Ein einfaches Ende von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami) ================================================================================ Kapitel 15: ------------ Völlig außer Atem öffne ich die Tür zum Proberaum. „Entschuldigt meine Verspätung“, keuche ich. Meine Bandkollegen halten in ihrem Tun inne und sehen mich verwundert an. „Yamato?“, fragt Kozue, schaut kurz zu Masao und richtet ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf mich. „Geht es dir besser? Masao erzählte uns, du seist krank“, erklärt Naoki seine und Kozues verwunderte Reaktion. Behutsam stellt er die Gitarre ab. „Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht, aber Masao meinte, dass ein Besuch nicht angebracht wäre.“ Kozue wirft unserem Keyboarder einen unzufriedenen Blick zu. „Warum wollte er uns allerdings nicht sagen.“ „Weil es Yamatos Privatleben betrifft“, rechtfertigt dieser sein Abraten mit ernstem Gesichtsausdruck, während er mich mit seinen Augen fixiert. „Hast du die Gitarre wegen der Verletzung an deiner Hand nicht dabei?“, fragt er ein wenig argwöhnisch, aber zugleich betroffen. „Was?“, entgegne ich unsicher. Masaos Beobachtungsgabe und die Achtsamkeit, die er mir zukommen lässt, beeindrucken und verwirren mich immer wieder. „Du bist verletzt? Wie ist das passiert?“, hinterfragt unsere Schlagzeugerin sofort, verlässt ihren Platz an den Drums und eilt auf mich zu. Ich versuche sie zu beruhigen, indem ich abwinke und ein Lächeln aufsetze. „So schlimm ist es nicht. Vermutlich nur eine Prellung. Bis zur nächsten Probe kann ich wieder spielen.“ Diese Information muss ihr genügen, denn auf ihre Frage wird sie von mir keine Antwort erhalten. „Vermutlich?“, hakt nun Naoki nach. „Warst du nicht beim Arzt?“ Einen Moment lang betrachtet Kozue meine verletzte Hand, dann geht sie zum Tisch und entzündet eine Zigarette, bevor sie sich erneut auf das Gespräch konzentriert. „Ich sagte doch, dass es nicht schlimm ist. Zudem schreibe ich gerade an einem Song, der noch nicht ganz fertig ist. Und singen kann ich schließlich auch ohne Gitarre.“ Eigentlich müsste es mir gelingen, durch diese Aussage das Thema zu wechseln, denn vor allem Kozue ist immer sehr euphorisch, wenn es darum geht, einen neuen Song einüben zu dürfen. „Ein neues Lied?“, will sie sogleich ganz aufgeregt wissen. „Handelt es sich dabei um das Lied, an dem du zuletzt gearbeitet hast?“ Masao schaut mich fragend an. Kurz muss ich überlegen. Meint er das Lied, welches ich ihm bei mir zu Hause vorsang? „Das habe ich verworfen.“ „Warum?“ „Ein Song, den Masao kennt und ich nicht?“, mischt sich Kozue, nachdem sie einen tiefen Zug von ihrer Zigarette nahm, in die Unterhaltung. „Das ist unfair!“ „Ich weiß es nicht“, übergehe ich sie und antworte auf die Frage unseres Keyboarders. „Beim Singen fühlt es sich irgendwie unangenehm an.“ „Okay. Das verstehe ich.“ „Hallo! Schließt Naoki und mich gefälligst nicht aus. Sag doch auch mal was!“, richtet sich Kozue schmollend an ihren Kindheitsfreund, der sich an dieser Unterhaltung bisher ohnehin kaum beteiligte und gerade dabei ist, sich ebenfalls eine Zigarette anzuzünden. „Wozu?“ Er zuckt gleichmütig mit den Schultern. „Wenn Yamato das Lied sowieso nicht singen wird, ist es für uns irrelevant.“ Genervt lässt Kozue den Rauch aus ihrem Mund entweichen. „War klar, dass du wieder neutral bleibst. Manchmal hasse ich dich dafür.“ Naoki lacht. „Ich weiß.“ „Auch wenn du den Song verworfen hast, die Ausarbeitungen hast du mit Sicherheit trotzdem dabei, oder?