Ein einfaches Ende von GotoAyumu (Yamato Ishida x Taichi Yagami) ================================================================================ Kapitel 5: ----------- Verschlafen öffne ich meine Augen. Für einen kurzen Moment verwirrt mich die fremde Umgebung, dann glaube ich aber, Reijis Wohnung zu erkennen, die ich in der Nacht zum ersten Mal betrat, jedoch kaum wahrnahm. Nach dem Vorfall stand ich zu sehr neben mir, weshalb ich nicht widersprach, als er mich mit zu sich nahm. Fürsorglich legte er mich in sein Bett und hielt mich, bis ich einschlief, fest in seinen Armen. Behutsam löse ich mich ein wenig aus seiner, noch immer bestehenden, aber lockeren Umklammerung und betrachte sein Gesicht eingehend. Er wirkt entspannt und scheint noch zu schlafen. Ohne ihn wäre ich beinahe ein zweites Mal von meinem damaligen Sportlehrer... nein, ich setzte mich kaum zur Wehr, ließ ihn letztlich sogar gewähren. Es wäre keine Vergewaltigung, sondern meine eigene Schuld gewesen. Am Ende verhalte ich mich eben doch nur wie eine Hure und lasse jeden ran. Und aus genau diesem Grund behandelt Taichi mich auch so. Ob er seinen Rausch inzwischen ausgeschlafen hat? Ich möchte bei ihm sein. Die Sehnsucht zieht meinen Brustkorb schmerzhaft zusammen. Ich kann kaum atmen. Reijis Finger berühren vorsichtig meine Wange und er sieht mich besorgt an. „Dieser Wichser hat ziemlich hart zugeschlagen. Sie ist noch immer gerötet und leicht geschwollen.“ Ich schweige und schließe meine Augen. „Geht es?“, hakt mein Arbeitskollege mit sanfter Stimme nach. Zwar nicke ich, kann aber nicht verhindern, dass Tränen über mein Gesicht laufen. „Wer war der Typ? Er schien dich zu kennen. Hattest du mal was mit dem und er begreift nicht, dass du kein Interesse mehr hast?“ Ich weiche seinem Blick schweigend aus. „Yamato.“ „Kann man so sagen“, antworte ich knapp und monoton. „Aber es ist nicht wichtig.“ Verärgert setzt Reiji sich auf. „Nicht wichtig? Dieser Dreckskerl wollte dich vergewaltigen, verdammt!“ Erneut schweige ich. Resolut dreht mein Arbeitskollege mich an den Schultern auf den Rücken und kommt über mich. Voller Zärtlichkeit streicht er einige Strähnen aus meinem Gesicht, anschließend küsst er fordernd meine Lippen. „Was ist? Warum gebietest du mir keinen Einhalt, so wie du es sonst tust? Bist du plötzlich einverstanden, wenn ich jetzt mit dir schlafen würde?“ Ohne jedoch eine Antwort abzuwarten, liebkost er meinen Oberkörper, hinab zu meinen Shorts, dem einzigen Kleidungsstück, welches ich trage. „Reiji“, keuche ich gequält und vergrabe meine Finger in seinen Haaren. „Soll ich aufhören?“ Er lässt von mir ab und kommt wieder über mich. Sein Gesichtsausdruck ist ernst, als er mit seinem Daumen über meine Schläfe streicht. „Weißt du, Yamato, wenn ich deinen Körper sehe, frage ich mich, wie sehr sich ein Mensch selbst hassen kann.“ Er küsst meine Stirn, dann die Augen, wobei meine Tränen seine Lippen benetzen. „Reiji, gehst du bitte von mir runter? Du hast einen Ständer“, bemerke ich verlegen. „Kein Wunder, bei unserer Position, oder?“ Sofort rollt er sich zur Seite und bleibt neben mir liegen. „Aber keine Angst. Ich würde nie mit dir schlafen, falls du es wirklich nicht willst.“ „Und warum nimmst du dir nicht einfach, was dein Verlangen befriedigt?“ „Weil es mir keinen Spaß macht, wenn mein Sexualpartner leblos unter mir liegt. Ansonsten könnte ich auch eine Gummipuppe ficken. Die hat wenigstens keine Gefühle“, antwortet mein Arbeitskollege, als sei diese Einstellung selbstverständlich. Ich drehe mich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm. „Selbst wenn du dann nie deinem Begehren nachgeben könntest?