Die Wölfe 5 ~Das Blut des Paten~ von Enrico (Teil V) ================================================================================ Kapitel 20: ~Nächtliche Kissenschlacht~ --------------------------------------- Drei Tage verbringe ich nun schon in diesem schrecklichen Bett, immer darauf angewiesen, dass mir jemand hilft oder etwas bringt. Meistens ist es Judy, die mich fragt, ob ich etwas brauche, die mir beim Umziehen und Waschen hilft oder meine Verbände neu anlegt. Sie ist es auch, die mich Nachts weckt, wenn ich schreie und um mich schlage. Immer bemüht sie sich um einen freundlichen Ton, ganz gleich, wie abweisend ich auch bin. Eigentlich müsste ich dankbar dafür sein, doch mich erdrückt so viel Zuwendung und Fürsorge. Mit jedem neuen Tag, den ich nicht allein aufstehen kann, komme ich mir mehr und mehr, wie ein hilfloses Kind vor. Ich schlafe Tagsüber, Nachts bekomme ich kein Auge zu. Dunkle Räume ertrage ich nicht, dann spielen sich immer wieder die selben Szenen in meinem Kopf ab: Schläge, Tritte, grölende Menschen hinter Gitterstäben, Wasser überall und das zufriedene Grinsen Michaels. Schlafe ich doch mal ein, schrecke ich schweißgebadet aus grässlichen Träumen auf, in denen ich alles wieder und wieder erlebe. Heute Nacht ist es nicht anders: Atemlos sehe ich mich in der Dunkelheit um. Nur der ruhige Atem meiner Frau und das Rauschen der Wellen ist zu hören. Ich bin bei Raphael, nicht im Käfig. Hier sind keine grölenden Menschen, keine Schreie nach meinem langsamen Tod. Ich lege meine Stirn in die Hände und atme durch, immer wieder, bis ich das Hämmern meines Herzens nicht mehr spüren kann. Langsam erhebe ich meinen Blick und sehen durch das Fenster auf das weite Meer hinaus. Die Wellen sind heute besonders hoch, sie brechen auf die kleine Insel, auf der die Villa gebaut ist und überschwemmen den Rasen. Dunkle Wolken hängen bedrohlich am Himmel, weder der Mond noch ein einziger Stern ist zu sehen. Regen prasselt gegen die Scheibe und fließt in kleinen Rinnsalen an ihr hinab. Wie passend, in mir tobt auch ein Sturm. Je länger ich in das schäumende Wasser schaue, umso ruhiger werde ich. Ich liebe es das Meer zu beobachten. Ich wäre jetzt gern da draußen und nicht in diesem Zimmer, diese vier Wände erscheinen mir mit jedem Tag kleiner. Die Klinke der Tür wird gedrückt, ein schwacher Lichtschein fällt ins Zimmer. Erschrocken sehe ich zum geöffneten Spalt. Ein kleiner Schatten huscht herein und verschmilzt mit der Dunkelheit. Leichtfüßige Schritte umrunden das Bett, schließlich taucht die Gestalt meiner Tochter direkt neben mir auf. Was macht sie denn hier, mitten in der Nacht? Kann sie auch nicht schlafen? Ihre kleine Hand greift nach meiner und zieht an mir, den Zeigefinger ihrer anderen Hand legt sie sich an den Mund. Ich soll still sein und mitkommen, soviel habe ich verstanden, aber ich begreife nicht warum. Sonst ist es stets ihre Mutter, zu der die Kinder gehen, wenn ihnen etwas auf dem Herzen liegt. Ihre aufgeregten Augen hasten umher, ich kann sie selbst in dieser Dunkelheit erkennen, so weit reißt sie sie auf. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich und ich schiebe die Bettdecke von mir. Mit viel Mühe drücke ich meine schweren Beine an den Rand der Matratze und gleite mit den Füßen auf den Boden. Amy zieht noch fester an mir, sie greift meine zweite Hand und versucht mir zu helfen. Mein Oberkörper schmerzt entsetzlich, stöhnend falle ich wieder zurück. Ohne die Hilfe eines Erwachsenen, bin ich bisher nicht auf die Beine gekommen, doch Amy gibt keine Ruhe. Ihr Blick bleibt auffordernd, ihre Hände umklammern meine. Ich versuche es noch einmal, doch das Ergebnis bleibt das Gleiche. Judy bewegt sich im Schlaf, sie rollt sich von einer Seite zur Anderen. Amy sieht erschrocken an mir vorbei und legt ihren Zeigefinger wieder an den Mund. "Ich schaffe es nicht aufzustehen, Amy. Wir müssen deine Mutter wecken", schlage ich flüsternd vor, doch meine Tochter schüttelt heftig mit dem Kopf und zieht wieder an mir. Seufzend ziehe ich meine Hände aus ihren zurück und stemme sie in die Matratze. Ich beiße mir auf die Unterlippe, während ich mich nach oben drücke. Ein zerreißender Druck baut sich auf meinem Brustkorb auf, scharf ziehe ich die Luft ein. Auf schwankenden Beinen komme ich zum Stehen. Nach einigen tiefen Atemzügen, wird der Druck erträglicher und das Zittern meiner Beine lässt nach. Erstaunt stelle ich fest, dass ich tatsächlich allein aufgestanden bin. Wenn mein Körper dabei nicht so schmerzen würde, könnte ich mich fast darüber freuen. Nun, wo ich auf beiden Beinen stehe, zieht meine Tochter noch energischer an mir. Amy gönnt mir keine Pause, sie läuft voraus und zieht mich mit. Ich stolpere ihr nach und lege meinen linken Arm um den schmerzenden Brustkorb. Irgendwie schaffe ich es einen Fuß vor den anderen zu setzen und meiner Tochter aus dem Zimmer, durch den Flur und in das angrenzende Gästezimmer zu folgen. Der Raum ist in ein helles Licht getaucht, in der Mitte steht ein großes Ehebett und um dieses herum läuft Rene. Er zieht das Laken von den Ecken der Matratze und schaut mich erschrocken und peinlich berührt an, dann sinkt sein Blick und bleibt wütend an Amy hängen. "Du alte Petze!", knurrt er, während seine Schwester hinter mir in Deckung geht. Ich sehe von ihr zu meinem Sohn und verstehe nicht, worum es geht, bis mir ein großer feuchter Fleck, auf Renes Hose auffällt. Hat er etwa ins Bett gemacht? Er ist sieben Jahre alt! Ich schaue meinem Sohn ins Gesicht, er wagt nicht mich anzusehen. Ob er wohl einen Alptraum hatte? Dass ihm das passiert ist, liegt sicher nicht an einer schwachen Blasse. "Es kommt nicht wieder vor. Ich mache es auch sauber", stammelt er panisch. Erwartet er etwa, dass ich jetzt mit ihm schimpfe? Würde Judy mit ihm schimpfen? Hat Amy deswegen mich geholt und nicht sie? Als sie in Italien ins Bett gemacht hat, habe ich auch nicht mit ihr geschimpft, vielleicht hat sie sich das gemerkt. Ohne ein Wort zu sagen gehe ich um das Bett herum und zu meinem Sohn. Ängstlich sieht er zu mir auf und zuckt zusammen, als ich ihm die Hand auf die Schulter lege. Das ist nicht das erste Mal, dass er bei einer Berührung von mir zusammenzuckt. Ob Judy hin und wieder die Hand erhebt? Egal, ich tue es nicht. Mit fest aufeinander gebissenen Zähnen gehe ich vor dem Jungen in die Knie. Renes Augen weiten sich, er sieht mir ungläubig dabei zu und zuckt noch einmal zusammen, als ich ihn in den Arm nehme und an mich drücke. Er wirkt wie versteinert und rührt sich nicht. "Ist nicht so schlimm", flüstere ich ihm zu. Ein Schluchzen erschüttert den kleinen Körper, als ich ihm sacht über den Rücken streiche. "Doch, ich bin doch schon groß", stammelt er. Ich lege dem Jungen beide Hände um die Arme und löse mich von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können. "Ja