Ein einfaches Ende von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami) ================================================================================ Kapitel 17: ------------ Mit einer Zigarette in der Hand sitze ich gedankenversunken in der Küche. Es ist ein seltsames Gefühl, wieder in die Wohnung gezogen zu sein, in der ich jahrelang mit meinem Vater lebte. Auch wenn mir bewusst ist, dass dieser Zustand nur vorübergehend sein wird. Die vielen Erinnerungen an damalige Geschehnisse erwecken sowohl positive als auch negative Gefühle in mir, welche zusätzlich zu meiner vorherrschenden Labilität beitragen. In den letzten Wochen war das Zusammenleben mit meinem Vater alles andere als harmonisch, was, dessen bin ich mir bewusst, ausschließlich an meinem Verhalten lag. Es schwankt stark zwischen Gereiztheit, Ruhelosigkeit und völliger Verzweiflung, in der ich immer wieder selbstzerstörerisch oder suizidal reagiere. Trotzdem drohte mein Vater kein einziges Mal, mich in die Obhut der Klinik zu geben, sondern versuchte mir Halt und Zuversicht zu vermitteln, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich muss mich zusammenreißen, damit ich ihm nicht noch mehr zur Last falle. Der neuerliche Entzug von den Drogen ist, meines Erachtens, das weniger schwierige Problem, vermutlich, weil ich glücklicherweise noch nicht komplett in die Sucht zurückgefallen bin. Schlimmer empfinde ich die Trennung von Taichi, die er wollte, obwohl er mich, laut eigener Aussage, nach wie vor liebt. Ein Besuchsverbot erwirkten seine Eltern auf sein Bitten nicht, allerdings musste ich versprechen, nur auf Taichis ausdrücklichen Wunsch in die Klinik zu kommen und nie gegen seinen Willen zu handeln. Da mir jede Bedingung lieber ist, als meinen Freund gar nicht sehen zu dürfen, stimmte ich selbstverständlich sofort zu. Bisher kontaktierte er mich kein einziges Mal. „Yamato“, reißt mein Vater mich aus meinen Gedanken. Ich hatte nicht mitbekommen, dass er von der Arbeit zurück ist. „Deine Zigarette.“ Er deutet auf die Asche, die jeden Moment auf die Tischplatte zu fallen droht. „Oh, entschuldige. Danke.“ „Ist alles in Ordnung? Du hast mich überhaupt nicht wahrgenommen, oder?“ „Nein... also...“, beginne ich, ohne den Satz zu beenden. „Wie geht es deiner Hand?“ Ich senke den Blick und betrachte den Verband. Gestern Abend überwältigte mich einmal mehr der Drang nach Selbstzerstörung, weshalb ich erst meinen Arm mit einer Rasierklinge zerschnitt und anschließend meine ohnehin schon verletzte Hand wie im Wahn gegen die Fliesen im Bad schlug. Das Ergebnis waren blutige Fingerknöchel und eine stark Prellung. „Warst du heute beim Arzt?“ „Ja. Die Heilung wird eine Weile dauern. Und...“ Seufzend drücke ich die Zigarette im Aschenbecher aus. „Gitarre kann ich erst einmal nicht spielen.“ „Das war abzusehen, so, wie die Hand aussieht. Hast du deine Bandkollegen informiert?“ „Nein. Aber heute Nachmittag haben wir Bandprobe. Irgendwie werde ich es ihnen da beibringen müssen.“ Mit einem traurigen Gesichtsausdruck mustert mein Vater meinen verletzten Arm. Er setzt sich zu mir an den Tisch und entzündet eine Zigarette. „Yamato, ist dir die Musik eigentlich noch wichtig? Bedeutet sie dir noch irgendetwas?“ „Papa...“ Ich weiche seinem Blick aus und schaue stattdessen auf den beinahe überquellenden Aschenbecher. „Schon... nur... momentan ist alles so bedeutungslos.“ Tränen brennen in meiner Kehle, die ich mühsam hinunterschlucke. „Ich war heute bei Taichi im Krankenhaus“, lenkt mein Gegenüber das Gesprächsthema auf meinen Freund, vermutlich, weil er die Bedeutung meiner Worte, meine Anspielung verstanden hat. „Wie geht es ihm?