“ „Ja. Alles andere käme einer Vergewaltigung gleich.“ Unangenehmes Schweigen entsteht. „Ehrlich gesagt finde ich deine Einstellung bezüglich dieser Thematik bedenklich“, fügt Reiji schließlich an. „Du bist schon einmal vergewaltigt worden, hab ich recht?“ „Wie kommst du darauf?“, frage ich, versucht, unbeteiligt zu klingen. „Es war der Typ von gestern, oder?“ „Nein, ich...“ Meine Stimme versagt und es gelingt mir kaum, das Beben meines Körpers zu verbergen. Zögernd rutscht Reiji an mich heran und nimmt mich behutsam in den Arm. „Bitte verzeih mir. Hätte ich gewusst, was der Dreckskerl dir in der Vergangenheit antat, wäre er nicht so einfach davongekommen.“ „Er war Sportlehrer an meiner Oberschule, wo er Jungen wie Mädchen über Jahre missbrauchte. Als es kurz vor meinem Abschluss zur Anzeige und später zur Verhandlung kam, war das Ergebnis ein dreijähriger Gefängnisaufenthalt.“ Reiji lacht bitter. „Solche Männer müssen kastriert werden. Außerdem hätte ich nicht wenig Lust, sie so brutal in den Arsch zu ficken, dass sie sich wünschen, tot zu sein, und danach weder laufen noch sitzen können.“ „Du würdest Hand an die legen?“ „Für dich hätte ich es gestern getan. Ansonsten wäre ein Baseballschläger eine gute Alternative, meinst du nicht?“ Er haucht einen Kuss auf meine Schläfe. Seine Aussage legt ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. „Gehst du deshalb so rücksichtslos mit deinem Körper um?“ Sofort verschwindet mein Lächeln wieder. „Nein.“ „Versuchst du deshalb, dich mit Drogen zu betäuben?“ „Du denkst, ich nehme Drogen?“, frage ich wachsam. „Ich bin mir nicht sicher, ob du derzeit welche konsumierst, aber die Vernarbungen an deiner rechten Armbeuge weisen eindeutig auf längeres beziehungsweise häufiges Fixen hin. Entschuldige, aber du warst gestern Abend nahezu apathisch, weshalb ich dir beim Ausziehen half. Vielleicht habe ich deinen Körper dabei etwas genauer betrachtet, als notwendig gewesen wäre.“ Meine Erinnerungen sind verschwommen, könnten ebenso ein Traum sein. „Welche Substanz?“, nimmt mein Arbeitskollege das Thema wieder auf. Kurz schweige ich und lasse geschehen, dass er mich fester in den Arm nimmt. Meinen Konsum zu leugnen, erscheint mir unter den gegebenen Umständen ziemlich sinnlos. „Gespritzt habe ich Heroin.“ „Bist du derzeit clean?“ Ich nicke. Bezogen auf den Heroinkonsum. „Der Boss sollte davon nichts erfahren. Obwohl er normalerweise sehr tolerant ist, duldet er keine Junkies in seinem Laden, erst recht nicht beim Personal. Während meiner Zeit auf der Universität experimentierte ich auch gern mit verschiedenen bewusstseinsverändernden Substanzen, abgesehen von Heroin und Crack. Zugegeben, mein Leben ist zum Teil auch heute noch sehr ausschweifend, insbesondere mein Sexualleben betreffend, aber kein Vergleich zu damals. Bis ich den Boss kennen lernte. Er war ein Arbeitskollege meines Vaters, der, als ich neunzehn Jahre alt war, zu dessen Zweigstelle versetzt wurde. Die beiden verstanden sich gut, sodass er hin und wieder bei uns zu Besuch war. Die Blicke, die wir tauschten, waren eindeutig und letztlich landeten wir irgendwann in meinem Bett. Dummerweise erwischte uns mein Vater und warf mich voller Abscheu hinaus. Seither habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm. Unser Boss nahm mich vorübergehend bei sich auf, allerdings nur unter der Bedingung, dass ich auf Drogen verzichte. Ich hatte keine Wahl, die Straße war meine einzige Alternative. Aufgrund des Vorfalls kündigte er bei der Firma meines Vaters und machte sich mit dem Laden selbstständig. Nach meinem Studium bat ich bei ihm um eine Anstellung, die er zunächst verweigerte. Nach einigen Diskussionen stimmte er schließlich doch zu. Kurz darauf zog ich in eine eigene Wohnung. Abgesehen von Nikotin und Alkohol rühre ich Drogen trotzdem nicht mehr an. Mittlerweile sogar freiwillig.