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The last sealed Second

Diarium Fortunae
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nur zur Info:
Kapitel 1 war ursprünglich mal der Prolog dieser Geschichte, bis ich später doch nochmal einen neuen geschrieben habe. Besonders beim Übergang zu Kapitel 2 wird man das merken, aber ich mochte diesen Anfang sehr gerne und darum hab ich ihn auch so gelassen. :) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Edit: Wenn ich mir das Kapitel heute so betrachte, finde ich es etwas unglücklich, wie ich Mara hier vorgestellt habe, obwohl es Absicht war. Sie sollte so seltsam wirken, wie sie hier rüberkommt, aber das hätte ich wohl auch anders schaffen können. In Kapitel 20 erfährt man, warum sie so ist. Lasst euch bis dahin bitte nicht von Mara abschrecken. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Bisher ist das hier mein Lieblingskapitel. Ich mag es wirklich sehr gern. ♥ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist echt nur entstanden, weil ich immer viel zu viel schreibe und einfach nicht aufhören kann. Der Anfang z.B. sollte ursprünglich noch mit ins letzte Kapitel. :,D
Immerhin kam ich durch diese Entwicklung endlich dazu den Satz "Ein guter Kerl" einzubauen, was ich schon seit Kapitel 2 machen wollte, es bisher aber nie wirklich reingepasst hat.
Ansonsten stehe ich dem Kapitel sehr geteilt gegenüber, aber da hier doch einige wichtige Dinge gezeigt werden, kann ich zufrieden damit sein.
Btw: Großes Yay~ für den Anfang (der ist genau wie in Kapitel 2 ;D). XD Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ... ಠ_ಠ
Nur zur Info: Kapitel 14 & 15 sollten ursprünglich ein einziges sein, aber ich habe wieder viel zu viel geschrieben und sie dann lieber getrennt. Deshalb folgen jetzt zwei "Laber"-Kapitel, in denen nicht viel passiert, aber man erfährt viel über die Charaktere.
Trotzdem hat dieses Kapitel hier mich viele Nerven gekostet. An der Stelle mal ein großes Danke an meine liebe Beta  Flordelis, die zwei Mal hier rüberschauen musste, weil ich in letzter Zeit echt nachlässig geworden bin, was Rechtschreibung angeht. >.< Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ich weise an der Stelle nochmal darauf hin, dass Kapitel 14 und 15 ursprünglich als ein gemeinsames Kapitel geplant waren. :,D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Mit diesem Kapitel feiert LsS heute Jahrestag! ♥
(Vielen lieben Dank an  Flordelis, die es für mich zu diesem Anlass noch rechtzeitig korrigiert hat. :3) Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein Kapitel, das nicht zwingend hätte sein müssen, ich aber unbedingt schreiben wollte. ♥ Außerdem dient es doch ganz gut dazu, Ferris' Zustand später besser zu verstehen. Komplett anzeigen

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Jemand, der nicht träumen dürfte

„Sieh mal an, du beschäftigst dich sogar während deiner Pause mit Büchern, Mara?“

Die junge Frau namens Mara löste ihren Blick von dem Buch, in das sie sich vertieft hatte, um aufzuschauen. Jemand hatte sich ihr gegenüber an den kleinen Holztisch gesetzt, der in dem schlicht eingerichteten Pausenraum stand, was sie überhaupt nicht bemerkt hatte. Anscheinend saß diese Person sogar schon etwas länger dort, denn die Kaffeetasse, die sie mit beiden Händen festhielt, war bereits halb leergetrunken.

Es handelte sich um Bernadette, eine mollige Frau mit Anfang dreißig, die hellbraunes, lockiges Haar hatte und nicht nur mit Mara zusammen in einem Buchladen arbeitete, sondern auch die Besitzerin von diesem Geschäft war. Sie wirkte immerzu verschlafen, doch sie verlor nur selten ihre gute Laune. Mit ihren Mitmenschen ging sie zwar grundsätzlich äußerst mütterlich um, trotzdem lebte der Schelm in ihren blauen Augen und an manchen Tagen konnte es recht anstrengend sein, ihre Späßchen auszuhalten.

„Oh, du hast mich also wirklich bis jetzt nicht bemerkt?“ Offenbar musste Mara gerade recht verwirrt aussehen und das brachte Bernadette zum Schmunzeln. „Du scheinst Bücher wirklich zu lieben, hm? So sehr, dass du sogar die Welt um dich herum komplett vergisst.“

Verlegen klappte sie das Buch vorerst zu. „Entschuldigung.“

„Also bitte, du musst dich doch nicht wegen so was bei mir entschuldigen“, versicherte Bernadette und zwinkerte ihr zu. „Ich kann mich glücklich schätzen, so jemanden wie dich in meinem Laden zu haben und ich habe dir ja auch gesagt, dass du dir ruhig Bücher zum Lesen nehmen darfst.“

„Hm.“ Unsicher strich sich Mara einen Teil ihrer schwarzen Haare, die ihr bis zur Hüfte reichten, hinter das linke Ohr. „Danke.“

„Hach, wie süß du geworden bist!“, platzte es begeistert aus Bernadette heraus, weil Mara sich ihr gegenüber so schüchtern verhielt. „Als ich dich kennengelernt habe, warst du noch so feindselig, ein richtiges Biest.“

Das war dem ehemaligen Biest peinlich, erst recht wenn sie an das erste Treffen mit ihrer jetzigen Chefin zurückdachte, darum gab sie kleinlaut eine weitere Entschuldigung von sich. Bernadette schenkte ihr darauf ein warmes Lächeln, bevor sie die Tasse anhob und einen Schluck daraus nahm. Derweil ließ Mara ihren Blick nach unten zu dem Buch auf ihrem Schoß sinken, in dem sie bis eben noch gelesen hatte. Eindringlich betrachtete sie die Vorderseite des vergoldeten Einbandes und merkte wieder nicht, wie sie mit ihren Gedanken von der Realität abdriftete.

Schnell wurde sie aber durch einen erstaunten Ausruf zurückgeholt. „Ah! Dieses Buch!“

Mara presste leicht erschrocken ihren Rücken gegen die Stuhllehne, als sie sah, dass Bernadette halb auf den Tisch geklettert war, damit sie ebenfalls einen Blick auf das Buch werfen konnte. Ihr Kopf samt Körper beugte sich immer tiefer zu der Lektüre runter und das gab Grund zur Befürchtung, dass die gute Frau ihr gleich sogar auf dem Schoß saß.

Zu ihrer Erleichterung hielt Bernadette aber dann inne und rutschte schließlich über den Tisch zurück auf ihren eigenen Stuhl, wobei sie beinahe ihre Tasse runter gestoßen hätte, die gefährlich nah am Rand abgestellt worden war. Plötzlich hatte sich ihr zuvor munterer Ausdruck verändert, wodurch Mara sich unbehaglich fühlte. Hatte sie irgendeinen Fehler gemacht?

Diarium Fortunae“, sprach Bernadette den Titel des Buches laut aus, lehnte sich nachdenklich zurück und verschränkte die Arme. „Da hast du dir ja ein außergewöhnliches Buch rausgesucht, das hab ich schon ewig nicht mehr gesehen. Wo hast du das denn ausgegraben?“

„Aus einer alten Kiste“, antwortete Mara gleich wahrheitsgemäß, „im Keller, die ziemlich verstaubt gewesen ist. Sie sah wirklich danach aus, als hätte sie schon ewig keiner mehr aufgemacht und dort drin hab ich, unter anderem, dieses Buch gefunden.“

„Verstehe.“ Etwas bezüglich des Buches brachte Bernadette dazu, dass sie melancholisch seufzte. „Und? Wovon handelt es?“

Diese Frage kam Mara überflüssig vor, schließlich war anhand der Reaktionen von ihrer Chefin zu vermuten, diese kannte das Buch schon längst und verband auch mindestens eine Erinnerung damit. Vielleicht hatte sie es aber selbst, aus irgendeinem Grund, nie gelesen und kannte deswegen den Inhalt an sich tatsächlich gar nicht. Darüber dachte Mara aber dann lieber nicht weiter nach.

Sie ging kurz in sich und strich mit der Hand sanft über den Einband, als müsste sie sich erst daran erinnern, was sie bisher gelesen hatte. „Es ist wie ein Tagebuch geschrieben, in dem mit jedem einzelnen Eintrag Erlebnisse und die daraus erhaltenen Informationen von verschiedenen Leuten festgehalten wurden. Weit bin ich leider noch nicht gekommen, aber die Einträge, die ich bis jetzt gelesen habe, handelten von einer Gruppe mit der Bezeichnung Traumbrecher.“

„Mh-hm“, bestätigte Bernadette, dass sie aufmerksam zuhörte.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatten Maras blaue Augen angefangen begeistert zu leuchten. „Traumbrecher sind Jäger, die Alpträume verfolgen, um sie zu vernichten und die Menschen dadurch von dieser Last zu befreien. Sie sorgen dafür, dass die Träume nicht aussterben, aus denen die Fortunae, Schicksalsgöttinnen, Glück für die Welt schmieden können. Es gibt viele verschiedene Arten von Alpträumen, denen jeweils unterschiedliche Eigenschaften zugeordnet werden. Manche davon sind harmlos, andere derart gefährlich, dass sie das Gleichgewicht der Welt stören könnten, weil eine Fortuna ohne die Energie, die aus reinen Träume geboren wird, kein neues Glück mehr erschaffen kann. Unter Einsatz ihres Lebens verhindern Traumbrecher dieses Unheil.“

„Interessant. Klingt nach einer harten, aber wundervollen Aufgabe.“

Dem konnte sie sich nur anschließend. „Ja, nicht wahr?“

Inzwischen hatte Bernadette die Augen geschlossen, so fiel es ihr leichter, jedes Detail so intensiv wie möglich in sich aufnehmen. Das war etwas, was Mara an ihr mochte. Nicht viele Menschen in ihrem bisherigen Leben hatten ihr so viel Aufmerksamkeit geschenkt oder hörten ihr gern zu. Motiviert davon erzählte sie weiter, was sie noch wusste.

„Traumbrecher erhalten die Kraft zur Vernichtung von Alpträumen aus der Essenz ihrer eigenen Träume. Während eine Fortuna diese Energie zum Schmieden von Glück nutzt, stellen Traumbrecher individuelle Waffen für ihren Kampf her. Diese Kraftquelle ist für sie aber stark begrenzt“, sagte sie und ihr wurde schwer ums Herz, als sie fortfuhr. „Ihnen sind insgesamt sechs Stunden gegeben, die sie nutzen können, um durch ihre Träume Waffen zu formen, mit denen sie gegen Alpträume angehen können. Danach ...“

Am liebsten hätte sie es gar nicht ausgesprochen, doch nach einer kleinen Pause, überwand sie sich. „Danach verlieren sie die Fähigkeit zu träumen endgültig und können nicht mehr weiterkämpfen.“

„Nie wieder träumen?“ Auch Bernadette gefiel dieser Gedanke nicht und ihre Stimme klang mitfühlend. „Ganz schön unfair, ohne Träume weiter existieren zu müssen, obwohl man genau diese zuvor die ganze Zeit über beschützt hat.“

„Ja“, stimmte Mara ihr zu und legte den Kopf in den Nacken, um ziellos an die Decke zu starren. „Das finde ich nicht richtig, es ist grausam. Ohne Träume ist das Leben so leer.“

Darüber klang ihre Gesprächspartnerin nun erstaunt. „Ach? Heißt das, du träumst also auch?“

„Natürlich“, gab sie Antwort, ohne ihren Blick von der Decke abzuwenden. „Jeder träumt doch, auf seine Weise. Ich tue es am liebsten beim Lesen.“

„Na, so eine Überraschung, genau wie ich.“ Auf einmal musste Bernadette amüsiert kichern. „Das erklärt so einiges.“

„Was denn?“

„Nicht so wichtig, du bist einfach nur etwas Besonderes“, wich sie dieser Frage aus und öffnete die Augen wieder. „Kann es sein, dass du dir das, was da drin steht, sehr zu Herzen nimmst?“

„Ist das schlimm?“

„Ich bin mir nicht ganz sicher.“ Es folgte Schweigen, das für einige Minuten anhielt, bis sie mit einem letzten Satz dieses Thema vorerst abschloss. „Erzähl mir mehr von dem Buch, sobald du es weitergelesen hast, okay?“

Anhand eines Schleifgeräusches konnte Mara erahnen, dass sie soeben die Kaffeetasse wieder zur Hand genommen haben musste. Direkt danach war aus dem Nichts ein kalter Luftzug zu spüren, der sie beide gleichzeitig frösteln ließ. Automatisch ließ Mara von der Decke ab und blickte zu dem Fenster mit dem alten Holzrahmen rüber, das jedoch geschlossen war. Ihre zweite Vermutung für die Herkunft dieser Kälte sprach Bernadette dann an ihrer Stelle laut an.

„Verdammte Geißel, der letzte Besucher hat wohl die Tür mal wieder nicht anständig geschlossen.“ Sofort stand sie auf und trank mit einem letzten, großen Zug den Kaffee aus. Anschließend schlenderte sie rüber zum Spülbecken, wo sie die Tasse abstellte. „Ich muss mir dafür endlich mal was einfallen lassen, hier ist sowieso alles viel zu baufällig. Gegen rustikalen Charme hab ich ja nichts, aber es muss nicht heruntergekommen sein.“

Aus ihrer Hosentasche holte Bernadette eine versilberte Taschenuhr hervor und prüfte die Uhrzeit, worauf eine geschockte Reaktion folgte. „Unglaublich, wir haben ja schon nach Mitternacht! Wie schnell die Zeit vergeht, ich werde langsam echt zu alt.“

Mara glaubte, dass sie ihr an der Stelle eigentlich hätte widersprechen müssen, aber sie konnte sich nicht überwinden. Außerdem mochte Bernadette es auch nicht, wenn man gegen ihre Worte protestierte. So viel hatte Mara nach kurzer Zeit schon verstanden, dabei war sie noch gar nicht lange hier. In einem musste sie ihr allerdings zustimmen: Die Zeit war wahrlich rasch verflogen.

„Ich habe mich schon gewundert, warum keine Kunden mehr kommen. Dann kann ich den Laden auch zumachen“, stellte sie für sich selbst fest und tat etwas, was sie jedes Mal machte, sobald sie ihre Taschenuhr in der Hand hielt: Sie ließ ihren Blick gründlich über ihre gesamte Umgebung schweifen, suchte förmlich die Gegend ab.

Mittlerweile hielt Mara das für nichts weiter als eine Angewohnheit, die sie irgendwann mal entwickelt haben musste und nicht mehr ablegen konnte. Komisch kam es ihr dennoch vor, erst recht weil sie sich stets unwohl fühlte, wenn sie das tat. Diesmal konnte es aber auch nur an dem frostigen Luftzug liegen.

Als Bernadette ihre Umgebung vollständig überprüft hatte, wandte sie sich an Mara. „Genug Aufräumarbeiten für heute, wird höchste Zeit ins Bett zu gehen. Geh du ruhig schon schlafen, die letzten Kleinigkeiten schaffe ich auch alleine.“

„In Ordnung.“ Dankbar nickte Mara ihr zu und erhielt dafür nochmal ein warmes Lächeln von ihr.

Schweigend begab Bernadette sich daraufhin auch gleich in den vorderen Teil des Ladens und hatte es auffallend eilig. Für Mara war das aber kein Grund misstrauisch zu werden, sicher wollte sie nur so schnell wie möglich auch ins Bett kommen und noch etwas Schlaf bekommen. Falls Bernadette immer erst derart spät ins Bett ging, war es nicht verwunderlich, dass sie andauernd so verschlafen aussah.

Auch Mara sollte sich schlafen legen, zumal die Arbeit bald schon von vorne losging. Selbst nach knapp einem Monat kam es ihr noch wie ein Traum vor, dass Bernadette so nett war, sie sogar in dem Gästezimmer in der Wohnung über dem Laden leben zu lassen. Solch ein großes Vertrauen legten bestimmt nicht viele Menschen in einen Fremden, den sie irgendwo auf der Straße aufgelesen hatten.

Gedankenverloren nahm Mara das Buch von ihrem Schoß und hielt es vor sich. Irgendwie faszinierte sie die Vorstellung von diesen Traumbrechern sehr und sicher steckten noch viel mehr Geheimnisse hinter ihnen, die sie allesamt noch erkunden wollte. Für sie war es ein tröstlicher Gedanke wenigstens hoffen zu können, dass sie vielleicht echt waren.

Sehnsüchtig drückte sie das Buch an sich. Warum sollte sie daran zweifeln? Solange es jemanden wie sie gab, konnten auch diese Jäger echt sein.

„Ob mich eines Tages auch mal einer vor Alpträumen retten wird?“, fragte sie sich selbst. „Jemanden wie mich. Jemand, der nicht träumen dürfte?“

Ein lautes Poltern aus dem Laden riss sie jäh ins hier und jetzt zurück. Kurz danach war noch mehr Lärm zu hören, den sie nicht richtig einzuordnen wusste. Auf eine Art klang es wie Glas, das zersplitterte und fließendes Wasser, nur mit einem unnatürlichen Nachhall. Irgendetwas stimmte nicht. Ob Bernadette etwas passiert war? Mara war es ihr in jeder Hinsicht schuldig, nach ihr zu sehen.

Beunruhigt stand sie auf, das Buch weiterhin fest an sich gedrückt. Mit langsamen Schritten ging sie zu der Tür, die in den vorderen Bereich führte und streckte die Hand nach der Klinke aus, aber bevor Mara sie berühren konnte, glitt diese vorher schon von alleine nach unten. Quietschend schwang die Tür auf, knallte gegen die Wand und Mara erstarrte bei dem Anblick von dem, was sie dahinter bereits erwartete.

„Sieh an, sieh an. Was haben wir denn da?“, hörte sie eine verzerrte Flüsterstimme in ihrem Kopf widerhallen. „Ich wusste doch, dass ich etwas Besonderes gerochen habe. Wenn ich dich nehme, wird keiner dieser lästigen Howler es wagen, mich zu töten. Auch er nicht.“

Dafür wird meine Zeit immer reichen

Jede kleinste Unebenheit auf der Straße ließ das Auto wie bei einem halben Erdbeben erzittern, was die Reise nicht gerade angenehmer machte. Besonders nicht für Luan, dem ein schwerer Seufzer nach dem anderen entglitt, sobald dieser alte Schrotthaufen wieder wild zu schaukeln begann und dadurch im Inneren alles kräftig durchgeschüttelt wurde.

Ein Wunder, dass der Wagen noch nicht auseinandergefallen war, aber lange dürfte es mit Sicherheit nicht mehr dauern, wenn sein Freund und Arbeitskollege weiterhin so einen furchtbaren Fahrstil an den Tag legte wie jetzt. In diesem Moment bereute Luan es bitter, kein eigenes Auto mit dem dazugehörigen Führerschein zu besitzen.

„Ich hätte doch den Zug nehmen sollen“, brummte Luan irgendwann vor sich hin.

„Stell dich mal nicht so an“, sagte der Fahrer, Ferris, daraufhin entspannt. „So schlecht fahre ich nun auch nicht.“

Beinahe hätte ein weiteres, heftiges Ruckeln des Wagens dafür gesorgt, dass Luan mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe gestoßen wäre, doch er konnte sich noch rechtzeitig zurücklehnen. Vorwurfsvoll blickte er sogleich seitlich zu Ferris rüber, der bewusst den Blickkontakt zu ihm mied und so tat, als würde er konzentriert auf die Straße schauen, was er sonst eher selten tat. Erstaunlich, dass ein Unfall bisher noch nicht vorgekommen war, bei diesem nachlässigen Fahrverhalten.

„Da muss ich dir zustimmen, denn schlecht ist bei weitem nicht der passende Ausdruck für das, was du als Fahrkunst bezeichnest“, meinte Luan ernst.

Mit einem amüsierten Lachen versuchte Ferris, diesen Angriff zu kontern. „Das einzige Problem, das wir hier haben, bist du. Du bist eben doch nur eine Memme und verträgst das Autofahren allgemein nicht, gib es ruhig zu.“

„Natürlich“, antwortete er und behielt seinen ernsten Tonfall bei, obwohl es eigentlich ironisch von ihm gemeint war. „Genau das ist unser Problem.“

Nun musste auch Ferris seufzen und erwiderte vorsichtig Luans finsteren Blick, in dem sich all die Missmut gegenüber dem Fahrer widerspiegelte. Trotzdem funkelte wie immer jugendliche Energie und Lebensfreude in den braunen Augen von Ferris, von dem man meinen könnte, er wäre noch weit von seiner Volljährigkeit entfernt. Dabei hatte er in Wahrheit ein paar Jahre mehr als Luan auf dem Konto, der zwanzig Jahre alt war– offiziell gesehen.

Die schulterlangen, schwarzen Haare hatte Ferris sich hinten zu einem kleinen Zopf zusammengebunden, wie üblich. Leider war der blaue Schimmer gerade nicht zu sehen, was daran lag, dass es mitten in der Nacht war. Nur im Sonnenlicht hob sich das Blau gut zwischen dem Schwarz hervor, wodurch ihn eine etwas geheimnisvolle Aura umgab, die überhaupt nicht zu ihm passte. Er war mehr der Typ, in dem man problemlos lesen konnte wie in einem offenen Buch.

„Kannst du dich nicht einfach mal locker machen?“ Im Gegensatz zu Luan, war Ferris trotz der Beschwerde ihm gegenüber ziemlich gut gelaunt. „Es ist immer die gleiche Leier mit dir, egal mit welchen Mitteln wir unterwegs sind. Sei froh, dass ich mich überhaupt dazu bereit erklärt habe zu fahren und dich sogar noch mitnehme.“

„Und es ist auch immer die gleiche Leier mit dir“, gab Luan mürrisch zurück und wandte den Kopf zurück Richtung Fenster, um nach draußen zu schauen, auch wenn er in der Dunkelheit nicht viel zu sehen bekam. „Jedes Mal ziehst du dich an, als wären wir auf dem Weg zu einer Party. Wir müssen arbeiten und haben nicht vor, Frauen aufzureißen oder Spaß zu haben, von dem du jetzt schon, aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grund, viel zu viel hast.“

„Oh, jetzt kommst du mir wieder mit dem Thema?“, schmunzelte Ferris, der sich von seinem Kameraden kein bisschen die Stimmung vermiesen ließ. „Was gibt es daran auszusetzen, sich ein bisschen schicker anzuziehen und auf eine nette Begegnung zu hoffen, während man geschäftlich unterwegs ist?“

„Es passt weder zu noch in unserer Arbeit.“

„Ach? Ein schwarzer Mantel aber schon, der alles von meinem prächtigen Astralkörper verdecken würde?“, ging er weiter darauf ein und lachte erneut. „Nein, danke. Das ist mir zu klischeehaft. Außerdem reicht es, wenn du schon damit rumläufst und den Menschen damit einen Haufen falscher Interpretationsmöglichkeiten bietest. Ich jedenfalls will den Leuten gefallen und sie nicht abschrecken, wenn ich schon unter ihnen bin.“

Schützend verschränkte Luan die Arme vor der Brust und rückte in seinem Sitz noch näher ans Fenster. „Du weißt als einer der wenigen ganz genau, warum ich einen Mantel trage, der alles von meinem Körper verdecken muss.“

„Ja schon, aber schwarz muss er nicht unbedingt sein, oder?“ Angeregt sprach Ferris weiter, ohne zu merken, dass sein Beifahrer sich diesem Thema nicht gern stellte. „Es müssen nicht gleich grelle Farben sein, die verabscheue ich auch, nur etwas Lebhafteres als schwarz eben. Braun zum Beispiel würde dir viel besser stehen und sieht nicht gleich nach Emo aus.“

Abgeneigt zogen sich Luans Augenbrauen zusammen. „Du hast wirklich zu viel Spaß.“

„Nein, ich bin nur sorglos. Riesengroßer Unterschied“, beteuerte Ferris sofort, woraufhin er mit den Schultern zuckte. „Nur weil wir uns auf dem Weg in eine Mission befinden, heißt das nicht, dass ich so ein langes Gesicht ziehen muss wie du und nur weil jemand viel lächelt oder sogar lacht, bedeutet das auch nicht gleich automatisch, derjenige hätte viel Spaß.“

„Hm“, gab Luan nur knapp von sich.