“, frage ich versucht gelassen, obwohl es wehtut, zu wissen, dass Tai meinen Vater sehen möchte, während er meine Gegenwart offenbar nicht erträgt. „Den Umständen entsprechend gut, würde ich sagen. Er möchte dich sehen, Yamato.“ Hoffnungsvoll schaue ich meinen Gegenüber an. „Allerdings erst, wenn du nicht mehr so labil wie im Augenblick bist.“ Enttäuscht senke ich meinen Blick wieder und starre auf die Tischplatte. „Verstehe. Ich muss mich wohl mehr anstrengen.“ „Yamato, wenn du dich zu sehr unter Druck setzt, erreichst du lediglich das Gegenteil. In erster Linie solltest du für dich etwas ändern wollen.“ „Das will ich doch!“ „Tut mir leid, das sehe ich anders. Du selbst bist dir ziemlich egal. Und solange das der Fall ist, wird deine Labilität fortbestehen, weil du ständig zwischen deinem Selbsthass und deiner Liebe zu Taichi hin- und hergerissen bist.“ „Deiner Meinung nach soll ich mich also wieder in Therapie begeben, oder?“ Meine Resignation ist in meiner Stimme deutlich zu hören. „Ehrlich gesagt bin ich mir nicht mehr sicher, ob derartige Maßnahmen dir wirklich helfen. Die Vergangenheit zeigt, dass du nicht besonders empfänglich dafür bist.“ Mein Vater nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette. „Ich fürchte, letztlich musst du allein etwas finden, womit du den Kreislauf durchbrechen kannst.“ „Versuche ich das nicht seit Jahren?“, entgegne ich verbittert. „Nur halbherzig, wenn du ehrlich bist.“ Ich atme hörbar aus. „Ich muss es schaffen. Und zwar bald, hab ich recht?“ Als ich die Klinke nach unten drücke, merke ich, dass die Tür noch verschlossen ist. Offenbar bin ich ausnahmsweise der Erste, der zur Probe erscheint. Aus meiner Tasche krame ich den Schlüssel und drehe ihn im Schloss bis zum Anschlag. Beim Betreten des Raumes betätige ich den Lichtschalter, da es aufgrund der heruntergelassenen Rollläden ansonsten zu dunkel wäre. Nachdenklich schaue ich mich um. Die Frage meines Vaters kreist nach wie vor in meinem Kopf. Bedeutet beziehungsweise gibt mir die Musik noch etwas? Ich gehe zu Masaos Keyboard und drücke wahllos ein paar Tasten. Dann schließe ich die Augen und atme tief ein, als ich plötzlich von der sich öffnenden Tür und mir bekannten Stimmen aus meinen Gedanken geholt werde. „Yamato?“ Kozue schaut mich erstaunt an. „Du bist schon da?“ „Stimmt, das ist selten“, pflichtet Naoki ihr bei, stellt seinen Rucksack auf dem Tisch ab und entzündet eine Zigarette. Danach hält er unserer Schlagzeugerin die Schachtel entgegen, die allerdings mit einem Lächeln ablehnt. „Willst du aufhören?“, reagiert dieser verwundert. „Nein, aber ich bin nicht so abhängig wie du“, scherzt sie und stößt Naoki neckend in die Seite. Als Kozue allerdings wieder zu mir schaut, verändert sich ihre Miene und sie betrachtet ernst den Verband an meinem Arm. „Ist deine Verletzung doch schlimmer?“ „Also...“, verunsichert muss ich feststellen, dass ich mir keine plausible Erklärung für meine Bandkollegen habe einfallen lassen. Glücklicherweise lenkt Masao mit seinem Erscheinen die Aufmerksamkeit der Anderen von mir auf sich. Zumindest vorerst. „Bin ich zu spät?“, fragt er etwas verwirrt, da er normalerweise nicht als Letzter eintrifft. „Das nicht, aber... wir haben ein Problem“, meint Kozue. Unser Keyboarder erkennt die Situation sofort. „Verstehe. Leider befürchtete ich einen derartigen Verlauf.“ Der leicht vorwurfsvolle Ton in Masaos Stimme entgeht mir nicht, weshalb ich seinem Blick ausweiche. „Habt ihr Yamato schon von unserem Gig erzählt?“ „Nein, wir sind selbst noch nicht lange da, sodass sich keine Gelegenheit bot“, erklärt Naoki. „Ein Gig?