Eurydike von Minato_March ================================================================================ Kapitel 3: Erschießt mich nicht ------------------------------- Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da, das helle schulterlange Haar fiel ihr ins Gesicht. „Wie kannst du .. Aber es ist ..!“, stammelte das Mädchen irritiert, „Sag nicht ..“ Sie trug wie Yuki einen schwarzen Rock und Kniestrümpfe und an ihrem rechten Oberschenkel .. hatte sie dort einen dunklen Verband? Oder war das eine Tasche? Im Halbdunkel konnte Yuki es nicht genau erkennen. Während sie noch überlegte, ob sie froh oder beunruhigt darüber sein sollte, dass sie wieder Gesellschaft hatte, machte die Brünette eine hastige Handbewegung zu ihrem Oberschenkel und zog von dort etwas hervor. Als Yuki erkannte, was es war, setzte ihr Herz für einen Augenblick aus: das Mädchen hatte eine Pistole! So langsam wurde Yuki das alles zu viel, mehr und mehr hatte sie das Gefühl, in einem schrecklichen Albtraum gefangen zu sein, so viele verrückte Sachen konnte es doch gar nicht geben! Womöglich war sie am Bahnsteig einfach ausgerutscht und lag dort immer noch mit einer Platzwunde bewusstlos am Boden. Sie ertappte sich dabei wie sie hoffte, irgendjemand würde sie ohrfeigen, sodass sie zu sich kommen und das alles vergessen konnte. Der Atem der Brünetten ging jetzt stoßweise, sie riss die Pistole hoch, Yuki sah sie in Gedanken schon den Abzug drücken, gleich würde sie .. „Warte!“ Das Mädchen fuhr herum und Yuki schnappte erschrocken nach Luft. Mit einem Mal gingen sämtliche Lichter wieder an und aus den Kopfhörern in ihren Ohren drang erneut die Musik. Wie mechanisch fuhr Yukis Hand langsam in ihre Jackentasche und betätigte die Off-Taste ihres MP3-Players. Der schnelle Rhythmus und die kräftige Stimme der Sängerin hätten sie ein andermal bestimmt besänftigt, jetzt aber wollte sie durch nichts abgelenkt werden. Sie mochte fürs Erste gerettet sein, aber noch wog sie sich nicht in Sicherheit. Sie riskierte einen Blick auf die junge Frau, die hinter der Brünetten aufgetaucht war und mit ihrem Zwischenruf den Schuss verhindert hatte: volle, dunkelrote Locken ergossen sich über deren Rücken und linke Schulter, die Stirnfransen hingen ihr ins Gesicht und verdeckten ihr linkes Auge nahezu vollständig. Auch sie trug eine Schuluniform, allerdings hatte sie ihre ein wenig abgeändert: ihre Bluse war wesentlich eleganter und damenhafter geschnitten als Yukis, der schwarze Rock war etwas länger als ihr eigener und sie trug kniehohe Stiefel statt der braunen Lederschuhe, die standardmäßig beigelegt waren. Bei ihrem Anblick wäre jedes andere Mädchen vor Neid grün geworden: die langen schlanken Beine, die helle Porzellanhaut, die schmale Taille … Auch ohne an sich herab zu sehen wusste Yuki, dass sie selbst keinen sonderlich hübschen Anblick bot: von der vielen Rennerei sahen ihre Haare sicher aus wie ein Vogelnest, an ihre zerknitterten und schmutzigen Kleider wollte sie gar nicht erst denken. Obwohl sie nach außen hin ruhig blieb, tobten die Fragen nur so durch ihren Kopf: wer waren diese Mädchen und warum war eine von ihnen bewaffnet? War sowas in Japan mittlerweile normal, dass Schüler Pistolen besitzen durften? Wieso war das Licht plötzlich wieder an (nicht, dass sie sich darüber hätte beschweren wollen)? Und was hatte es mit diesem ganzen Blut und den Särgen auf sich? Hatten die beiden damit irgendetwas zu tun? Hing vielleicht das ganze Heim mit drin? Schließlich hatte Yuki auf dem Weg hierher weit und breit keine Menschenseele gesehen und nur in diesem Gebäude schien es vor Leben nur so zu wimmeln … Die Brünette schien sich mittlerweile wieder beruhigt zu haben, sie atmete erleichtert aus, senkte den Arm und schenkte der Rothaarigen ein Lächeln. Diese begann nun mit fester Stimme zu sprechen: „Ich dachte nicht, dass du so spät ankommen würdest. Mein Name ist Mitsuru Kirijo. Ich gehöre zu den Schülern die in diesem Wohnheim leben.