„Davon mal abgesehen ist es noch dazu gar nicht so leicht, in deiner Gegenwart Spaß zu haben. Also, so richtig“, brachte er seine Erklärung zu einem Ende, hing dann aber doch noch eine Kleinigkeit hinten dran und klang bei dieser Bemerkung leicht frustriert. „Was echt schade ist.“

„Hm.“

Luan gab sich nicht die Mühe, das Gespräch noch länger weiterzuführen und starrte längst abwesend aus dem Fenster, wie er es zuvor die ganze Zeit über getan hatte. Auch Ferris schien das Gespräch für beendet zu halten und kaum dass sie nicht mehr miteinander sprachen, verschlechterte sich sein Fahrstil auch schon schlagartig.

Während sie geredet hatten, war er sogar teilweise recht annehmbar gefahren. Dieser Kerl konnte offensichtlich besser steuern, solange es etwas gab, was ihn davon ablenkte sich zu sehr auf die Straße konzentrieren zu können. Wie lange Luan dem wohl noch ausgesetzt sein würde?

Sie befanden sich schon seit Stunden auf einer verlassenen Landstraße, die nicht enden wollte. Weit und breit gab es, bis auf die Scheinwerfer des Wagens, keine einzige Lichtquelle, nur tiefe, erdrückende Dunkelheit oder schemenhafte Andeutungen von hohen Bäumen in der Ferne. Hinzu kam, abgesehen vom Geräusch des Motors, die Stille, durch die zusätzlich eine Atmosphäre entstand, deren Beschaffenheit dieser kalten Herbstnacht gerecht wurde.

Ein bisschen war Luan froh darüber, dass das Autoradio von dieser Karre vor etlichen Zeiten schon den Geist aufgegeben hatte, auch wenn Ferris mit Musik sicher etwas besser fahren würde. Ihr Zielort war noch weit entfernt, was Luans Laune in vielerlei Hinsicht tiefer in den Boden stampfte. Am schlimmsten war die Aussicht auf einen Ganzkörpermuskelkater, sollten sie überhaupt heil ankommen und Ferris den Wagen nicht vorher noch in eine Grube lenken. Zuzutrauen wäre es ihm.

Ein flüchtiger Blick in sein eigenes, blasses Spiegelbild in der Fensterscheibe verriet ihm, dass er ziemlich schrecklich aussah. Müdigkeit quoll förmlich aus seinen graugrünen Augen hervor und sein dunkelbraunes, kurzes Haar war ziemlich zerzaust. Normalerweise legte er viel Wert darauf, dass es gepflegt aussah und ordentlich saß. Wer ohne jegliche Vorwarnung aus dem Schlaf gerissen und direkt zu einer neuen Mission gescheucht wurde, konnte aber wohl nur in etwa so aussehen.

Nicht mal Vorbereitungszeit hatten sie ihm gelassen, so dass nur schnell die nötigsten Dinge eingesteckt werden konnten. Ferris sah wesentlich frischer und vor allem erholt aus. Soweit Luan sich entsinnen konnte, war dessen letzte Mission auch schon eine Weile her und er hatte eine lange Zeit am Stück im Hauptquartier verbracht, wo er sich der Aufgabe widmete, das weibliche Personal näher unter die Lupe zu nehmen.

Dagegen hatte Luan erst vor kurzem mehrere Aufträge hintereinander erledigt und wenigstens ein bisschen Erholung gebrauchen können. Nur weil er von allen am längsten dabei war, diese Arbeit zu machen, war er nicht aus Stein. Allerdings wussten seine Arbeitgeber ganz genau, dass er niemals eine Mission ablehnte, egal wann und unter welchen Umständen oder wie klein sie auch war und das wurde andauernd ausgenutzt. Manchmal, aber nur manchmal, strapazierte das doch seine Nerven.

Diesmal, so wurde es ihm angekündigt, sollte es sich jedoch angeblich um einen großen und vor allem gefährlichen Einsatz handeln. Aus diesem Grund war ihm auch Ferris als Partner an die Seite gestellt worden, was nicht unüblich war.

Je nach Gewicht und Größe der Gefahr, wurden sie oft nur in Paaren losgeschickt. Inzwischen störte sich Luan nicht mehr daran, da er bereits genug zusammen mit Ferris erlebt und sich so an ihn gewöhnt hatte, obwohl der, seiner Meinung nach, einen anstrengenden Charakter besaß. Am liebsten arbeitete er allein.

„Scheiße“, warf Ferris plötzlich in die Stille zwischen ihnen und schaltete das kleine Lämpchen im Auto ein, was nur spärlich den Innenraum erhellte. Luans Spiegelbild in der Fensterscheibe war nun wesentlich besser zu erkennen und er spürte auf einmal ein unangenehmes Kribbeln an seinem Hals, das sich langsam über seinen restlichen Körper ausbreitete.

Automatisch griff er mit einer Hand nach dem hohen Kragen seines Mantels, zog diesen ein Stück zur Seite und legte eine Art schwarze Kruste auf der Haut frei, die er sonst stets vor neugierigen Blicken verborgen hielt. Diese dunkle Schicht umklammerte flammenförmig seinen Hals und zog sich über die Haut hinweg nach unten, wo sie wieder unter der Kleidung verschwand. Das Kribbeln wurde mit jeder Sekunde stärker.

„Es ist einer in der Nähe“, flüsterte Luan angespannt. „Ausgerechnet jetzt.“

Kaum löste sich der Griff von seinem Mantelkragen, begann der Wagen erneut so heftig zu ruckeln, dass er diesmal doch mit der Stirn voraus gegen die Fensterscheibe knallte. Zähneknirschend strich er nur kurz mit der Hand über die Stelle und drehte sich wieder verärgert zu Ferris.

Der suchte eifrig irgendetwas im Fußraum des Autos, während sie gerade vollkommen blind durch die Gegend fuhren. Über Schmerzen konnte Luan nicht klagen, schließlich hatte dieser Stoß bei ihm keinerlei Spuren hinterlassen, aber es ging ihm auch mehr ums Prinzip.

„Darf man erfahren, wonach du so dringend suchen musst, dass du dafür nicht mal mehr den kläglichen Rest deiner Aufmerksamkeit auf die Straße richtest?!“

„Ich suche die Packung Kaugummi, die ich an der Tankstelle gekauft hatte“, erklärte Ferris und suchte unbeirrt weiter. Nebenbei versuchte er mit nur einer Hand grob zu steuern.

„Sehr männlich“, kommentierte Luan in einem ruppigen Ton und schüttelte den Kopf. „Du hast also kein Problem damit uns für eine Packung Kaugummi umzubringen.“

Ferris ließ dieser Kommentar absolut kalt. „Guter Witz.“

„Tu mir den Gefallen und beeil dich wenigstens.“

„Glaubst du etwa, ich hänge zum Spaß hier unten rum, vom dem ich, laut dir, so viel habe?“

„Das kann man bei dir nie so genau wissen“, sagte Luan, womit er das Thema auch beendete.

Genervt ließ er sich im Sitz zurücksinken und wandte den Blick nach vorne auf die Straße. Das Kribbeln auf seiner Haut war exakt mit dem Stoß gegen die Fensterscheibe augenblicklich verschwunden, doch das stimmte ihn unruhig. Entweder war das, was für dieses juckende Gefühl gesorgt hatte, nur wieder zu weit weg oder jemand anderes hatte sich schon darum gekümmert, beide Optionen schloss er jedoch gleich aus.

Länger musste er aber auch nicht grübeln, denn er sollte die Antwort schneller bekommen, als er dachte. Vor ihnen tauchte wie aus dem Nichts eine Gestalt im Licht der Scheinwerfer auf. Luans Augen weiteten sich. Er hatte keine einzige Sekunde Zeit genauer hinzuschauen, ob es sich um ein Tier, einen Menschen oder gar etwas anderes handelte, da sie es frontal über den Haufen fahren würden, wenn er nicht auf der Stelle etwas unternahm.

„Pass auf!“, schrie er lauthals.

So weit wie es der Gurt zuließ, beugte er sich zum Steuer rüber und packte es, um mit dem Wagen auszuweichen. Sofort schwenkte das Auto scharf zur Seite und schleuderte eher unkontrolliert über die Straße, bis es nur wenige Sekunden später dann verdächtig stark mit der Vorderseite absackte.

Danach endete dieses eher unüberlegte Ausweichmanöver auch schon, denn sie steckten scheinbar irgendwo fest, so dass sie nicht mehr vom Fleck kamen. Ferris, der mit so einer Aktion überhaupt nicht gerechnet und sich auch nicht angeschnallt hatte, musste sich bei diesem kurzen, wilden Ritt mehr als nur einmal im Fußraum den Kopf gestoßen haben.

Zumindest klang er nicht mehr sonderlich entspannt, als er sich wieder aufrichtete und Luan ohne zu zögern zur Rede stellte.

„Verdammte Geißel!“, fluchte er und lenkte seinen Blick gleich ratlos zu Luan. „Was sollte das denn werden?! Ich glaube, du bist hier derjenige, der uns umbringen will!“

Er sah Ferris nicht mal an, als er ihm antwortete und sich bereits losschnallte. „Guter Witz.“

Danach richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Tür, die er auftreten musste, da sie bekanntlich dazu neigte ständig zu klemmen und er jetzt keine Zeit damit vergeuden wollte, sie möglichst sanft zu öffnen. Das passte dem Besitzer natürlich gar nicht.

„Hey, du hast echt den Verstand verloren, was?!“, keifte er Luan an. „Sie mag nur noch ein Haufen Schrott sein, aber so behandelt man eine Lady nicht!“

Schweigend stieg er zügig aus dem Wagen aus, was bei Ferris für noch mehr Unverständnis sorgte. „Hallo?! Kannst du mir nicht wenigstens mal sagen, wo du hinwillst?! Luan!“

Sie waren durch dieses Ausweichmanöver von der Straße abgekommen und in eine Grube hineingefahren, die sich direkt am Rand befand, wie er beim aussteigen feststellen musste. Zielgerichtet bahnte er sich seinen Weg zurück auf die Landstraße, während Ferris in seinem Rücken pausenlos nach ihm rief, was er nicht weiter beachtete.

Als Luan den ersten Schritt auf den harten Asphalt setzte, glitt seine Hand in eine Innentasche seines Mantels, wo er etwas hervorholte: Eine runde Taschenuhr mit Sprungdeckel, der noch geschlossen war. Eine schwarze, raue Schicht hatte sich über die silberne Verkleidung gelegt, mit der sie einst vollständig überzogen gewesen war.

Innerhalb eines einzigen Wimpernschlages veränderte sich sein Sichtfeld, kaum dass er diesen Gegenstand berührt hatte. Über das undurchdringliche Schwarz der Nacht legte sich eine neue, sehr feine Ebene, die farblich ein ruhiges Hellblau bildete, dank dem er nun so gut sehen konnte wie am Tag.

Selbst wenn das menschliche Auge sich nach einer Weile an die Dunkelheit zu gewöhnen vermochte, würde es bei weitem nicht den Radius ausschöpfen können, der ihm jetzt gegeben war. Somit war es ihm auch möglich mühelos die Gestalt auszumachen, die im Schutz der dunklen Nacht ohne Lichtquellen überhaupt nicht zu sehen war, als wäre sie gar nicht da. Nur wenige Meter entfernt stand sie noch regungslos mitten auf der Straße herum.

Luan drosselte das Tempo und legte nun wesentlich langsamer die letzten paar Schritte zu der Gestalt bis zu dem Punkt zurück, an dem er gezwungen gewesen war das Steuer zu übernehmen. Unter seinen Füßen wurden jedes Mal Wellen ausgelöst, wenn er den Boden berührte, ähnlich wie auf einer Wasseroberfläche. Gleichmäßig weiteten sie sich zu großen Kreisen aus, bis sie wieder eins mit dem Hellblau wurden, das diese Ebene auskleidete.

Mit etwas Abstand blieb er schließlich vor einer jungen Frau stehen, der sie diesen ungewollten Zwischenstopp zu verdanken hatten. In seiner Hand ruhte nach wie vor die Taschenuhr, die er fest umklammert hielt. Das Kribbeln auf seiner Haut war in ihrer Nähe sehr stark und aufdringlich, aber selbst ohne dieses Vorzeichen hätte er gewusst, dass es sich bei ihr um keinen Menschen handelte. Nicht nur um einen Menschen.

Ein farblich aggressiver, rötlicher Rauch trat aus dem Inneren ihres Körpers hervor. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere, bemerkten ihn nicht einmal. Ziellos stand sie einfach nur da, fast wie versteinert. Eine Puppe, deren Willen nicht mehr vorhanden war.

„Bist du eigentlich taub oder wieso reagiert du nicht, wenn man dich ruft?“, wollte Ferris wissen, der ihm gefolgt war und neben ihm stehen blieb. In seiner Hand hielt auch er eine Taschenuhr, die noch komplett versilbert war. Den Deckel zierte als Gravur ein sichelförmiger Mond mit Verzierungen.

Empört stemmte er eine Hand in die Hüfte, weil Luan ihm nicht auf Anhieb eine Antwort gab. „Bist du etwa so beleidigt wegen der Sache mit dem Mantel vorhin, dass du mich jetzt wie Luft behandelst oder was ist los?“

Wortlos nickte Luan Richtung Frau, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie da war. Nur kurz schwenkte Ferris seinen Blick zu ihr und zeigte sich nicht sonderlich interessiert, reagierte sogar vielmehr ziemlich empört deswegen. „Ja, ein Nachtmahr, und? Willst du damit sagen, du hast meinen Wagen wegen eines lächerlichen Nachtmahrs in eine Grube gelenkt?“

„Du hättest sie fast überfahren.“

„Geht das schon wieder los?“, seufzte Ferris schwer und ließ den Kopf hängen. „Inzwischen müsste man dir diesbezüglich doch schon oft genug eine Predigt gehalten haben. Wir kümmern uns nicht um kleine Fische, ganz besonders dann nicht, wenn man eine Mission im Nacken sitzen hat.“

„Der Nachtmahr mag ein kleiner Fisch sein, aber er lässt die Frau unter einem solch schlimmen Traum leiden, dass sie bis hierher schlafgewandelt ist“, erwiderte Luan, zwar in einem ruhigen Ton, aber mit viel Druck und Verständnislosigkeit über das Verhalten von Ferris, auf dem er diese Stimmungen erbarmungslos niederprasseln ließ. „Und das ist dir egal? Hättest du sie lieber überfahren?“

„Natürlich nicht!“, verteidigte er sich und versuchte, die Situation zu beruhigen, bevor sie noch zu eisig zwischen ihnen werden konnte. „Ich bin froh, dass ich sie nicht überfahren habe. Aber es ist halt so, dass wir uns nicht um jeden dahergelaufenen Nachtmahr kümmern sollen, was ich auch nachvollziehen kann. Von denen gibt es so viele, dass uns dadurch die Zeit verloren gehen würde, uns um schwerwiegende Fälle zu kümmern, die großen Schaden an Massen und der Welt selbst anrichten.“

Nach diesen Worten ließ Luan für einen Moment von der Frau ab, damit er Ferris durch seinen Blick mit einem noch größeren Pfeil aus Unverständnis durchbohren konnte. Seine Gesichtszüge waren verhärtet und sein Körper sichtlich angespannt, was seinen Arbeitskollegen dazu veranlasste, ein Stück vor ihm zurückweichen. Ihm war anzusehen, dass er sich Mühe gab, ab hier besser den Mund zu halten, weil er sich seinen Partner nicht zum Feind machen wollte.

Anschließend ließ Luan den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen, woraufhin ein weißes, grelles Licht wie Feuer aus dem Inneren hervortrat und nur kurze Zeit später in tausende kleine Stücke zersplitterte. Eine Handfeuerwaffe kam aus diesem Licht zum Vorschein, die er rasch mit der freien Hand ergriff und den Lauf direkt auf die Frau richtete.

Unverzüglich feuerte er einen Schuss ab, der geradewegs in ihre Stirn traf, aber ohne ihr eine sichtbare, körperliche Verletzung zuzufügen. Zeitgleich war ein schriller Schmerzensschrei zu hören, der durch die Umgebung hallte. Der Körper der jungen Frau verkrampfte sich, als der rötliche Rauch von einer Sekunde zur nächsten in Mengen aus ihrem Innersten verbannt wurde und nach draußen an die Oberfläche floh.

„Um den kümmerst du dich aber allein, wenn der sich materialisiert hat“, warf Ferris zwischendrin ein. „Ich hab damit nichts zu tun, meine Verantwortung liegt woanders.“

„Nach meinem Wissen sind wir beide, auch du, Traumbrecher“, entgegnete Luan, ohne den Blick davon abzuwenden, wie sich der Rauch über ihnen am Himmel sammelte. „Wir jagen und vernichten Alpträume, Mahre, dazu zählt auch diese Form und demnach solltest du dich durchaus verantwortlich fühlen.“

Ferris musste wieder lachen, bloß trug es diesmal einen recht traurigen Charakter in sich. Dann hob er die Hand, in der er seine Taschenuhr hielt, um sie gut sichtbar hin und her zu schwenken. Obwohl Luan gar nicht hinsah, konnte er es sich denken, da jetzt ein Spruch folgen sollte, den er schon oft von vielen Traumbrechern zu hören bekommen hatte.

„Tja, meiner Verantwortung sind leider zeitliche Grenzen gesetzt, die mich dazu bewegen, meine Kräfte nur für wichtige Fälle zu benutzen“, rechtfertigte Ferris sich. „Und auch wenn es dir nicht passt: Dir übrigens auch. Dem kannst du dich nicht ewig entziehen.“

Luan senkte den Kopf und konnte anhand der Wellenbewegungen auf dem Boden erkennen, dass Ferris wohl zu seinem Auto zurückging. Nachdenklich blickte er auf seine Taschenuhr in der einen Hand, deren Sprungdeckel noch immer weit geöffnet war: Die Zeiger bewegten sich nicht, die Zeit stand still.

Danach sah er auf die Waffe in seiner anderen Hand und der Griff um diese verstärkte sich. Inzwischen hatte sich über ihm ein riesiger Schatten gebildet, dessen Klagelaute kaum zu überhören waren. Nicht mehr lange und der Nachtmahr müsste die Frau vollständig verlassen haben, so dass sie wieder einen friedlichen Schlaf finden konnte.

„Egal, welche Sorte von Alpträumen, ich werde jeden einzelnen von ihnen jagen und vernichten“, sagte Luan für sich selbst. Entschlossenheit flackerte in seinen müden Augen. „Dafür wird meine Zeit immer reichen.“

Als der Schatten sich rachsüchtig auf ihn niederstürzte, sprang er ihm entgegen und eröffnete das Feuer.

Wer bist du?

„Was ist das nur“, sagte Ferris beflügelt, „für ein wunderschöner, neuer Morgen, findest du nicht auch?“

Luan schwieg und starrte ihn vorwurfsvoll an.

„Und dann auch noch“, fuhr Ferris fort, „diese herrlich frische, klare Luft!“

Luans Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Blick durchbohrte ihn weiterhin.

„Ich kann gar nicht sagen“, sprach Ferris unbeirrt weiter, „wann ich zuletzt den Sonnenaufgang miterleben durfte.“

Eine nachdenkliche Pause folgte, ehe er noch etwas hinzufügte. „Nein, ernsthaft. Ich hab den Sonnenaufgang schon ewig nicht mehr gesehen. Ich habe dauernd Damenbesuch und nie Zeit, ihn mir anzuschauen.“

Luans Blick verfinsterte sich noch mehr und er atmete schwer ein und aus. Dieses hohe Maß an Missmut konnte nicht mal mehr Ferris einfach ignorieren, wodurch sich sichtliche Nervosität in das breite Grinsen schlich, mit dem er erfolglos die Stimmung aufzubessern versuchte. Für einen Moment herrschte ein angespanntes Schweigen, bis Ferris endgültig in sich zusammenbrach und auch seinen Frust nicht mehr zurückhielt.

„Boah, hör endlich auf damit, mich so anzustarren!“, keifte er Luan an und deutete Richtung Auto, das nach wie vor in dem Graben am Straßenrand feststeckte. „Du warst es doch, der dafür gesorgt hat, dass mein Baby nun dort festhängt und wir nicht mehr weiterkommen!“

„Falsch“, warf dieser mit erschreckender Überzeugung ein, hob dann auch seinen Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf Ferris. Seine Mimik baute bereits eine undurchdringbare Mauer gegen jegliche Zweifel auf, noch bevor er den folgenden Satz sagte. „Du warst der Fahrer und hättest beinahe eine Frau überfahren, weil du unaufmerksam gewesen bist.“

Schweiß bildete sich auf der Stirn von Ferris. „Aber du hast letztendlich das Steuer umgerissen!“

„Ja, weil du nicht aufgepasst hast“, hielt Luan an seiner Meinung fest. Seine Stimme war so schneidend scharf, dass es einem die Kehle zuschnürte. „Du bist ein schlechter Fahrer. Es ist deine Schuld.“

„Ahhh!“, stöhnte Ferris verzweifelt und ließ den Kopf hängen. „ Schon gut, dann bin ich halt schuld. Zufrieden? Können wir das jetzt lassen und uns überlegen, wie wir hier wegkommen? Der Akku von meinem Handy hat schon Stunden vor diesem Unfall den Geist aufgegeben und du besitzt nicht mal eins.“

„Du hast das Problem verursacht, also wirst du dich auch um eine Lösung kümmern.“

Daran gab es für Luan nichts zu rütteln, egal wie sehr sich Ferris dagegen sträuben würde. Er ließ den Arm wieder sinken und seufzte genervt. Diese zeitliche Verzögerung passte ihm gar nicht, dadurch könnten sie wichtige Spuren an ihrem Zielort verpassen. Der Kampf gegen den Nachtmahr war sehr schnell vorbei gewesen, trotzdem saßen sie hier fest. Auf solche Hilfsmittel wie ein Auto angewiesen zu sein, war mehr als störend.

Zusammen hatten sie vergeblich bis zum Einbruch des Morgens darauf gewartet, dass jemand anderes hier vorbeikam, den sie um Hilfe bitten könnten. Je heller es geworden war, desto mehr hatte Luan die Geduld verlassen, zumal der Tagesanbruch für ihn als Traumbrecher Schlafenszeit bedeutete. Falls es sich hierbei um eine dieser ausgestorbenen Landstraßen handelte, wo sich für gewöhnlich kein normaler Mensch hin verirrte, konnten sie hier so lange stehen, bis ihnen die Füße abfielen und es würde doch niemand auftauchen. Tagesanbruch hin oder her.

„Oh Mann.“ Schmollend vergrub Ferris die Hände in den Hosentaschen, wo er seine Uhr aufbewahrte, konzentrierte sich für eine Weile und seufzte dann ebenfalls genervt. „Prima, hätte das nächste Notfalltelefon nicht noch weiter weg sein können?“

Statt Mitleid zu zeigen, hob Luan eine Hand hinter den Rücken seines Kollegen und gab ihm einen kräftigen Schubs nach vorne. „Hör auf zu meckern und geh schon los, sonst wird es nur noch später.“

„Du hast leicht reden“, murmelte Ferris noch trotziger, nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. „Mist, ich hätte nicht so lange mit dieser einen Frau, Tesha, telefonieren sollen, dann könnte ich jetzt jemanden anrufen der uns hilft und würde es gemütlich angehen lassen.“

„Ich werde hier auf dich warten.“

„Klar, werter Herr. Mach du es dir ruhig bequem, während ich einen kleinen Spaziergang mache.“

„Ironie wird dir auch nicht dabei helfen, schneller zum Notfalltelefon zu kommen.“

„Ha, ha, ha“, reagierte Ferris trocken.

Widerwillig setzte er sich in Bewegung und schlenderte die Straße entlang, um zu dem besagten Notfalltelefon zu gelangen. Bis Ferris aus seinem Sichtfeld verschwunden war, blickte Luan ihm hinterher und schaute im Anschluss in die andere Richtung, wo natürlich auch nichts zu sehen war. Kein Auto. Keine Menschenseele. Nichts, nur die Sonne, die immer weiter in den Himmel empor stieg und ihn noch müder werden ließ.