das bist du. Aber du hast so viele schlimme Dinge gesehen, da kann so was passieren." "Ist dir das auch schon passiert?" Ich denke kurz darüber nach. Es gab tatsächlich eine Zeit in meinem Leben, wo es mir ähnlich ging, wie ihm. "Ja, da war ich sogar ein Jahre älter als du. Das war kurz nachdem mein Vater gestorben ist." Rene schnieft und reibt sich die Tränen aus den Augen. Ich wuschle ihm durch die blonden Haare und sehe ihn aufmunternd an. "Hol dir was Frisches aus dem Schrank und geh dich waschen. Ich kümmere mich um das Bett", schlage ich dem Kind vor. "Wirklich?" "Ja!" Rene wischt sich mit dem Handrücken über die laufende Nase, dann geht er zum Kleiderschrank. Während er sich frische Kleidung holt, atme ich tief durch. Es war eine blöde Idee mich hinzuknien. Hier komme ich doch nie wieder hoch und auch das Bett werde ich ohne fremde Hilfe nicht neu beziehen, geschweige denn, die Matratze drehen können. Doch als Rene vom Schrank zurückkommt, verbeiße ich den Schmerz und stehe auf. Ich zwinge mir ein Lächeln ins Gesicht, als er mir zunickt und dann das Zimmer verlässt. Für ihn will ich jetzt stark sein. Als Renes Schritte sich entfernen, sehe ich seufzend auf das große Ehebett und den dunklen Fleck auf der einen Hälfte. Das schaffe ich doch nie allein. Die Hand meiner Tochter berührt die meine, aufmunternd lächelt sie mich an, dann läuft sie zu ihrer Decke und zieht sie vom Bett. Will sie mir etwa helfen? Ich liebe dieses Kind und lächle sanft, dann wende ich mich einem der Kissen zu und werfe es in ihre Richtung. Sie wird davon im Gesicht getroffen und sieht ärgerlich zu mir zurück. Frech grinse ich sie an. Amy erwidert das Lächeln und greift nach dem zweiten Kissen, mit beiden Armen wirft sie es nach mir. Ich kann mich gerade noch so zur Seite drehen, damit es mich nicht direkt auf den Brustkorb trifft. Das Kissen erwischt mich am Oberarm und fällt an mir hinab. Meine Tochter lacht herzhaft, während ich sie mit einem gespielt bösen Blick ansehe. Wie gern würde ich mich jetzt nach dem Kissen bücken und es ihr zurück schleudern, aber noch einmal würde ich nicht auf die Beine kommen. Amy hingegen hat damit kein Problem. Sie hebt das Kissen auf, das ich nach ihr geworfen habe und wirf auch das nach mir. Dieses Mal bin ich nicht schnell genug, um mich wegzudrehen, es trifft mich direkt auf dem Brustkorb. Ich ziehe die Luft hastig ein und versuche mir den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Verdammt, was fange ich auch so einen Mist an? Aber ihr fröhliches Lachen, das nun den Raum erfüllt, ist es wert. "Was ist denn hier los? Es ist mitten in der Nacht!", schreckt uns Susens ernste Stimme auf. Amys Lachen verhallt augenblicklich, erschrocken springt sie von der Tür weg und schaut schuldbewusst gen Boden. Ich lächle versöhnlich und bin froh, dass es nicht Judy ist, die wir geweckt haben. "Rene ist ein Missgeschick passiert", kläre ich sie auf. Susens Blick gleitet über das Laken. "Und deswegen veranstaltet ihr mitten in der Nacht eine Kissenschlacht?" "Ich wollte nur die Situation etwas auflockern." Susen seufzt und tritt ans Bett. Sie löst die Laken auf ihrer Seite. Dankbar sehe ich ihr dabei zu und lege meinen Arm wieder schützend um meinen zerreißenden Oberkörper. "Ich mach das schon, hol mir lieber einen kleinen Eimer mit Wasser und ne Scheuerbürste." Ich nicke verstehend und verlasse das Zimmer langsamen