“ „Ich vermutete bereits, dass zwischen euch was läuft. Liebst du ihn?“ Reiji dreht meinen Körper auf den Rücken und küsst mich flüchtig. „Nein“, haucht er. „Er bedeutet mir viel mehr. Während ich bei ihm wohnte, hatten wir kein einziges Mal Sex. Ich glaube, er fühlte sich für mich verantwortlich und gibt sich die Schuld an dem Kontaktabbruch meines Vater.“ „Vermisst du deinen Vater?“ „Nicht mehr. Ich brauche niemanden, der von mir verlangt, mich selbst zu verleugnen.“ „Jetzt scheint dein Verhältnis zu unserem Chef wieder inniger zu sein, oder irre ich mich?“ „Nein. Gelegentlich schaffen wir es nicht, unser Verlangen zu ignorieren, obwohl wir wissen, dass es vermutlich besser wäre. Es ist merkwürdig, ich kann meine Verbindung zu ihm nicht benennen, aber er ist der Einzige, mit dem ich nicht nur aus Spaß ins Bett gehe. Bei ihm fühle ich mich sicher und irgendwie geborgen. Klingt kitschig, oder? Eine feste Beziehung hatten wir allerdings nie.“ Die Beschreibung meines Arbeitskollegen erinnert mich an die Gefühle, die ich meinem Vater entgegenbringe. „Für mich klingt es nicht kitschig. Ich denke, du siehst ihn als Vaterersatz.“ Reiji lacht. „Mit meinem Vater würde ich nicht ins Bett gehen. Außerdem ist er gerade einmal acht Jahre älter als ich.“ Langsam hebe ich meinen Arm und streiche durch seine kurzen, rot gefärbten Haare. „Deine Einwände sind irrelevant. Hier geht es nicht um Vernunft und Rationalität, sondern Gefühle.“ Reiji kommt erneut über mich und sieht mir eindringlich in die Augen. „Du verwirrst mich, Yamato. Und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.“ Unter Kraftaufwand schiebe ich ihn von mir und setze mich auf die Bettkante, meine nackten Beine anstarrend. Ich sollte bei Taichi sein. Aber vermutlich will er mich nicht einmal sehen. Heroin ist wahrscheinlich die bessere Option. Dieser beschissenen Realität entfliehen, unangenehme Erinnerungen, Ereignisse und Empfindungen vergessen. Einfach nur glücklich sein... wie sehr ich dieses Gefühl herbeisehne. Fürsorglich legt Reiji die Decke um meine Schultern. „Es ist kalt in der Wohnung. Ich will nicht, dass du krank wirst. Soll ich uns etwas zu essen machen?“ „Nein danke. Kaffee reicht, falls das okay ist.“ „Kein Wunder, dass du so dünn bist.“ Er steht auf und durchquert die kleine, etwas chaotische Ein-Zimmer-Wohnung. Auf dem Boden liegen Kleidungsstücke verstreut, leere Bierdosen und Pizzakartons stapeln sich um den vermutlichen Esstisch, auf dem ein überfüllter Aschenbecher steht. Auf dem Nachtschrank neben dem für die kleine Wohnung eigentlich viel zu großem Bett befinden sich etliche Kondome und ein Papiertuchspender. Doch trotz der Unordnung wirkt die Wohnung seltsamerweise nicht dreckig oder verwahrlost. „Leider kann ich dir nur Melonpan, Anpan und Currybrötchen anbieten. Dazu gibt es den gewünschten Kaffee. Aber eben nur dazu.“ Reiji grinst mich beinahe unschuldig an. Ich erwidere es schwach und ziehe die Decke fester um meinen Körper. „Currybrötchen.