Es gab gerade sowieso keine Aussicht auf Hilfe, also nutzte Luan die Gelegenheit, um nach der jungen Frau zu sehen, die er in der Nacht von dem Alptraum befreit hatte. Da das Auto in einer Schräglage stand, hatte er sie lieber etwas abseits ins hohe Gras gelegt, das links und rechts von der Straße weitläufig das Land auskleidete. Hinter diesen weiten Wiesen ragten Bäume in die Höhe, die zu einem großen Wald gehören mussten.

Neben ihr angekommen ging er in die Knie und warf einen prüfenden Blick auf sie. Wie erwartet hatte sie keinerlei Verletzungen oder sonstige Schäden davongetragen und schlief seit der Vernichtung des Nachtmahrs friedlich. Ihr Atem war ruhig und gleichmäßig, also gab es keinerlei Grund zur Sorge. Sie zitterte nur hin und wieder, was wohl auf die Kälte der Nacht zurückzuführen war, die noch immer in der Luft lag und wogegen die Sonne bisher nur mäßigen Erfolg erzielt hatte.

Grummelnd vergrub Luan das Gesicht im Kragen seines Mantels, den er ihr eigentlich längst als Decke hätte geben müssen, wenn er ein anständiger Kerl sein wollte. Allerdings konnte er das nicht tun, sonst würde er seinen Körper aufdecken und der Gedanke daran war ihm um einiges unangenehmer. Sollte sie sich eine Erkältung einfangen, würde sie das schon aushalten, immerhin war sie noch jung genug, vermutlich sogar fast so alt wie er. Lieber ließ er sich hinterher von ihr als schlechter Gentleman beschimpfen.

Da er sie zuvor nicht genauer betrachtet hatte, sprang Luan nun etwas ins Auge, das ihn sofort misstrauisch werden ließ. „Hm?“

Ihr langes, schwarzes Haar war genauso zerzaust wie seines und eigentlich hätte er vermutet, dass es durch den unruhigen Schlaf in der Anfangsphase des Befalls durch den Nachtmahr zustande gekommen sein musste, aber etwas störte diesen Gedanken. Ihre Kleidung war von viel Staub bedeckt, ähnlich wie nach einem Frühjahrsputz in einem Haus, in dem seit Jahrzehnten keiner mehr für Ordnung gesorgt hatte. Außerdem waren ihre Sachen recht praktisch gehalten und sahen nicht danach aus, als hätte sie zuletzt geschlafen.

Das würde jedoch bedeuten, der Nachtmahr hätte sie im wachen Zustand befallen, was völlig unmöglich war. Menschen mussten schlafen und sich bereits in einer Traumphase befinden, erst dann konnten Alpträume aktiv werden. Entweder sorgte seine Müdigkeit nur dafür, dass er gerade zu weit dachte oder irgendetwas stimmte mit der Frau nicht, doch letzteres hätte er wohl längst wahrgenommen.

Er beschloss trotzdem, es einfach sicherheitshalber auszutesten, dann hätte er Gewissheit darüber, ob er nach all der Zeit schon zu angespannt war und in allem Hinweise auf Unstimmigkeiten zu sehen glaubte oder sein Misstrauen berechtigt war. Also streckte er eine Hand nach ihr aus und legte sie auf die Herzseite ihrer Brust. Dort ließ er sie für eine Weile ruhen, aber er spürte nichts. Sein Körper gab keinerlei Reaktion von sich.

Erleichtert atmete er aus. „Ich bin wohl nur überarbeitet.“

„Was tun Sie da?!“, schnitt eine andere Stimme plötzlich wie ein Schwert die Stille entzwei.

Augenblicklich wurden all seine Glieder schwer wie Blei. Zögernd neigte er den Kopf ein kleines Stück zur Seite und erstarrte zu Stein, als er in das schockierte, blaue Augenpaar jener Frau blickte, die vorhin noch seelenruhig zu schlafen schien. Dummerweise sah er in diesem Moment leider nicht wie ein Held aus, von dem sie in der Nacht gerettet worden war. Zu spät wurde Luan bewusst, wie furchtbar falsch die Lage seiner Hand für Außenstehende aussah und er hätte alles dafür gegeben, jetzt in irgendein Loch versinken zu können.

Offenbar stand sie noch ein bisschen neben sich, sonst hätte sie bestimmt längst eine Reaktion gezeigt. Bevor es dazu kommen konnte, wollte Luan wenigstens versuchen sich zu erklären und zog rasch seine Hand zurück. „Bitte, regen Sie sich nicht auf. Das ist nicht so, wie Sie gerade denken.“

„Ach ja?!“, erwiderte sie, zu recht, zweifelnd und rutschte erst mal hastig von ihm weg. „Was wollten Sie denn dann tun?!“

Luan hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte nur prüfen, ob Sie in Ordnung sind.“

„In Ordnung im Sinne von Gesundheit oder nicht doch eher von sexueller Belästigung?!“

„Es ging mir nur um Ihre Gesundheit, ich schwöre es.“

„Das kann ja jetzt jeder behaupten! Wer sind Sie überhaupt?!“ Nervös huschte ihr Blick kurz in sämtliche Richtungen. „Und wo bin ich?!“

„Schon gut, ich erkläre Ihnen alles, aber beruhigen Sie sich“, versuchte Luan weiterhin, möglichst höflich zu bleiben und ihren schlechten Eindruck über ihn nicht noch mehr anzuheizen.

Viel lieber würde er gegen eine Geißel, die mächtigste Form aller Alpträume, kämpfen, wenn er dafür dieses peinliche Ereignis ungeschehen machen könnte. „Sie haben bewusstlos mitten auf der Straße gelegen und wir waren dazu gezwungen, mit unserem Wagen auszuweichen, deshalb steckt er jetzt dort drüben im Graben fest. Mein Freund ist losgegangen, um Hilfe zu holen. Ich habe Sie nur von der Straße hierher getragen, damit Sie in Sicherheit sind, mehr nicht.“

Natürlich glaubte sie ihm die Geschichte nicht auf Anhieb, sondern behielt ihn skeptisch im Auge. Begutachtete ihn sogar einmal von oben bis unten, ehe sie auf seine Erklärung etwas sagte. „Sie sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus, in diesem Aufzug. Wie soll ich Ihnen so Glauben schenken?“

Innerlich hörte Luan schon wie Ferris sich selbst dafür feierte, mit der Meinung über diesen Mantel voll ins Schwarze getroffen zu haben. Dem konnte er nicht mal etwas entgegen setzen, denn sie hatten beide recht, aber in der Nacht waren dunkle Farben, besonders schwarz, eben am Unauffälligsten. Was konnte er dafür, dass viele hauptsächlich negative Eigenschaften mit dieser Farbe und langen Mänteln in Verbindung brachten?

„Ein Gentleman sind Sie auf jeden Fall nicht“, urteilte sie und schlang die Arme um sich, weil ihr ziemlich kalt zu sein schien.

Mit der Beschwerde hatte Luan ohnehin schon gerechnet, also fiel es ihm nicht schwer, ihr eine passende Lüge aufzutischen. „Tut mir leid, mir ist selbst kalt.“

Sprachlos starrte sie ihn mit großen Augen an, bis sie ihren Blick zögerlich abwandte und ihn erneut durch die Umgebung schweifen ließ. Verständlicherweise brauchte sie etwas Zeit, um sich zu sammeln, also drängte er sich ihr nicht weiter auf, indem er schwieg. Er war froh genug, dass sie nicht kreischend aufgesprungen war und ängstlich die Flucht ergriffen hatte. In dieser verlassenen Gegend wollte er nur ungern jemanden allein zurücklassen, erst recht keine junge Frau. Am Ende würde sonst doch noch einer über sie herfallen, möglicherweise sogar Ferris.

Irgendwann landete ihre Aufmerksamkeit dann wieder bei ihm und er konnte ihre Feindseligkeit förmlich spüren. „Ob Ihre Geschichte nun wahr ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber wagen Sie es ja nicht, mir noch einmal zu nah zu kommen.“

„Das werde ich nicht“, versicherte er. Inzwischen hatte er sich richtig ins Gras gesetzt und wagte es kaum, sich zu bewegen. „Haben Sie ein Handy dabei, mit dem Sie jemanden anrufen könnten, der Sie von hier abholen kann?“

„Nein, so einen Schrott will und brauche ich nicht!“, antwortete sie barsch, dann schüttelte sie verwirrt den Kopf. „Selbst wenn ich eins hätte, wäre es sinnlos. Ich weiß sowieso nicht, wo ich bin.“

„Das wäre kein Problem, ich könnte es Ihnen sagen.“

Dafür erntete er nur einen giftigen Blick von ihr und ihm wurde klar, dass er sich nicht mehr aus der Position eines Perversen oder gar Entführers befreien konnte, in die er von ihr ohne Zweifel gesteckt worden war. Statt dieses Problem zu ignorieren, versuchte er weiter, mit ihr zu reden. „Dann müssen wir zusammen auf meinen Freund warten, bis er wiederkommt. Wir nehmen Sie dann bis in die nächste Stadt mit, dort findet sich sicher ein Telefon, das Sie benutzen können.“

Dieses Angebot missfiel ihr eindeutig, ihr Blick wurde nämlich nochmal um einiges abweisender. Ferris hatte recht, manche Frauen konnten in der Tat anstrengender sein als der Kampf gegen Alpträume. Langsam fühlte Luan sich geradezu von ihren Augen brutal erdolcht. Glücklicherweise hatte er sonst mit den meisten Opfern nach der Arbeit gar keinen Kontakt mehr, so dass er sich in solchen Situation eher selten bis gar nicht wiederfand.

Obgleich er es selbst besser wusste, störte es ihn gewaltig, von ihr wie ein gemeingefährlicher Verbrecher betrachtet zu werden. Zwar mochte alles dafür sprechen, aber irgendwie musste er dieses Missverständnis doch aus der Welt schaffen können, ohne gleich alles über seinen Beruf preiszugeben.

Die Frau zittere immer noch vor Kälte und das brachte ihn dazu, etwas zu versuchen. Möglichst vorsichtig stand er auf, ohne dabei zu gehetzt oder verdächtig zu wirken. Wie erwartet wurde sie noch nervöser und blinzelte nicht mal mehr, aus Angst, sie könnte irgendeinen Schritt von ihm verpassen.

„Ich werde kurz zum Wagen rübergehen und mal im Kofferraum nachschauen, ob sich dort vielleicht irgendwas finden lässt, das Sie gegen die Kälte schützen kann“, rechtfertigte er es, aufgestanden zu sein. Kam ihm schon reichlich traurig vor, sich erklären zu müssen. „Meinen Mantel kann ich Ihnen nicht geben, aber ich versuche, was anderes zu finden.“

Von ihr kam kein Kommentar zu seinem Vorhaben, was er als eine Art Erlaubnis wertete, sich bewegen zu dürfen, ohne dass sie ausrasten würde. Sachte setzte er einen Schritt vor den anderen und näherte sich mehr als gemächlich dem Auto, während sie jede einzelne Regung von ihm zu analysieren versuchte. Ihr Misstrauen erdrückte ihn wie eine große Flutwelle. Eine gefühlte Ewigkeit später stand er dann endlich am Kofferraum, den er problemlos von außen öffnen konnte.

Ein Geruch kam ihm entgegen, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte und auch keine richtige Beschreibung dafür finden konnte. Viel bewahrte Ferris nicht dort drin auf, doch als Luan direkt eine Decke ins Auge fiel, machte er sich auch nicht die Mühe, das restliche Innenleben des Kofferraums zu erkunden. Dabei könnten nur verstörende Erkenntnisse ans Tageslicht kommen, von denen er sich besser fernhielt. Also griff er gezielt nach dem ranzig aussehenden Stück Stoff und verzog das Gesicht, wenn er nur halbwegs daran dachte, wozu Ferris diese Decke schon benutzt haben könnte.

Hinter ihm ertönte auf einmal ein lauter Kampfschrei. Nicht mal einen Atemzug später sprang ihm jemand stürmisch auf den Rücken und wollte mit dieser verzweifelt waghalsigen Aktion mit Sicherheit dafür sorgen, dass er sein Gleichgewicht verlor. Zwar war Luan durchaus überrascht, schwankte jedoch kein bisschen, was der Täterin einen leisen Fluch entlockte. Planlos klammerte sie sich mit den Armen um seinen Hals fest, weil sie offensichtlich nicht daran dachte so leicht aufzugeben.

„Sagen Sie mal“, kam es ungläubig in einer ruhigen Stimmlage von Luan, der nicht wusste, wie er am besten reagieren sollte, „versuchen Sie etwa gerade, mich zu überfallen?“

„Mach dich nicht lustig über mich!“, schrie die Frau auf seinem Rücken und fühlte sich von ihm gedemütigt. So sehr, dass sie sogar darauf verzichtete, ihn noch länger zu Siezen. „Ich traue dir kein Stück über den Weg! Wer weiß, ob du nicht in Wahrheit eine Waffe aus der Karre holen willst, um mich damit zu erschießen?! Aber eins sage ich dir, ich werde mich wehren!“

„Warum sollte ich Sie erschießen?“

„Bisher spricht alles dafür!“

Ob ihr Verhalten mutig oder dumm war, darüber konnte man streiten. Wäre er doch ein perverser Verbrecher, hätte sie nun ihr Todesurteil erst recht unterschrieben, statt genau das zu verhindern. Aber auch seine Geduld war begrenzt, besonders weil er Körperkontakt zu anderen Leuten hasste. Zu seinem Leidwesen trieb ein Teil in Luan ihn anhaltend dazu, seinen Stand bei ihr ins richtige Licht rücken zu müssen, darum sollte er freundlich bleiben.

„Selbst wenn ich wollte, könnte ich Sie nicht erschießen, weil ich keine Waffe besitze.“ Zumindest nicht die Art von Waffe, von der sie sprach. „Würden Sie mich also bitte loslassen?“

„Ich merke es, wenn jemand lügt!“, gab sie nicht nach. „Hast du sie etwa schon in den Mantel gesteckt?!“

Luan bekam nicht mal die Zeit, darauf etwas zu sagen, da sie auch schon einen Arm von seinem Hals löste und mit der Hand anfing, hektisch seinen Mantel zu durchsuchen. Wie eine wilde Furie zerrte sie an seinem Kleidungsstück herum. Für einen gewöhnlichen Menschen fand er sie wahrlich mutig, aber es änderte nichts daran, dass ihr versuchter Angriff gegen ihn auch gleichzeitig dumm blieb.

Selbst wenn er verdächtig aussah, hatte er ihr ja gar nichts angetan. Wäre er nicht so gehemmt von dem Gedanken, sich nicht unnötig noch unbeliebter zu machen, hätte er sie ohne zu zögern abgeworfen und keine Rücksicht mehr auf sie genommen. Seine Geduld sollte sich aber letztendlich doch noch vollständig in Luft auflösen, ihre Hand gelangte nämlich in die Innentasche, wo er seine Taschenuhr aufbewahrte. Schlagartig fuhr ein kalter Schauer über seinen gesamten Körper, kaum dass ihre Fingerspitzen den Gegenstand berührt hatten.

„FASS DAS NICHT AN!“

Grob packte er sie an dem Arm, mit dem sie sich noch an seinem Hals festklammerte und riss sie von seinem Rücken runter nach vorne, wo er sie einfach in den Kofferraum fallen ließ. Dennoch war es ihr irgendwie gelungen, seine Taschenuhr zu fassen zu kriegen, die sie nun fest in ihrer Hand hielt. Wie besessen war sein Blick einzig und allein auf dieses wertvolle Gut gerichtet, wodurch er überhaupt nicht mitbekam, wie geistesabwesend sie diesen Gegenstand ebenfalls anstarrte.

„Gib die mir sofort zurück!“, forderte er wütend.

Zielgerichtet raste seine Hand wortwörtlich auf ihre zu und umschloss diese samt Taschenuhr komplett. Genau in dieser Sekunde sprang der Deckel der Uhr zwischen ihren Händen ein kleines Stück auf, woraufhin sie beide von einem gleißenden, weißen Licht eingehüllt wurden, das ihn blendete. Für einige weitere Sekunden konnte er nichts anderes als eine schneeweiße, flimmernde Leinwand vor seinen Augen sehen.

Irgendwann hallte der Klang einer tickenden Uhr in seinen Ohren wider und mitten in diesem grellen, seltsamen Lichtspiel hob sich die Silhouette eines Menschen hervor. Eingeschlossen von diesem reinen Weiß, wirkte dieser unglaublich heilig, obwohl noch nicht zu erkennen war, um wen es sich handelte. Auf magische Weise nahm die Intensität des Lichtes ab, als wollte es respektvoll der Person Platz machen, die dadurch immer besser zu erkennen war.

Es war eine Frau. Eine Frau mit blonden, langen Haaren und warmherzigen, grünen Augen. Jemand, den Luan sehr gut kannte und zuletzt vor einer langen Zeit gesehen hatte, bis sie voneinander getrennt worden waren.

Hallo, Luan“, grüßte sie ihn liebevoll und streckte ihre Hand nach ihm aus. „Lange nicht gesehen.

Estera“, sagte er, wie in Trance.

Auch er streckte seine Hand aus, um ihre zu ergreifen. Als sie sich gegenseitig berührten, sah er mit dem nächsten Wimpernschlag wieder die Frau vor sich, die er in der Nacht vor dem Alptraum gerettet hatte. Alles andere von dieser geheimnisvollen Erscheinung war spurlos verschwunden. Das Licht. Das Ticken einer Uhr. Und auch Estera. Alles war so wie vorher.

Erschrocken löste sich sein Griff von der Taschenuhr und der Hand dieser Frau. In ihm brauten sich innerhalb kürzester Zeit die verschiedensten Gefühle zu einem Sturm zusammen, von dem er erschlagen zu werden drohte. Leicht schwankend wich er zurück und brach nach wenigen Metern erschöpft zusammen, weil die Entfernung zu seiner Taschenuhr ein kaltes Stechen in seinem Herzen verursachte.

Hatte er sich doch nicht geirrt? War sie wirklich ein normaler Mensch? Mit ihr stimmte doch etwas nicht.

Auch sie schaute ihn ziemlich entgeistert an und regte sich nicht, blieb einfach im Kofferraum liegen, ohne etwas zu sagen. Deshalb musste wohl oder übel er sich zuerst dazu überwinden, eine Frage zu stellen, von denen zu diesem Zeitpunkt beide gleichzeitig heimgesucht wurden.

„Wer bist du?“

Irgendetwas stimmt nicht

Luan und die Frau, deren Namen er noch nicht kannte, starrten sich gegenseitig schweigend an, für eine ganze Weile. Entweder wollte sie ihm einfach nicht antworten oder es lag daran, dass sie noch zu verwirrt dazu war. Jedenfalls verriet ihm das ihr Gesichtsausdruck, der eindeutig widerspiegelte, dass auch sie irgendetwas völlig aus der Bahn geworfen haben musste.

Ob sie ebenfalls eine Art Erscheinung erlebt hatte, so wie er gerade eben? Selbst wenn es so war, konnte er sie jetzt noch nicht danach fragen, was genau sie denn gesehen hatte. Vielleicht war sie auch nur durcheinander, weil er plötzlich so erschrocken vor ihr zurückgewichen war, obwohl er wenige Sekunden zuvor noch unbedingt sein Eigentum wiederhaben wollte.

Wie auf Stichwort wurde der Schmerz in seiner Brust stärker und in seinem Inneren breitete sich schleichend eine Kälte aus, die ihm den Atem zu rauben schien. Leider konnte Luan nicht verhindern, dass er deshalb anfing schwerer zu atmen, aber es gelang ihm ziemlich ruhig zu klingen, als er nochmal versuchte, die Frau mit einer neuen Frage anzusprechen.

„Kann ich meine Taschenuhr zurückhaben?“

Sie stieß einen irritierten Laut aus und ihr Blick huschte kurz zu dem besagten Gegenstand in ihrer Hand. Ihre Verwirrung wurde noch größer, was er daran erkannte, wie sie ihn anschließend wieder anschaute und dabei ziemlich verloren aussah. Unsicher zog sie ihre Beine näher an ihren Körper und rutschte ein kleines Stück tiefer in den Kofferraum hinein, in den er sie vorhin fallen gelassen hatte.

Wie ein hilfloser Welpe lag sie dort drin und wusste nicht wirklich wohin. Fast tat sie ihm ein bisschen leid, auch wenn sie vorhin versucht hatte ihn zu überfallen und dabei sogar an seinen wertvollsten Besitz gelangt war. Besonders letzteres ließ ihn dann doch eher nervös werden und verlangte etwas freundlich formulierten Nachdruck seinerseits.

„Bitte“, fügte er eindringlich hinzu, ohne seine Ruhe zu verlieren. „Sie ist mir sehr wichtig.“

Zaghaft reagierte sie endlich auf seine Worte, indem sie etwas darauf erwiderte. „Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre besser für mich, sie dir nicht zurückzugeben.“

Diese Bemerkung ließ ihn schwermütig seufzen. An ihrem Misstrauen ihm gegenüber hatte sich also nichts geändert, dabei lag in ihrem Blick keinerlei Feindseligkeit mehr, die zeitgleich mit seinem Ärger durch die Erscheinung vorhin spurlos verschwunden war. Dafür herrsche jetzt Verwirrung, mit diesem Gefühl schien sie aber immerhin um einiges umgänglicher zu sein.

Erst überlegte Luan, sie wieder zu Siezen, doch es erschien ihm besser beim Duzen zu bleiben. Schon allein weil sie es auch nicht anders tat. „Ich habe wirklich kein Interesse daran, dir etwas anzutun. Wenn ich das wollen würde, hätte ich viele Stunden Zeit dazu gehabt, das bereits zu erledigen, während du noch geschlafen hast.“

Die Vorstellung ließ sie das Gesicht verziehen und zu seinem Glück konterte sie nicht mit dem Argument, dass er einer von der Sorte sein könnte, die ihren Opfern am liebsten Leid zufügten während sie bei Bewusstsein waren. Stattdessen stellte sie eine Gegenfrage bezüglich seiner Taschenuhr. „Warum ist die so wichtig für dich?“

„Das ist schwer zu erklären.“

„Warum?“, hakte sie weiter nach.

„Weil es privat ist.“ Der Schmerz in seiner Brust verstärkte sich, wodurch sich in seine folgenden Worte ein leichtes Zittern in seine Stimme schlich. „Ich bitte dich noch einmal: Gib sie mir zurück.“

Dass er Leid verspürte war ihr wohl nach seinen letzten Worten nicht entgangen, ihre Körperspannung ließ nach und ein überraschend mitfühlender Ausdruck gewann die Oberhand über sie. Ohne noch etwas dagegen zu sagen, rutschte sie zurück nach vorne und war schnell aus dem Kofferraum geklettert. Danach setzte sie vorsichtig den ersten Schritt in seine Richtung, als müsste sie sich doch dazu überwinden.

Dennoch gelang es ihr, die wenigen Meter zwischen ihnen schrumpfen zu lassen und stand schließlich nur noch knapp einen Schritt entfernt vor ihm. Als sie ihre Hand mit der Taschenuhr zu ihm herunter streckte, schüttelte er den Kopf und deutete auf den Boden. „Leg sie ab, ich nehme sie mir dann.“

Noch verstand er nicht, wie diese Erscheinung zustande gekommen war oder was genau sie zu bedeuten hatte. Solange er nicht wusste, womit er es zu tun hatte, wollte er eine weitere Berührung zwischen ihm, der Frau und seiner Taschenuhr gleichzeitig lieber vermeiden. Sonderlich überrascht wirkte sie auf seine Bitte hin nicht, woraus er schloss, dass sie diese Vorgehensweise nur begrüßte.

Auffallend behutsam legte sie die Uhr im hohen Gras ab und trat etwas zurück. Sofort streckte Luan seine Hand aus und nahm sie an sich, wodurch der Schmerz in seiner Brust auf der Stelle nachließ. Auch die Kälte zog sich gleich zurück, was ihn erleichtert aufatmen ließ.

Sorgsam verstaute er seinen Besitz wieder in der Innentasche seines Mantels und nahm sich erst mal Zeit dazu die Knöpfe zu schließen, von denen die Übeltäterin, bei ihrem wilden Überfall vorhin, einige zu öffnen geschafft hatte. Hoffentlich hatte sie die schwarze Kruste auf seiner Haut nicht gesehen oder gar gespürt, während ihrer Suche nach einer Waffe.