Schrittes, um das Verlangte zu holen. Amy folgt mir und nimmt beim Gehen meine Hand. Ihr warmes Lächeln ruht einmal mehr auf mir. Woher nimmt dieses Kind nach all diesen schrecklichen Erlebnissen nur so viel Lebensfreude? Ich drücke ihre kleine Hand und kann nicht aufhören sie zu beachten. Die langen schwarzen Haare reichen ihr bis über den Po, sie hat die kleinen Mandelaugen ihrer Mutter und ahmt sogar ihren Hüftschwung nach. Gemeinsam holen wir aus der Abstellkammer Eimer und Scheuerbürste und füllen im Badezimmer Wasser hinein. Stolz trägt Amy den gefüllten Eimer zurück ins Gästezimmer. Ich bin froh, dass sie so eifrig ist, denn obwohl der Eimer nicht groß ist und ich nicht viel Wasser hinein gefüllt haben, erschien er mir ungeheuer schwer, als ich ihn aus dem Waschbecken gehoben habe. Meine Tochter hat damit kein Problem, fröhlich trippelt sie ins Gästezimmer und reicht den Eimer an Susen weiter. Während sich ihre Tante an das Reinigen der Matratze macht, trete ich ins Zimmer und sehe ihr dabei zu. Ich will mich gerade für ihre Hilfe bedanken, als Susen zu sprechen beginnt: "Dein Sohn ist genau so schlimm wie du, wenn ihr hier seid, tobt das Chaos." "Tut mir leid. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich es selbst gemacht." "Schon gut! Es wundert mich, dass du überhaupt auf den Beinen bist." "Amy hat mir keine Wahl gelassen", erkläre ich und werfe einen sanften Blick auf meine Tochter, die Susen gespannt beim Reinigen der Matratze zusieht. "Es scheint ihr besser zu gehen, wenn du da bist." Ich lächle. "Wirklich?" Bin ich also doch für etwas gut? "Ja, ich hab sie lange nicht so strahlen gesehen." Das beruht auf Gegenseitigkeit. Immer wenn das Kind um mich ist, muss auch ich lächeln. Obwohl sie seit dem Augenblick, als sie mit der Suppe bei mir war, nicht mehr gesprochen hat, reicht allein ihre warme, herzliche Art aus, in mir fröhliche Gedanken zu wecken. Bei Rene hingegen, bekomme ich noch graue Haare und Sorgenfalten. Irgendetwas ist in seiner Erziehung mächtig schief gelaufen. "Ist Judy sehr streng mit den Kindern?", will ich von Susen wissen. Sie sieht mich skeptisch an und wirft die Scheuerbürste in den Eimer. "Wieso fragst du?" "Naja, Amy wollte nicht, dass Judy wach wird und das hier sieht und wenn ich Rene berühre, zuckt er zusammen." Susen seufzt und macht sich daran die Matratze zu drehen. "Es ist nicht einfach mitten in einer Wirtschaftskrise und ohne den Ehemann zwei Kinder groß zuziehen. Ich glaube sie war oft einfach überfordert. Sie hat auch sehr lange gebraucht, um über deinen Tod hinweg zu kommen und so hat Rene schon früh viele Aufgaben übernehmen müssen, für die er eigentlich noch viel zu klein war. Und wie du weißt, ist Geduld nicht unbedingt eine Stärke meiner Schwester." Ich nicke, ohne etwas dazu zu sagen. Es steht mir gar nicht zu, über meine Frau zu urteilen. Sie hat sicher getan, was in ihrer Macht stand und hat die Kinder ja bis jetzt durchgebracht. Es ist ja nicht ihre Schuld, dass ich aus ihrem Leben verschwunden bin. "Wäre schön wenn du wenigstens jetzt ein Vater sein könntest und sie etwas entlastest." "Werd's versuchen", entgegne ich und kann mir ein leises Seufzen nicht verkneifen. Bei dem ganzen Chaos im Clan und mit Michael im Nacken, weiß ich noch gar nicht, wo ich da die Kinder unterbringen soll. Ich kann sie ja schlecht zwischen Glücksspiel, Alkohol und Prostitution herumlaufen