielen Sorgenfalten auf ihrer Stirn und ein bitterer Zug liegt um ihren Mund. Sie sieht nicht aus wie jemand, der mich töten will. Sofort entspannt sich mein Körper wieder etwas. Sie steht noch ein paar Sekunden lang schweigend da und sieht mich erschöpft an, bevor sie sich zusammenreißt und wieder aufrichtet. Eine blau gefärbte Strähne rutscht unter ihrem Helm hervor, als sie mich hektisch herbeiwinkt. Aber ich sehe sie nicht. Ich sehe nur Wasser, klares, erfrischendes Wasser, im Sonnenlicht glitzernd. Ich erinnere mich wieder. Der Badesee, an den wir im Sommer immer gefahren sind, der Geruch von Sonnencreme und wie nervig ich das Eincremen immer fand. Zum Glück war da jemand, der meinen Rücken übernahm und dessen feuerrote Haare jedes Mal meinen Nacken kitzelten. Der Schwindel, den ich immer bekam, wenn ich unsere Luftmatratze etwas zu enthusiastisch aufgeblasen hatte und- "... hallo?!" Langsam dringt die Stimme der Angreiferin zu mir durch. "Hey! Mina! Hörst du mich?" Begriffsstutzig starre ich sie an. "Wir müssen jetzt los, beweg deinen Arsch hierher! Aber flott!" Ihre klare Stimme schneidet durch meine Träumereien wie ein warmes Messer durch Butter. Ich traue meiner Stimme noch nicht so recht, deshalb schüttele ich nur entsetzt den Kopf. "Was ist los mit dir? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?!" "D-doch." Schwach und viel zu leise kommt es aus meinem Mund. "Was? Sprich lauter!" Sie hält sich demonstrativ eine Hand hinter ihr Ohr. "Doch! Nur... ich will nicht nach draußen." Jetzt ist es raus, denke ich beinahe erleichtert. "Hä?" Begriffsstutzig starrt sie mich an. "Du bist hier gefangen, natürlich willst du nach draußen." Ich sehe sie nicht an. Ich schüttele nur wieder meinen Kopf. Und plötzlich begreife ich, wovor ich Angst habe. Es ist nicht die Angst vor Kampf, vor Schüssen und Blut. Es ist auch nicht die Angst, verletzt oder getötet zu werden. Es ist die Angst, gerettet zu werden. Das hört sich absurd an, ich weiß. Aber eigentlich... ist es hier nicht so schlimm. Man gewöhnt sich an alles. In meiner Zelle habe ich meine Ruhe. Ich habe ein gemütliches Bett und dreimal am Tag etwas zu essen. Ich habe viel Zeit zum Nachdenken und es gibt nichts, was ich lieber tue. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Also warum sollte ich mein Leben bei einem Fluchtversuch aufs Spiel setzen? Ich kann hier bleiben und nachdenken. Jeden Tag kann ich die Worte aufsagen und mich lächelnd an ihre Bedeutung erinnern, ich kann in meiner kleinen gewohnten Welt leben, ohne Gefahren, ohne Sorgen. Ich kann ein geruhsames und sicheres Leben führen. "Sag mal, bist du verrückt?", faucht sie mich an. "Willst du etwa hier drin verrotten?" Was gibt es dort draußen für mich? Ich habe meine Erinnerungen verloren, es gibt nichts, wofür sich eine so riskante Aktion wie ein Fluchtversuch lohnen würde. Ich habe sogar eine Bedeutung zu einigen der Farbenwörter erfahren, ein paar glückliche Erinnerungen, die ich sorgfältig in meinem Bewusstsein verstauen kann, um sie hin und wieder hervorzuholen und sie zu betrachten, als wären es alte, vergilbte Fotos aus einem verstaubten Fotoalbum. "N-nein", murmele ich leise. "Lauter, verdammt!" Ich kratze meinen letzten Rest Mut zusammen. "Nein, aber ich würde wirklich lieber hier drinnen bleiben", sage ich so entschlossen wie möglich. "Du lügst." "Was?" Überrascht sehe ich auf. "Du lügst, verdammt!", schreit sie mich wutentbrannt an. Erschrocken zucke ich zusammen. "N-nein, ich-" "Niemand ist gerne eingesperrt!", unterbricht sie mich zornig und kommt bedrohlich auf mich zu, wobei sie mindestens zehn Zentimeter größer zu werden scheint. Instinktiv will ich zurückweichen, aber ich sitze ja bereits mit dem Rücken zur Wand. "Niemand ist gerne völlig von der Außenwelt abgeschnitten, weit weg von allen, die er liebt!", fährt sie mit lauter Stimme fort. "Erzähl mir doch keine Märchen!" "A-aber ich habe niemanden mehr!" Ich verfluche mich dafür, dass meine Stimme genau so klingt, wie ich mich fühle: piepsig, wie die einer verängstigten