Anschließend stand er auf und zupfte auch noch den Rest seines Mantels anständig zurecht, bis er zufrieden war. Eigentlich hätte er einen guten Grund dazu gehabt, nichts weiter zu sagen, doch er wandte sich an die Frau, die ihn nur schweigend beobachtet hatte. „Danke, dass du sie mir zurückgegeben hast.“

Verunsichert nickte sie nur knapp und wich seinem Blick aus, indem sie zur Seite schielte. „Eigentlich hatte ich dich ja zuerst gefragt, aber ich bin Mara. Also mein Name ist Mara.“

Zwar kam es etwas verspätet, aber somit antwortete sie ihm also doch noch auf seine Frage. Nachdem das Problem mit seiner Taschenuhr doch recht schnell geregelt werden konnte, keimte in ihm jetzt natürlich mehr und mehr die Frage auf, warum er ausgerechnet über sie, Mara, eine Erscheinung von Estera gehabt hatte. Leider sagte ihm ihr Name überhaupt nichts, was ihn mehr verärgerte, als er selbst gedacht hätte. Das ließ er sich aber nicht anmerken.

„Mara also“, wiederholte er ihren Namen. „Stimmt, ich habe mich dir gar nicht vorgestellt, als du nach dem Aufwachen gefragt hattest, wer ich bin. Mein Name ist Luan. Luan Howe.“

„Ah“, entgegnete sie und klang seltsamerweise sehr enttäuscht, als hätte sie sich was anderes erhofft. Rasch schob sie eine neue Frage hinterher, um von ihrer Reaktion abzulenken. „Ich lag also bewusstlos auf der Straße? Ist das wirklich wahr?“

„Ich habe keinen Grund zu lügen“, sagte er, mit einer überzeugenden Stimmlage.

In seinem Beruf zählte es zur Normalität den Opfern von Alpträumen die Wahrheit zu verschweigen, da die Existenz von Traumbrechern für Menschen geheim bleiben musste. Nach all der Zeit hatte Luan also kein Problem mehr damit jemanden anzulügen und fühlte sich schon lange nicht mehr schlecht deswegen. Würden die Leute wissen, dass manche von ihren Alpträumen wirklich gefährliche Ausmaße annehmen konnten, würde keiner mehr ruhig schlafen können, geschweige denn wollen.

Zu seiner Überraschung nahm Mara ihm seine Bestätigung diesmal ziemlich schnell ab, denn sie nickte verstehend. Das war fast schon zu auffällig im Vergleich dazu wie misstrauisch sie vor wenigen Augenblicken noch gewesen war, demnach musste sie auch etwas gesehen haben, genau wie er. Nur was? Es wäre der perfekte Zeitpunkt, um sie danach zu fragen.

Er konnte sich aber nicht dazu überwinden. Ihm schwirrte selbst noch die ganze Zeit das Gesicht von Estera im Kopf herum, das er gesehen hatte. Ein Gesicht, von dem er schon angefangen hatte zu glauben es nicht noch einmal wiederzusehen. Estera, eine Person, die ihm sehr viel bedeutete.

Es war, als würden sich vor seinem geistigen Auge die zahlreichen Fetzen eines zerrissenen, alten Fotos langsam wieder zusammensetzen. Die Risse in dem Bild ließen einen klaren Blick auf diese Erinnerung aber nicht zu, obwohl er sie doch gerade eben so deutlich vor sich gesehen und sogar ihre Stimme gehört hatte.

„Dann muss ich wohl schlafgewandelt sein“, riss ihn Mara mit dieser Aussage aus seinen Gedanken.

Etwas zu ernst ging Luan darauf ein. „Passiert dir das öfter?“

„Was?“

„Dass du schlafwandelst. Noch dazu so weit weg, die nächste Ortschaft ist ein ganzes Stück entfernt.“

Auf einmal sah sie ihn mit einem Ausdruck an, den er nur schwer deuten konnte. Eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, gepaart mit etwas anderem. Irgendwie bekam Luan das ungute Gefühl, dass dieses Etwas mit ihm im Zusammenhang stand, denn sobald Mara drohte halbwegs Augenkontakt mit ihm herzustellen, schaute sie rasch wieder woanders hin.

Ich muss sie fragen, was sie gesehen hat, schoss es ihm durch den Kopf. Ich muss sie fragen.

Stattdessen griff er jedoch auf das zurück, was er zuletzt gesagt hatte und stellte eine völlig andere Frage. „Oder wohnst du irgendwo in der Nähe? Gibt es hier ein Haus, das abseits der Straße liegt?“

„Nein, ich wohne in Limbten.“

Limbten. Das war der Ort, zu dem Ferris sie beide fahren sollte. Spätestens jetzt glaubte Luan nicht mehr daran, dass dieses Treffen mit Mara reiner Zufall gewesen war. Möglicherweise war sie sogar der Grund dafür, wegen dem es die Mission überhaupt gab, zu der man zwei Traumbrecher losgeschickt hatte. Trotzdem spürte er in ihrer Gegenwart immer noch keine Gefahr und er hatte es sogar durch eine Berührung geprüft. Sie nach ihrem Teil der Erscheinung zu fragen, blieb zunächst der einzige Weg in diesem Fall vorwärts zu kommen.

Aber er fragte sie nicht danach. „Dann hast du doch eine recht weite Strecke zurückgelegt. Wir waren auf dem Weg dorthin, also bietet es sich erst recht an, dich mitzunehmen. Das wäre sowieso die nächste Ortschaft.“

„In Ordnung“, stimmt sie leise zu.

„Gut, aber wie gesagt, das kann noch eine Weile dauern. Mein Freund ist noch nicht lange weg, also müssen wir erst mal warten.“

„Verstehe.“

Obwohl ihre Verhaltensveränderung auffällig war, machte es die Sache doch einfacher, dass sie nun dazu bereit war sich von ihnen nach Hause bringen zu lassen. Luan ließ kurz von ihr ab und holte die Decke, die er bei dem kleinen Zwischenfall mit ihr auf den Boden fallen gelassen hatte. Damit sollte auch das Problem mit der Kälte vorerst gelöst sein.

„Hier.“ Er reichte ihr die Decke. „Die sollte gegen die Kälte helfen, sofern es dich nicht stört, dass sie schon etwas ... mitgenommen ist.“

„Besser, als zu frieren“, meinte sie und griff ohne Scheu nach dem ranzigen, knallroten Stoff.

Nachdem Mara sich komplett in die Decke eingewickelt hatte, standen sie beide einfach nur da, ohne etwas zu sagen. Ähnlich wie vor wenigen Minuten, als sie sich bloß schweigend angestarrt hatten, nur richtete sie ihren Blick nun stur auf den Boden.

Eigentlich wäre es auch jetzt der perfekte Zeitpunkt gewesen, ihr endlich die Frage zu stellen, aber er drückte sich weiterhin davor, indem er sich irgendwann direkt neben dem Auto ins Gras setzte und sich dort mit dem Rücken anlehnte. Daran nahm Mara sich ein Beispiel, nur dass sie genau auf der anderen Seite des Wagens Platz nahm und dort blieb. Die angespannte Stimmung zwischen ihnen gefiel Luan nicht.

Zu allem Überfluss kam ihm das Bildnis von Estera wieder in den Sinn, wo es mehr und mehr für ein ordentliches Durcheinander sorgte. Kein Wunder, dass er sich bald schon ein weiteres Mal in geistige Abwesenheit verlor und ziellos in den leicht bewölkten, inzwischen hellblauen Himmel blickte. Etwas später schloss er dann die Augen, für den Versuch sich zu entspannen, was nicht gerade mit Erfolg gekrönt war.

Luan glaubte, nur für knapp eine Minute die Augen geschlossen zu haben, doch als er sie wieder öffnete, hatte sich das Farbenspiel des Himmels vollkommen verändert. Die Sonne sank, umgeben von einem wolkenlosen, orangeroten Meer, langsam in die Tiefe hinab. Dabei hatte er mit Ferris nur wenige Augenblicke zuvor noch den Sonnenaufgang erlebt, was nur bedeuten konnte, dass er eingeschlafen sein musste.

„Verdammt“, brummte er, total verschlafen.

Nach diesem nicht eingeplanten und doch recht langen Schläfchen fühlte er sich nun noch erschöpfter als vorher. Von Entspannung keine Spur. Die Müdigkeit steckte ihm geradezu in den Knochen, wodurch er anfangs etwas länger brauchte, um wieder einigermaßen klar im Kopf zu werden. Träge tastete er nach seiner Uhr in der Innentasche seines Mantels und atmete schwer aus, kaum dass er sie von außen durch den Stoff hindurch fühlte.

„Traumloser Schlaf ist ein Fluch.“

Danach stand er keuchend auf und fühlte sich gleich mehr als hundert Jahre älter, so schwerfällig wie er auf die Beine kam. Obwohl sich seine Glieder noch sehr schlaff anfühlten, ging er sofort um das Auto herum auf die andere Seite und war beruhigt, als er sah, dass Mara noch da war.

Eingekuschelt in der Decke lag sie seitlich auf dem Boden, mit den Rücken dicht am Auto liegend. Auch sie war eingeschlafen und befand sich offensichtlich noch tief im Traumland. Noch einmal wollte er es lieber nicht wagen sie anzufassen, falls sie doch nicht so fest schlief, wie es für ihn aussah.

Anschließend begab Luan sich zurück auf die Straße, wo er am Rand stehen blieb und in die Richtung schaute, die Ferris am Morgen eingeschlagen hatte. Dass er noch nicht zurückgekehrt war, nach all den Stunden, sollte für ihn kein Grund zur Sorge darstellen. Immerhin könnte der Schlaf genauso gut über Ferris eingebrochen sein und ihn dazu bewegt haben, sich ebenfalls unterwegs hinzulegen.

Sicherheitshalber sollte Luan sich aber vergewissern, ob bei seinem Kollegen alles in Ordnung war, deshalb holte er seine Taschenuhr aus dem Mantel und ließ sie in seiner Handfläche ruhen. Sogleich legte sich ein hellblauer Farbschleier über die Landschaft, durch den er jede noch so kleine Unebenheit problemlos wahrnehmen konnte.

Konzentriert folgte er mit seinem Blick der Straße, bis er irgendwann durch eine Art Sog seinen Körper zu verlassen schien und im Geiste mit rasender Geschwindigkeit den kompletten Weg überflog. Es fühlte sich stets wie eine Achterbahnfahrt an, daran konnte sich Luan noch nie gewöhnen. Nur ein paar Sekunden später kam er beim Notfalltelefon an, zu dem Ferris gehen sollte, aber von ihm fehlte jede Spur, er befand sich auf jeden Fall nicht mehr auf der Straße.

An der Stelle, wo das besagte Telefon stand, war die Straße beidseitig von einem dichten Wald eingeschlossen, den Luan ebenfalls grob durchforstete. Geschwind schlängelte er sich um unzählige, dicke Baumstämme herum, die sich bei seinem Tempo zu dünnen Streichhölzern verzerrten. Aufmerksam versuchte er Bewegungen auszumachen, die wellenförmige Störungen auf der hellblauen Ebene verursachen würden, aber es war verdächtig still. Zu still für einen so dichten Wald, in dem sich zumindest einige Tiere regen sollten.

Schließlich zwang ein äußerst penetrantes Pochen hinter der rechten Schläfe ihn dazu, diesen Ausflug abzubrechen. Mit dem nächsten Augenschlag kehrte er auch schon in die normale Sicht zurück und rieb mit dem Zeigefinger vorsichtig über die Stelle, wo das Pochen gleich nachließ, ohne zu einem Schmerz ausgeweitet zu sein. Die Nutzung dieser verbesserten Sicht war noch nie seine Stärke gewesen.

Generell waren alle Fähigkeiten, die einem Traumbrecher durch seine Taschenuhr verliehen wurden, für ihn nicht mehr so leicht zu handhaben. Sicherlich lag es daran, dass seine Traumzeit schon vor langer Zeit eingefroren war. Exakt eine Sekunde vor Ablauf der sechs Stunden, was sich bis heute niemand erklären konnte und er hatte längst aufgegeben, nach einer Antwort zu suchen.

„Ich kann Ferris nicht finden“, sagte er nachdenklich zu sich selbst. „Irgendetwas stimmt nicht.“

Ferris mochte ein Chaot sein, doch er würde niemals einfach so vom Erdboden verschwinden. Wie konnte diese Mission nur schon so sehr aus dem Ruder laufen, noch bevor sie überhaupt am Zielort angekommen waren? So etwas war bisher noch nie vorgekommen.

„Ist Ferris dein Freund, der Hilfe holen sollte?“

Angespannt sah Luan über die Schulter und erblickte Mara. So fest konnte sie also wirklich nicht geschlafen haben, wie er wieder dachte, wenn sie nun wach war. Müde rieb sie sich die Augen und blieb mit etwas Abstand neben ihm stehen, wo sie nur kurz einen Blick in beide Richtungen der Straße riskierte.

„Er ist ganz schön lange unterwegs, es wird bald dunkel sein.“

„Ist mir nicht entgangen“, erwiderte Luan und ließ seine Taschenuhr lieber zurück in den Mantel verschwinden. „Ich werde losgehen und nach ihm sehen. Vielleicht hat ihn etwas aufgehalten.“

„Ich komme mit!“, schoss es sofort aus ihr heraus, was ihn leicht überrascht zusammenzucken ließ.

„Das halte ich für keine gute Idee, du solltest hier beim Auto bleiben. Wir werden dich dann abholen.“

Entweder hatte Mara sich in ihrer Verhaltensweise im Schlaf ein weiteres Mal verändert oder sie besaß von Natur aus ein ziemlich wechselhaftes Wesen, denn auf einmal suchte sie nahezu seinen Blickkontakt. Ein entschlossenes Flackern in ihren Augen warnte ihn davor, sie besser nicht nochmal zurückzuweisen, was durch ihre erschreckend ernste Miene nochmal zusätzlich verstärkt wurde.

„Ich sagte, ich komme mit“, forderte sie nun nachdrücklich. „Selbst wenn ich wollte, kann ich dich nicht mehr aus den Augen lassen.“

Verwirrung brach über Luan ein. „Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden.“

Für sie schien das Gespräch damit beendet zu sein, da sie an ihm vorbei stampfte und ihr Gesicht in der Decke vergrub, in die sie noch eingewickelt war. Mit kleinen Schritten betrat sie die Straße, wo sie nach ein paar Metern in der Mitte stehen blieb und darauf wartete, dass er vorging, um den Weg zu weisen. Zwar blieb er verwirrt, was ihre Aussage von eben anging, aber setzte sich dann doch lieber in Bewegung und folgte der Straße Richtung Notfalltelefon. Schon allein um Ferris zu finden hatte er keine Zeit jetzt mit ihr zu diskutieren.

Hoffentlich würde Luan ihn schnell finden. Zum ersten Mal in seiner gesamten Laufbahn als Traumbrecher hätte er von Ferris nämlich jetzt gut einen Rat zum Thema Frauen gebrauchen können. Oft hatte der zwar schon in manchen Gesprächen erwähnt, wie launisch Frauen sein konnten, doch mit Mara machte er gerade eine persönliche Erfahrung, auf die er gern verzichtet hätte.
 


 

***
 


 

Links und rechts türmten sich die Bäume des Waldes zu riesigen Gestalten auf, deren Äste sich über die Straße hinweg verzweigten, als würden sie einander die Hände reichen und dadurch absichtlich die Sicht auf den Himmel verdecken wollen. Mittlerweile war es zudem auch schon so dunkel geworden, dass selbst Luan Mühe hatte, ohne Taschenuhr richtig sehen zu können. Normalerweise hatte man als Traumbrecher damit keine Probleme. Durch die Schatten des dichten Geästs über ihnen, von denen der Weg quasi verschlungen wurde, gewann die Dunkelheit um sie herum noch mehr an Stärke.

Sie hatten das Notfalltelefon noch nicht erreicht und seit ihrem Aufbruch beide abermals gezeigt, wie gut sie das Schweigen beherrschten. Langsam wurde Mara aber unruhig, was Luan daran merkte, dass sie ihm nach und nach näher kam, statt weiterhin Abstand zu halten – obwohl sie ihm am Morgen noch gesagt hatte, er sollte ihr nicht mehr zu nahe kommen. Die Dunkelheit behagte ihr wohl nicht, was ihn nicht verwunderte. Viele Menschen fürchteten sich vor dem Unbekannten.

Als sie sich aber schließlich an seinem rechten Arm festklammerte, war seine Grenze deutlich überschritten. „Hör mal, ich bin nicht der Typ für enge Kontakte.“

„Wie bitte?“, kam es nun verwirrt von ihr.

„Ich kann deine Körperwärme spüren, was bedeutet, dass du mir eindeutig zu nah bist.“

„Oh, ach so ...“

Eher zögerlich ließ sie ihn los und nahm wieder etwas mehr Abstand ein. Fast hätte Luan gesagt, dass er wusste, sie hätte besser beim Auto bleiben sollen, doch das wäre nicht hilfreich gewesen. Also beschloss er, ihr lieber Mut zu machen. „Solange du der Dunkelheit keinen Anlass dazu gibst, kann sie dir auch nichts anhaben.“

Da sie darauf nichts sagte, fügte er dem noch etwas hinzu. „Ich meine, dass du dich nicht vor der Dunkelheit fürchten musst.“

„Ich habe keine Angst“, flüsterte sie, als wollte sie nicht von den falschen Personen gehört werden. „Nicht vor der Dunkelheit.“

„Nicht? Wovor denn dann?“

„Das ist schwer zu erklären.“

„Warum?“

„Weil es privat ist.“

Natürlich bemerkte er sofort worauf sie hinauswollte, immerhin hatten sie dieses Gespräch am Morgen schon in Bezug auf seine Taschenuhr geführt. „Ich werde dir auch jetzt nicht sagen, warum sie mir wichtig ist.“

„Schade.“ Er hörte ihre Enttäuschung heraus, doch das hinderte sie scheinbar nicht daran, das Gespräch aufrecht zu erhalten. „Darf ich dir denn eine andere Frage stellen?“

„Kommt darauf an, was für eine.“

Während sie sich unterhielten liefen sie weiter die Straße entlang, auch wenn Luan inzwischen kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte und mehr erahnen musste, wo er hintrat. Am liebsten hätte er längst seine Taschenuhr herausgeholt, aber da Mara noch immer in Erfahrung bringen wollte, warum sie ihm so wichtig war, sollte er diese Neugier nicht noch weiter nähren.

Es war ohnehin erstaunlich, dass sie angeblich keine Angst vor der Dunkelheit hatte. Er selbst als Traumbrecher war es gewohnt, ständig nachts unterwegs zu sein und störte sich nicht mehr so sehr daran. Bestimmt hatte sie es nur so daher gesagt, sich nicht zu fürchten. Was sollte sonst der Grund dafür sein, dass sie eben vor lauter Unruhe seine Nähe gesucht hatte?

„Kennst du jemanden, der Bernadette heißt?“, stellte sie schließlich ihre neue Frage.

Augenblicklich blieb Luan wie versteinert stehen und Mara merkte es erst, als sie fast gegen ihn lief. Es war nicht ihre Frage, die seine Beine gerade an den Boden ketteten, wie man hätte annehmen können. Nein, es war vielmehr so, dass sich etwas um seine Füße geklammert hatte und ihn mit einem kräftigen Griff festhielt.

Bevor Luan nach seiner Taschenuhr greifen konnte, um für bessere Sicht zu sorgen, klärte die sich plötzlich von ganz alleine. Wie durch Geisterhand hellte die Dunkelheit sich gerade so weit auf, dass man seine Umgebung erkennen konnte. Im Augenwinkel bemerkte er wie Mara bereits entsetzt zurückwich und auch er konnte nicht anders, als innerlich einen Fluch auszusprechen.

Der Asphalt der Straße unter ihren Füßen hatte sich verändert. Er bestand nun aus hunderten, hölzernen Händen, die allesamt ineinander verflochten waren und deren unnatürlich langgezogenen Arme die neuen Wurzeln der umliegenden Bäume bildeten. Einige von diesen Wurzeln schlangen sich, wie bei einer Umarmung, um deren Stämme herum, wo sie sich dann mit den Fingern tief ins Holz bohrten.

In den Stämmen selbst klafften jeweils zwei hohle, schwarze Löcher, von denen man angestarrt zu werden schien. Die Blätter der Baumkronen besaßen zwar noch ihr herbstliches Rot, nur tropfte hier und da mal was von dieser Farbe herunter und diese einzelnen Tropfen schwebten ruhig in der Luft, ohne jemals den Boden zu berühren.

Dann war da noch diese Stille. Eine erdrückende Stille begleitete dieses Szenario und Luan ahnte, selbst wenn er etwas sagen würde, dass kein einziger Ton aus seiner Kehle mehr käme. Dieses unheimlich malerische Werk war zweifelsohne durch einen Schöpfer entstanden. Dazu zählten jene Alpträume, deren Fähigkeiten sich allein auf künstlerischem Wege zeigten. Sie konnten also jede Umgebung beliebig umgestalten und nur durch Gegenstände agieren, dafür waren sie nicht in der Lage persönlich Gewalt anzuwenden und Töne zu erschaffen oder in ihrer Welt zuzulassen.

Deshalb war auch keinerlei Laut von Mara zu hören, deren Mund sich für einen Schrei öffnete, als auch sie von den Händen gepackt wurde, die sich von dem Rest aus dem Boden losgelöst hatten. Da auch sie hier war, wusste Luan genau, welcher Art dieser Alptraum angehören musste, in den sie zweifellos geraten waren. Sollte Ferris ebenfalls wie sie von diesem Gegner in seine Welt gefangen genommen worden sein, war es kein Wunder, dass er ihn nicht mehr auffinden konnte.

Zielstrebig holte Luan seine Taschenuhr hervor und wandte sich an Mara, deren Name sich auf seinen Lippen formte, ohne dass er zu hören war. Verängstigt wedelte sie mit den Armen, um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren und starrte erst schockiert auf die Hände, von denen sie festgehalten wurde. Danach sah sie hilfesuchend zu Luan, der ihr gleich seine freie Hand reichte.

In ihrem Blick lag Schrecken und Ratlosigkeit, doch alles, was er tun konnte, war sie zu beruhigen, indem er Entschlossenheit zeigte und damit ausdrücken wollte, dass sie ihm vertrauen musste. Aus diesem Grund dachte er auch nicht darüber nach, ob sie eine weitere Erscheinung heimsuchen könnte, sobald sie seine Hand nahm.

Ohne lange zu zögern streckte sie auch ihre Hand nach seiner aus und als sie sich berührten, ließ Luan den Deckel seiner Uhr aufspringen, aus deren Inneren wieder ein grelles, weißes Licht wie loderndes Feuer hervortrat.

Du kannst mir vertrauen

Es gab insgesamt sechs bekannte, verschiedene Gattungen von Alpträumen und jeder von ihnen besaß einen eigenen Charakter. Diese sechs Typen wurden von Traumbrechern jeweils nochmal in vier weitere Kategorien – Schöpfer, Koloss, Schall und Atem – eingeteilt, durch die man die individuellen Fähigkeiten festlegte. Sogar bei den Träumen an sich gab es eine Aufteilung in mehrere Arten, in Zahlen ausgedrückt fünf.

Die Art des Traumes war stets ein äußerst wichtiger Punkt beim Analysieren des Feindes. Je nachdem welcher Gattung ein Alptraum angehörte, konnte dieser nämlich auch nur eine ganz bestimmte Art von Traum befallen. Ein einfacher Nachtmahr – der zweitniedrigste Typ in der Rangfolge – verkörperte quasi einen gewöhnlichen und ungefährlichen Alptraum, wie ihn jeder Mensch auf der Welt in seinem Leben öfters durchmachte, aber danach ohne bleibende Schäden wieder aufwachte.

So ein, vom Typ her schwacher, Alptraum könnte zum Beispiel niemals in einen Klartraum eindringen und Luan war davon überzeugt, dass genau diese Art Traum der Ursprung dieser bizarren Welt war, in der sie sich nun befanden. In einem Klartraum oder auch Luzider Traum war sich der Schlafende des Träumens bewusst und konnte nach eigenem Willen alles beeinflussen.