“ Auf Masaos Frage antworte ich lediglich mit einem Nicken. „Lass die beiden doch einen Blick darauf werfen. Selbst wenn du das Material nicht verwenden willst. Ich möchte nämlich deren Meinung dazu hören. Ist das okay für dich?“ Wieder nicke ich nur. Dann krame ich die Notizen hervor und reiche sie Kozue. „Gehen wir in der Zwischenzeit schnell zum Konbini? Momentan haben wir, abgesehen von Kaffee, keine Getränke hier.“ Eigentlich würde ich es gern vermeiden jetzt mit unserem Keyboarder allein zu sein. Trotzdem folge ich ihm nach draußen. Zunächst laufen wir schweigend nebeneinander. „Okay, was ist los?“, unterbreche ich die Stille zwischen uns schließlich. „Du hast doch absichtlich dafür gesorgt, dass wir beide allein sind.“ „Ich mache mir Sorgen um dich. Die Verletzung an deiner Hand hast du dir selbst und absichtlich zugefügt, oder?“ Statt meine Behauptung abzustreiten, kommt er direkt zum Thema. Ich beschließe, ihm ebenso offen zu antworten. „Diese Erkenntnis wird dich doch nicht überraschen?“ „Nein. Aber die Tatsache, dass dein Selbsthass mittlerweile auch die Musik beeinträchtigt, beunruhigt mich. Es scheint, als würdest du dir, bewusst oder unbewusst, ein wichtiges Ventil verwehren.“ „Du klingst wie mein Vater“, entgegne ich missbilligend. Dabei schaue ich ihn nicht an, sondern weiter stur geradeaus. „Gut, denn das bestätigt mein Gefühl. Offenbar liege ich nicht völlig falsch.“ Ich schweige und betrete den soeben erreichten Konbini. Zielstrebig gehe ich in die Richtung der Getränke, ohne darauf zu achten, ob Masao mir folgt. Aus dem Kühlregal nehme ich eine Packung Ice Tea Lemon sowie eine große Flasche Black Coffee. Manchmal trinke ich diesen Kaffee lieber als frisch gebrühten Kaffee. „Pocky?“, höre ich Masao fragen. Als ich zu ihm schaue, zeigt er mit einem Lächeln auf eine Packung in seiner Hand. „Hmm, aber Erdbeere mag ich nicht so sehr. Matcha?“ „Die mag Naoki nicht. Nehmen wir einfach beide. Schlecht werden sie sicher nicht. Ansonsten noch zwei Flaschen des gekühlten Grüntees. Und vielleicht noch eine Flasche gesüßten Kaffee?“ Ich nicke. „Haben wir dann alles?“ „Wir könnten nach der Probe mal wieder ein Bier zusammen trinken? Das letzte Mal ist lange her. Drei oder vier Dosen?“, will Masao wissen, da ich meistens ablehne. „Drei“, antworte ich auch dieses Mal. In erster Linie aus Rücksicht auf Taichi, aber auch, weil ich dem Geschmack von Alkohol nicht viel abgewinnen kann. Ich beschränkte mich lediglich auf den Mischkonsum mit Kokain, welcher durch die erneute Trennung von Shinya allerdings nur noch selten vorkommen wird. An der Kasse kommt zu dem Einkauf noch eine Schachtel Zigaretten hinzu, dann bezahle ich und wir verlassen den Konbini. Auf dem Rückweg laufen wir, wie auf dem Hinweg, schweigend nebeneinander. Kurz vor dem Proberaum bleibt Masao plötzlich stehen. Er sieht mich nicht an, sondern zu Boden. „Verstehe mich bitte nicht falsch, Yamato. Ich möchte mich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber ich habe Angst, dass du an dem gleichen Punkt angelangst, an dem sich Akito zuletzt befand. Mit der gleichen Konsequenz.“ „Aus irgendeinem Grund scheine ich dir wichtig zu sein. Warum? Sicher, wir spielen in derselben Band, aber...“ „Du bist ein Freund für mich. Ist es da nicht normal, dass ich so für dich empfinde? Aber du fühlst anders, hab ich recht?“ Masao klingt traurig. „Ich... weiß es nicht“, gebe ich unsicher zurück und wende mich ab, um das letzte Stück des Weges zu gehen, aber vor allem, um der unangenehmen Situation zu entkommen. Unser Keyboarder hindert mich jedoch daran, indem er mich am Handgelenk festhält und wieder zu sich dreht. „Yamato, wovor läufst du weg? Wovor hast du Angst? Vor meinen Gefühlen? Oder eher vor deinen eigenen? In deiner zwischenmenschlichen Unbeholfenheit erinnerst du mich wirklich stark an Akito.