“, hake ich sofort nach. „Ja, für das kommende Wochenende erhielten wir kurzfristig das Angebot, eine Band, die absagen musste, als Vorgruppe bei einen Konzert zu vertreten. Wenn du aufgrund deiner Verletzung jedoch nicht spielen kannst...“ „Vergiss es“, wird Naoki von Masao ungewohnt resolut unterbrochen. „Deswegen werden wir diese Chance nicht vergeben. Die Bassgitarre kann doch auch ein Anderer übernehmen.“ Unser Keyboarder wirkt entschlossen. „Yamato, es tut mir leid und ich hoffe, du bist mir nicht böse oder verstehst das falsch... als die Anfrage bezüglich des Auftritts kam, sprach ich mit einem Freund, der notfalls für dich einspringen würde. Er ist etwas... jünger, aber sein Bassspiel ist wirklich gut.“ „Ich bin dafür“, verkündet Kozue sofort. „Die Alternative ist für mich ebenfalls nicht akzeptabel und das Alter spielt meiner Meinung nach keine Rolle, solange die Liebe zur Musik und die richtige Einstellung vorhanden sind, oder Jungs?“, richtet sie sich nun an Naoki und mich. Naoki pflichtet ihr mit einem Nicken bei. Ich hingegen bin skeptisch, verzichte aber darauf, Einwände zu äußern, da ich diese Situation durch mein Verhalten letztlich selbst verschuldete und zudem persönliche Gefühle meinen Instrumentenpart betreffend nicht ausschließen kann. „Yamato?“, hakt unsere Schlagzeugerin nach. „Bist du ebenfalls einverstanden?“ „Ja.“ Bewusst halte ich meine Antwort knapp und in neutralem Ton. „Dann rufe ich ihn gleich an und frage, ob er zur Probe kommen kann. Immerhin bleibt uns kaum Zeit.“ Mit gemischten Gefühlen schaue ich Masao nach, der zum Telefonieren den Raum verlässt. Nun entzünde auch ich mir eine Zigarette und nehme einen tiefen Zug, um meine aufkommende, innere Unruhe zu bekämpfen. Ich spüre, dass ich von Kozue und Naoki beobachtet werde, reagiere jedoch nicht auf sie. Nach einigen Minuten kommt unser Keyboarder mit einem Lächeln auf den Lippen zurück. „Er ist gerade mit einem Freund in Akihabara, macht sich aber sofort auf den Weg. Da er in Kanda wohnt, kann er sogar seine eigene Gitarre gleich mitbringen.“ „Großartig“, rutscht es mir genervt heraus. „Was ist los, Yamato? Bist du plötzlich doch dagegen?“ An Kozues Art zu fragen erkenne ich, dass sie genau weiß, dass ich von Anfang an nicht begeistert war. „Nein. Lasst uns die Zeit nutzen.“ Mit der Zigarette zwischen den Lippen krame ich einen Zettel aus meiner Tasche und lege ihn auf den Tisch. „Der Song, an dem ich arbeitete, ist fertig.“ Noch bevor ein normaler Mensch reagieren kann, greift Kozue nach meinen Notizen und begutachtet diese eingehend. Nach einer Weile schaut sie uns mit leuchtenden Augen an. „Prima, das können wir für den Auftritt gleich mit einstudieren.“ „Wird das nicht zu knapp?“, wendet Masao skeptisch ein. „Ich denke, es ist machbar. Beim ersten Überblicken scheinen größere Änderungen bei Text und Melodie nicht nötig. Lasst es uns einmal komplett durchspielen, um zu hören, wie es in der Rohfassung klingt, und dann entscheiden, okay? Aber wenn das Lied in der Realität auch nur annährend mit der Version in meinem Kopf, die sich anhand der Noten formte, übereinstimmt, möchte ich es spielen. Bitte!“ „Nach all der Zeit unseres Bandbestehens müsstet ihr doch eigentlich wissen, dass, wenn Kozue sich etwas in den Kopf setzt, wir keinerlei Mitspracherecht mehr haben und die Sache längst entschieden ist“, lacht Naoki. „Stimmt. Also, ich schlage vor, wir fangen auch ohne den Bass an, damit wir bereits ein Gefühl für den Song entwickeln und gegebenenfalls Verbesserungen beziehungsweise Anpassungen vornehmen können.