Nicht viele Menschen waren dazu in der Lage bewusst zu träumen, doch es gab einige wenige Naturtalente, andere konnten es sich auch mit viel Geduld antrainieren. Traumbrecher hingegen waren alle dazu fähig, einen Klartraum zu erschaffen, dazu brauchten sie nur ihre Taschenuhr und ihre damit verbundene Traumzeit zu aktivieren.

Klarträume konnten zwar eine aufregende Sache sein, aber auch sehr gefährlich werden, weil sie Reinmahre anlockten. Normalerweise konnten Alpträume nicht über einen Traum hinaus handeln, ausgenommen sie ließen ihre Opfer schlafwandeln und das funktionierte nur, solange sie die ausgewählte Person von der Seite des Schlafes aus steuerten. Dagegen konnte ein Reinmahr aber mit Hilfe eines Klartraums seine Existenz samt Handlungen in die Realität verlagern und sich dort immer mehr ausweiten, wo er dann erheblichen Schaden anrichtete. Sowohl an der Welt selbst als auch an der Menschheit.

Dank der übernatürlichen Sichtebene eines Traumbrechers, die man sofort bei Berührung der Taschenuhr erlangte, war es für sie oft problemlos möglich Alpträume zu erkennen. Mit bloßem Auge ließen sie sich unmöglich ausmachen, da sie größtenteils aus stark konzentrierten, negativen Gefühlen bestanden und somit keinen materiellen Körper besaßen. Auch hier bildeten Reinmahre eine besondere Ausnahme, deshalb war Luan außer der Stille nichts Ungewöhnliches aufgefallen, als er die Straße und den Wald überflogen hatte.

Weil ein Reinmahr sich durch einen Klartraum Zutritt in die Realität verschaffen konnte, war es schwer so einen rechtzeitig zu bemerken. Vorher tappten in der Regel die meisten in die Falle und verirrten sich direkt in seine verzerrte Welt, die er zuvor erschreckend gut an die Umgebung in der Wirklichkeit anpasste, so als wäre er gar nicht da. Selbst mit ihrer sensiblen Sicht konnten Traumbrecher sie nicht vorher ausmachen, aus einem Grund, wegen dem die Priorität zur Vernichtung von Reinmahren außerordentlich hoch war.

Abgesehen davon, dass sie in die Realität eindrangen und dort Chaos anrichteten sowie ahnungslose Menschen in ihre Welt einsperrten, war ein Reinmahr als Alptraum bereits sehr weit entwickelt und konnte ohne das Zutun eines Traumbrechers materielle Form annehmen. Lange war es ihnen in der Regel nicht möglich, körperlich zu existieren, aber in den Phasen waren sie auf der Sichtebene, die sich nur auf immaterielle Störungen konzentrierte, natürlich nicht zu sehen.

Luan ärgerte sich, dass er so leicht nachgegeben und Mara nicht doch beim Auto gelassen hatte. Ausgerechnet an einen Reinmahr mussten sie geraten, von allen die einzige Gattung, die neben Schlafenden auch den wachen Menschen gefährlich werden konnte. Viel Zeit sich zu ärgern hatte er jetzt aber nicht, wenn er sie beide schnellstmöglich hier rausholen wollte. Besonders wegen Mara sollte er dieses Problem versuchen schnell zu lösen.

Das weiße Leuchtfeuer zersplitterte in tausend Teile und gab seine Pistole frei. Während diese schwebend in der Luft verweilte, ließ er die Taschenuhr aus seiner Handfläche rutschen, bis ihm die lange Kette zwischen die Finger glitt, an der sie befestigt war. Rasch warf er sie sich um den Hals und gleich danach schnappte er sich dann auch seine Waffe, deren Lauf er zuerst auf die Hände richtete, die sich an Maras Füße geklammert hatten.

Zielsicher feuerte er zwei Schüsse ab, jeglicher Lärm blieb jedoch aus und wurde gänzlich von der Stille verschluckt. Sofort ließen die knöcherig dünnen Finger los und die Hände verkrampften sich unmenschlich, nachdem sie jeweils von einer Kugel aus der Pistole getroffen worden waren. Blitzschnell verschwanden sie in den Boden zurück, wo sie sich wieder zwischen den anderen eingliederten.

Schwankend kippte Mara nach vorne, direkt gegen Luan, während der schon dabei war auch sich selbst von diesen speziellen Fesseln zu befreien, wofür er nochmal zwei Schüsse benötigte. Anschließend verstärkte er den Griff um Maras Handgelenk und zog sie mit sich, als er losrannte. Wenn sie nicht nochmal von einer der Hände gepackt werden wollten, aus denen scheinbar der komplette Untergrund hier bestand, mussten sie zunächst in Bewegung bleiben.

Sie rannten von der Straße runter, direkt in den Wald hinein. Überall flogen auf magische Weise diese blutroten Tropfen aus den Baumkronen herum, die an ihnen abperlten, sobald sie damit in Berührung kamen, aber ohne irgendwelche farblichen oder nassen Spuren auf ihnen zu hinterlassen. Ein bisschen war es so, als würden sie durch lauter Perlenvorhänge laufen.

Mara konnte bei seinem Tempo kaum mithalten, folglich geriet sie mehrmals ins Stolpern und kam nur vorwärts, weil er sie die ganze Zeit hinter sich her zerrte. Ein bestimmtes Ziel hatte Luan nicht, er versuchte unterwegs auf besondere Dekorationen oder einfach nur optische Unstimmigkeiten zu achten, die nicht in das Gesamtbild dieser Welt hineinpassten. Deshalb huschten seine Augen aufmerksam hin und her, unterdessen lief er immer weiter und weiter.

Er musste erst den Kern, also das Herzstück, finden, durch das sich dieses Gemälde des Schöpfers zusammensetzte und es zerstören, bis dahin war jeder Kampf gegen einen Alptraum aus der künstlerischen Gattung mehr als sinnlos. Solange er nicht wusste, von wo aus genau sich der Schöpfer-Reinmahr ausgebreitet hatte, würde der alle Wunden an seiner Welt, egal wie groß oder klein, innerhalb weniger Sekunden heilen und sein Werk somit makellos wiederherstellen.

Gerade deshalb hielt es den Feind nicht davon ab, einem Traumbrecher offen die Arbeit schwer zu machen. Vor allem wenn dieser auch noch einen Menschen bei sich hatte, der keinerlei Kenntnisse über Alpträume und ihre Schwächen besaß, wie es bei Luan der Fall war. Noch machte er sich keine großen Gedanken darum, dass Mara ihm ernsthafte Schwierigkeiten bereiten könnte, doch das sollte er schon bald feststellen.

Vor ihnen schossen auf einmal mehrere Arme wie Pfeile aus dem Boden in die Höhe und verknoteten sich geschwind zu einer dicken, massiven Holzwand, durch die ihnen der Weg abgeschnitten wurde. Deswegen ließ Luan sich aber nicht dazu zwingen stehenzubleiben, sondern machte auf der Stelle kehrt und wollte zurückgehen, aber dort baute sich bereits eine weitere Wand aus Menschenhänden zusammen. Auch die anderen beiden Seiten waren längst versperrt, somit saßen sie fest.

Kaum waren sie stehengeblieben, wurde Mara auch schon als erstes und einziges von den Händen unter ihnen gepackt. Erneut wollte sie panisch aufschreien, nur kam nach wie vor kein Ton aus ihrer Kehle, auch wenn sie danach nochmal den Mund aufriss, um ihre Angst irgendwie mitzuteilen. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen, aber es sorgte nur dafür, dass sie noch panischer wurde, als das nicht funktionierte.

Luan hatte nicht mal Zeit auch nur ansatzweise eine Reaktion zu zeigen, denn es sausten weitere Hände nach oben, von denen ihm eine seine Waffe gezielt aus der Hand riss und der Rest ihn ebenfalls mit den Füßen an den Boden fesselte.

Sie sind viel zu schnell, fasste Luan gedanklich zusammen. Und ihre Griffe sind plötzlich auch stärker geworden.

Automatisch richtete sich sein Blick auf Mara, der die Angst buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand und erst jetzt erkannte er das Problem. Bisher war es eben noch nie vorgekommen, dass er mit einem Menschen im Schlepptau in die Welt eines Schöpfer-Reinmahrs geraten war. Seine Nachlässigkeit könnte sie nun ernsthaft gefährden.

Was er jetzt tun musste, passte ihm ganz und gar nicht, aber er hatte keine andere Option zur Auswahl, weil er momentan nicht sprechen konnte. Also zog er Maras Hand, die er noch immer festhielt, näher zu seiner Brust, wo die Taschenuhr am Ende der Kette um seinen Hals hing. Behutsam drückte er ihre Handfläche gegen das frei zugängliche Ziffernblatt, den Sprungdeckel hatte er bisher nämlich noch nicht wieder geschlossen.

Mara, sprach er in Gedanken zu ihr. Hörst du mich?

Nur schwer konnte sie ihre Aufmerksamkeit von den Händen lösen, von denen sie festgehalten wurde, aber seine Stimme ließ sie doch überrascht zu ihm aufschauen. Sie wollte ihm antworten, indem sie wie gewohnt ihre Lippen bewegte, nur kam, wie zuvor, kein Laut aus ihr heraus. Ihre Verwirrung würde größer und größer, reichte aber leider bei weitem nicht aus, um ihre Angst zu vertreiben.

Nein, nicht sprechen. Teile deine Gedanken mit mir, dann kann ich dich auch hören, erklärte er.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf und ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, als die Hände anfingen fester zuzupacken, was auch Luan bemerkte. Außerdem glaubte er wahrzunehmen, wie sich die Wände um sie herum schleichend in Bewegung setzten und näher kamen, was ihn hoffen ließ, dass es ihr nicht auch auffallen würde. Sonst könnte ihre Panik sicherlich zu groß werden und kein Gespräch mehr zulassen.

Inzwischen war Mara bewusst geworden, wogegen er ihre Hand gerade drückte und das ließ sie nervös schlucken. Fast wäre Luan tatsächlich unruhig geworden, weil sie es nicht mal zu versuchen schien, mit Hilfe ihrer Gedanken zu ihm zu sprechen, doch dann hörte er, wie ihre Stimme direkt in seinem Kopf ertönte.

Hallo, begann sie zaghaft. Klar und gleichmäßig drang das Wort zu ihm durch, verlor sich in einem Echo und erstickte wieder. Hallo? Ungefähr so?

Ja, genau so. Sehr gut, lobte Luan sie. Ich weiß, du bist verwirrt, aber du musst mir jetzt ganz genau zuhören. Das ist wichtig, sonst wird es für uns beide hier kein gutes Ende nehmen. Hast du das verstanden?

Mara war vollkommen überfordert. Ihre Emotionen drohten ihren Verstand zu überschwemmen und sie gänzlich einknicken zu lassen, sogar Schweiß hatte sich auf ihrer Stirn gebildet. Wieder und wieder sackte ihr Blick nach unten zu den Händen hinab, also drückte Luan ihre Hand noch etwas mehr gegen seine Taschenuhr.

Du musst dich beruhigen, redete er ihr gut zu. Deine Angst lässt ihn stärker werden, als er in Wahrheit ist.

Plötzlich starrte sie ihn angespannt an. Ihn?

Den Alptraum, antwortete er knapp und fuhr fort. Tut mir leid, erklären kann ich dir das erst später. Erinnerst du dich, was ich vorhin über die Dunkelheit zu dir gesagt habe?

Schweigend nickte sie, etwas ruhiger als vorher. Das reichte aber weiterhin noch nicht aus, um sie von ihrer Angst zu befreien, also redete er weiter. Mit diesem Alptraum verhält es sich genauso. Je mehr Angst du hast, desto mehr Macht gibst du ihm. Verstehst du? Also beruhige dich, auch wenn es dir schwerfällt. Nichts von dem, was du hier siehst, kann dir etwas anhaben, solange du keine Gefühle wie Angst zulässt.

Zu ihrem Glück schien Mara sich wirklich zu beruhigen und schenkte ihm Glauben. Was genau dafür gesorgt hatte, dass sie ihm vertraute, wusste er nicht, aber er war froh darüber. Lange hielt diese Freude nur leider nicht an, denn im nächsten Augenblick weiteten sich erschrocken ihre Augen.

Diese Wände, schrie sie innerlich. Sie kommen näher!

In der Tat waren die Wände bedrohlich nahe gekommen und bewegten sich unaufhaltsam auf sie zu. Demnach hatte er es doch nicht geschafft Mara ausreichend zu beruhigen, hier war wohl etwas mehr Mühe notwendig. Er schloss die Augen, wodurch sich wie von selbst sein Körper entspannte und mit Ruhe setzte er das Gespräch mit Mara in ihren Gedanken fort.

Ignoriere die Wände für eine Sekunde und ich verrate dir etwas über meine Uhr.

Wie geplant hatte er sofort ihre Aufmerksamkeit. Was? Wieso ausgerechnet jetzt?!

Mein Herz ist mit ihr verbunden, begann er und beachtete ihre letzte Frage gar nicht. Wenn du dich konzentrierst, wirst du es durch sie schlagen hören können.

Das soll wohl ein schlechter Scherz sein?!

Kurz nach dieser Aussage herrschte für einen Moment lang Stille und als Luan seine Augen wieder öffnete, sah er, dass Mara ihre geschlossen hatte. Mittlerweile berührte die erste Wand ihn schon am Rücken, was in ihm jedoch keinerlei Unruhe verursachte. Der ruhige und gleichmäßige Herzschlag von ihm zeigte früh seine Wirkung, denn der Druck in den Griffen der Hände ließ endlich nach, was ein gutes Zeichen war.

Schließlich öffnete auch Mara ihre Augen wieder, jede Form der Anspannung war aus ihrem Gesicht verschwunden. Es stimmt, ich konnte es wirklich hören.

Ich sagte dir schon, dass ich keinen Grund habe zu lügen, ging er auf ihre Worte ein. Du kannst mir vertrauen. Also: Beruhige dich und hab keine Angst, dann wird dir nichts passieren.

Nervös atmete sie tief ein und aus, nickte aber dann verstehend. Sie hielt den Blickkontakt zu Luan, vermutlich um besser ausblenden zu können, was ihr an diesem Ort unheimlich war. Ihre Körperhaltung wurde immer entspannter und ihr Geist zunehmend ruhig, bis die Wände in Stillstand gerieten. Daraufhin lösten die zahlreichen Händen ihre Formation auf und sanken wieder träge in den Boden hinab. Die Wände waren verschwunden.

Damit sie sich nicht trotzdem ewig weiter anstarrten, wies Luan sie lieber darauf hin. Siehst du? Dir ist nichts passiert.

Mühelos riss er sich von der Hand los, von der ihm vorhin seine Waffe weggeschlagen worden war. Schlaff und kraftlos fiel sie zu Boden, dort zog sie sich zu den anderen zurück. Zu sehen, wie wehrlos sie waren, ließ Mara erleichtert aufatmen. Noch einmal sollte Luan es aber nicht wagen, ihre Fesseln durch körperliche Einwirkungen seinerseits abzuschütteln.

Sacht schob er ihre Hand von seiner Taschenuhr, doch er hielt sie weiterhin fest. Seine Pistole lag einige Meter weit entfernt und er brauchte sie zurück, sonst konnte er sie beide nicht von den restlichen Störenfrieden an ihren Füßen befreien. Mit seiner freien Hand schloss er kurz den Deckel seiner Uhr, woraufhin sich die Handfeuerwaffe in einem grellen Blitzlicht auflöste. Als er den Sprungdeckel wieder öffnete, erschien seine Waffe auf übliche Weise direkt vor ihm aus dem Inneren der Taschenuhr.

Ein paar Schüsse später waren sie die Hände auch schon los und bevor er die Suche nach dem Kern dieser Welt fortsetzte, wandte er sich mit folgender Erklärung nochmal an Mara:

Sie werden uns zwar nichts antun können, solange wir sie nicht mit Angst füttern, aber das wird sie nicht daran hindern nach uns zu greifen. Damit wollen sie uns aufhalten. Bleiben wir in Bewegung, dann können sie sich gar nicht erst festhalten und uns behindern. Schlag oder tritt sie auf keinen Fall, sollten sie nach dir schnappen, dadurch zeigst du Aggression und das ist eine negative Gefühlsstimmung, durch die sie genauso wie Angst Stärke erlangen.

Irritiert blickte sie zu seiner Uhr und schien sich zu fragen, warum sie ihn noch in ihrem Kopf sprechen hören konnte. Allem Anschein nach hatte sie für sich die Vermutung aufgestellt, dass sie sich nur durch diesen Gegenstand miteinander unterhalten konnten, womit sie auch richtig lag. Vorerst reichte allein die Berührung ihrer Hände völlig aus, um die Verbindung aufrecht zu erhalten.

Drück einfach zu, falls dich etwas festhält, fuhr er unbeirrt fort. Ich schieße dich dann sofort frei.

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. Und was genau soll besser daran sein, sie mit einer Waffe zu erschießen?

Auch das erkläre ich dir später, okay?

Okay, verstanden, bestätigte sie.

Überraschenderweise verzichtete sie darauf ihm weitere Fragen zu stellen, was er nicht erwartet hätte. Eigentlich war es nur gut für ihn, dass er jetzt nicht erst noch zig Fragen beantworten musste, um alles zu erklären. Vielleicht wollte sie einfach so schnell wie möglich hier raus und verschob es lieber auf später ihn auszufragen. Wie auch immer, das konnte ihm nur recht sein.

Nachdem nun die wichtigsten Kleinigkeiten geklärt waren, konnte er endlich mit ihr weitergehen und sich wie gehabt um den Alptraum kümmern. Hoffentlich ohne weitere Zwischenfälle wie diesen eben.
 


 

***
 


 

Luan galt unter seinesgleichen als einer der schwächsten Traumbrecher überhaupt. Ohne Traumzeit war man in seinem Beruf größtenteils ziemlich aufgeschmissen und da er seine nicht mehr nutzen konnte, weil sie eingefroren war, hatte ihm das Anfangs eine Menge Probleme bereitet. Dieser Umstand hatte auch dafür gesorgt, dass er von allen am längsten den Beruf als Traumbrecher ausübte.

Ansehen brachte ihm das aber nicht unbedingt ein, zumindest nicht bei jedem. Für seine Arbeitgeber war er jedoch gerade durch seine stattliche Arbeitserfahrung nützlich, denn niemand anderes hatte so viel Wissen über seine Feinde ansammeln können wie er. Irgendwie hatte er es deshalb bisher immer geschafft, jeden Alptraum zu vernichten, allein dank seiner Kenntnisse. Auch dieses Mal konnte er sich voll und ganz auf sie verlassen.

Außer den Händen war nichts anderes dazu in der Lage sich zu bewegen oder in irgendeiner Weise zu handeln, was bedeutete, dass in ihnen die wichtigste, symbolische Bedeutung dieses Alptraums verborgen lag. Demnach schützten sie bestimmt auch das Herzstück, nach dem Luan suchte.

Aufmerksam hatte er also eine Zeit lang den Boden abgesucht und eine Spur entdeckt, der er folgen konnte. Mitten durch diesen Wirrwarr von Händen zogen sich durchgehend vier Arme, die sich wie eine Spirale umeinander verflochten hatten und in eine Richtung führten, an deren Ende die Hände eine blumenförmige Schale bildeten, in denen ein Erdhaufen ruhte.

Den hatte Luan vorsichtig durchsucht und ein altes, zerknülltes Bild gefunden, das von einem Kind gemalt worden sein musste. Was darauf zu sehen war konnte Luan durch den Dreck der Erde nicht mehr richtig erkennen, aber er erkundete auch nur ungern den genauen Sinn hinter dem, was Alpträume aus den inneren Tiefen ihrer Opfer widerspiegelten. Privatsphäre galt, seiner Meinung nach, besonders für das, was sich in den Träumen einer Person abspielte.

Wichtiger war es den Reinmahr zu zwingen sein Gesicht zu zeigen und dann zu vernichten. Mara hatte er bereits sehr bestimmt darum gebeten sich gleich schnell eine gute Deckung zu suchen, sobald sich diese Welt auflösen und nicht nur die Realität freigeben würde, sondern auch den Reinmahr. Diese Bitte hatte sie wieder angenommen, ohne Fragen zu stellen, was für ihn den Weg frei machte den entscheidenden Schuss zu setzen.

Er ließ das verschmutzte Blatt Papier aus seiner Hand zu Boden segeln und durchlöcherte es mit einem Schuss direkt in der Mitte, anschließend wurde der gesamte Wald aus dem Nichts heraus von einem blauweißem Feuer erfasst. Statt dass alles zu Asche verbrannte, bildeten sich tausende, feine Risse in den Oberflächen der Umgebung, sogar in der Luft. Plötzlich brach das Bild dieser Welt dann geräuschlos in sich zusammen.

Massenhaft fielen glanzlose Splitter herab und zerfielen zu Sand, als sie den Boden berührten. Hinter dem zerbrochenen Spiegelbild der Welt des Schöpfers war die Wirklichkeit zum Vorschein gekommen, so wie sie sein sollte: Ein gewöhnlicher, dichter Wald, eingehüllt von der natürlichen Dunkelheit der Nacht. Einzig der schneeweiße Sand, der überall verstreut lag, wirkte fehl am Platze.

„Jetzt“, wies Luan Mara an, sich zu verstecken. „Beeil dich.“

Zuerst war sie etwas verwundert, dass sie ihn normal sprechen hören könnte, ließ sich davon aber nicht lange aus dem Konzept bringen. „Ja, verstanden.“

Wie abgemacht lief Mara los, um sich einen Platz zu suchen, an dem sie sich verstecken konnte. Einmal stolperte sie dabei und fiel zu Boden, da sie nun in der nächtlichen Schwärze nicht mehr gut genug sehen konnte. Das stellte für Luan natürlich kein Problem dar, weil er seine Taschenuhr noch um den Hals trug und so dank der hellblauen Sichtebene jedes Detail genau erkennen konnte. So entging ihm auch nicht der winzige Samen, der an der Stelle zu seinen Füßen lag, an dem er zuvor den Kern, das Bild, zerstört hatte.

„Was?!“, platzte es ratlos aus ihm heraus. „Was hat das zu bedeuten?“

Dort, wo der kleine Samen lag, hätte eigentlich der Körper der schlafenden Person liegen sollen, die den Klartraum hatte und von dem Reinmahr besessen worden war. Ungläubig hob Luan dieses rötliche Samenkorn auf, um es zu mustern. Auf den ersten Blick schien daran nichts außergewöhnlich oder gar gefährlich zu wirken, aber das konnte unmöglich sein. Wie sollte ohne Träumer ein Klartraum entstanden sein?

Seit dieses Mädchen aufgetaucht ist, geht hier nichts mehr mit rechten Dingen zu.

Während er dastand und den rätselhaften Samen begutachtete, hatte der Sand angefangen sich über ihm in der Luft zu einem Haufen zu sammeln, nahm mehr und mehr Form an. Als Luan den Blick von dem Gegenstand in seiner Hand löste, war auch das letzte Sandkorn zu dem Rest gestoßen und der Reinmahr hatte seine wahre Gestalt angenommen. Der Anblick ließ Luan erstarren.

„Du bist gar kein Reinmahr?“

Die Frage danach, was es dann für ein Alptraum war blieb ihm im Hals stecken. Im nächsten Augenblick raste der falsche Reinmahr auch schon im Sturzflug auf ihn zu und Luan konnte sich nicht rühren. Ihm fehlten die Informationen, die er brauchte, um Kämpfe gegen solche Feinde auszutragen. Er hatte keine Ahnung womit er es zu tun hatte und wo die Schwachstellen lagen.

Ohne Traumzeit konnte er sich auch nicht gescheit verteidigen oder in Ruhe herausfinden, womit er es zu tun hatte. Diese Machtlosigkeit lähmte seinen Körper. Dabei war er davon überzeugt gewesen, längst alles über jeden Alptraum in Erfahrung gebracht zu haben. Mit einer völlig neuen Gattung hatte er bei weitem nicht gerechnet.

„Was machst du da?! Pass doch auf!“, rief ihm jemand zu.

