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Ein Schuss

One Shot
von

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Tränenmond


 

oOo
 

Erbarmungslos kratzten schiefe Töne aus einer kleinen mitternachtsblauen Geige. Beschämt zog das blasse Mädchen den schwarzen Bogen über die Saiten. Sie fühlte, dass diese Katzenmusik ein Ausdruck ihrer Seele war. Das Kratzen des Bogens über die Saiten glich ihrem Weg durch das Leben. Holprig. Unsicher. Unangenehm. Grausam. Der Wunsch diese Tätigkeit zu beenden wurde mit jeder Sekunde größer. Für die Außenwelt war es die Tätigkeit des Geigespielens, für Tränenmond Schlömpel die des Lebens.
 

In der anderen Ecke des großen Wohn-Ess-Schlafraumes verleibte sich ihre Mutter genüsslich einen Grillkäsetoast ein. Ihr Schmatzen übertönte fast die grausigen Klänge des gequälten Musikinstruments.

Ihr Bruder saß am Computer und tippte angestrengt auf der schäbigen, vollgesifften Tastatur herum. Er nannte das „hacken“ und wollte nicht, dass sie ihn dabei stört.
 

Tränenmond seufzte. Langsam ließ sie die Geige sinken und schaute bedrückt durch die Wohnung. Niemand interessierte sich für ihr Leid. Ihre Familie hatte sich mit der Zeit auseinander gelebt. Jeder ging seinen eigenen Beschäftigungen nach. Die eine kümmerte sich vor der Arbeit ab und zu um die spärlichen Blumen in dem sonst so staubigen Vorgarten, der andere redete stundenlang mit seinem Spiegelbild und kam sich dabei ziemlich unwiderstehlich vor.

Das war nicht immer so gewesen. Damals, als die Familie in diese Einöde gezogen war. Sie und ihr Bruder, gerade groß genug um über die Tischkante zu schauen. Ihre Mutter hatte sich gerade von ihrem Mann getrennt und das Sorgerecht für zwei ihrer fünf Kinder erhalten.
 

Frikadellas ältester Sohn hatte bereits vor vielen Jahren der Familie den Rücken gekehrt. Sanchez Schlömpel hatte sich nie wohl gefühlt und früh gegen seine Eltern rebelliert.
 

Ihre älteste Tochter Schnuckimund war ebenfalls ausgezogen und lebte inzwischen in der Nachbarstadt um dort zu studieren. Sie hatte während ihrer Schulzeit hart gearbeitet um sich die Semesterbeiträge der Universität leisten zu können.
 

Das dritte Kind wohnte bei seinem Vater. Aber so viel, wie Ex-Mann Kunibert inhalierte, war er offenbar zu gechillt, um seinen Sohn Adolf zurechtzuweisen, wenn dieser mal wieder Unfug angestellt hatte.
 

Übrig geblieben waren also Friedolin und Tränenmond.
 


 

oOo
 

Das Haus war kaum größer als ihre alte Bleibe, aber es sollte ausreichen. Liebevoll hatte Frikadella noch einige Wanddekorationen in der Küche angebracht. Es waren niedliche Häschen, die durch die Gegend hüpften. Allerdings hatte sie die flauschigen Silhouetten hinter der Arbeitsplatte angebracht und es sah so aus, als würden sie geradewegs auf den Herd hoppeln. Tränenmond hatte es für passend gehalten.
 

Von den letzten Ersparnissen hatte sie für Friedolin einen günstigen Computer und für Tränenmond eine Geige gekauft. In ihrer Schlafnische hatte jedes der beiden Kinder ein Bett und ein Plüschdino mit dem Namen Doofie, den sie sich teilten.

Klein Tränenmond saß spät abends am Küchentisch und machte ihre Hausaufgaben für den nächsten Schultag.
 

‚Was ist der Unterschied zwischen der Sonne, dem Mond und den Sternen?’
 

War das überhaupt wichtig? Es machte ihr Mühe sich zu konzentrieren. Den Abschnitt über die Sonne hatte sie endlich geschafft.
 

‚Der Mond...’
 

Sie war zu betrübt um weiterzuschreiben. In ihrer ersten Schulwoche hatte sie es nicht geschafft Freunde in ihrer Klasse zu finden Dabei war sie zu jedem hingegangen und hatte sich freundlich vorgestellt. Aber sobald sie ihren Namen nannte, hatten ihre Mitschüler sie nur ausgelacht. Sie hatte sich wirklich bemüht um einen guten Eindruck zu hinterlassen. Sie hatte ihre hübschesten Kleider getragen und ging mit einem Lächeln auf die Kinder zu. Doch sie waren schreiend weggelaufen. Bald hatte sie einen neuen Namen in der Klasse: Tränenfratze Hakennase.
 

Am Abend ihres ersten Tages hatte Tränenmond bitterlich unter ihrer Bettdecke geweint. Wieso waren alle so gemein zu ihr? Sie wollte doch auch nur Freunde finden.
 