lassen. Aber ich wohne nun mal in der alten Fabrik und habe keine andere Bleibe. Ob Judy wohl irgendwo ein Apartment hat, wenn sie nicht gerade hier ist, um mich zu pflegen, oder hat sie mit Sam zusammen gewohnt? Susen bezieht das Bett neu und legt die Kissen und Decken auf das frische Laken. Ich will sie gerade nach dem Wohnort meiner Frau fragen, als Rene zurückkommt. Erschrocken bleibt er in der Tür stehen und sieht von Susen vorwurfsvoll zu mir. "Ich dachte du wolltest das machen?", brummt er. Ich sehe ihn entschuldigend an. Scheinbar habe ich ihn schon wieder enttäuscht, das tut mir leid. "Susen war so lieb mir zu helfen, ich kann doch noch nicht so, wie ich ...", versuche ich ihm zu erklären, doch er schaut nur noch ärgerlicher. "Hast du's ihr etwa verraten?" Das ließ sich schwer vermeiden, sie kam noch bevor ich das Laken abziehen konnte. Rene verschränkt die Arme vor der Brust und schaut grimmig vor sich hin. Noch bevor ich ihm antworten kann, schimpft er weiter: "Dann hättest du ja gleich zu Mama gehen können." "Rene, ich kann mich noch nicht so bewegen, wie ich es will." "Dann wärst du eben im Bett liegen geblieben! Das kannst du sowieso am besten. Ich hätte das auch allein geschafft." Dieser Junge treibt mich noch in den Wahnsinn. Er bettelt geradezu nach einer Tracht Prügel, hat er denn überhaupt keinen Respekt vor mir? Ich sehe den Jungen finster an, bis er unter meinem Blick hinweg sieht. "Es ist schon spät, ihr gehört längst ins Bett!", ruft Susen dazwischen. Sie klopft auf die rechte Hälfte des Bettes und sieht zunächst Amy auffordernd an. Ohne zu murren steigt meine Tochter ins Bett und lässt sich zudecken. Dann hebt Susen die zweite Decke an und betrachtet Rene auffordernd. Dieser braucht einen Moment, dann seufzt er und läuft mit gesenktem Blick vorsichtig an mir vorbei. Als er hinter mir verschwindet und das Bett umrundet, atme ich tief durch und schlucke meine wütenden Worte hinunter. Ich hätte nicht mal die Kraft ihm den Arsch zu versohlen. Susen deckt auch ihn zu und wünscht beiden Kindern eine gut Nacht. Als sie zur Tür geht, folge ich ihr. Sie verlässt vor mir den Raum, während ich beim Lichtschalter halte mache. "Schlaft schön!", wünsche ich ihnen. Rene dreht mir den Rücken zu, während sich Amy in ihre Decke kuschelt. Mit einem Seufzen lösche ich das Licht und schließe die Tür nach mir. Susen wartet im Flur auf mich und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. "Nimm's nicht so schwer. Rene braucht einfach seine Zeit, er ist zu oft enttäuscht worden." Ich nicke und laufe in Gedanken versunken an ihr vorbei, gerade aus durch den Flur bis ins Wohnzimmer. Susens fragender Blick folgt mir, ich kann ihn im Rücken spüren. "Ich muss mal an die frische Luft. Diese vier Wände ersticken mich", antworte ich ihr, bevor sie mich fragen kann. "Dann zieh dir wenigstens 'ne Jacke und Schuhe an!", ruft sie mir nach, als ich nach rechts zur Verandatür und nicht nach links abbiege, wo sich die Garderobe und unsere Jacken befinden. Seufzend drehe wende ich mich im Laufen. Ich nehme mir meine Jacke von der Garderobe und ziehe sie mir über, dann schlüpfe ich in meine Straßenschuhe. Susen hat inzwischen das Wohnzimmer erreicht und sieht mir zufrieden dabei zu "Brav!", sagt sie neckisch und besteigt die Treppe in den ersten Stock. Ich rolle nur mit den Augen und beachte sie nicht weiter, als ich das Wohnzimmer durchquere und zur