Maus. "I-ich habe nichts dort draußen, das einen Fluchtversuch wert wäre!" "Ach ja?" Die Angreiferin holt einen Zettel aus ihrer Tasche, faltet ihn auseinander und hält ihn mir unter die Nase. "Und was ist dann das hier?" Mein Herz setzt einen Schlag aus. Das bin ich, dort auf dem Zettel. Zwar sind es nur ein paar hastige Bleistiftstriche und es ist schon einige Zeit her, dass ich das letzte Mal in einen Spiegel gesehen habe, aber das da ist mein Gesicht, da bin ich mir sicher. "V-von wem hast d-du das?", stammele ich. "Ein rothaariges Mädchen hat mich gestern darum gebeten, ihre Freundin Mina zu suchen, die hier eingesperrt ist, und mir dann den Zettel hier gegeben." I-ihre Freundin? Rote Haare? Ich erinnere mich wieder. Da waren rote Haare in meinem Leben gewesen, so unnatürlich feuerrot, dass ich mir immer den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob die Farbe wirklich echt war. Aber ich hatte nie gefragt. Stattdessen hatte ich zum Sommerfest komplizierte Flechtfrisuren an ihnen ausprobiert und Gänseblümchen hineingesteckt. Das war keine einfache Aufgabe gewesen, denn ihre Haare waren ständig windzerzaust und nicht zu bändigen, weil sie keine einzige freie Minute drinnen verbrachte. Wer ist sie?, denke ich zunehmends verunsichert. Und warum weiß ich das alles? "Sie wirkte ziemlich verzweifelt, das kann ich dir sagen." V-verzweifelt? "Du bist scheiß-egoistisch, weißt du das? Denkst nur an dich und wie bequem es hier in deiner Zelle doch ist. Hallo?! Es gibt auch noch andere Leute da draußen! Was, glaubst du, wird deine Freundin tun, wenn ich ohne dich zurückkomme, hm?" Kann dir doch egal sein. Du kennst sie ja nicht mal, meint eine kleine gemeine Stimme in mir, aber sie wird sofort von tausenden anderer Gedanken erdrückt. Kann das sein? Es gibt noch jemanden da draußen, der sich an mich erinnert? Dem ich, eine einfache Gefangene, etwas bedeute? Immer noch, nach all der Zeit? Eine neue Erinnerung schießt in mein Bewusstsein, so heftig, dass es beinahe wehtut. "Hallo! Tut mir wirklich leid, dass ich so spät bin!" Das... das ist meine eigene Stimme, die ich da höre. Sie klingt gestresst und abgekämpft, aber sie ist es. "Ach, das macht doch nichts." Im Gegensatz dazu klingt die andere Stimme heiter und fröhlich. Sie klingt nach dem salzigen Duft des Meeres, nach Wind und natürlich nach Gänseblümchen. Irgendwie erkenne ich die Stimme der Rothaarigen sofort, auch wenn ich mich an ihr Gesicht nicht erinnern kann. "Aber ich bin eine ganze Stunde zu spät! Und es hat geregnet! Hast du wirklich die ganze Zeit hier auf mich gewartet?!" "Natürlich." Die Stimme klingt belustigt. "Ich werde immer auf dich warten. Das weißt du doch." Dann verlöscht die Erinnerung wieder und lässt mich alleine mit meinen verwirrten Gedanken. Ich werde immer auf dich warten. Eine einzelne kleine Träne rollt über meine Wange und plötzlich bin ich mir in meinem Entschluss gar nicht mehr so sicher. Ich erinnere mich nur widerwillig daran, wie ich vor Jahren hier ankam und wie jeder einzelne Gedanke der Planung meiner Flucht galt. Wie verzweifelt und traurig auch ich damals war. Als ich damals mit dem Farbenaufsagen anfing, tat ich es, weil es das Einzige war, das mir blieb. Ich hatte die Hoffnung noch nicht verloren, eines Tages wieder in mein Leben zurückkehren zu können. Seitdem ist viel geschehen. Ich stumpfte ab, geistig und seelisch, verlor nach und nach meine Erinnerungen. Ich wurde immer gleichgültiger gegenüber meiner Umwelt, verbannte all meine früheren Emotionen in den Sumpf des Vergessens. Doch all das bemerkte ich nicht einmal. Ich hielt es für klug, mein neues Leben einfach zu akzeptieren. Mich den Umständen anzupassen, um ein sicheres Leben ohne Enttäuschung oder Risiko zu führen. Ich wäre zufrieden gewesen. Aber nie glücklich. Und all das erkenne ich erst jetzt. "I-ich war so dumm", flüstere ich, salzige Tränen strömen über mein Gesicht. "Das kannst du laut sagen." Die Frau wirkt erleichtert. "Und jetzt komm endlich mit!" Sie sieht mich gebieterisch an und streckt