“ „Danke, dass du mich mit dem Auto gefahren hast“, murmele ich, während ich den Gurt aus seiner Verankerung löse. Als ich die Tür öffnen möchte, um auszusteigen, hält Reiji mich am Arm zurück. „Ist dein Freund zu Hause? Du wirkst phasenweise noch immer etwas apathisch, in diesem Zustand lasse ich dich ungern allein.“ „Und du verhältst dich schlimmer als meine Mutter. Ich bin in Ordnung. Mir geht es gut. Zudem wohne nicht ich hier, sondern ein Freund von mir“, bemerke ich ungewohnt ruhig, tonlos. „Stimmt. Ich glaube, du erwähntest, nach Yutenji gezogen zu sein, oder?“ „Kann sein.“ „Yamato... vermutlich erfuhr ich in den letzten Stunden Dinge über dich, die du niemals preisgeben wolltest. Einerseits finde ich es schön, endlich mehr über dich zu wissen, abgesehen von deinem Namen oder allgemeinen Eckdaten. Aber wie ich bereits sagte, ist, meiner Meinung nach, deine Einstellung bezüglich Zwischenmenschlichkeit und Sex bedenklich, vor allem, da ich befürchte, dass die Vergewaltigung durch diesen Lehrer nicht hauptsächlich dafür verantwortlich ist.“ „Ich muss jetzt gehen“, weiche ich deutlich abweisend aus, wobei ich versuche meinen Arm aus seiner Umklammerung zu lösen. Reiji festigt seinen Griff. „Meidest du Unannehmlichkeiten grundsätzlich, indem du davonläufst?“ „Lass mich los“, befehle ich gereizt. Unerwartet zieht mich mein Arbeitskollege zu sich und zwingt mir einen Kuss auf. Sofort drücke ich ihn von mir. „Du reagierst ziemlich zickig, wenn nicht alles nach deinem Kopf geht. Keine Angst, ich will dich nicht ändern oder dir meine Meinung aufzwingen. Du sollst einfach nur darüber nachdenken, warum Sex unter Zwang für dich anscheinend vertretbar ist, wenn du selbst die Erfahrung machen musstest. Diese Logik verwirrt mich. Oder glaubst du gerade deshalb, dass Vergewaltigungen unter bestimmten Umständen akzeptabel sind? Du erwähntest bei deinen Ausführungen nicht, ob du damals an der Verurteilung des Lehrers eine Beteiligung hattest. Wenn das der Fall sein sollte, frage ich mich, für wen du es getan hast. Für dich? Oder für die anderen Schüler, die er zum Sex zwang?“ „Hör auf, mich zu analysieren!“ „Warum, weil es unangenehm ist? Willst du wieder davonlaufen?“ „Nein, verdammt. Ich habe nur keine Lust, mich mit dir über mich zu unterhalten.“ „Verstehe. Dann sehen wir uns morgen bei der Arbeit. Ziehst du für mich diese enge, schwarze Hose an, in der dein süßer Arsch besonders gut zur Geltung kommt?“ Mit einem frechen Grinsen zwinkert Reiji mir zu. „Dann weiß ich schon jetzt, dass sich deine Hand permanent an meinem Hintern befinden wird. Vergiss es.“ Ich merke, wie die Anspannung von mir abfällt und erwidere das Lächeln. Seines jedoch verschwindet und wird zu einem ernsten Gesichtsaudruck. Er beugt sich zu mir und haucht einen Kuss auf meine Wange. „Pass auf dich auf, okay?“ Schweigend öffne ich die Tür und steige aus dem Auto. Sofort werde ich von kalter Winterluft umhüllt, in der vereinzelt Schneeflocken sachte zu Boden fallen. Reiji startet den Motor und ich schaue ihm nach, bis er abbiegt und aus meinem Sichtfeld verschwindet. Langsam steige ich die kurze Außentreppe hinauf, vor Shinyas Wohnungstür bleibe ich stehen und betätige den Klingelknopf zwei Mal. Kurz darauf höre ich ein Poltern, dann öffnet sich die Tür. Shinya mustert mich mit glasigen Augen. Anhand seines Blickes erkenne ich sofort, dass er stark alkoholisiert ist, als ich mich ihm nähere, steigt mir der vertraute, beißende Geruch in die Nase. „Yamato! Schön dich zu sehen“, lallt er etwas undeutlich. „Komm rein.