Wäre es nicht schön, wenn sie jemanden fand, mit dem sie ihr Pausenbrot teilen und gemeinsam schaukeln konnte? Sie dachte daran, ihre gesamte Schulzeit alleine verbringen zu müssen, weil sie keiner mochte. Tränenmond schrieb traurig in ihrem Heft herum und seufzte.
 

Leichtfüßig wie eine Elfe stampfte Frikadella zu ihr, einen Teller mit der dritten Portion Grillkäse in der Hand und einem besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht.
 

„Ist was los, Spätzchen?“, donnerte sie fürsorglich. „Liegt das Essen quer im Magen? Erzähl der Mutti, was dir auf dem Herzen liegt.“
 

„Doofie Dino ist mein bester Freund“, sagte Tränenmond leise und zwang sich zu einem Lächeln.
 

„Das ist schön“, erwiderte Frikadella, tätschelte ihrer Tochter den Kopf und verzog sich mit ihrem Abendessen vor den flimmernden Fernsehkasten.
 

„Doofie Dino ist mein einziger Freund“, murmelte Tränenmond traurig zu sich selbst und eine einzelne Träne tropfte auf ihre Hausaufgaben.
 

Als die Kinder auf die Weiterführende Schule wechselten, hatte Frikadella alle alten Spielzeuge der beiden weggegeben. Doofie Dino war ein Teil davon. Tränenmonds Herz war gebrochen, auf den Boden geworfen und zertrampelt worden. An diesem Tag hatte sie im Englischunterricht einen neuen Begriff gelernt, welcher sich schnell zu ihrem Lieblingswort mausere: ‚Sad’.
 

Sad Angel of Sadness.
 


 

oOo
 

Nach der vierten Klasse hatte Tränenmond beschlossen, dass sie genauso gut auch ohne Freunde auskam. Sie war ein einsamer Wolf und ging ihren Weg alleine.

Statt sich mit nutzlosen Freunden die Zeit zu vertreiben widmete sie sich kreativen Dingen, wie der Musik und dem Schreiben von Büchern.

Es tat gut, ihre Gefühle in Worte zu fassen oder mit ihren Instrumenten in Klänge zu verwandeln. Tränenmond träumte davon, eines Tages eine renommierte Schriftstellerin zu werden.
 

Ihr erstes Buch ‚Tears of Technocroatia’ verkaufte sich zwar schleppend, aber immerhin gab es tatsächlich Leute, die ihre Bücherregale mit ihrem Werk schmücken wollten. Der Gedanke gab ihr Kraft weiterzuschreiben und ihre Arbeiten zu veröffentlichen.

Außerdem winkten Tantiemen, welche in dieser Zeit des geringen Einkommens nicht auszuschlagen waren.
 

Sorgfältig tippten ihre Finger den letzten Absatz ihrer neusten Schaffung. Noch einmal huschte ihr Blick über die Wörter, prüfend ob auch alles seine Richtigkeit hatte.
 

Jetzt musste sie das Kapitel nur noch an ihren Verleger schicken. Tränenmond atmete tief durch.
 

War sie dafür bereit? Sie hatte schon viele Kapitel weggeschickt, doch jedes Mal stellte es sich wieder als eine größere Prüfung heraus. Jedes Mal quälte sie sich mit Fragen, ob es gut genug seien würde oder sie nicht doch eine Versagerin war.
 

Sie schob eine zittrige Hand in ihre Tasche und strich hilfesuchend über eine kalte, glatte Oberfläche. Dann atmete sie dreimal durch, ehe sie auf Senden klickte.
 


 

oOo
 

Schnee bedeckte die gesellige Kleinstadt, die Bewohner hüllten sich in dicke Mäntel und zogen mützenbedeckt durch die Straßen. Im von den vielen Füßen matschig getretenen und daher nicht mehr ganz so schönen Park saß Tränenmond auf einer Schaukel und ließ die Beine baumeln.
 

Während sich die restlichen High School Schüler nach Schulschluss direkt auf den Heimweg gemacht haben um Zuhause heißen Kakao zu trinken und Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, war das Mädchen spazieren gegangen. In der Hand hielt sie einen dunklen Stein, welchen sie am Morgen auf ihrem Schulweg gefunden hatte.
 

Er hatte einsam und verlassen am Wegesrand gelegen. Als Tränenmond ihn sah, spürte sie eine Art Verbindung aufblühen. Dieser Stein war wie sie. Ungeachtet, ungeliebt, verstoßen. Er wurde achtlos durch die Gegend getreten. Tränenmond konnte sich mit ihm identifizieren.
 

Er war so etwas wie ihr Leidensgenosse. Vielleicht sogar ihr Seelenverwandte. Kurzerhand hatte sie ihn aufgehoben und in ihre Tasche gesteckt.
 

Liebevoll strich Tränenmond ihre Finger über den kalten, blanken Stein. Sie würde ihn Bodo-Bodo nennen und er sollte ihr neuer bester Freund werden.
 


 

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Jake_Muller
2017-01-15T16:59:45+00:00 15.01.2017 17:59
Klasse geschrieben :D
Grad zufällig gefunden und musste es auch gleich lesen :)
*favo*


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