“ „Hör auf, Masao. Ich möchte jetzt weder über Akito noch über mich sprechen. Außerdem geht es hier weniger um deine Gefühle für mich, sondern viel eher um die Gefühle, die du für Akito empfunden hast, nicht wahr? Bei ihm fühltest du dich hilflos, machtlos, du wolltest ihm helfen und konntest es nicht. Weil du selbst ein Kind warst. Weil er sich nicht helfen lassen wollte, oder vielmehr konnte. Aber ich bin nicht Akito. Deine Schuldgefühle ihm gegenüber kannst du durch mich nicht kompensieren.“ Obwohl Akito sich vor inzwischen sieben Jahren das Leben nahm, fällt es mir noch heute schwer, diese Tatsache zu akzeptieren und darüber zu sprechen. Es tut noch immer unglaublich weh, daran denken zu müssen, vor allem, da auch ich mir Vorwürfe mache. Ich bemerkte sein seltsames Verhalten am Abend zuvor. Würde er noch leben, wenn ich ihn nicht hätte nach Hause gehen lassen? Wenn ich nicht bis zum nächsten Tag gewartet hätte? Wenn... Tränen füllen meine Augen. Wenn ich Taichi nicht mehr geliebt hätte? „Denkst du so, Yamato?“ Masaos Worte holen mich aus meinen Gedanken. Als ich ihn anblicke, verrät mir sein Gesichtsausdruck, dass meine Aussagen ihn verletzt zu haben scheinen. Trotzdem hält er mein Handgelenk unverändert fest. „Ich weiß, dass du nicht Akito bist. In gewissen Belangen ähnelt ihr euch zwar, aber besonders im Umgang mit euch selbst seid ihr sehr verschieden. Du reagierst überwiegend autoaggressiv, während er, wie du weißt, Gewalt gegen andere Menschen anwandte. Beide Verhaltensweisen sind problematisch, bei Akito endete es im Selbstmord und ich fürchte, dass dein Weg dich ebenfalls dahin führen wird.“ Masao lässt meinen Arm los. „Du hast recht, Yamato. Ich will nicht noch einen Freund verlieren.“ Wortlos, ohne eine Reaktion zu zeigen, wende ich mich ab, um den Rest des Weges allein zu laufen. Gestresst steige ich in Osaki aus der völlig überfüllten U-Bahn. Ich hasse es, wenn unsere Bandprobe auf den Nachmittag fällt, da ich auf dem Weg nach Hause grundsätzlich in die Rushhour gerate. Heute kommt hinzu, dass ich nicht nach Yutenji, sondern zunächst nach Odaiba fahre und von Harajuku bis zur Osaki Station die Yamanote Line nutze. Atmen ist um diese Zeit in den Bahnen der Ringlinie purer Luxus. Ich regele die Lautstärke meines Players nach oben, damit ich meine Umgebung leichter ausblenden kann, während ich auf die Bahn der Rinkai Line, welche nach Odaiba fährt, warte. Als diese am Bahnsteig hält, werde ich mehr in den Wagon geschoben, als dass ich selbstbestimmt laufen könnte. Zum Glück stiegen zuvor etliche Leute aus, sodass die Zugestiegenen sich etwas verteilen und ich ohne Körperkontakt zu anderen Menschen stehen kann. Plötzlich kriecht lähmende Angst in mir empor. Etwas entfernt von mir steht ein Mann, den ich als meinen ehemaligen Sportlehrer wiedererkenne. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Haut und es fällt mir schwer, zu atmen. Krampfhaft verstärke ich den Griff um die Haltestange, da meine Beine drohen nachzugeben. Noch sehe ich sein Profil, sollte er allerdings seinen Kopf in meine Richtung drehen, wird er mich entdecken, zumal ich durch meine blonden Haare selbst in einer Menschenmenge auffalle. Rasch schalte ich meinen Player aus, da die paranoide Vorstellung in mir wächst, er könnte durch eventuell hörbare Musik auf mich aufmerksam werden. Ich will die Distanz erhöhen, mich verstecken, bleibe