Die Stimme gehörte nicht zu Mara, aber er kannte sie. Vor ihm baute sich auf einmal ein riesiger, dunkelblauer Lichtschild auf, gegen den der Alptraum mit voller Wucht donnerte und zurückgeschleudert wurde. Jetzt bemerkte Luan auch die Person, die sich schützend vor ihn gestellt hatte. Sein Blick war so stark auf den Feind fixiert gewesen, dass er ihr Erscheinen verpasst haben musste.

„Ferris“, kam es erleichtert von ihm.

„Klar, wen hast du denn sonst erwartet?“, lachte sein Retter amüsiert und stemmte stolz die Hände in die Hüfte. „Bis jetzt war ich doch immer rechtzeitig da, wenn du in der Klemme gesteckt hast, oder nicht?“

Luans Stimme wurde ernst. „Das ist ein völlig neuer Typ, den ich noch nie gesehen habe.“

Verständnislos zuckte Ferris mit den Schultern. „Na und? Nur, weil du keine Traumzeit mehr zur Verfügung hast, funktionieren ja wohl noch deine Beine. Gib dir nächstes Mal wenigstens Mühe, dich erst mal selbst zu retten. Irgendwann schaffe sogar ich es vielleicht mal nicht rechtzeitig.“

„Reite jetzt bitte nicht wieder dauernd darauf herum“, murmelte Luan genervt.

„Was denn? Du könntest dich ja einfach mal bedanken, dass ich dich gerettet habe.“

Am liebsten wäre Luan in ein Loch versunken. Er war sich so sicher gewesen, endlich alleine mit Alpträumen fertig zu werden. Immerhin hatte er schon viele selbstständig erledigt und lange keine Hilfe mehr von einem Partner gebraucht. Wer konnte ahnen, dass ihm nach all der Zeit eine neue Gattung über den Weg laufen und daran erinnern würde, wie hilflos er in Wahrheit war?

„Überlegen wir lieber, was wir mit dem Feind machen.“

Der Alptraum, der durch das Schild von Ferris zurückgeworfen worden war, hatte es geschafft sich zu fangen und flog mit einem hohen Tempo zu ihnen zurück. Davon ließ Ferris sich aber kein bisschen beeindrucken. „Was gibt es da zu überlegen? Wir machen es so, wie wir es früher auch immer gemacht haben: Ich spiele mit ihm und du kannst ihn in Ruhe analysieren.“

„Aber übertreib es nicht.“

„Ich?“, sagte Ferris unschuldig. „Ich übertreibe doch niemals.“

Ich wusste es

Wenn dieser Alptraum kein Reinmahr war, zu welcher Gattung gehörte er dann? Luan konnte ihn beim besten Willen bei keinem anderen Typ einordnen, was vor allem an seiner materiellen Form lag, die er angenommen hatte und ihn mit Ratlosigkeit belastete: Der Feind sah menschlich aus. Viel zu menschlich für einen Alptraum. Natürlich erkannte man auf den ersten Blick, dass es sich um keinen richtigen Menschen handelte, dennoch war diese Form höchst ungewöhnlich.

Alpträume verabscheuten die Menschheit zutiefst und deswegen ließen sie diese auch im Schlaf so sehr leiden, nutzten sie teilweise sogar als Marionetten für ihre Zwecke oder sperrten sie schlimmstenfalls in einem Traum ein – ein großer Teil der im Koma liegenden Personen zählte zu solchen Fällen. Dieser Alptraum hatte jedoch die Form eines Menschen angenommen, wieso? Darauf konnte sich Luan keinen Reim machen.

Hinzu kam ein weiteres Detail, das Luan zum ersten Mal an einem Alptraum beobachtete: Er hatte kein Gesicht. Das war deshalb so seltsam, weil Alpträume aus einer Ansammlung von negativen Gefühlen bestanden und sie daher in ihrer wahren Erscheinung, sei sie körperlich oder nicht, immer mindestens eine Emotion in irgendeiner Art widerspiegelten. In dem Fall war das menschliche Gesicht aber total blank, wie auf einem weißen Blatt Papier.

Der Körper des Alptraums bestand vollkommen aus dem schneeweißen Sand, nur hatte der sich verhärtet, was noch ein zusätzlicher Unterschied zu einem Reinmahr und dem Rest allgemein war. Im Regelfall bildete der sogenannte Traumsand, der nur entstand, wenn ein Alptraum bereits Fuß in der Realität gefasst hatte, nur die Füllung, über die sich dann erst noch die richtige Erscheinung legte – wie eine Haut. Hier bildete eben dieser Traumsand offensichtlich zeitgleich die Außenhülle.

Ansonsten war die Form, wie schon gesagt, menschlich und unspektakulär. Ein geschlechtsloser Körper mit zwei Armen, zwei Beinen und einem Kopf, aber ohne Haare und die dazugehörigen Gesichtszüge. Dort, wo Augen, Nase und Mund liegen sollten, war einfach nur eine glatte, weiße Stelle zu sehen. An Angriffslust mangelte es diesem Alptraum aber wohl nicht, denn er raste geradewegs auf sie zu, obwohl der Schild von Ferris noch aktiv war.

Wieder knallte der Alptraum gegen die großflächige, runde Kuppel und löste einige rote Wellen auf der gleichmäßigen Oberfläche aus. Sie zogen sich quer durch das kühl wirkende, durchsichtige Dunkelblau und ließen den Schild nur kurz unruhig flimmern. Ein weiteres Mal wurde der Feind weit von dem Druck zurückgeschleudert, den er selbst auf dem Lichtschild ausübte. Ferris provozierte den Gegner gern auf diese Weise, doch er hatte entweder nie lange genug Lust nur zuzusehen oder machte seinen Gegenspieler damit so wütend, dass er eine böse Überraschung erlebte.

Aus dem Grund wies Luan ihn lieber darauf hin, sich anständig um ihn zu kümmern. „Du sollst es zwar nicht übertreiben, aber auch bitte nicht untertreiben.“

„Sag bloß, der da bereitet dir Sorgen?“, reagierte Ferris amüsiert und warf seine Taschenuhr mehrmals in die Luft, nur um sie wie einen Ball jedes Mal wieder auffangen zu können. „Das ist, wie du sagtest, nicht mal ein echter Reinmahr.“

„Eben, es könnte ein neuer Typ sein, der gefährlich ist.“

„Er könnte aber auch ein absolutes Nichts sein, das nicht mal durch meinen Schild kommt und dumm genug ist, es immer wieder zu versuchen.“

Tatsächlich zogen sich erneut rötliche Wellen über das Schild, als das besagte Nichts zum dritten Mal gegen das Hindernis stieß und zurückgeworfen wurde. Für Luan war das eindeutig zu viel. „Ob Nichts oder nicht, kümmere dich endlich darum. Dem Schild nach zu urteilen ist deine Traumzeit schon aktiviert und verstreicht hier gerade vollkommen sinnlos.“

In Luans Stimme lag deutlich Druck und Unverständnis, wie man so gedankenlos mit dieser wertvollen Zeit umgehen konnte. Statt Einsehen zu zeigen, tippte Ferris gegen seine eigene Stirn und grinste dabei. „Reg dich nicht so auf, kriegst hier schon wieder diese Falten. Siehst auch ohne die schon viel älter aus, als du bist.“

„Ferris!“, rief Luan ungehalten.

„Schon gut, ich mach ja schon. Ich mach ja schon.“

Ferris trat einen Schritt vor und schnippte einmal mit den Fingern, wodurch automatisch der Deckel seiner Taschenuhr aufsprang, aus der, wie bei Luan, ein grelles, weißes Licht wie Feuer zum Vorschein kam. Es zersplitterte und gab ebenfalls eine Pistole frei, die vom Aussehen her der von Luan täuschend ähnlich war. Danach legte Ferris die Uhr auch um den Hals.

Bevor er sich aber die Waffe griff, wandte er sich nochmal an Luan. „Ich wette, das ist ein absoluter Schwächling, auch wenn er einen Klartraum befallen konnte. In nicht mal einer Minute ist der erledigt.“

„Rede nicht so viel und fang an.“

Endlich schnappte Ferris sich die Pistole, ging dann leicht in die Knie und sprang nach oben. Viel höher, als ein normaler Mensch jemals könnte. Er flog förmlich pfeilgerade aufwärts und durchbrach dabei seinen eigenen Schild, der auf der Stelle jegliche Leuchtkraft verlor und sich in einem kleinen Regenschauer auflöste.

Viele Meter über den Baumkronen des Waldes hielt er schließlich in der Luft an und verweilte dort schwebend, umgeben von einer dunkelblau fließenden Energie. Bei jedem Traumbrecher war der Farbton von dem Blau anders, das ihn bei aktivierter Traumzeit umgab. Niemand wusste bisher so recht, ob das etwas zu bedeuten hatte oder nicht.

Etwas verbittert musste Luan seufzen, weil er durch Ferris daran erinnert wurde, wozu Traumbrecher in Wahrheit fähig waren, solange sie noch genug Zeit übrig hatten. Schwerkraft beeinflussen, neue Welten schaffen und vieles mehr – es kam ganz darauf an, mit welchen Fähigkeiten man geprägt war. Je nachdem wie mächtig und real sich ein Zustand entwickelte, der durch das Träumen geschaffen wurde, bewegten die Zeiger der Taschenuhr sich aber auch entsprechend schneller oder langsamer. Wer also nicht aufpasste, konnte seine sechs Stunden locker in wenigen Minuten aufbrauchen und Ferris war leider oft viel zu gedankenlos beim Kämpfen, also behielt Luan ihn besser im Auge.

Dank der erweiterten Sichtebene konnte Luan ihn von seinem Standpunkt am Boden aus problemlos sehen, auch durch das dichte Blätterdach hindurch. Somit entdeckte er auch den Alptraum ziemlich früh, der wieder aus der Ferne zurückgeschossen kam und abrupt mitten im Sturzflug stoppte, kaum dass er Ferris entdeckt hatte. Der hingegen eröffnete sofort das Feuer und gab mehrere Schüsse auf einmal ab.

Dunkelblaue, leuchtende Energiekugeln schossen auf den Gegner zu und trafen ihn mitten in die Brust hinein, von körperlichen Schäden keine Spur. Soweit war alles normal, nur zeigte der Alptraum keinerlei Reaktion, als wäre überhaupt nichts passiert. Weiterhin verharrte er einfach nur schwebend in der Luft und schien Ferris gründlich zu mustern, zumindest wirkte es so. Ohne Gesicht war es schwer, das mit Sicherheit zu sagen.

„Ach, so einer bist du also“, kommentierte Ferris, wenig beeindruckt. „Du brauchst also einen Nachschlag? Kannst du haben.“

Abermals feuerte er mehrere Schüsse ab, wovon jeder wie zuvor haargenau ins Schwarze traf. Auch das störte den Alptraum kein bisschen und Ferris fühlte sich nun doch sichtlich verspottet. Auf Worte verzichtete er aber und legte nochmals an, um einen Schuss abzufeuern. Diesmal wartete er einen Moment ab und konzentrierte sich dabei, ehe er den Abzug betätigte, was zur Folge hatte, dass der nächste Schuss wesentlich größer ausfiel als die letzten.

Eine Energiekugel von der Größe einer Bowlingkugel drang in die Brust des Feindes ein, doch es geschah immer noch nichts. Weiterhin blieb der Alptraum seelenruhig und rührte sich keinen Zentimeter. So etwas hatte weder Luan noch Ferris bisher erlebt, letzterer verlor langsam jeden Funken Spaß an der Sache und zog die Augenbrauen zusammen.

„Scheiße“, fluchte er. „ Du willst mich wohl verarschen?! Was zur Geißel bist du? Bist du überhaupt ein Alptraum oder was?“

Die Frage war durchaus berechtigt, wie Luan fand. Das, was bei ihnen als Munition für die Waffen diente, bestand aus Teilen ihrer Energie und wurde mit jedem Schuss aus dem eigenen Körper abgezweigt. Sie neutralisierte beim Zusammentreffen auf einen Alptraum die negativen Gefühle und da so ein Wesen nur durch die erst zu einer Existenz herangereift war, reagierten die verständlicherweise sehr empfindlich darauf.

Gerade weil Alpträume so unterschiedlich waren, variierte dementsprechend auch die Anzahl an Schüssen. Manche wurden schon nach einem Treffer restlos vernichtet, andere steckten so viel ein, dass ein Kampf sich sehr in die Länge ziehen konnte. Womöglich war dieses Exemplar hier einer von der Sorte, für den eine große Menge an Schüssen nötig war, aber es stimmte Luan misstrauisch, dass er gar keine Reaktion zeigte. Alpträume verteidigten sich immer sofort, sobald sie merkten, dass man versuchte sie auszulöschen, egal wie mächtig sie waren.

„Das ist alles sehr merkwürdig“, flüsterte Luan für sich, den Blick nach oben gerichtet, um die beiden beobachten zu können.

„Okay, mir reicht es!“, verkündete Ferris, überaus genervt. „Du willst dich nicht wehren?! Na schön, dann werde ich dich jetzt mal so richtig wegpusten!“

Wieder richtete Ferris den Lauf der Pistole auf die Brust und Luan ahnte, dass er viel zu viel Energie in diesen Schuss legen würde, um seinen Gegner richtig wegpusten zu können. Das musste er unbedingt verhindern, denn Ferris war dabei viel zu voreilig all seine Kraft auf einen Schlag zu verlieren und schlimmstenfalls könnte der Alptraum hinterher immer noch unversehrt sein, dann hätten sie alle ein Problem.

Er wollte den Mund öffnen und Ferris zurechtweisen, nur kam er nicht dazu. Plötzlich verkrampfte sich der Alptraum, aber scheinbar nicht aus Schmerz durch die Energiekugeln, sondern weil eine Mutation stattfand. Mutationen waren ein klares Anzeichen dafür, dass sich der Feind mit allen Mitteln gegen den Traumbrecher stellen würde, aber auch dafür, dass die vorherigen Schüsse bei ihm wirklich rein gar nichts bewirkt hatten.

Auf jeder Seite des Körpers sprossen, neben den zwei vorhandenen Armen, jeweils vier weitere heraus, die, ähnlich wie in der verzerrten Welt vorhin, eine unmenschliche Länge erreichten und sich weit über den gesamten Himmel verteilten. Reaktionsschnell feuerte Ferris sofort gezielte Schüsse in jeden einzelnen neuen Arm ab, um die Gefahr zu vernichten, bevor sie noch größer werden konnte. Wenigstens war er dadurch davon abgebracht worden, seine Energie zu bündeln und mit einem Schuss zu verlieren.

Leider schienen seine Energiekugeln das genaue Gegenteil zu erreichen, da direkt nach dem Einschlag weitere Arme aus den neuen herauswuchsen. Innerhalb von Sekunden wucherten mehr und mehr hervor, nahmen wie verzweigte Äste eines Baumes ihre Umgebung in Beschlag und ehe Ferris sich versah war er von allen Seiten eingekreist.

Zielgerichtet stürzten sich die ersten Hände auch schon direkt auf ihn. Zu schnell, als dass Ferris noch rechtzeitig einen Schild hätte formen können, daher verwendete er eine Taktik, die Luan mehr als nur missfiel.

Mühelos teleportierte Ferris sich einfach an eine andere Stelle hinter dem Alptraum, von wo aus er wie verrückt nochmals mehrere Schüsse abfeuerte. „Nimm das, du Mistkerl!“

„Teleportation?!“, schrie Luan außer sich. „Bist du bescheuert?! Das treibt die Geschwindigkeit deiner Zeit nur zu sehr in die Höhe, hör auf damit!“

Anscheinend hörte Ferris ihn nicht, denn er machte unbekümmert weiter und teleportierte sich jedes Mal weg, sobald die Hände nach ihm greifen wollten. Genug Zeit, um einen konzentrierten, großen Schuss abzufeuern hatte er somit nicht mehr, was nicht besser, sondern noch schlechter war. Ein hoher Energieverbrauch war im Vergleich doch eher zu verschmerzen, als zu viel von seiner Traumzeit zu verlieren. Darüber machte Ferris sich nur keine Gedanken und handelte spontan, das war in diesem Beruf ein fataler Fehler.

Angespannt knirschte Luan mit den Zähnen und setzte sich in Bewegung, um an einem der Bäume hochzuklettern. Er wusste, dass das, was er jetzt vorhatte, keine besonders gute oder kluge Idee war, doch er wollte auch nicht seelenruhig zusehen wie Ferris seine ganze Traumzeit verbrauchte, nur weil der sich so schlecht bremsen konnte. Es hätte auch andere Möglichkeiten gegeben auszuweichen, die weitaus sparsamer und zudem hilfreicher gewesen wären.

„Ich wusste es. Ich wusste, er würde es übertreiben!“

Das war aber nicht mal etwas, was nur typisch für Ferris war, viele Traumbrecher konnten bloß schwer einschätzen, ab wann sie ihre Zeit zu sehr strapazierten und wann nicht. Andere verloren sich auch schnell in einem begeisterten Rausch, je mehr Spaß es ihnen machte, sich im Kampf überlegen zu fühlen. Aus diesem Grund hielt die aktive Arbeitszeit von den meisten ja auch nicht allzu lange an, weil viele unterschätzten, wie zügig sechs Stunden vorbei sein konnten.

Luan dagegen wusste ganz genau, dass die Zeit dazu neigte viel zu schnell zu verstreichen.
 


 

***
 


 

„Verfluchte Scheiße!“, ließ Ferris seinen Frust raus. „Irgendwann musst du doch mal schwächer werden!“

Wie viele Energiekugeln er bis jetzt schon in den Gegner gefeuert hatte, konnte er nicht genau sagen, aber es waren einige gewesen und trotzdem tat dieser Alptraum immer noch so, als würde es ihm nichts ausmachen. Allmählich bekam Ferris sogar das Gefühl, sein Gegenspieler wurde mit jedem Schuss nur noch lebhafter und agiler.

Inzwischen waren so viele Arme und Hände um ihn herum, dass er nicht mal mehr den Körper des Alptraums sehen konnte. Wie Schlangen rauschten sie durch die Luft und versuchten hartnäckig ihn zu fassen zu kriegen, doch er konnte sich stets rechtzeitig an eine freie Stelle teleportieren, nur wurde der Platz langsam zu eng dafür. So war es bloß eine Frage der Zeit, bis die erste Hand ihn erwischen könnte.

Irgendwann ließ Ferris keuchend die Waffe sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Mist, ich kann nicht mehr. Ich habe kaum noch Energie übrig.“

Zu gerne hätte er jetzt Luan gefragt, ob er ihm einen Tipp geben konnte, was er nun tun sollte. Oft wusste der am besten, welche Schritte bei Alpträumen am sinnvollsten waren, doch auch für ihn war es diesmal ein Kampf gegen einen fremdartigen Typ, also konnte er sich diese Option sparen. Weitermachen wie bisher sollte er aber auch nicht, also musste er seine Taktik ändern.

Von oben schnellten Hände herab, die ihn durch seine kurze Atempause erwischten. Sie packten so fest zu, dass Ferris gar keine Chance hatte sich loszureißen. Bald darauf hielten ihn schon von überall her Hände gefesselt, so dass er sich nicht mal mehr minimal bewegen konnte. Wirklich beunruhigt war er deswegen aber nicht, schließlich wusste er schon genau, wie er sich befreien würde.

„Du hast es so gewollt, also werde ich dich eben mit Gewalt vernichten.“

Grinsend spannte er seinen Körper an und das Ticken seiner aktivierten Taschenuhr wurde lauter, als er eine Veränderung der Wetterverhältnisse heraufbeschwor. Schlagartig hatte sich ein Gewitter am Himmel zusammengebraut, das erste Donnern grollte bereits laut in seinen Ohren. Regen prasselte in Massen nieder, was er vorerst nur hören konnte, so dicht lagen die Arme beieinander und hatten ihn vollständig eingeschlossen.

Das Prasseln verwandelte sich rasch in ein bedrohliches Knacken, ähnlich wie bei Knochen. An dem nachlassenden Druck, mit dem die Hände ihn festhielten, merkte Ferris, dass sein Plan funktionierte. Inzwischen war das Ticken seiner Uhr kaum noch zu überhören, wurde aber doch von dem Krach übertönt, der entstand, als sich tausende, zu Eis erstarrte Regentropfen wie Pfeile durch den gehärteten Sand bohrten. Schnell bildeten sich Risse, weiteten sich aus und ließen das Gebilde aus Armen letztendlich auseinanderfallen.

Sandbrocken in allen möglichen Größen regneten herab und Ferris konnte sich ohne viel Kraftaufwand befreien. Siegessicher beobachtete er, wie der Eisregen den Alptraum förmlich nach und nach auseinander riss, während er selbst von Schaden verschont blieb, da genau über ihm keine Tropfen fielen. Bald kam auch der Körper des Gegners endlich wieder zwischen all den Armen und Händen zum Vorschein, der gnadenlos von dem kalten Niederschlag erfasst wurde.

Gerade wollte Ferris selbstsicher einen Siegesschrei verkünden, doch dann geschah etwas, was ihn völlig aus der Bahn warf. Aus den Rissen im Körper des Alptraumes brachen gewaltige Flammen hervor und bauten sich vor ihm zu einem Giganten auf. Hitze wehte ihm entgegen und raubte ihm den Atem.

Nein, bitte nicht, dachte er verängstigt. Alles, nur kein Feuer!

Wie auf Stichwort verstummte das Ticken seiner Uhr und die Zeiger rührten sich nicht mehr. Gleichzeitig löste sich das Gewitter auf, auch der eisige Regen ließ damit nach. Mit dem nächsten Atemzug spürte Ferris auch schon, wie die Schwerkraft wieder einsetzte und ihn nach unten zog. Er stürzte wie ein Stein vom Himmel, die Augen erstarrt auf die lodernden Flammen über ihn gerichtet. Der Anblick lähmte ihn.

War das Zufall? Oder wusste dieses Ding, dass ich Angst vor Feuer habe?

Eine Stimme in der Nähe zog seine Aufmerksamkeit auf sich. „Ferris!“

Es war Luan, so viel konnte er auf Anhieb sagen. Direkt im Anschluss sah er im Augenwinkel kurz einen Blitz von unten aus den Baumkronen aufleuchten und es entflammte daraufhin geradezu ein grelles, hellblaues Licht, gefolgt von einer Energiekugel in einem Ausmaß, wie er es bis jetzt nur von Luan kannte:

Konzentrierte Energie eines Traumbrechers in der Größe einer kolossalen, feurigen Kugel, die locker die Hälfte des Waldes in sich einschließen könnte. Ruhe wurde von dem hellblauen Licht verbreitet, in das sich hier und da weiße Flecken gemischt hatten. Zweifelsohne musste Luan diese Energiekugel mit seiner Pistole abgefeuert haben, denn sie flog zielgerichtet auf den brennenden Alptraum zu, knapp vorbei an Ferris.

Der Feind eilte bereits hinter Ferris her und wollte einfach seitlich an diesem Schuss vorbeifliegen, wurde aber gewaltsam in die Kugel hinein gesogen, als er nah genug an dieser dran war. Die bedrohlich roten Flammen verschmolzen mit dem Blau und wurden irgendwann gänzlich verschluckt, bis nichts mehr von ihnen oder dem Alptraum zu sehen war. Noch im Flug löste sich die Energiekugel auf, nichts blieb übrig. Weder von dieser mächtigen Ansammlung aus Energie, noch von dem Feind.

Als Ferris dann schon die ersten Äste samt Blätter um die Ohren peitschten, nahm er das als Anlass, zu seiner Taschenuhr zu greifen und die Zeiger wieder wandern zu lassen, damit er nicht auf dem Boden aufschlug. Knapp einen Meter vor dem Zusammenprall blieb er in der Luft hängen, was ihn erleichtert aufatmen ließ. Hastig schwebte er in eine aufrechte Position und stellte die Uhr sofort aus, kaum dass er sicheren Halt unter den Füßen hatte.

Bevor Ferris etwas sagen oder tun konnte, hörte er schon ein lautes Rascheln aus den Baumkronen über ihn. Luan stürzte aus dem Grün hervor und kam mit dem Rücken auf dem Boden auf. Dort blieb er reglos liegen, doch Ferris rannte längst zu ihm hinüber, wo er neben ihm in die Knie ging und mit den Händen behutsam seinen Oberkörper anhob, damit Luan besser Luft bekam. Dieser keuchte nämlich schwer.