“ Er schwankt beträchtlich, als er sich über den Flur zum Wohnzimmer bewegt. Ich schließe die Wohnungstür hinter mir, entledige mich meiner Schuhe sowie Jacke und folge ihm. Shinya sitzt bereits wieder auf dem Sofa, in der Hand ein mit Whiskey gefülltes Glas. Die dazugehörige halbleere Flasche steht neben zwei bereits geleerten Flaschen auf dem kleinen Tisch vor ihm. Zudem befinden sich darauf die benötigten Utensilien für einen Schuss und ein kleines Päckchen mit weißem Pulver. Wahrscheinlich Heroin. „Shinya.“ Ich setze mich neben ihn. Vorsichtig nehme ich ihm das Getränk aus der Hand, welches er bereits zum wiederholten Mal an seine Lippen führen möchte, und stelle es auf der Tischplatte ab. „Ich denke, du hast genug.“ „Du kannst dein eigenes Glas bekommen, dann musst du mir meines nicht stehlen.“ Traurig mustere ich meinen einstigen Freier, seine unsinnige Aussage ignorierend. Der Vorfall mit seinem Sohn hat ihn sehr verändert. Er geht allmählich daran zugrunde. „Hast du noch etwas anderes, abgesehen von Alkohol, konsumiert?“ „Vielleicht... nicht.“ Ungeschickt versucht er sich die Flasche mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit zu eigen zu machen, ich stelle sie auf den Boden außerhalb seiner Reichweite. „Wolltest du dir das Heroin in diesem Zustand spritzen?“ „Es reicht für uns beide, also, wenn du möchtest...“ Voller Sehnsucht nach dem puren Glück, betrachte ich die mir so vertraute Droge. Sie ist zum Greifen nah. „Nein, ich fixe nicht mehr. In deinem Fall weiß ich, dass du die Gefahren einer Kombination von Alkohol mit Heroin kennst. Hoffst du zu sterben, Shinya? Andere Methoden sind definitiv erfolgversprechender. Oder spielst du eine Art Russisches Roulette?“ „Allein für Shota sollte ich sterben.“ „Auf diese Weise machst du es dir zu einfach. Solltest du dich nicht viel eher dem Problem stellen, als feige davonzulaufen?“ Meine eigenen Worte verwirren mich und ich muss an Reiji denken. Eine solche Argumentation ist untypisch für mich. „Entschuldige, Shinya. Ich...“ Meine Stimme versagt. Genervt wische ich mit meinem Ärmel über mein Gesicht, die Tränen laufen dennoch unablässig über meine Wangen. „Normalerweise würde ich niemanden vom Selbstmord abhalten, obwohl ich Akito dadurch verlor. Aber die Vorstellung, dich erneut und diesmal endgültig zu verlieren, schmerzt unerwartet stark.“ Sanft haucht Shinya einen Kuss auf meine Augen und nimmt mich anschließend fest in den Arm. Sein Alkoholgeruch umhüllt mich und benebelt meine Sinne. Ich schließe meine Augen. „Yamato... für eine solche Unterhaltung bin ich zu betrunken. Mir fehlt die Konzentration und die Fähigkeit, klar zu denken.“ Auch wenn Shinya sich bemüht, verstehe ich seine verwaschene Sprache kaum. „Ich glaube, ich wollte dich bitten, mir eine Überdosis zu spritzen.“ Mein Körper beginnt zu zittern. „Shinya...“ „Würdest du es tun?“, unterbricht er mich. Ich schweige. Die gesamte Situation fühlt sich unwirklich und völlig verdreht an. Fühlen Tai und mein Vater ähnlich, wenn ich suizidal bin? Warum denke ich jetzt zum ersten Mal darüber nach? Das Pulsieren in meinem Kopf wird intensiver und löst ein leichtes Schwindelgefühl aus. „Ich bin mir nicht mehr sicher“, antworte ich fast verzweifelt. „Aber ich halte dich nicht davon ab, Selbstmord zu begehen.“ Heftig weinend kralle ich mich im Hemd meines Gegenübers fest. „Yamato.