aber wie erstarrt an meinem Platz und versuche die aufkommende Übelkeit zu unterdrücken. „Junger Mann, geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen sehr blass aus“, fragt eine ältere Dame, die neben mir steht und mich besorgt anschaut. Ich nicke kaum merklich und wende mich von ihr ab, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, aber nur so weit, dass ich den Sportlehrer im Blick behalten kann. Kaum schaffe ich es, meine Atmung zu normalisieren, das Zittern bekomme ich überhaupt nicht unter Kontrolle. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis schließlich die Endhaltestelle angesagt wird. Zwar stehe ich in der Nähe der Tür, er jedoch mitten im Gang, weshalb es nicht auszuschließen ist, dass er in meiner Richtung aussteigt. Erleichtert registriere ich, dass er mir den Rücken zuwendet. Auf dem Bahnsteig verliere ich ihn allerdings aus den Augen, wodurch das Angstgefühl auch auf dem Weg zur Wohnung meines Vaters nicht verschwindet. Im Gegenteil, plötzliche Erinnerungen an den Vorfall von damals versetzen mich in Panik und meine Beine versagen mir ihren Dienst. Mit Mühe gelingt es mir, zu einer der Bänke am Wegrand zu taumeln, bevor ich endgültig zusammenbreche. Schwer atmend verkrampfe ich mich. Seine Stimme, sein Geruch, das Gefühl des Seils an meinen Handgelenken, seine Bewegungen in mir, der Geschmack seiner Samenflüssigkeit... meine ergebene Hilflosigkeit... es fällt mir schwer, den aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken. Dabei war es nichts weiter als Sex. Eine derart heftige und überzogene Reaktion ist mehr als erbärmlich, trotzdem bekomme ich das Zittern meines Körpers und meine schwerfällige Atmung noch immer nicht ganz unter Kontrolle. Es gelingt mir aber, mich aufzusetzen. Einen Moment ruhe ich mich noch aus, gehe dann jedoch langsam weiter, da die Dämmerung bereits einsetzt. Wieder und wieder versuche ich die Erinnerungen, die sich mir aufdrängen wollen, zu ignorieren. Schwerfällig steige ich die Treppen in den vierten Stock hinauf und betätige völlig außer Atem den Klingelknopf. Niemand öffnet. Vielleicht ist mein Vater noch nicht von der Arbeit zurück. Früher, als ich noch bei ihm wohnte, kam er häufiger ziemlich spät nach Hause. Ich krame meinen Schlüssel heraus, an dem sich auch der Ersatzschlüssel für diese Wohnung befindet, und öffne die Tür. Auf ihn zu warten, erscheint mir am sinnvollsten. Gerade als ich im Flur meine Schuhe ausziehen will, schaut überraschenderweise mein Vater aus dem Schlafzimmer. „Oh, du bist doch da?“, frage ich erschöpft. Trotzdem entgeht mir nicht, dass er lediglich in eine Unterhose gekleidet ist. „Habe ich dich geweckt?“ „Nein“, antwortet mein Vater. Er wirkt seltsam nervös. „Warum bist du hier?“ „Ich... weil ich mich bei dir... entschuldigen möchte. Mein Verhalten gestern...“ „Yamato, ist etwas passiert? Du siehst furchtbar aus und machst einen ziemlich verstörten Eindruck auf mich.“ Beunruhigt kommt mein Vater zu mir. „Du hast dir sicher Sorgen gemacht, nachdem ich dich einfach stehen ließ.“ „Taichi rief heute Morgen an und informierte mich, dass du in der Nacht zurückkamst. Wo warst du in der Zwischenzeit?“ „Können wir ins Wohnzimmer gehen? Ich möchte mich hinsetzen“, entgegne ich matt. „Naja, das ist momentan... ungünstig. Wir sollten das Gespräch auf später verschieben. Du siehst wirklich nicht gut aus. Soll ich dich nach Hause fahren?“ Ich schaue meinen Vater abschätzig an. „Warum willst du mich so schnell loswerden, Papa?