“ Naoki und Masao verschaffen sich zunächst einen ersten Eindruck, indem sie einen Blick auf meine Notizen werfen und geben schließlich ihre Zustimmung. Nach einigen Durchläufen, als Kozue gerade ein paar kleine Korrekturen für die Drums vornimmt, wird unsere Probe durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Masao öffnet seinem Freund und begrüßt ihn mit einem Handschlag, bevor er ihn uns vorstellt. „Das ist Furudate Itaru. Ich lernte ihn an der Yoyogi Animation Gakuin kennen, als ich vor einiger Zeit einen Kurs besuchte, an dem auch er teilnahm.“ „Freut mich, euch kennen zu lernen“, begrüßt dieser uns mit einem Grinsen, allerdings sehr höflich und mit einer tieferen Verbeugung als nötig. Mit dem Alter wählte Masao eindeutig die harmlosere Vorwarnung. Bei der Erwähnung von Akihabara wuchsen in mir bereits Befürchtungen, aber ich wollte mich nicht von Vorurteilen leiten lassen. Im Fall von diesem Itaru trifft das Bild eines Otaku jedoch voll zu. Er trägt eine pinkfarbene Bondagehose mit weißen Totenkopfapplikationen, ein schwarzes Shirt mit Animeaufdruck und eine schwarz-pinkfarbene Plüschjacke, an deren Kapuze sich Katzenohren befinden. „Hallo, ich bin Yoshimura Kozue. Schlagzeugerin von ‚So easy’. Kozue reicht.“ „Ich heiße Tsuda Naoki, also Naoki, und spiele E-Gitarre. Freut mich ebenfalls.“ Stille kehrt ein und alle Augen sind plötzlich auf mich gerichtet. Seufzend drücke ich meine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ishida Yamato. Gesang und Bassgitarre.“ Absichtlich lege ich eine besondere Betonung auf das letzte Wort, um Furudate seine Position von Anfang an zu verdeutlichen. Es ist dunkel im Zimmer. Ich sitze am Fenster und schaue hinaus. Die Bandprobe verlief im Weiteren ohne Probleme und ich muss zugeben, dass Itaru den Bass sowie meine Parts erstaunlich gut spielte. Sein Stil, zumindest die Musik betreffend, passt zu ‚So easy’. Erneut drängt die Frage meines Vaters in mein Bewusstsein. Was bedeutet mir die Musik noch? Dabei scheint es für mich derzeit keine Antwort zu geben. Schwermütig senke ich den Blick, betrachte das kleine Fläschchen in meiner Hand, welches ich meinem Vater letztlich nicht aushändigen konnte. Zwar schaffte ich es, in den vergangenen Wochen trotzdem drogenfrei zu bleiben, gegen das Verlangen musste ich dennoch permanent ankämpfen. Einzig der Gedanke an Taichi, die Angst, ihn zu verlieren, hielt mich von einem neuerlichen Konsum ab. Allerdings wird diese Angst allmählich übermächtig, sodass es mir immer schwerer fällt, Kraft daraus zu ziehen. Im Gegenteil, ich stürze emotional immer mehr ab und verliere das Bewusstsein dafür, dass ein Rückfall kontraproduktiv wäre, alles komplett und endgültig zerstören könnte. Nachdenklich drehe ich die kleine Flasche in meiner Hand. Ich weiß, dass ich meinen Vater um Hilfe bitten sollte, aber falls er Taichi davon in Kenntnis setzt, dass ich nach wie vor an den Drogen festhalte, selbst wenn ich keine konsumiere, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass er mich erst recht nicht sehen will. Ein Klopfen an der Tür beendet meine Gedanken vorerst. Rasch verstaue ich das GHB in meiner Hosentasche, bevor sich die Tür zu meinem Zimmer öffnet und mein Vater hereinschaut. Er betätigt den Lichtschalter. Reflexartig kneife ich meine Augen zusammen, die sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt hatten. „Ist alles in Ordnung?“ Ich wende mich von ihm ab, schaue erneut aus dem Fenster und nicke stumm. Schritte sind zu hören, die mir bedeuten, dass mein Vater sich in meine Richtung bewegt. Er kniet sich neben mich und streicht sanft durch meine Haare. Meine Sicht ist bereits von Tränen verschwommen, die sich nun ihren Weg über meine Wangen bahnen. „Ist etwas passiert?