Verandatür gehe. Endlich raus hier, raus aus diesen geschlossenen Räumen. Obwohl es in Strömen regnet, genieße ich die frische Luft und den stürmischen Wind, der mir entgegen schlägt. Die tobenden Wellen brechen noch immer über den Rasen und reichen fast bis ans Haus heran. Ich gehe bis zum äußersten Rand der Insel und beobachte die Wellen dabei, wie sie meine Schuhe umspülen und zurück ins Meer rollen. Hier habe ich schon so oft gestanden, meist mit irgendeiner schmerzenden Verletzung und hinaus aufs Meer gesehen. Hier wo die Welt zu enden scheint, lösen sich alle Gedanken auf, hier fühle ich mich frei von allen Sorgen. Ich atme die salzige Meeresluft ein und schließe für einen Moment die Augen. "Enrico? Ziehh einer an! Du bisscht ja wieder auf den Beinen." Erschrocken fahre ich herum. Auf einer weißen Bank, direkt vor der Villa, sitzt Jan. Er hat eine braune Whiskyflasche in der Hand und zieht an einer Zigarette. Seine Kleidung klebt ihm dicht am Körper, von seinen Haaren läuft ihm der Regen ins Gesicht. Warum habe ich ihn nicht bemerkt? Der Anblick des Meeres muss mich zu sehr gefesselt haben. Ich lege den Kopf schief und betrachte Jan von Kopf bis Fuß. Das Licht, das aus dem Wohnzimmer in seinen Rücken fällt, wirft dunkle Schatten in sein Gesicht. Tiefe Ringe umrahmen die roten Augen, seine Wangen sind eingefallen und die Schultern gesenkt. Der Gestank seiner Alkoholfahne wird vom Wind bis zu mir getragen. Die letzten Tage habe ich ihn nicht einen Moment nüchtern erlebt. Das mit Lui und Robin ist schrecklich, aber Alkohol macht es nicht ungeschehen. Ich erhebe den Kopf und gehe auf ihn zu, als ich ihn erreiche, reiße ich ihm die Flasche aus der Hand. Erschrocken sieht er mich an, dann verfinstern sich sein Blick. "Was soll das werden?", mault er. "Siehst du das von mir? Und ich hab zehn mal mehr Gründe mir die Kante zu geben" "Halt mir keine Vorträge und gib mir die Flasche zurück!", fordert er angriffslustig. Doch anstatt ihm die Flasche zurückzugeben, werfe ich sie auf die großen Steine im Meer. Sie zerspringt auf den spitzen Kanten, die Wellen tragen Scherben und Alkohol davon. Jan springt auf die Beine und packt mich am Kragen. Wut und Hass spiegeln sich in seinen aufgerissenen Augen, doch ich schaue unbeeindruckt zurück. "Was denn? Kannst du schon nicht mehr ohne das Zeug? Glaubst du davon lösen sich all deine Probleme in Luft auf? Robin und Lui sind tot und kein Rauschzustand wird daran etwas ändern!", schreie ich ihn an und merke dabei, wie wütend mich diese Tatsache macht. Jan hingegen steigen die Tränen in die Augen, er packt mich an den Armen und schaut mich eindringlich an. "Wie kannst du nur so kalt darüber sprechen? Sie haben sich den Arsch für dich aufgerissen." Meine Worte klangen wirklich kalt und tatsächlich spüre ich gar nichts, wenn ich an sie denke, nichts als Hass auf ihre Mörder und auf sie, weil sie sich einfach haben töten lassen. Meine Hände balle ich zu Fäusten, ich drücke Jan von mir und schiebe mich an ihm vorbei. "Tränen und Verzweiflung bringen sie nicht zurück", entgegne ich nur. Robin und Lui sind nicht die ersten Freunde, die ich beerdigen musste. "Und das ausgerechnet aus deinem Mund, wo du ein ganzes Jahr lang wegen Toni rumgeflennt hast!" Wie kann er es wagen? Wütend drehe ich mich zu Jan und erhebe drohend den Zeigefinger, während ich einen energischen Schritt auf ihn zu gehe. "Halt die Klappe! Ich habe nicht