Wie Frühling und Herbst von Memories_of_the_Moon ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Thranduil ließ die Zügel erst wieder etwas lockerer, als er und Aurmîdh die äußersten Grenzen des inneren Reiches passiert hatten. Dass sich auch die dortigen Wachen nicht zeigten, überraschte Thranduil nicht einmal mehr wirklich: An den äußeren Grenzen waren großteils Späher und Beobachter positioniert, die darauf Wert legten, nicht gesehen zu werden. Sie kamen meist nur aus ihren Verstecken, wenn sie dem König etwas zu melden hatten oder wenn jemand das innere Reich betrat, der nicht dort lebte. Wenn aber jemand das Reich verließ, griffen die Wachen nur in Ausnahmefällen ein – wie wenn zum Beispiel ein Gefangener des Königs die Flucht versuchte. Thranduil wusste, dass er längst erkannt worden war, also ritt er einfach weiter. Nachdem sie also im äußeren Reich angekommen waren, überließ es der Elb seinem Pferd, die Richtung zu entscheiden. „Na, mellon nîn? Wohin soll es gehen?“ Der Hengst blieb einen Moment lang stehen. Er schaute sich um und drehte seine Ohren in alle möglichen Richtungen als wolle er herausfinden, welcher Weg denn nun der beste wäre. Dann hob er einen Vorderhuf und ging einfach seiner Nase nach; erst noch etwas unsicher, doch als er merkte, dass Thranduil ihm komplett vertraute, verfiel Aurmîdh zunächst in einen Trab und dann in einen gemächlichen Galopp. Nach einer Weile kamen sie zu einer Lichtung. Thranduil schwang sich vom Pferd und wollte die Lichtung gerade betreten, als er ein Geräusch vernahm: Pferdehufe! Es klang jedoch nicht so, als säßen Reiter auf den Tieren, also bewegte sich der Elb nicht von der Stelle und wartete erst mal ab. Nur wenige Sekunden später stürmte eine Herde Wildpferde auf die Lichtung. Die circa zwei Dutzend Tiere merkten natürlich sofort, dass sie nicht alleine waren und beäugten die beiden Fremdlinge argwöhnisch. Thranduil blieb bewusst ihm Hintergrund, um die Tiere nicht zu erschrecken und sie dadurch womöglich in die Flucht zu treiben. Aurmîdh hingegen war weniger zurückhaltend: Selbstsicher machte er einige Schritte auf seine Artgenossen zu. Eine junge Stute der Herde kam ihm entgegen. Nachdem sie ihn einige Momente lang ausgiebig betrachtet hatte, stupste sie ihn freundlich an. Aurmîdh wieherte vor Begeisterung und schüttelte stürmisch seine Mähne, als wolle er die Stute beeindrucken. Dies genügte offenbar, um ihm auch beim Rest der Herde beliebt zu machen; es sah fast so aus, als wollten sie ihn einladen, bei ihnen zu bleiben. Aurmîdh zögerte. Er wandte sich zum Thranduil um und sah ihn fragend an. Dieser lachte nur. „Komm her, mellon nîn.“ Er nahm seinen Proviant und machte ihn an seinem Gürtel fest. Dann nahm er Aurmîdh den Sattel und das Zaumzeug ab und versteckte es hinter einigen Büschen. „So, mein Freund, jetzt geh und genieße den Tag.“ Der Hengst zögerte noch immer. Thranduil legte seine Hände sanft unter die Schnauze seines Freundes und schmiegte sich an ihn. „Ich komme schon zurecht, mein Freund, mach dir keine Sorgen.“ Aurmîdh stupste seinen Freund leicht an. Thranduil lächelte. „Am Abend bin ich wieder bei dir... Und jetzt geh, mein Großer. Auf, auf in die Freiheit!“ Nachdem er die Lichtung verlassen hatte, schlenderte Thranduil in den Wald hinein. Er hatte kein bestimmtes Ziel im Kopf und beschloss, einfach seinen Instinkten zu folgen. Etwas, das er schon lange nicht mehr gemacht hatte. In seinen Tätigkeiten als Prinz verließ sich der Elb vor allem auf seine Vernunft, seinen Verstand, aber kaum auf seine Gefühle. Das hieß nicht, dass er nichts fühlte, ganz im Gegenteil. Aber er fand, dass man sich auf den Verstand besser verlassen konnte, denn der lieferte beinahe immer einen Ausweg. Gefühle hingegen konnten einen oft in eine Sackgasse bringen, wo es weder ein Vorwärts noch ein Rückwärts gab und diese Situationen mochte Thranduil nicht sonderlich. Er hatte die Lage eben gern im Griff. Der Elb kam an einen kleinen Rinnsal, an dem er innehielt. Er legte sich daneben hin, ins weiche Moos und schloss die Augen. Wie entspannend doch dieses Geräusch war, dieses Plätschern und Fließen. Hörbar atmete Thranduil ein paar Mal aus und ein. Mit jedem Atemzug hatte er das Gefühl, dass mehr Luft in seine Lungen strömte und dass sein ganzer Körper dadurch leichter und leichter wurde. Sein Kopf schien sich zu leeren; als ob all die Gedanken, die Thranduil immerzu beschäftigen, auf einmal verblassen und all die Stimmen verstummen würden. „So also fühlt sich Freiheit an“, dachte der Elb glücklich. Dieser innere Frieden war ihm neu, denn sein Geist war immerzu beschäftigt mit allen möglichen Dingen. Auch wenn man ihm das nach außen hin nicht angemerkt hätte; auf andere wirkte der Prinz stets ruhig und ausgeglichen. Nur seinen Vater konnte er nicht immer täuschen. Auch die Stille genoss Thranduil, die äußere Ruhe. Zwar war es auch daheim im Palast manchmal ganz still, doch es fühlte sich hier im Wald ganz anders an: natürlicher, geborgener, entspannender. Im Palast fühlte er sich abgeschottet von der Außenwelt, hier aber war ihm, als befände er sich im Herzstück der Welt. „Das muss ich öfter tun...“, dachte sich Thranduil, bereits in den Halbschlaf abdriftend. Da überkam ihn auf einmal dieses Gefühl: Etwas stimmte nicht! In voller Alarmbereitschaft war der Elb augenblicklich auf den Beinen und griff nach seinen Waffen. Ein Geräusch kam näher. Schritte. Thranduil legte einen Pfeil an. Kein Elb würde jemals solch laute Schritte verursachen. Doch noch bevor Thranduil weiter überlegen konnte, stand sie auf einmal vor ihm: eine Menschenfrau! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)