“, fragt mein Vater besorgt. „Papa... ich... ich weiß es nicht.“ Behutsam nimmt er mich in den Arm, was zur Folge hat, dass ich hemmungslos zu weinen beginne. „Nimmst du deine Medikamente wie verordnet?“ Ich nicke. „Mit Sicherheit trägt die derzeitige Situation zur Verschlechterung deiner Depressionen maßgeblich bei, aber vielleicht sollte man auch über eine Umstellung, also einen Wechsel des Antidepressivums nachdenken. Sprich bei deinem nächsten Termin bitte mit deinem Psychiater darüber, okay?“ Ich presse mich enger an meinen Vater, atme seinen Duft, der beruhigend auf mich wirkt, tief ein. „Ich glaube nicht, dass derartige Maßnahmen nötig beziehungsweise sinnvoll sind. Momentan ist einfach alles ...ein bisschen schwierig. Vor allem... vermisse ich Taichi.“ Meine Stimme zittert hörbar. „Ich weiß.“ Für eine Weile herrscht Stille und ich genieße die Nähe zu meinem Vater. „Am Wochenende haben wir einen Auftritt“, meine ich schließlich, um das Thema auf etwas anderes zu lenken. „Das ist doch eine gute Nachricht“, freut sich mein Vater aufrichtig. „Aber mit deiner Hand kannst du nicht spielen.“ „Nein. Ein Freund von Masao wird die Bassgitarre übernehmen, solange ich verletzungsbedingt ausfalle.“ „An sich eine gute Lösung, aber du klingst wenig begeistert.“ „Naja, der Neue ist... ein wenig... speziell. Allerdings muss ich ja nur vorübergehend mit ihm auskommen.“ Emotionslos betrachte ich die Person im Spiegel. Die Haare hängen strähnig ins Gesicht, von deren Spitzen das verbliebene Duschwasser auf die blasse Haut tropft. Zwar sehe ich den knochigen Körperbau, empfinde ihn aber nicht als solchen. Dennoch senke ich angewidert den Kopf und mein Blick fällt auf den verbundenen Arm. Ein, zwei Schnitte durch die Haut würden unter dem Verband nicht auffallen, zumal die letzten Wunden noch nicht verheilt sind. Vorsichtig löse ich ihn. Der hinteren Ecke eines Schubfachs entnehme ich eine Rasierklinge und setze mich damit auf die kühlen Fliesen. Langsam, mit mäßigem Druck ziehe ich die Schneide durch mein Fleisch. Blut quillt aus der Wunde, tropft von meinem Arm zu Boden. Ich schließe meine Augen, um den angenehmen Schmerz intensiver spüren zu können. Es reicht nicht. Ich schneide tiefer. Die Wunde klafft weiter auseinander, doch der Schmerz ist nur unwesentlich stärker. Verzweifelt lasse ich die Klinge fallen. Es bringt nichts. Tränen trüben meine Sicht, laufen meine Wangen hinab. „Taichi“, hauche ich mit brüchiger Stimme. „Ich will dich sehen... bitte... du fehlst mir so sehr.“ Schluchzend sinke ich in mich zusammen, ergebe mich meinem Selbstmitleid. Ich sollte endlich begreifen, dass die Beziehung zu Taichi nicht zu retten ist. Dass ich ihn endgültig verloren habe. Erneut fällt mein Blick auf die Rasierklinge, dann auf den inzwischen blutverkrusteten Schnitt. Längs gleite ich mit dem kleinen Stück Metall jeweils über die Handgelenkinnenseiten. Ich muss nur zwei Mal tief genug schneiden, um all dem ein Ende zu setzen. Ein Gedanke, der in letzter Zeit nicht nur immer häufiger mein Denken einnimmt, sondern bereits zum Drang wird. Ich fühle mich einsam ohne Taichi, doch daran wird mein derzeitiges Verhalten nichts ändern. Ich verstaue die gereinigte Rasierklinge wieder im Schubfach und wische mein Blut von den Fliesen. Dann presse ich einen feuchten Waschlappen auf die frische Wunde, öffne die Tür und verlasse das Bad. Im Wohnzimmer sitzt mein Vater auf dem Sofa. Der Fernseher ist eingeschaltet. „Papa.“ Der Angesprochene wendet sich mir mit müdem Blick zu, seine Mimik wechselt allerdings, als er meine blutige Hand sieht, die einen inzwischen rotgetränkten Lappen auf meinen linken Unterarm presst. „Yamato, hast du dir wieder...