nur Toni für tot gehalten und das ist alles eure Schuld gewesen, weil ihr mich Jahre lang belogen habt." "Jetzt spiel dich nicht so auf! Ohne uns, wärst du gar nicht mehr am Leben. Und die Lüge hat ihren Teil dazu beigetragen", schreit Jan gegen das tosende Meer an. "Von wegen! Ihr hattet doch nur Angst, ich will nach New York zurück und ihr würdet eurer ruhiges Leben aufgeben müssen." "Was ist so schlimm an einem ruhigen Leben? Kannst du's nicht ertragen, wenn man dir nicht nach dem Leben trachtet? Sieh dich doch an. Wären wir noch in Italien, wärst du jetzt keine wandelnde Leiche." „Mag sein, aber ich habe das Leben in Italien gehasst. Wären wir noch dort, wäre ich schon längst vor Langeweile gestorben." "Ach, dann findest du es also besser, so zugerichtet zu werden?" "Glaubst du ich habe mir das ausgesucht?" "Ja, richtig! Das hat ja dein toller Kumpel für dich eingefädelt!" Lauernd umkreisen wir uns. "Du warst doch genau so daran beteiligt!" "Ja, und wieder verdankst du dein Leben mir! In all den Jahren habe ich nicht ein Wort des Dankes von dir gehört." "Vielleicht wollte ich ja gar nicht von euch gerettet werden!" "Ja stimmt, das überlässt du lieber Toni. Kaum taucht der Kerl auf, ist alles wieder gut, selbst wenn er dich zuvor den Drachen zum Fraß vorwirft. Ist bestimmt toll von deinem Prinzen gerettet, herumgetragen und durchgevögelt zu werden." Was ist denn in Jan gefahren? "Bist du etwa eifersüchtig?", will ich irritiert wissen. Er hört sich an wie Judy, wenn sie mich mit einer anderen im Bett erwischt. "Auf den? Wenn ich wollte, könnte ich dich jeder Zeit haben." Ich sehe Jan belustigt an. Ist das sein Ernst oder spricht da nur die Trauer und der Alkohol aus ihm? Er ist überhaupt nicht mein Typ, viel zu klein und schmächtig. Ich will im Bett jemanden, der auch dazu in der Lage ist, mich zu besiegen. Außerdem bin ich der Meinung gewesen er und Lui hätten was miteinander, nicht aber das Jan sich für mich interessiert. Nein, er hat einfach zu viel getrunken. "Schlaf deinen Rausch aus!", schlage ich vor und wende mich ab. Jan folgt mir, er packt mich am Arm und dreht mich mich. Mit seinem ganzen Körper drängt er mich an die Verandatür. Seine Lippen presst er auf meine. Mit großen Augen sehe ich ihn entsetzt an. Sein Atem stinkt nach Alkohol und Zigarette, seine Lippen sind kalt und feucht. Ich drücke ihn von mir und schaue ihn angewidert an. "Du kannst nicht mit ihm mithalten, nicht mal beim Küssen. Wenn es um Frauen geht, mag ich nicht wählerischer sein, aber unter den Männern, kann es nur einer mit mir aufnehmen." "Du hältst dich wohl für unwiderstehlich, was?" Ich grinse breit. "Natürlich, aber du interessierst mich kein Stück!" Ich will mich umdrehen und gehen, doch Jan packt mich an den Oberarmen und drängt mich noch härter an die Tür. Mein Brustkorb schmerzt unter seiner Last, ich stöhne gequält. So langsam übertreibt er es. Zornig sehe ich ihn an. "Lass mich los!", verlange ich ernst. Jans Blick wir überheblich, in einem breitet Grinsen entblößt er seine schneeweißen Zähne. "Was denn, bekommst du's jetzt mit der Angst zu tun?" Mir schlägt das Herz tatsächlich bis zum Hals. Wenn er wirklich erst macht, habe ich in meinem Zustand, keine Chance mich zu wehren. "Glaubst du ernsthaft, ich hätte Interesse an einem überheblichen, arroganten Arsch, wie dir?" Seine Augen sprechen eine andere Sprache. Ich glaube Lust in ihnen zu lesen. Panik