“ Für eine Oberschülerin hatte ihre Art zu sprechen etwas sehr autoritäres und Yuki kam nicht umhin zu denken, dass man sie besser nicht wütend machte. Auch ihre Kleidung wirkte auf sie bei näherer Betrachtung mehr wie die einer strengen Lehrerin, das Mädchen in der pinken Weste sah ihr schon eher nach einer normalen Highschool Schülerin aus. Sofern man ein Mädchen, dass mitten in der Nacht eine Pistole spazieren führte, normal nennen konnte. Die Brünette wandte sich an das Mädchen namens Mitsuru: „Wer ist sie?“ „Sie ist eine Austauschschülerin. Es war eine Last-Minute Entscheidung, sie hier unterzubringen. Sie wird im Endeffekt einen Raum des normalen Wohnheims beziehen.“ Wie bitte, normal? Was sollte das denn heißen? Wenn das hier normal war, wie stellte sich diese Mitsuru dann erst Merkwürdig vor? Das andere Mädchen machte einen besorgten Eindruck als sie nach kurzem Zögern fragte: „Ist es okay für sie, hier zu sein?“ „Ich denke, das werden wir noch sehen“, Mitsuru wirkte aus irgendeinem Grund amüsiert, als sie das sagte. Yuki gefiel die Art, wie Mitsuru über sie sprach als wäre sie gar nicht anwesend, nicht. Ihre Nerven lagen mittlerweile ziemlich blank und sie wollte nur noch ins Bett und diesen unwirklichen Tag hinter sich lassen. Oder benommen am Bahnsteig aufwachen, was auch immer sich eher einrichten ließ. Unterdessen fuhr Mitsuru ungerührt fort: „Das ist Yukari Takeba. Sie wird eine Elftklässlerin dieses Frühjahr, genau wie du.“ Yukari wandte sich nun direkt an Yuki: „Hi, ich bin Yukari.“ Ha, so lief das also? Erst schießen, dann vorstellen? Na wunderbar, das konnte ja noch heiter werden, Yuki wollte gar nicht wissen, wie Yukari sie morgen grüßen würde .. Vielleicht sollte sie sicherheitshalber aus dem Fenster klettern, um ihr am Morgen nicht allein zu begegnen. Bei der Gelegenheit konnte sie sie eigentlich genauso gut gleich fragen, was das mit der Pistole überhaupt sollte. Yuki atmete noch einmal tief ein und aus ehe sie loslegte: „Wieso hast du eine Waffe?“ „Huh?“ Yukari sah erst sie, dann die Pistole in ihrer Hand erschrocken an als wüsste sie plötzlich nicht mehr, wie sie dorthin gekommen war. Sie wandte den Blick zur Seite als sie stotternd antwortete: „Ah, naja, das ist sowas wie ein Hobby ..“ Wenn dieses „Hobby“ darin bestand, Neuankömmlinge zu Tode zu erschrecken, dann dürfte sie heute Abend ja mächtig viel Spaß gehabt haben, dachte Yuki bei sich und starrte Yukari an, als hätte sie völlig den Verstand verloren. „Naja, nicht ein Hobby, aber ..“, fuhr Yukari nervös fort. Ja, was denn nun? Zufällig war diese Pistole wohl nicht an ihren Oberschenkel geraten. Im Licht der Lampen konnte Yuki nun erkennen, dass das, was sie früher noch für einen Verband gehalten hatte, in Wahrheit ein Waffengurt war. Also entweder Yukari hatte die bewundernswerte Fähigkeit, voll bekleidet und bewaffnet schlafzuwandeln oder sie spielte mitten in der Nacht mit sich selbst heimlich Splinter Cell. Yuki würde sich künftig dafür hüten, des nachts ihr Zimmer zu verlassen und überlegte, ob sie sicherheitshalber einen Stuhl unter die Türklinke klemmen sollte wenn sie schlief. Da mischte sich Mitsuru in die Unterhaltung ein: „Du weißt ja, wie es ist heutzutage … Sie ist zur Selbstverteidigung“, sie lächelte als sie fortfuhr, “Es ist selbstverständlich keine echte Pistole.“ „Es wird langsam spät. Du findest dein Zimmer im dritten Stock, deine Sachen sollten schon dort sein. Ich schlage vor du gehst für heute zu Bett“, beendete Mitsuru das Gespräch und damit schien das Thema fürs Erste erledigt. Yukari lächelte Yuki an und sagte auf einmal ganz fröhlich: „Oh, ich zeig dir den Weg. Folge mir!“ Yuki gab es auf, mit den beiden reden zu wollen, und fügte sich in ihr Schicksal. Auch wenn sie noch so viele Fragen hatte, sie hatte nicht das Gefühl, dass Mitsuru auch nur eine von ihnen beantworten würde. Das, und Yukaris plötzlich aufkeimende Fröhlichkeit, mit der sie wohl die ganze verkorkste Situation zu überspielen versuchte, waren für sie heute Abend nicht mehr tragbar. Sie hob ihre Tasche, die immer noch Boden lag, hoch und trottete Yukari schwerfällig hinterher. Als sie die Treppe erreichte, spürte Yuki ganz deutlich Mitsurus Blick in ihrem Rücken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)