“ Irritiert gehe ich einen Schritt zurück, wobei ich meinen Kopf senke. Erst jetzt fallen mir die fremden Schuhe, die im Eingangsbereich stehen, auf. „Verstehe.“ Ein bitteres Lächeln legt sich auf meine Lippen. „Du vögelst gerade irgendeine Schlampe, hab ich recht?“ Unbedacht werfe ich meinem Vater die Worte an den Kopf. Dessen Blick wird ungewohnt kalt. Er streckt seine Hand nach mir aus und umfasst meinen Nacken. „Wie lange soll ich noch Rücksicht auf dich nehmen und mein Leben für dich opfern? In der Vergangenheit habe ich dir durch meine Nachsicht mehr geschadet als geholfen. Vieles hätte ich überhaupt nicht tun dürfen, aber ich war zu sehr gefangen in meiner Angst um dich, was du mit deiner manipulativen Art zu deinem Vorteil zu nutzen wusstest. Der letzte Vorfall demonstrierte mir einmal mehr meine Machtlosigkeit. Es tut mir leid, mein Sohn. Ich kann dir nicht helfen.“ Die Aussagen meines Vater schnüren mir die Kehle zu. Wieso baut er plötzlich diese Distanz zwischen uns auf? Hat Taichi erneut versucht Einfluss auf meinen Vater auszuüben, als er am Telefon mit ihm sprach? „Was soll das, Hiroaki? Du lässt mich einfach so fallen?“ Ich ziehe meinen Vater dicht an mich. „Weiß deine kleine Schlampe, dass du deinen eigenen Sohn mehrfach gefickt hast?“ Absichtlich reduzierte ich die Lautstärke meiner Stimme nur so weit, dass meine Worte im Schlafzimmer möglicherweise durchaus zu hören waren. „Du brauchst niemanden außer mir, verstehst du das nicht?“ Sanft streiche ich über seine Wange. Als ich ihn küssen will, bemerke ich seinen starren Gesichtsausdruck, in dem ich keinerlei Zuneigung mehr entdecken kann. Erst jetzt erkenne ich, dass meine unbedachte Aussage, sollte sie tatsächlich gehört worden sein, meinen Vater in große Schwierigkeiten bringen könnte. Beschämt nehme ich etwas Abstand von ihm. „Papa, ich...“ Mein Gegenüber streckt nur seine Hand aus. „Gib mir bitte den Wohnungsschlüssel und dann geh“, befiehlt er völlig emotionslos. „Was?“ Ungläubig starre ich ihn an. Meine Kehle ist trocken und ich verspüre einen unangenehmen Druck beim Schlucken. „Findest du nicht, dass du etwas überreagierst?“, frage ich unsicher. Tränen lassen meine Sicht verschwimmen, sodass ich nicht in der Lage bin, die Mimik meines Vaters zu erkennen. „Geh, bevor ich meine Beherrschung verliere“, wiederholt dieser ruhig, aber mit drohendem Unterton. Angst ergreift Besitz von mir und tötet den letzten Rest meines, ohnehin wenig ausgeprägten, rationalen Verstandes. „Ist dir somit egal, ob ich lebe oder sterbe?“ Verzweifelt balle ich meine Hände zu Fäusten und beiße schmerzhaft auf meine Unterlippe. Eigentlich will ich meinen Vater nicht emotional erpressen, aber er lässt mir keine Wahl. Ich darf ihn nicht verlieren, dafür ist mir jedes Mittel recht. „Wenn du dir etwas antun willst, kann ich dich sowieso nicht aufhalten. Das musste ich über die Jahre lernen, Yamato.“ Der Boden unter meinen Füßen beginnt zu bröckeln, allmählich verliere ich jeglichen Halt. Taubheit umhüllt mich und die Leere frisst mich von innen heraus auf. Mechanisch reiche ich meinem Vater den geforderten Schlüssel und verlasse die Wohnung. Meine Umgebung nehme ich nicht wahr, während ich ziellos durch Odaiba laufe. Erst als ich am Strand angelange, bleibe ich stehen. Durch die Dunkelheit erscheint das Meer unheimlich respekteinflößend, vor allem, weil das Wasser beinahe schwarz aussieht. Ich setze mich in den Sand und atme, meine Augen schließend, die salzige Luft bewusst ein. Wie soll ich wissen, was ich nun tun soll, wenn ich nicht einmal weiß, was ich gerade fühle? Das Rauschen der Wellen ist angenehm und nimmt mir ein wenig meine