steigt in mir auf. "Dann lass mich los!", fordere ich energischer, doch es gelingt mir nicht das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Ich will nicht festgehalten werden, das ruft unweigerlich Erinnerungen in mir wach, die ich mit aller Gewalt zu verdrängen versuche: Michaels widerlicher Körper über mir, nein, so etwas will ich nie wieder erleben müssen. Mein Herz hämmert hart gegen meine gebrochen Rippen. Scheu sehe ich Jans in die Augen und flehe ihn stumm an, mich gehen zu lassen. "Lui war der Einzige den ich je wollte und wenn ich mich besaufe, weil er nicht mehr da, dann ist das meine Sache. Haben wir uns verstanden?" Ich nicke und schaue noch immer furchtsam zurück. Schließlich gibt Jan meine Arme frei und lässt mich stehen, er öffnet die Verandatür und geht zurück ins Haus. Ich sehe ihm nicht nach. Als er die Tür nach sich zuwirft, lehne ich mich an das kalte Glas und lege den Kopf zurück. Ich atme einige Male tief durch. Das wäre fast schief gegangen. Manchmal sollte ich meine große Klappe zügeln, aber woher hätte ich ahnen sollen, dass Jan so energisch werden kann. Sonst hat er sich selbst unter Alkoholeinfluss im Griff. Ich bleibe noch lange im Regen stehen und versuche sein Verhalten einzuordnen. Für einen Moment habe ich wirklich geglaubt in seinen Augen Lust und Verlangen nach mir zu lesen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass er mir auf die Pelle rückt, wenn er etwas getrunken hat. Aber so aufdringlich ist er noch nie geworden. Alkohol macht mutig und ehrlich, so viel hat mich die Erfahrung gelehrt. Ob er wirklich etwas von mir will? Ich schüttle mir diesen Gedanken aus meinem Kopf. Nein danke, nicht mal um mich zu trösten, weil Toni abgehauen ist. Seufzend lasse ich mich auf der nassen Bank nieder und starre hinaus aufs Meer. Ich bin schon seltsam: Mit einem Dutzend anderer Frauen zu schlafen, obwohl ich verheiratet bin, stört mich kein Stück, aber einen anderen Mann als Toni zu haben, kann ich mir nicht mal vorstellen. Unweigerlich schleicht sich Michael in meine Gedanken, Übelkeit dreht mir den Magen um. Verdammt! Warum muss ich nur immerzu daran denken? Ich atme ein und aus, um mich nicht übergeben zu müssen und schaue hinaus aufs Meer. Der Wind hat nachgelassen und hinter den dunklen Wolken schimmert das erste Licht des Tages. Das Meer hat sich beruhigt, die Wellen schaffen es nicht mehr hinauf auf die Insel, sie schlage gegen die großen Steine davor. Der Regen hat aufgehört, nur noch vereinzelte Tropfen werfen immer größer werdende Ringe auf die Wasseroberfläche. Diese drei Tage bei den Drachen werden mich auf ewig verfolgen und ich kann nicht mal mehr zu Robin fahren und ihr die Ohren voll heulen und mir mit ihr den Kopf frei vögeln. In zwei Wochen ist die Beerdigung, ihre Leiche wurde in einem Fass Säure gefunden, man hat sie nur anhand ihres goldenen Armbandes identifizieren können, das neben ihren Knochen noch nicht zersetzt war. So kann ich sie nicht einmal mehr sehen, um mich zu verabschieden. Dieses Ende hat sie nicht verdient. Sie war die erste Frau, in die ich mich verliebt habe, die Einzige, mit der ich über alles reden konnte. Seufzend lege ich das Gesicht in die Hände. Wie oft hat sie sich meine Probleme mit Toni anhören müssen und nun ist sie einfach nicht mehr da. Warum sterben eigentlich immer die anderen und nicht ich? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)