“ Ungewohnt grob stößt der mich von sich und hastet mit unsicheren Schritten aus dem Raum. Kurz darauf höre ich, wie er sich krampfartig in die Toilette erbricht. Ich versuche mich zu beruhigen, denn im Moment bin ich eher eine Belastung statt eine Hilfe für Shinya. Zögernd erhebe ich mich, nehme, ohne nachzudenken, das kleine Päckchen vom Tisch und verstaue es im Flur in meiner Jackentasche. Dann begebe ich mich zu Shinya ins Badezimmer. Der sitzt auf dem Boden, sein Erscheinungsbild gleicht eher einer Leiche als einem Lebenden. „Ich bleibe, bis es dir besser geht. In diesem Zustand lasse ich dich nicht allein.“ Müde lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und sinke erschöpft zu Boden. Selbst meine Schuhe auszuziehen, bin ich nicht mehr in der Lage. Die halbe Nacht verbrachte ich mit Shinya in dessen Badezimmer, da er sich fortwährend übergeben musste. Zwischenzeitlich wirkte er beinahe komatös, sodass ich einige Male kurz davor war, den Notarzt anzurufen. Dann jedoch stabilisierte sich sein Zustand so weit, um ihn durch seine Mithilfe ins Bett bringen zu können. Allein wäre ich dazu kaum im Stande gewesen. Zwar legte ich mich neben ihn, schlafen konnte ich allerdings nicht. Die Angst, Shinya würde meine Schwäche ausnutzen, um sich zu töten, hielt mich wach. Selbst als ich seine Hand nahm und unsere Finger fest ineinander verhakte, wurde ich nicht ruhiger. Seufzend rolle ich mich auf den Rücken, krame aus meiner Jackentasche das kleine Päckchen und halte es hoch über mein Gesicht. Das Heroin nahm ich aus einem Impuls heraus mit. Am liebsten hätte ich es mir sofort in die Vene gespritzt, für einen Augenblick zog ich es sogar in Erwägung. Ich hätte Shinya tatsächlich sich selbst überlassen, nur um der Versuchung, der Realitätsflucht zu erliegen, und ein erneutes Abrutschen in die Abhängigkeit in Kauf genommen. Doch letztlich war Shinya mir wichtiger als mein Egoismus und ich verzichtete zumindest für den Moment auf den erlösenden Schuss. Jetzt, da die Möglichkeit besteht, meinem Verlangen nachzukommen, bin ich froh, dass sich derzeit kein Spritzbesteck in meinem Besitz befindet. Ich würde keine Sekunde mehr zögern. Meine Hand zittert bei dem Gedanken, zu spüren, wie dieses flüssige Glück durch meine Adern fließt. Es wäre nicht schwer, die benötigten Utensilien aufzutreiben. Alles in mir sehnt sich nach dem Heroin, die Stimmen schreien mich ungeduldig an, endlich zu handeln. Schwerfällig erhebe ich mich und entledige mich meiner Schuhe. Dann laufe ich unsicheren Schrittes ins Badezimmer, vor der Toilette bleibe ich stehen. Es ist ganz leicht. Loslassen und Spülung betätigen. Für Taichi. Wie könnte ich ihm sonst helfen, wenn ich selbst von einer Abhängigkeit beherrscht werde? Mich selbst verachtend lasse ich meine Hand sinken. Ich kann es nicht. Shinyas desolater Zustand, welcher großteils auf Drogenmissbrauch zurückzuführen ist, sollte mich abschrecken, stattdessen beneide ich ihn bezüglich seiner Möglichkeiten der Realitätsflucht. Das Päckchen fest umklammert, verlasse ich das Bad in Richtung Schlafzimmer. Vom Kleiderschrank öffne ich die unterste Schublade und verstaue das Heroin in einem Paar zusammengelegter Socken. Ich muss mich ablenken. Mein Blick fällt auf meine Tasche. Der Text des neuen Liedes ist noch immer unvollständig, das Konzert findet jedoch schon in wenigen Tagen statt. Zudem muss der Song noch einstudiert werden. Ich krame nach dem Zettel, nehme von meinem Schreibtisch einen Stift und begebe mich wieder in die Küche. Erneut entzünde ich eine Zigarette, dabei lese ich mir das bisher Geschriebene noch einmal durch. Tief ziehe ich den Rauch in meine Lunge, beim Ausatmen schließe ich meine Augen und