Ferris sparte sich die Frage, ob bei ihm alles in Ordnung war. Natürlich war es das nicht, immerhin hatte Luan mit diesem einen Schuss gerade ziemlich viel Energie verloren und bestimmt würde es nicht lange dauern, bis er das Bewusstsein verlor, zumindest nach früheren Erfahrungen. Kraftlos lag Luan in seinen Armen, dennoch schaffte er es, ihn vorwurfsvoll anzuschauen.

„Wie viel hast du verbraucht?“, wollte er von ihm wissen und konnte nur noch sehr leise sprechen, da er zu erschöpft war.

Nach einem kurzen Blick auf seine Uhr, konnte er ihm die gewünschte Antwort geben. „Vierzehn Minuten.“

„Ich wusste es.“

„Reg dich nicht auf“, versuchte Ferris ihn zu beruhigen und setzte ein unschuldiges Lächeln auf. „Vierzehn Minuten sind doch so gut wie nix.“

Luan sah das anders, sein Blick verfinsterte sich. In Echtzeit hatte der Kampf vielleicht fünf Minuten gedauert. „Von wegen. Das summiert sich, du Idiot.“

„Oh, du bist wirklich sauer, was?“

„Und wie“, bestätigte Luan und konnte sich kaum noch dagegen wehren, dass ihm die Augen zufielen. „Dafür bekommst du noch was zu hören.“

„Ja, ich weiß.“

Länger hielt ihr Gespräch nicht an. Geschwächt schloss Luan die Augen und war sofort weg, was Ferris die Gelegenheit dazu gab, sich selbst erst mal zu sammeln. Eine solche Auseinandersetzung zu erleben, während sie auf dem Weg zu einer Mission waren, hatte wohl keiner von beiden erwartet. Zu allem Überfluss auch noch mit einem Alptraum, den sie nicht richtig in eine bekannte Gattung einordnen konnten.

„Irgendwie haben wir immer so ein Pech, wenn wir zusammen unterwegs sind“, stellte Ferris für sich fest. „Ich verstehe nur nicht, wieso meine Schüsse nicht gewirkt haben.“

Ob es an der Größe gelegen hatte? An der Menge der konzentrierten Energie? So viel, wie er in kleineren Schüben in den Feind gefeuert hatte, musste er die Menge, die Luan in einen Schuss gelegt hatte, eigentlich auch erreicht haben. Brauchte es etwa wirklich nochmal die doppelte Energie, um diesen Alptraum in die Knie zu zwingen? Das wäre sehr bedenklich, so was war noch nie vorgekommen.

Vielmehr beschäftigte ihn aber die Frage, wieso am Schluss Feuer aus dem Körper des Gegners gekommen war. Ausgerechnet seine größte Schwäche. Die Antwort würde er vorerst aber sicher nicht finden, auch er musste sich erholen. Deshalb schloss er den Sprungdeckel seiner Uhr, wodurch sich die Waffe, die er noch fest in der Hand gehalten hatte, in einem grellen Lichtblitz auflöste.

Danach wollte er Luan hochheben, um ihn an eine gemütlichere Stelle zu tragen, aber in der Nähe ertönten auf einmal Geräusche, gefolgt von einer Frauenstimme. „Bist du Ferris?“

Erschrocken blickte er auf und staunte nicht schlecht, als er eine Frau vor ihnen stehen sah. Jene Frau, die Luan von dem Nachtmahr befreit hatte. Richtig, sie gab es ja auch noch, doch was machte sie hier? Hatte Luan sie etwa bis hierher mitgenommen oder war sie ihm gefolgt? Für gewöhnlich hätte er an der Stelle einen verführerischen Anmachspruch gebracht, einfach aus Prinzip, aber selbst ihm war dieser Umstand jetzt zu unpassend dafür.

„Hi“, grüßte er sie stattdessen knapp und klang aufgrund seiner Erschöpfung durch den Kampf vorhin unsicherer, als er war. „Richtig, der bin ich. Und du bist?“

„Mara“, gab sie ebenso knapp von sich.

„Aha.“ Er räusperte sich. „Du bist doch die Lady, die auf der Straße lag. Anscheinend geht es dir gut, das freut mich.“

„Willst du es mir nicht erklären?“, warf sie ernst ein.

„Was?“

„Na, das, was hier gerade passiert ist.“

„Kommt darauf an“, meinte er und klang dabei unbeabsichtigt geheimnisvoll. „Wie lange bist du denn schon hier und was genau hast du gesehen?“

Genervt verdrehte sie die Augen, da ihr offensichtlich klar wurde, dass Ferris so leicht nichts darüber erzählen wollte, was hier genau vorgefallen war. Vielleicht sollte er ein wenig seinen unwiderstehlichen Charme spielen lassen und ihre Aufmerksamkeit auf was ganz anderes lenken, aber er war nicht nur zu erschöpft, den Umstand empfand er nach wie vor unpassend.

„Egal, ich weiß sowieso, wer ihr seid“, meinte sie plötzlich.

Jetzt wurde Ferris doch unsicher. „Ach ja?“

„Ja. Ihr seid Traumbrecher.“

Geschockt weiteten sich seine Augen und sein Mund öffnete sich, ohne dass etwas rauskam. Erst eine Weile später gewann er seine Stimme zurück. „Ach du heilige Scheiße.“

„Und das Ding vorhin, gegen das ihr gekämpft habt, war doch ganz sicher ein Alptraum.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie besorgt weitersprach. „Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?“

Ihre Augen richteten sich zwar nicht auf Luan, sondern ziellos in die Dunkelheit des Waldes, aber er konnte sich denken, dass sie ihn meinte. Erst dieser Alptraum, von dem sie in jeder Hinsicht überrumpelt wurden und dann auch noch diese Frau, die mal eben so preisgab, dass sie genau wusste, wer und was sie waren. Irgendwie musste Ferris diese Situation jetzt trotzdem elegant bewältigen, dafür ließ er Luan wieder vollständig in das Gras des Waldbodens sinken und stand auf.

„Er ist nicht in Lebensgefahr“, antwortete Ferris, überlegte nochmal und korrigierte seine Aussage lieber etwas. „Schätze ich.“

„Schätzt du?!“, wiederholte sie fassungslos.

„Äh, also, wir sollten uns erst mal beruhigen und nochmal von vorne anfangen“, schlug Ferris vor.

Dank seiner Taschenuhr um den Hals konnte er problemlos sehen, dass sie in eine Decke eingewickelt war, die ihm ziemlich vertraut vorkam. Als er sie dann tatsächlich als seine eigene wiedererkannte, wusste er nicht, ob er angetan oder beschämt sein sollte, also rutschte ihm der folgende Satz von ganz alleine heraus: „Ich hoffe, dass du nicht von mir wissen willst, wofür ich diese Decke normalerweise benutze.“

Niemand wird mich davon abhalten

Es war jedes Mal das gleiche Gefühl, sobald Luan die Augen wieder öffnete: Für ihn war es so, als hätte er sie bloß kurz geschlossen. Manchmal war es sogar so schlimm, dass er glaubte ganz normal geblinzelt zu haben und deshalb oft ziemlich verwirrt war, wenn er sich plötzlich an einem vollkommen anderen Ort wiederfand. Auch diesmal erging es ihm nicht anders.

Gerade eben hatte er noch in das Gesicht von Ferris geblickt und über ihm waren die farbigen Baumkronen des Waldes gewesen, eingehüllt in der nächtlichen Dunkelheit. Jetzt wurde er von einem furchtbar hellen, nahezu penetranten Licht geblendet, das direkt über seinem Kopf ruhte. Von diesem strahlenden Weiß wurde er komplett eingeschlossen und konnte nichts anderes ausmachen, seine Augen reagierten äußerst empfindlich darauf.

Sie fingen schnell an zu tränen, was ihn nicht verwunderte, schließlich war er sonst nur die Dunkelheit gewohnt. Er stieß einen genervten Laut aus und wollte zum Schutz seinen Arm heben, aber das gelang ihm nicht. Ihm fehlte jegliche Kraft dazu. Natürlich, er hatte ja auch einen Großteil seiner Energie in einem Schuss verbraucht und die Erinnerung daran war so frisch, als wäre es nicht mal eine Minute her. Gewiss musste er sein Bewusstsein verloren haben.

Wie viel Zeit wohl vergangen ist?

Das blendende Licht ließ seine Augen mehr und mehr tränen, wodurch sich ihm die Frage aufdrängte, woher es kam und wo er überhaupt war. In ihm wollte sich eine böse Vorahnung anbahnen, doch die verbannte er sofort, noch bevor sie Gestalt annehmen konnte. Zuerst wollte er raus aus diesem Licht, wofür er sich bewegen musste. Leicht würde das nicht werden.

Sein gesamter Körper war so geschwächt, dass er kaum einen Muskel rühren konnte und als er es trotzdem nochmal versuchte, verzog sich vor Anstrengung nicht nur sein Gesicht, auch sein Atem wurde gleich schwerer. Trotzdem schaffte er es irgendwie seinen Oberkörper leicht anzuheben, aber dieser Erfolg hielt nicht lange an, weil sich nach nicht mal einem Zentimeter auf einmal eine Hand auf seine Brust legte und er von dieser zurück in die liegende Position gedrückt wurde.

„Versuch das nicht zu oft“, warnte ihn eine tiefe, sehr bestimmte Männerstimme. „Du weißt ganz genau, dass ich kein Problem damit hätte, dich an die Liege zu fesseln.“

Schlagartig durchfuhr Luan ein kalter Schauer und seine böse Vorahnung schien sich zu bestätigen, obwohl er sie nicht mal richtig ausgebaut hatte: Diese Stimme kam ihm bekannt vor. Leider konnte er nicht behaupten, sich darüber zu freuen, im Gegenteil. Viele verdrängte Erinnerungen drohten aus ihrem Gefängnis in seinem Inneren zu entkommen und er hatte Mühe, sich die Unruhe nicht anmerken zu lassen, von der er akut heimgesucht wurde.

Lass es nicht die Person sein, für die ich ihn halte, betete Luan, in seinen Gedanken.

Ihm wollte kein einziges Wort als Erwiderung über die Lippen kommen, denn er hoffte inständig darauf nur zu träumen, dabei wusste er selbst genau wie unwahrscheinlich diese Möglichkeit war. Träume erlebte er schon lange keine mehr, deswegen fand er auch keinen erholsamen Schlaf, sondern fühlte sich stets ausgelaugt und müde. Alles nur, weil seine letzte Sekunde eingefroren war.

Luans Schweigen schien die Person, deren Hand noch auf seiner Brust lag, als eine Art stille Zustimmung zu werten. „Gut, du weißt also noch genau, dass ich niemals Scherze mache.“

Als er die Stimme ein zweites Mal hörte, gab es keinen Platz mehr für Zweifel. Die Art, wie ihr Echo noch im Raum tanzte und sich weigerte diesen zu verlassen, war ein Beweis, den man nicht ignorieren konnte. Es handelte sich definitiv um den Mann, bei dem Luan nur zu gerne dessen Existenz aus seinem Gedächtnis strich, zumindest so lange bis er ihm wieder ungewollt begegnete, so wie jetzt. Das brachte ihn auch auf die folgende Frage, die ihn dann doch zu brennend interessierte, als dass er sie für sich behalten konnte:

Vane“, sprach er ihn mit seinem Vornamen an. „Was haben Sie hier verloren?“

„Es heißt immer noch Doktor Belfond, auch für dich, Luan.“

„Howe“, warf er mürrisch ein. „Beantworten Sie meine Frage.“

Endlich nahm Vane die Hand von seiner Brust und es ertönte ein leises Rascheln von der Seite, woraus Luan schloss, dass der Doktor neben ihm gesessen haben musste und nun aufgestanden war. Ein lautes, metallisches Quietschen war zu hören, als Vane die Beleuchtung über ihm etwas verstellte, so dass sie ihm nicht mehr direkt ins Gesicht schien. Weiße Lichtpunkte tummelten sich vor Luans Augen, wodurch es ihm nach wie vor nicht möglich war etwas zu erkennen. Wie von selbst blinzelte er mehrmals, was nur mäßig half.

„War es eigentlich nötig, den Strahler direkt auf mein Gesicht zu richten?“, murmelte Luan klagend, dem die Tränen nun schon über die Wange liefen.

Auf diese Frage bekam er eine so gnadenlos ehrliche Antwort, wie sie nur von diesem Mann kommen konnte. „Nicht zwingend, aber dafür habe ich darauf verzichtet, dich zu fesseln.“

„Müssen Sie immer so übertreiben?“

„Bei dir schon, ja.“ Ein Geräusch ertönte, das Luan nur zu gut kannte, aber er dachte gar nicht erst darüber nach. Schon allein weil Vane kurz danach fortfuhr. „Letztes Mal bist du ohne meine Erlaubnis aufgestanden und wenig später zusammengebrochen, daher dürfte es verständlich sein, dass ich darüber nachgedacht habe, dich zu fesseln.“

Luan lenkte das Thema lieber wieder auf seine ursprüngliche Frage zurück. „Also, was haben Sie hier verloren?“

Ein Schatten drängte sich zwischen all die leuchtenden Punkte in seinem Sichtfeld und Luan kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Vane hatte sich über ihn gebeugt und ihm fiel dabei sein langes, dunkelbraunes Haar über die linke Schulter, beinahe bis in Luans Gesicht. Der strenge, fast schon unterkühlte Ausdruck in den ebenso dunkelbraunen Augen des Doktors durchbohrte ihn, aber Luan konterte mit einem ähnlich eisigen Blick und ließ sich nicht einschüchtern. Die anfängliche Unruhe in ihm war bereits durch den Groll ersetzt worden, den er Vane gegenüber empfand.

„Verloren habe ich hier ganz bestimmt nichts. Haze hat mich angerufen“, antwortete er auf Luans Frage.

„Ferris?!“ Ungläubig wollte Luan sich erneut aufrichten, wurde jedoch sofort wieder von Vane mit seiner Hand auf den Rücken gedrückt. „Ferris hat Sie angerufen?!“

„Ja, Haze hat mich angerufen. Sagte ich doch“, bestätigte Vane nochmal und in seine sonst eher eintönige Stimmlage mischte sich abermals der Klang einer Drohung. „Das war jetzt das zweite Mal. Ich weise dich nur darauf hin.“

Den Hinweis nahm er aber schon gar nicht mehr wahr. In diesem Augenblick fühlte Luan sich mehr als verraten von Ferris, der ganz genau wusste wie viel Spannung zwischen ihm und Vane herrschte. Wie oft hatte Luan ihm gesagt, dass er jeden Kontakt zu diesem Mann vermeiden wollte, selbst wenn es ihm nicht so gut ging. Ärger machte sich in ihm breit, was dem Doktor nicht entging und worauf er recht verständnislos reagierte.

„Sei froh, dass er besorgt um dich war und mich angerufen hat. Du hast eine sehr hohe Menge an Energie verbraucht, mal wieder. Außerdem hatte ich so die Gelegenheit festzustellen, dass du neben dem Energieverbrauch noch ein anderes, größeres Problem hast.“

Das ließ Luan nervös werden, aber aus einem anderen Grund. „Sie haben die Situation also gleich wieder ausgenutzt.“

„So würde ich das nicht bezeichnen“, meinte Vane und schien sich nicht dazu verpflichtet zu fühlen, ihm mitzuteilen, was für ein Problem er bei ihm festgestellt hatte.

Ohne ein weiteres Wort verschwand der Doktor aus seinem Sichtfeld und diesmal war ein langgezogenes Knarzen zu hören, als er sich zurück auf seinen Platz setzte. Allmählich konnte Luan wieder besser sehen, so dass er zögerlich einen Blick zur Seite wagte, um ihn genauer zu mustern. Direkt neben ihm an der Liege stand ein Bürostuhl, auf dem Vane Platz genommen hatte. Seit ihrem letzten Treffen hatte er sich kein bisschen verändert. Wieso sollte er auch? Traumbrecher veränderten sich nicht, jedenfalls äußerlich, immerhin alterten sie auch nicht mehr.

Vane Belfond war Siebenunddreißig und sozusagen der oberste Arzt im Hauptquartier, wo er das Sagen auf der dortigen Krankenstation hatte – er war ja auch bisher der einzige, der diesen Posten ausfüllen konnte. Gerade bei Traumbrechern kam es zu Beginn ihrer Arbeitszeit häufig vor, dass sie sich zu viel zumuteten oder in den letzten Phasen der psychische Druck zu hoch wurde. Für solche und andere Fälle gab es die Krankenstation, die Vane nur in seltenen Fällen verließ. Geehrt fühlte Luan sich deshalb aber sicher nicht.

Der Doktor setzte seine Brille auf, die bei ihm immerzu vorne an der linken Tasche von seinem Oberteil klemmte. Seine Aufmerksamkeit richtete sich anschließend auf ein Klemmbrett, wo er sich auf einem Blatt etwas aufschrieb. Da war es auch schon wieder, dieses Geräusch, das Luan nicht ausstehen konnte. Das Geräusch seines Kugelschreibers, wenn er sich Notizen machte. Im Gegensatz zu anderen Leuten kam es Luan ungeheuer laut vor, sobald Vane anfing zu schreiben. Außerdem blinzelte der kein einziges Mal mehr, kaum dass er sich auf sein Klemmbrett konzentrierte, was ihn wie besessen wirken ließ.

Ansonsten sah Vane genauso aus wie ein Arzt vermutlich auszusehen hatte. Natürlich trug er einen langen, weißen Kittel und darunter ein ebenso weißes Hemd mit schwarzer Krawatte. Eine auffällige Besonderheit an ihm war jedoch seine beachtliche Körpergröße, mit der er recht einschüchternd auf andere wirken konnte, sogar während er saß. Luan ließ von ihm ab und schwenkte den Blick durch die Umgebung, um herauszufinden wo er war.

Er befand sich auf einer Liege in der Mitte eines erstaunlich großen, viereckigen Raumes. In gleichmäßigen Reihen standen überall mehrere solcher mobilen Liegebetten herum, umgeben von fahrbaren Wagen und Geräten, mit denen gewöhnliche Ärzte rein gar nichts anfangen könnten. An den Wänden befanden sich, neben makellos reinen Arbeitsflächen, jede Menge vollgepackte Schränke. Selbstverständlich alles in einem sterilen Weiß gehalten.

Wirklich zuordnen konnte Luan den Raum nicht und er bezweifelte auch, dass er bis ins Hauptquartier zurückgebracht worden war. Vielmehr drängte sich ihm aber eine neue Frage auf, als er merkte, dass er mit Vane ganz alleine hier war. „Wo ist Ferris? Geht es ihm gut?“

„Die Frage kommt reichlich spät“, kritisierte Vane und schrieb seelenruhig weiter. „Haze geht es wesentlich besser als dir, also habe ich ihm das Steuer überlassen.“

„Das Steuer?“, wiederholte Luan irritiert und brauchte eine Weile, bis er begriff, in was für einem Raum er sich demnach befand. „Das hier ist ein Krankenwagen?“

Solch eine Reaktion hatte Vane wohl nicht erwartet, denn er hielt beim Schreiben inne und blickte über das Klemmbrett hinweg zu ihm rüber. „Wieso so überrascht? Du bist doch schon mal in einem gefahren.“

„In einem Krankenwagen von unserer Station?“

„Willst du etwa sagen, du erinnerst dich nicht?“, fragte Vane und eine seiner Augenbrauen hob sich minimal, als Luan den Kopf schüttelte. „Hm.“

Schweigend widmete er sich wieder dem Klemmbrett zu, aber nicht um weiterzuschreiben, sondern er blätterte sich gezielt durch die Akten durch. Erst dadurch wurde Luan bewusst, wie viele Papiere Vane eigentlich auf diesem Brett zur Hand hatte. Anhand der nächsten Aussage des Doktors war dann auch klar, dass es sich um Luans Akten handeln musste.

„Hier haben wir es. Ah, kein Wunder, dass du dich nicht erinnern kannst. Bei deiner ersten Fahrt warst du nicht gerade zurechnungsfähig.“

Dazu sagte Luan lieber nichts, sondern ließ seinen Blick nochmal durch die Gegend schweifen. Zwar hatte er davon gehört, dass die Räume in einem Krankenwagen vom Hauptquartier übernatürlich groß waren und bei Traumbrechern war das nichts, was einen überraschen sollte, aber es erstaunte ihn, wie ruhig es war. Vor allem weil angeblich Ferris am Steuer saß.

Eigentlich wollte Luan sich gar nicht mit Vane unterhalten, doch er konnte nicht anders. „Ist es normal, dass man überhaupt nichts spürt?“

„Meinst du wegen Haze?“ Sorgsam strich Vane die Blätter auf dem Klemmbrett wieder glatt und schrieb weiter. „Mir war seine Fahrweise bekannt, also habe ich ihm gesagt, wenn er nicht anständig fährt, wird er als nächstes auf meinem Untersuchungstisch im Labor landen. Für eine lange Zeit.“

Bei so einer Aussicht war es wirklich kein Wunder, dass sogar Ferris sich zusammenriss und zur Abwechslung ordentlich fuhr. Niemand wollte gern auf der Liste von Vane stehen, wenn es um seine Forschung ging. Dieser Kerl konnte ziemlich fanatisch werden, sobald es etwas gab, das neu und unerforscht war. Aus diesem Grund versuchte Luan auch jeglichen Kontakt zu ihm zu meiden, weil er wusste, dass er in ihm nur ein besonderes Forschungsobjekt sah.

Schuld daran war die schwarze Kruste, die sich überall auf seiner Haut befand. Seit damals seine letzte Sekunde eingefroren war, hatte sie sich aus dem Nichts heraus gebildet und wuchs von Jahr zu Jahr, breitete sich auf seinem Körper aus. Schließlich war es so schlimm geworden, dass er keine Haut mehr zeigen konnte, ohne dass auch diese Kruste zum Vorschein kam. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, was das zu bedeuten hatte.

Kaum hatte Vane davon Wind bekommen, wurde Luan einst über einen langen Zeitraum hinweg von ihm in den Laboren auf der Krankenstation festgehalten. Daran dachte er höchst ungern zurück. Glücklicherweise waren seine Arbeitgeber der Meinung gewesen, dass er besser im Dienst aufgehoben war, statt sinnlos seine Zeit bei Vane abzusitzen. Bis heute hatte der keine ausreichenden Gründe finden können, um diese Entscheidung rückgängig zu machen, weil er nicht nachweisen konnte, dass das, was sich auf Luans Haut ausbreitete, ernsthaft gefährlich war.

Tatsächlich war genau das Gegenteil der Fall. Mittlerweile konnte Luan durch diese Ablagerung, wie Vane sie nannte, Alpträume aufspüren. Sobald einer in der Nähe war, fing die Kruste auf seiner Haut an zu kribbeln und diese Reaktion war bereits seit einigen Jahren sehr zuverlässig. Ausnahmslos alle Gattungen von Alpträumen hatten somit keine Chance, sich vor ihm zu verstecken, nicht mal Reinmahre.

Moment, ging es ihm durch den Kopf. Richtig, ich hätte ihn lange vorher spüren müssen!

Aus Reflex wollte er sich wieder aufrichten, doch Vane hatte abermals erstaunlich schnell seine Hand auf Luans Brust gelegt und drückte ihn, diesmal etwas fester, runter, ehe er ansatzweise hoch kam. In der anderen hielt er das Klemmbrett samt Kugelschreiber fest und wie zuvor schlich sich der drohende Unterton in seine monotone Stimme. „Das war das dritte Mal. Länger schaue ich mir das nicht mehr an, also bleib jetzt liegen.“

Aufgeregt wollte Luan mit einem Aber ansetzen, doch Vane schüttelte nur den Kopf und schien ihn bereits mit seinem Blick an die Liege fesseln zu wollen. „In erster Linie musst du dich erholen, alles andere kann und muss warten.“

„Okay“, brummte Luan, dem das ganz und gar nicht passte. „Und wie lange muss ich noch liegenbleiben?“

Die Hand auf seiner Brust zog sich zurück und schwenkte rüber zu einer metallischen Maschine, direkt am Kopfende seiner Liege. Dort klopfte Vane zwei Mal sacht dagegen. „Solange wie die hier arbeiten muss, das müsstest du aber langsam wissen. Sobald sie Lärm macht, ist sie fertig, dann darfst du wieder aufstehen.“

Auf den ersten Blick sah diese Maschine aus wie ein runder, klobiger Kaminofen aus Metall, aber durch die Scheibe sah man kein Feuer. Im Inneren befand sich stark konzentrierte, silbern schimmernde Energie, die als neutral galt und ähnlich wie Blut einem Traumbrecher zugeführt wurde, sollte bei ihm ein zu großer Mangel herrschen.