“ „Es tut mir leid.“ Meine Stimme zittert. Ich fühle mich wie ein ungehorsames Kind. Ohne es zu wollen laufen erneut Tränen über mein Gesicht, die ich beschämt wegwische. „Schon gut.“ Mein Vater erhebt sich und kommt auf mich zu. „Lass mich deine Verletzungen anschauen.“ Vorsichtig entfernt er den feuchten Stoff. „ Meiner Ansicht nach muss der Schnitt genäht werden, aber diese Ansicht wirst du nicht teilen, hab ich recht?“ „So schlimm ist es nicht“, bringe ich kleinlaut hervor. Ich wende den Kopf zur Seite, da ich meinen Gegenüber nicht in die Augen schauen kann. Dieser seufzt nachgiebig. „Also gut. Gehen wir ins Bad, ich desinfiziere und verbinde deinen Arm.“ Dort angekommen setze ich mich auf den Wannenrand und beobachte meinen Vater schweigend, während er die Wunde behandelt. „Wirst du Taichi davon erzählen“, frage ich anschließend in die Stille. Mein Gegenüber schaut mich ernst an. „Möchtest du, dass ich ihm verschweige, wie es seinem Freund tatsächlich geht?“ Ich blicke betreten zu Boden. „Dann wird Tai mich erst recht nicht sehen wollen“, entgegne ich leise und mehr zu mir selbst. „Warst du dir dessen nicht bewusst, als du zur Rasierklinge gegriffen hast?“ Ein vorwurfsvoller Unterton schwingt in der Stimme meines Vaters mit. „Ich...“ „Du vermisst Taichi sehr, nicht wahr?“ Nicht in der Lage, ein Wort hervorzubringen, nicke ich lediglich verhalten. „Glaubst du, auf selbstverletzendes Verhalten verzichten zu können, wenn er die Nähe zu dir wieder zuließe?“ „Ich weiß es nicht“, flüstere ich unsicher. Seufzend streicht mein Vater durch meine Haare. „Morgen wollte ich ihn ohnehin in der Klinik besuchen. Ich spreche noch einmal mit ihm darüber, aber ich werde ihn nicht überreden, wenn er dich wirklich nicht sehen möchte.“ „Danke.“ Zaghaft hebe ich meine unversehrte Hand und lege sie auf die Wange meines Gegenübers. Ich beuge mich vor, halte jedoch kurz vor seinem Gesicht inne. Sein Atem berührt meine Haut, streift sanft darüber, während mein Herz schmerzhaft gegen meinen Brustkorb schlägt. Die Gefühle für meinen Vater schnüren mir die Kehle zu. Hastig erhebe ich mich und gehe zur Tür. „Ich hab dich sehr lieb... Papa“, hauche ich mit einem verkrampften Lächeln, bevor ich den Raum verlasse, um in mein Zimmer zu gehen. Etwas außer Atem trete ich von dem Mikrofon zurück und lasse meine Hand sinken. Unweit hinter mir auf der Bühne, vor den Drums von Kozue, liegt mein Handtuch, mit welchem ich mir den Schweiß vom Gesicht tupfe. Anschließend nehme ich einige Schlucke aus meiner Wasserflasche. Die Halle scheint nahezu ausverkauft und das Publikum hat uns gut angenommen, obwohl die meisten vermutlich eher wegen der Hauptband gekommen sind. „Läuft doch gut.“ Kozue zwinkert mir zu. Trotz gemischter Gefühle muss ich zugeben, dass Itaru meine Parts problemlos spielt. Bisher zumindest leistete er sich keinen Fehler. Ich schenke unserer Schlagzeugerin ein knappes Lächeln, dann wende ich mich wieder dem Publikum zu. Gerade als ich das nächste Lied ankündigen möchte, entdecke ich meinen Vater. Neben ihm steht Taichi. Bei seinem Anblick beginnt mein Herz schneller zu schlagen und ich spüre Nervosität in mir aufsteigen. Zwar freue ich mich, dass er den neuen Song hören wird, aber da der Text hauptsächlich seinetwegen entstand und sich ebenso an ihn richtet, empfinde ich gleichermaßen Scham. Obwohl meine Lieder schon häufiger ihre Inspiration durch meinen Freund fanden, sind die gegebenen Umstände doch anders als bisher. Zumal der Inhalt dieses Liedes abgesehen von Ehrlichkeit nicht viel Positives