lehne mich etwas zurück. Ich versuche mich auf die Melodie zu konzentrieren, doch es gelingt mir nicht. Entnervt drücke ich die Zigarette im Aschenbecher aus, erhebe mich und setze Kaffee auf. Während ich darauf warte, dass die koffeinhaltige Flüssigkeit die Kanne füllt, schweifen meine Gedanken zu Tai. Ich möchte ihn sehen. Ich möchte wissen, wie es ihm geht. Ich möchte einfach nur bei ihm sein. Allerdings warf mich mein Vater zum Schutz meines Freundes nahezu hinaus, vermutlich ist meine Anwesenheit derzeit tatsächlich eher kontraproduktiv. Ich lächle bitter. Taichis Zustand habe ich zu verschulden, weil ich bei ihm bleibe, wohingegen Shinyas Zustand meine Schuld ist, weil ich ihn allein ließ. Welch Ironie. Nachdenklich nehme ich eine Tasse aus dem Schrank und fülle sie mit Kaffee, anschließend setze ich mich wieder an den Tisch. Fahrig entzünde ich eine weitere Zigarette. Shinya werde ich nicht noch einmal fallen lassen. Er ist ein Freund, der mir viel bedeutet und zudem dringend Hilfe braucht. Sein Zustand bereitet mir Sorgen, er ist extrem selbstzerstörerisch und meines Erachtens suizidal. Doch trotz allem, was passierte, glaube ich, dass Shota mir nie verzeihen würde, wenn seinem Vater etwas zustößt, weil ich mich von ihm abwandte. Ohnehin macht er hauptsächlich mich für den Vorfall damals verantwortlich. Taichi jedoch wird für die Situation kein Verständnis aufbringen. Somit müsste ich mich eigentlich von ihm trennen, zumindest wäre das für die Menschen, die mir etwas bedeuten, die beste Lösung. Inzwischen ist das für mich allerdings keine Option mehr, auch wenn ich dadurch einmal mehr egoistisch handele. Ich liebe Taichi. Und ich brauche ihn. Vielleicht sollte ich versuchen, meinem Freund die Problematik zu erklären? Nein, vermutlich würde es seinen Hass auf Shinya nur verstärken, schließlich vergewaltigte der seinen eigenen Sohn. Das Pulsieren in meinem Kopf verstärkt sich. Ich nehme einen großen Schluck des bereits leicht abgekühlten Kaffees, ziehe ein letztes Mal an meiner Zigarette und drücke sie im Aschenbecher aus. Der Liedtext sollte oberste Priorität haben. Angestrengt starre ich auf das Blatt Papier, aber die Buchstaben verschwimmen lediglich vor meinen Augen. Immer wieder schweifen meine Gedanken zu Shinya. War es richtig, ihn allein zu lassen? Er versicherte mir zwar, sich nichts anzutun, aber ich weiß von mir selbst, dass solche Versprechungen wenig wert sind. Hastig leere ich meine Tasse, erhebe mich und eile in den Flur. Vor dem Telefon bleibe ich stehen. Das Display zeigt an, dass mein Vater versuchte mich zu erreichen. Unerwartet geben meine Beine nach und ich rutsche in mich zusammen. Ein Gefühl der Überforderung und Hilflosigkeit überkommt mich. Nur mit Mühe gelingt es mir, wieder auf die Beine zu kommen. Langsamen Schrittes begebe ich mich ins Schlafzimmer, hole das Heroin aus der Schublade und halte es fest umklammert, während ich erneut das Bad betrete. Rasch, bevor ich es mir anders überlegen kann, spüle ich die Substanz, die mich für den Augenblick befreien könnte, die Toilette hinunter. Zitternd breche ich auf den kalten Fliesen zusammen. Für Taichi muss ich clean bleiben. Damit er sich endlich einmal auf mich stützen kann. Mehrfach schlage ich schmerzhaft mit der Faust auf den Boden, um gegen das stärker werdende Verlangen anzukämpfen. Vergeblich. Selbsthass und Verzweiflung überwältigen mich. Schluchzend krümme ich mich zusammen, bis ich vor Erschöpfung einschlafe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)