mir ihre Hand entgegen. Einen Moment lang zögere ich noch. Aber dann überwinde ich mich selbst, meine lächerliche Angst vor dem Unbekannten. Entschlossen ziehe ich die Nase hoch und ergreife ihre Hand. Kapitel 3: Freiheit. -------------------- Freiheit. Was ist Freiheit? Auch das habe ich mich oft gefragt, wenn ich allein in meiner Zelle saß, das Farbenaufsagen schon hinter und das karge Mittagessen noch vor mir. In all der Zeit habe ich hin und her überlegt. Gedanken kamen und gingen. Ich hatte neue, mir genial erscheinende Einfälle und verwarf die, die ich einmal für genial gehalten hatte. Trotz all der Zeit, all der Geduld, die ich in diese Gedanken investiert hatte, bekam ich nie eine klare Antwort. Nur eins glaubte ich zu wissen: dass es keine wahre Freiheit geben konnte. Ich verstand sie alle nicht, diese armen, bemitleidenswerten Menschen, die Tag für Tag neue Fluchtpläne ausheckten, die doch nur wieder scheiterten. Diejenigen, die selbst nach Jahren der Gefangenschaft noch auf Rettung hofften. Diejenigen, die niemals aufgaben, weil sie ihre Niederlage einfach nicht akzeptieren konnten. "Freiheit ist die Lüge, die uns am Leben hält." So hatte ich es damals formuliert, als ich mich mit meinem Schicksal abfand, schließlich war da nichts, wofür auszubrechen sich gelohnt hätte. Das hatte ich mir jedenfalls all die Jahre eingeredet, doch tief in meinem Inneren wusste ich die Wahrheit. Ich hatte nichts zu hoffen gewagt aus Angst, enttäuscht zu werden. Später versuchte ich sogar, andere meiner Mitinsassen auch von meiner Weisheit zu überzeugen, um ihnen die Enttäuschung zu ersparen. Niemand teilte meine Ansichten, aber das nahm ich nur als einen weiteren Beweis für ihre Richtigkeit. Genies sind schließlich immer dazu verdammt, ein einsames Leben zu führen. So dachte ich damals. Doch so fühlte ich nicht, als ich durch die zerbombten Gänge lief, über Trümmerteile stolpernd, halb freiwillig und halb gegen meinen Willen vorangezerrt. Kindliche Vorfreude, ein lange vergessenes Gefühl, stieg in mir auf und ließ mich von innen heraus fast explodieren. Das spürte ich nicht, als ich aus dem Schatten heraus ins Licht trat, Steinchen unter meinen Sohlen knirschend, Triumphschreie und Gelächter um mich herum. Ich öffnete die Augen. Und mein Herz setzte einen Schlag aus. Eine riesige Menschenmenge hatte sich im Innenhof versammelt, um ihre verlorenen Lieben endlich wiederzusehen. Andere befreite Gefangene liefen mit Jubelschreien auf den Lippen an mir vorbei, zu ihrer Familie, zu ihren Freunden. Die tiefstehende Sonne schien mir ins Gesicht, sodass ich geblendet meine Augen schließen musste. Nein, so war es nicht. Ich stand einfach da, die Augen geschlossen und die Arme weit ausgebreitet, als wollte ich mein neues Leben begrüßen. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich spürte, wie die Sonne meine Haut wärmte und der Wind meine Haare zerzauste. "Mina!" Da hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Den Namen, den ich getragen hatte, noch bevor er unwichtig geworden und an seine Stelle Häftlingsnummer 02809 getreten war. Den Namen, den die Angreiferin erwähnt hatte. Überrascht schlug ich die Augen auf und sah ein rothaariges Mädchen auf mich zurennen, Tränen der Freude weinend. Ich hatte gar keine Zeit mehr, die ganzen schönen Farben der neuen Welt wahrzunehmen, denn so plötzlich, dass es beinahe schmerzte, war alles wieder da und stürzte auf mich ein. Gedanken, Gefühle, Farben, alles durcheinandergewirbelt in einem chaotischen bunten Strudel aus Erinnerungen. Sie drangen gewaltsam in mein Bewusstsein ein und brannten sich unbarmherzig in mein Gehirn. Mein ganzer Körper stand unter Strom, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich blieb stocksteif stehen, während mein Gehirn versuchte, all die Informationen irgendwie zu verarbeiten. Dann war es vorbei, so plötzlich, wie es begonnen hatte, aber es war nichts mehr wie zuvor. Ich erinnerte mich. Und dann begann ich ebenfalls zu rennen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)