Haltlosigkeit. Einem Impuls folgend ziehe ich meine Jacke aus, schiebe sachte den linken Ärmel meines Pullovers nach oben und gleite mit dem Zeigefinger über die Brandwunde, die ich mir am Nachmittag zufügte. Ich hole mein Portemonnaie aus meinem Rucksack und entnehme die Rasierklinge, die ich darin für den Notfall aufbewahre. Mit etwas Druck setze ich die Schneide längs auf die Innenseite meines Unterarms. Doch statt mir die Pulsader aufzuschneiden, ziehe ich die Klinge nur mehrfach so durch meine Haut, dass lediglich einige leicht auseinanderklaffende Wunden entstehen. Ich schaue zu, wie das Blut in den Sand tropft, ihn rot einfärbt. Jetzt zu sterben fühlt sich irgendwie falsch an, dabei ist das der einzige Weg, den ich im Augenblick sehe. Normalerweise war Shinya immer meine Zuflucht, wenn es um meinen Vater ging. Ich möchte zu ihm, irgendwas einwerfen und mich von ihm ficken lassen. Er spielt meinen Vater und ich seinen Sohn. So wie früher. Aber Shinya verschwand schon vor meinem Vater aus meinem Leben. Und immer ist Taichi auf irgendeine Art und Weise involviert. Ein wenig erweckt es den Anschein, als wolle er systematisch mein Umfeld auf sich reduzieren. Oder bilde ich mir das ein? Ich lasse mich nach hinten in den Sand fallen und betrachte den wolkenverhangenen Nachthimmel. Das bunte Licht der Rainbowbridge erstrahlt in meinem Augenwinkel und lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich, sodass ich meinen Kopf etwas zur Seite drehe. Wenn die letzte Bahn bereits gefahren ist, wird es ein langer Weg zurück werden. Erste Regentropfen benetzen meine Haut. Dennoch bleibe ich liegen. Nach kurzer Zeit ist der Regen so stark, dass ich vollkommen durchnässt bin. Ich hebe meinen linken Arm und mustere ihn interessiert. Die Wunden sind von teils geronnenem Blut sowie Sand verklebt, was selbst das Regenwasser nicht zu reinigen vermochte. Auch der Ärmel meines Pullovers scheint von einem Blut-Wasser-Sand-Gemisch beschmutzt worden zu sein, was jedoch nicht auffällt, da der Stoff schwarz ist. Generell haftet durch die Feuchtigkeit der Sand an meiner Kleidung, weshalb ich befürchte, ohnehin nicht mit der Bahn fahren zu können. Ich beginne laut zu lachen. Was mache ich hier eigentlich? Ich sollte längst tot sein. Was muss noch geschehen, damit ich endlich handle? Entschlossen greife ich erneut zur Rasierklinge, nur um sie gleich darauf wütend in den Sand zu werfen. „Verdammt!“, fluche ich. Der Regen, der über mein Gesicht läuft, verbirgt meine Tränen. Die vorherrschende Leere weicht einem stechenden Schmerz, der meinen gesamten Körper erfasst. Fahrig greife ich nach meiner Jacke, die inzwischen ebenso nass und dreckig ist wie ich selbst, und krame meine Zigaretten hervor. Ungeduldig angle ich eine aus der halb gefüllten Schachtel. Als ich anschließend hastig nach dem Feuerzeug suche, fällt mir das Fläschchen GHB in die Hand, welches ich in der Jacke mehr oder weniger versteckt hatte. Für einen Augenblick betrachte ich es so liebevoll, als wäre es ein wertvoller Schatz. Dann schraube ich es gierig auf und tropfe etwas von der Flüssigkeit in meinen Mund. Den ekelhaft seifigen Geschmack nehme ich in meinem fieberhaften Bestreben, die Realität zu vergessen, kaum wahr. Lächelnd lege ich mich mit ausgebreiteten Armen erneut in den Sand und warte auf das Einsetzen der Wirkung. Während der Regen unerbittlich auf mich niederprasselt und mein Körper, ohne dass ich es wirklich wahrnehme, auskühlt, stellt sich mir nur eine Frage. Würde Katsuro mir den goldenen Schuss setzen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)