beinhaltet. Erkenntnis, Machtlosigkeit, sowie das Unvermögen des Loslassens beziehungsweise das freiwillige Festhalten und das Hin- und Hergerissen sein... keine Themen, die meinen Freund überzeugen könnten, zu mir zurückzukommen. Ich streiche leicht über den Verband an meinem Arm, um mich kurz des Schmerzes zu vergewissern, dann lege ich meine Hände an das Mikrofon und schließe meine Augen. Hey Liebling, der Wind, der dich umhüllt Welches Schauspiel würde er dir schaffen Diese bedeutungslosen Leichen auf dunstigem Asphalt Hey Liebling, den gefallenen Süßigkeiten auf der Straße Welche Art von Gebet würdest du darbieten Ah, selbst wenn Gefühllosigkeit um sich greift Morgen, erhellt vom Licht der Vernunft, Sähe ich dennoch dich Ich suche den Blick meines Freundes. Seine Aufmerksamkeit scheint ganz mir zu gehören. Seine Mimik jedoch besitzt keinerlei Ausdruck. Es ist mir nicht möglich zu erkennen, was er gerade denkt, geschweige denn fühlt. Mein Griff um das Mikrofon festigt sich. Lebewohl, Impuls der Verderbtheit Sowie meine Überzeugungen, welche auf tragische Weise zerbrachen In diesem Fall, sollte ich an der Seite der Schwermut bleiben Werden mich die schneidend klaren Trugbilder zu sich locken Nur ein im Winkel verbleibender Duft weht herüber Mehr als zuvor möchte ich Taichi auf diesem Weg mein Innerstes mitteilen, besonders weil es momentan die einzige Möglichkeit darstellt, die ich habe. Ich lege alle Emotionen, die ich zu empfinden in der Lage bin, in meine Stimme. Ich glaube, selbst wenn der Weg, auf dem ich laufe, sich verliert Noch zu sehen ist die Zirkustruppe Und der reisende Traum, der mich im Arm hält, immer wenn ich schlafe Ich glaube, ich weiß, es gibt eine Grenze Trotzdem lehne ich mich weiter vor Ohne die tiefsten Tiefen zu kennen Verlangend Liebe und Hass gleichzurichten Der instrumentale Part beginnt, von dem ich mich tragen lasse. Ich schließe meine Augen, wippe im Takt der Gitarren und lege meinen Kopf in den Nacken, um die Musik letztlich ganz in mich aufzunehmen. Eingehüllt in die Melancholie des Liedes greife ich nach dem Mikrofonständer. Mein Blick verläuft sich im grellen Licht der Scheinwerfer. Lebewohl, Impuls der Verderbtheit Sowie meine Überzeugungen, welche auf tragische Weise zerbrachen In diesem Fall, sollte ich an der Seite der Schwermut bleiben Werden mich die schneidend klaren Trugbilder zu sich locken Nur ein im Winkel verbleibender Duft weht herüber Noch einmal reißen mich die Instrumente mit ihrem Rhythmus mit. Schweiß perlt von meiner Stirn und mein Körper scheint von Innen heraus zu verglühen. Unbewusst werfe ich Naoki einen kurzen Blick zu, der links neben mir steht und die Background Vocals singt. Dann nehme ich außer der Musik nichts mehr wahr. Meine Finger gleiten leicht über das Metall des Mikrofonständers. Erneut schließe ich meine Augen. Ich erinnere mich noch An den Impuls der Verderbtheit, der verloren ging Selbst mit den endlosen Lebewohlbekundungen Ich werde mir nicht vergeben Ich werde mir nicht vergeben Ich werde mir nicht vergeben Zeit erfüllt von Finsternis Jeder Tag intensiv Zerfallend flüchtig Der Impuls der Verderbtheit Noch immer in meiner Brust schlägt Mit den letzten, verklingenden Tönen legt sich Dunkelheit über den Saal. Ich bleibe regungslos, als der Applaus einsetzt und der Raum durch vereinzelte Scheinwerfer wieder ein wenig erhellt wird. Suchend schaue ich mich um, doch ich kann weder Taichi noch meinen Vater in der Menge ausmachen. Ich habe das Gefühl, von der Schwermut erdrückt zu werden. Wie in Trance bringe ich den Rest des Konzertes hinter mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)