Während der Übertragung arbeitete das Gerät absolut geräuschlos, nur am Ende fing es an einen höllischen Lärm zu machen, weil dann keine Energie mehr übrig war, die es weiterleiten konnte. Viele werteten es einfach nur als einen übertrieben lauten Signalton, Luan hingegen glaubte, dass die Maschine, so verrückt es auch klang, etwas damit ausdrücken wollte. Wieso sollte sich dieser Signalton sonst wie ein Schrei anhören?

Durch mehrere, dünne Schläuche wurde die, künstlich hergestellte, Energie aus der Maschine herausgepumpt. Nun bemerkte Luan auch, dass Vane ihm den Mantel ausgezogen und den Oberkörper frei gemacht hatte, für die Schläuche, mit denen er an einigen bestimmten Punkten seines Körpers verbunden war. Widerwillig ergab er sich und ließ den Kopf auf die Liege sinken, den Blick nach oben an die Decke gerichtet. Entspannung fand er jedoch nicht, besonders weil Vane wieder unbeirrt anfing weiterzuschreiben. Das Geräusch machte ihn wahnsinnig.

„Müssten Sie nicht längst alle Daten über mich zusammen haben, die man sammeln kann?“, kam es missbilligend von Luan, ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen und starrte lieber die Decke an. „Was notieren Sie sich da die ganze Zeit?“

„Das braucht dich nicht zu interessieren“, wies Vane die Frage ab und schrieb konzentriert weiter. „Und bei dir findet sich immer etwas Neues, das noch nicht in deinen Akten steht.“

„Richtig, das sind doch meine Akten? Dann darf ich ja wohl auch wissen, was dort drinsteht.“

In dem Punkt blieb Vane eisern. „Das Thema hatten wir in der Vergangenheit schon oft genug, Luan. Die Antwort bleibt nein.“

So leicht gab aber auch er nicht nach. „Hat es was mit diesem Problem zu tun, das Sie festgestellt haben und mir nicht mitteilen? Genauso wie Sie mir den Inhalt meiner eigenen Akte nicht mitteilen möchten?“

Plötzlich verstummte das nervtötende Geräusch und Luan war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Er konnte deutlich Vanes Blick auf sich spüren und das brachte ihn dazu, nun erst recht weiterhin nach oben an die Decke zu starren. Ein angespanntes Schweigen setzte zwischen ihnen ein, bis der Doktor sich irgendwann dazu erbarmte, es zu brechen.

„Möchtest du erfahren, was für ein Problem ich bei dir festgestellt habe?“, wollte Vane wissen.

Seine Stimme hatte eine ungewohnt sanfte Note, als er das sagte, fast schon sorgsam. Dieses Bild wollte überhaupt nicht zu dem absolut sachlichen und unnahbaren Mann passen, daher zog Luan es ernsthaft in Erwägung, sich das nur eingebildet zu haben. Die Versuchung war groß den Blick von der Decke zu lösen und ihn wieder auf Vane zu richten, nur um sicherzugehen, dass sein Gesicht so ausdruckslos war wie eh und je, aber er traute sich nicht.

„Nein“, presste Luan schließlich hervor. „Ich will einfach nur, dass Sie aufhören zu schreiben.“

Erst herrschte wieder Schweigen, doch dann ging Vane unerwartet auf seine Bitte ein. „In Ordnung.“

Jetzt war die Neugier zu groß geworden, also drehte Luan den Kopf ein Stück zur Seite, um einen kurzen Blick zu riskieren. Vorsichtig legte Vane das Klemmbrett samt Kugelschreiber auf einem von den fahrbaren Wagen ab, der in seiner Nähe stand. Also ging er Luans Wunsch tatsächlich nach, so hatte er ihn noch nie erlebt. Positiver machte es das Gesamtbild von Vane trotzdem nicht, denn dieses Verhalten ließ Luan eher misstrauisch werden. Dieser Typ tat nie etwas, ohne einen Hintergedanken dabei zu verfolgen.

Rasch wandte Luan den Kopf wieder nach vorne, bevor sich ihre Blicke kreuzen konnten. Abermals kehrte Schweigen ein, das diesmal länger anhielt als vorher und die Spannung zwischen ihnen weiter in die Höhe trieb. Statt zu schreiben musterte Vane ihn nun eindringlich, was Luan genau spürte, aber besser als seine Schreiberei war dieses beklemmende Gefühl allemal. Nochmals war es der Doktor, der nach einer Weile dieser Stille ein Ende bereitete.

„Wie ist es diesmal dazu gekommen, dass du so viel Energie verbraucht hast?“

„Ein Alptraum“, seufzte Luan. Mit Vane wollte er nicht darüber reden, was genau vorgefallen war, also sparte er sich jedes weitere Detail.

„So weit war ich auch schon. Hat er dich in die Enge getrieben?“

Auf ein ewiges hin und her konnte er getrost verzichten, darum zeigte er sich abweisend. „Der Alptraum ist vernichtet und nicht mehr wichtig, also lassen Sie mich damit in Ruhe.“

„Luan, sind wir ehrlich“, begann Vane und der Ernst, den er mit seinen folgenden Sätzen ausstrahlte, erdrückte Luan. „Wir wissen beide, dass es für jemanden wie dich gefährlich ist, Alpträume zu jagen. Du kannst dich nicht so verteidigen und kämpfen wie andere Traumbrecher, sondern musst dich auf deine Erfahrung und deinen Instinkt verlassen oder eine Menge Energie verbrauchen, was auf Dauer keine gute Lösung ist.“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Ich frage mich nur immer wieder, sobald du als Patient bei mir endest, wann du anfängst ehrlich mit dir selbst zu sein und einsiehst, dass du nicht jagen gehen solltest.“

Das war für Luan wie ein Schlag ins Gesicht. Es war nicht so, als hätten sie dieses Thema noch nie in einer Unterhaltung behandelt, nein, denn es war sogar schon sehr oft von Vane zur Sprache gebracht worden. Außer dass Luan dadurch eine ungeheure Wut ihm gegenüber verspürte, hatte er noch nie etwas anderes bei ihm erreicht und das würde diesem Mann auch niemals gelingen. Zumal es offensichtlich war, wieso Vane ihn unbedingt von der Jagd abbringen wollte.

Angespannt vergrub Luan die Hände in dem dünnen Stoffüberzug der Liege. „Sie suchen doch nur nach einem Grund, um mich von der Arbeit abziehen und Ihre Forschung weiterführen zu können.“

„So würde ich das nicht ausdrücken“, widersprach Vane. „Aber wenn ich könnte, würde ich dich in der Tat sofort von dieser Mission abziehen und zurück nach Hause schicken. Falls hier wirklich ein Alptraum mit im Spiel war, den ihr keiner Gattung zuordnen konntet, sollte sich jemand anderes darum kümmern.“

Von Ferris waren ihm also scheinbar längst alle Einzelheiten zugespielt worden. Wozu hatte er Luan dann noch vorhin gefragt, wie es zu seinem Energieverlust gekommen sei? Wollte Vane etwa aus seinem eigenen Mund hören, dass er sich dem nicht mehr gewachsen fühlte? Darauf konnte er lange warten, jetzt würde Luan sich erst recht persönlich um diese Mission kümmern und sie ordnungsgemäß zu einem Ende führen.

Vor lauter Wut schoss sein Puls in die Höhe und es hielt ihn nicht länger auf der Liege. Aufgebracht fuhr er hoch, trotz der Erschöpfung, die seinen ganzen Körper zittern ließ. „Vergessen Sie es, das ist meine Mission! So ein schwerer Rückschlag war mein letzter Kampf auch wieder nicht, da habe ich schon schlimmere hinter mir. Ich kann mich genauso gut darum kümmern wie jeder andere Traumbrecher auch. Niemand wird mich davon abhalten.“

„Na schön.“ Vane fuhr ebenfalls von seinem Platz hoch. „Sei in Zukunft vorsichtig. Finde ich nur einen Grund, sorge ich dafür, dass du das Hauptquartier nie wieder verlassen wirst.“

Luans Blick verfinsterte sich. „Ich werde Ihnen bestimmt keinen Grund dazu liefern.“

Grob drückte Vane ihn mit beiden Händen zurück auf die Liege, wogegen er sich nicht wehren konnte, da er noch zu geschwächt war. „Das war für dich das letzte Mal.“
 


 

***
 


 

Limbten. Ferris hatte sie mit dem Krankenwagen bis nach Limbten gefahren, ohne weitere Vorkommnisse, wo sie gegen Mittag ankamen. Mehrere Tage konnte Luan also nicht bewusstlos gewesen sein, höchstens einige Stunden. Weit entfernt von ihrem Unfallort mit dem Auto war die Stadt nämlich nicht mehr entfernt gewesen, durch diesen Zwischenfall mit dem Alptraum war dennoch viel Zeit verloren gegangen.

Die frische, kühle Herbstluft war ungemein wohltuend und Luan nahm sich einen Moment Zeit, um sie richtig genießen zu können, indem er inne hielt und die Augen schloss. Endlich konnte er diese unwillkommene Begegnung mit dem Doktor hinter sich lassen.

Am Schluss hatte Vane seine Drohung wahrgemacht und ihn wirklich für die restliche Fahrt über an die Liege gefesselt. Nicht nur das, auch was das Schreiben anging war er nochmal sehr fleißig gewesen. Hatte buchstäblich einen riesigen Roman niedergeschrieben, in dem es weder Punkte noch Kommata zu geben schien. Keiner von beiden hatte mehr ein Wort verloren, was ihm herzlich egal war.

Abgeneigt warf Luan einen letzten Blick auf den Krankenwagen hinter sich, aus dem er gerade ausgestiegen war. Auf der Seite dekorierte ein blauer Halbmond, aus dessen oberer Spitze ein Flügel herauswuchs, einen Schriftzug. Normale Menschen konnten diesen nicht lesen, weil er in einer, für sie, unbekannten Sprache geschrieben war. Eine Sprache, die eher einer Abfolge von Symbolen glich. Die Bedeutung lautete zwar Krankenwagen, nur sah das Gefährt von außen den üblichen Modellen von Rettungsfahrzeugen nicht sehr ähnlich. Dieses hier ließ sich am ehesten mit einem pechschwarz lackierten Lieferwagen vergleichen.

Vorsichtshalber kontrollierte Luan nochmal alle Taschen seines Mantels, aber es fehlte nichts. Alles war noch da, wo es sein sollte. Sogar dieser Samen, den er anstelle einer schlafenden Person gefunden und eingesteckt hatte, bevor er auf einen Baum geklettert war. Dieser warf immer noch einige Rätsel auf, die es zu lösen galt, daher sorgte er dafür, dass dieses Beweisstück auch weiterhin sicher in seiner Innentasche verwahrt blieb. Bei der Gelegenheit nahm er auch endlich die Taschenuhr ab, die noch um seinen Hals hing, um sie wieder im Mantel zu verstauen.

Anschließend setzte er sich in Bewegung und öffnete die Tür des Hotels Tesha, vor dem Ferris den Krankenwagen geparkt und angeblich schon vor ihrer Abfahrt beim Hauptquartier ein Zimmer für sie reserviert hatte. Von Limbten selbst hatte Luan so gut wie nichts gesehen, aber dafür würde sich früher oder später noch die passende Gelegenheit ergeben. Durch den Stil dieses Gebäudes ließ sich jedoch schon mal erahnen, dass diese Stadt eine gesunde Mischung aus modernen Elementen und rustikalem Flair besaß.

Im Inneren herrschte eine ähnliche Kälte wie draußen und nach einem prüfenden Blick durch die Eingangshalle war ihm schnell bewusst, dass es sich hier um kein Luxushotel handelte, sondern sich alles eher in einem praktischen und bescheidenen Rahmen hielt. So war es ihm ohnehin viel lieber, vielleicht war diese Unterkunft dann auch nicht zu überfüllt mit Gästen.

An der Rezeption brachte er in Erfahrung, wo das Zimmer lag, das Ferris gebucht hatte und begab sich auf direktem Wege dorthin. Bereits auf der anderen Seite der Zimmertür konnte er Ferris beschwingt reden hören, der jemandem einen Anmachspruch nach dem anderen vorsetzte.

Richtig, Mara musste auch da sein. Jedenfalls konnte er sich nicht vorstellen, dass sie zurückgelassen wurde. Schon weil sie ihm zu verstehen gegeben hatte, ihn nicht mehr aus den Augen lassen zu können, was auch immer sie damit gemeint hatte. Danach könnte er sie ja jetzt fragen.

Dann mal los, forderte er sich selbst auf und drückte die Klinke runter.

Nicht nur mit Ferris hatte er ein ernstes Gespräch zu führen, auch Mara musste er dringend genauer unter die Lupe nehmen. Sollte sie irgendetwas mit diesem einen Alptraum oder gar ihrem Auftrag zu tun haben, musste er das herausfinden. Nichts und niemand konnte ihn davon abhalten, diese Mission abzuschließen, egal wer oder was sich ihm dabei noch in den Weg stellen würde.

Ein guter Kerl

„Was bist du nur“, sagte Ferris beflügelt, „für eine wunderschöne, junge Lady. Das hörst du sicher öfter.“

Mara starrte ihn mit einem abweisenden Blick an und blinzelte kein einziges Mal, als hoffte sie, ihn alleine dadurch auf Distanz halten zu können. „Nein, aber du hast es mir in den letzten Stunden so oft gesagt, dass mir davon inzwischen die Ohren bluten.“

„Und dann auch noch“, fuhr Ferris fort, „diese herrlich klare, melodische Stimme!“

Maras Augenbrauen zogen sich zusammen und ihr Blick warnte ihn weiterhin davor, dass er sich besser keinen Schritt nähern sollte. „Ich sagte, mir bluten die Ohren, also hör endlich auf damit.“

„Ich kann gar nicht sagen“, sprach Ferris unbeirrt weiter, „wann ich zuletzt so eine vollkommene Schönheit wie dich bewundern durfte.“

Eine nachdenkliche Pause folgte, ehe er noch etwas hinzufügte. „Nein, ernsthaft. So eine vollkommene Schönheit wie dich hab ich schon ewig nicht mehr gesehen, wenn überhaupt. Du bist nicht mal geschminkt, kein bisschen, hast aber trotzdem so eine reine, weiche Haut und glänzendes, seidiges Haar. Ganz zu schweigen von deiner Figur! Wie kann man von Natur aus nur so schön sein?“

Maras Blick verfinsterte sich noch mehr und sie atmete schwer ein und aus. Dieses hohe Maß an Missmut konnte Ferris überhaupt nicht nachvollziehen, denn in der Regel freuten die Frauen sich immer, sobald er ihnen Komplimente machte und waren ganz angetan von ihm. Bei diesem Exemplar schien jedoch keine einzige Schmeichelei zu ziehen, obwohl er sie allesamt nicht nur so daher sagte. Sie sah wirklich ungewöhnlich makellos aus, zumindest in seinen Augen.

Erst als sie zusammen auf die Ankunft von Vane gewartet hatten, war ihm aufgefallen, wie hübsch sie aussah. Zuvor hatte er nicht so sehr darauf geachtet, überwiegend aufgrund der Umstände, was er nun zutiefst bereute. Könnte er noch einmal in die Vergangenheit zurück, würde lieber er bei ihr bleiben und stattdessen Luan zum Notfalltelefon schicken. Nicht mal seine jetzigen Versuche, bei ihr zu landen, erzielten die gewünschte Wirkung, sondern sorgten dafür, dass sie sich mehr und mehr von ihm distanzierte, noch bevor sie die Chance hatten sich anständig kennenzulernen.

Bis ans andere Ende des Zimmers hatte sie sich zurückgezogen, so weit weg von ihm wie möglich, von wo aus sie eine frostige Wand zwischen ihnen aufbaute und das einzig mit ihren Blicken. Inzwischen wagte Ferris es sich gar nicht mehr, den Abstand auch nur um einen Millimeter zu verringern, weil sie ihn sonst dermaßen mit ihren Augen zu erdolchen versuchte, dass es ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Noch nie war er von einer Frau derart abgewiesen worden, was eine völlig neue Erfahrung für ihn war.

So leicht wollte er aber nicht aufgeben, also öffnete er gerade den Mund, um ihr wieder ein Kompliment zu machen, doch sie schnitt ihm vorher das Wort ab und klang ziemlich schockiert. „Warte, woher willst du eigentlich wissen, dass meine Haut weich und meine Haare seidig sind?!“

„Wow, ich habe dich nicht angefasst, keine Bange!“, beruhigte er sie und hob unschuldig die Hände. „Ich habe nur einen guten Blick für solche Dinge.“

„Aha“, nahm Mara diese Erklärung misstrauisch zur Kenntnis. „Einen guten Blick dafür, wann du jemandem auf die Nerven gehst, hast du aber nicht, was?“

„Autsch.“ Lächelnd legte Ferris eine Hand in den Nacken. „Du bist ganz schön schlagfertig. Das gefällt mir.“

„Du mir nicht“, schlug sie weiter erbarmungslos auf seinem Ego ein.

Schutzsuchend hatte sie sich in den schneeweißen, langen Vorhang auf der Fensterseite des Zimmers gestellt, er dagegen stand noch vor der Tür, auf der anderen Seite des Raumes. Dieser war zwar nicht besonders groß, sah aber dafür sehr gemütlich aus, was zum Teil an den fliederfarbenen Wänden sowie der Kombination mit schwarzen und weißen Elementen lag, ein heller Holzboden rundete das Gesamtbild schließlich ab.

Ungefähr mittig standen jeweils zwei Betten an einer Wandseite und auf den beiden Nachttischen hatte jemand Blumen samt Willkommenskarten aufgestellt, die mit viel Liebe gestaltet waren. Hier war auch dafür gesorgt worden, dass einwandfreie Sauberkeit und Ordnung herrschte. Im Vergleich zur Eingangshalle wirkte dieses Zimmer um einiges edler, offenbar legte die Besitzerin dieses Hotels ihre Prioritäten an den richtigen Stellen fest.

Sein Gespür hatte sich also, wie immer, genau die richtige Bleibe für die Zeit ausgesucht, in der sie hier für eine Mission unterwegs waren. Nur wünschte er sich, seine Versuche mit Mara warm zu werden würden ebenfalls so ins Schwarze treffen. Wenigstens redete sie wieder mit ihm, bei der Fahrt im Krankenwagen hatte sie auf dem Beifahrersitz geschwiegen wie ein Grab und ihn meisterhaft ignoriert, als wäre sie selbst plötzlich gar nicht mehr existent gewesen.

Ob es nur an ihrem Aussehen lag, dass er sich von ihr angezogen fühlte, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Gutes Aussehen allein spielte für ihn normalerweise keine allzu große Rolle, ob es bei ihr anders war? In jedem Fall war irgendetwas an ihr, wegen dem er sie näher kennenlernen wollte. Ihre Vollkommenheit war zu auffällig, als darüber hinwegsehen zu können und sie nicht erforschen zu wollen.

Zwischendurch hatte sie die Zeit genutzt und sich etwas im Bad des Hotels zurechtgemacht, wodurch erst recht hervorstach, wie ungewöhnlich sie war. Selbst ihr Kleid, das man ihr auf Nachfrage von Ferris netterweise zur Verfügung gestellt hatte, war frei von jeglichen Falten, was nicht normal sein konnte und sicher auch nicht an den grandiosen Bügelfähigkeiten von irgendwem lag. Es besaß die Farbe von Lavendel mit Magenta als Abrundung.

Das charmante Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht, als er auf ihre letzten Worte reagiere. „Och, warum denn nicht? Ich bin ein echt netter Kerl.“

„Das bezweifle ich.“ Etwas an ihrer Stimmlage veränderte sich und wurde ebenso eiskalt wie der Blick, mit dem sie ihn abwies. „Der Zug ist für dich abgefahren, seit du mich zum ersten Mal als perfekt hingestellt hast.“

Perfekt. Dieses Wort hörte sich aus ihrem Mund nicht gerade positiv an, versetzte ihm sogar vielmehr einen Stich ins Herz und für einen kurzen Moment blieb ihm die Luft weg.

Ihre Augen. Da war etwas in ihren Augen, ein aggressiver, rötlicher Schimmer. Ein loderndes Feuer lag in ihrem Blick, trotz der Kälte, die in ihrem Ausdruck lag. Flammen drängten sich in seinen Geist, veränderten seine Wahrnehmung und bald schien der ganze Raum lichterloh zu brennen. Alles zerfiel zu Asche.

Instinktiv wich Ferris zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Tür hinter sich stieß. Was war das für ein Gefühl, das in ihm hochkam? Sein Puls schoss in die Höhe und ein alter Teil seiner Erinnerung drohte einen längst vergessenen Film abzuspielen. Ihm ging das Wort nicht mehr aus dem Kopf. Perfekt.

„Alles muss perfekt sein“, murmelte er angespannt und in geistiger Abwesenheit verloren. „Ich hasse es, perfekt zu sein.“

Aus der Ferne drang eine Frauenstimme zu ihm durch, doch er konnte nicht verstehen was sie zu ihm sagte. Erst als jemand die Tür öffnete und sie ihm kräftig in den Rücken stieß, brachte ihn das in die Realität zurück. Bloß ein Wimpernschlag genügte und der Raum war wieder so wie vorher, weit und breit kein Feuer in Sicht. Durch den Stoß stolperte er nach vorne, geradewegs auf Mara zu, die nur noch knapp zwei Meter von ihm entfernt stand. Wann war sie näher zu ihm gekommen?

Keiner von beiden konnte den folgenden Zusammenprall verhindern. Vor lauter Schreck war Mara nur zu einem kurzen Schrei fähig, wogegen Ferris es noch gelang seine Arme rasch um ihre Hüfte zu klammern und sich im Sturz so zu drehen, dass sie sicher auf ihm landen konnte. Mit dem Rücken traf Ferris auf dem Boden auf, verspürte dabei aber bloß etwas Druck und jeglicher Schmerz blieb aus.

Der erste Schreck war auf beiden Seiten relativ flott vorbei und Mara befreite sich nervös aus seinem Klammergriff, blieb jedoch vorerst in aufrechter Position auf ihm sitzen. „W-Was sollte das denn?“

„Das würde ich auch gern wissen“, warf eine andere Stimme ein, die nicht begeistert über den Anblick wirkte, der sich hier bot. „Nein, vergesst es. Ich will es lieber doch nicht wissen.“

Ferris lenkte seinen Blick an Mara vorbei, wo er Luan im Türrahmen stehen sah. Sofort strahlte er freudig, als wäre gerade eben überhaupt nichts Seltsames passiert. „He, Kumpel. Bist du etwa schon wieder fit?“

„Ja.“ Ein grimmiger Ausdruck legte sich über Luans Gesicht. „Und du hast mal wieder zu viel Spaß, wie ich sehe.“

„Das hier? Das war ausnahmsweise mal nicht mein Verdienst“, wies Ferris die Klage von sich.

Verlegen stieg Mara hastig von ihm runter. „Du warst auf einmal so komisch! Was sollte das?!“

Komisch? Ja, das vorhin war wirklich komisch. Was das wohl war? Ein Streich, den seine Wahrnehmung ihm gespielt hatte? Jedenfalls schien Mara der Auslöser dafür gewesen zu sein, auch wenn er sich nicht erklären konnte warum. Am besten sollte er Luan davon erzählen, aber unter vier Augen. Oder sollte er es lassen? Gut möglich, dass er nur gestresst war und selbst keine Ahnung davon hatte.

Ab jetzt war ihm ihre Anwesenheit nicht mehr geheuer, doch er sollte sich davon nichts anmerken lassen, bis sie besser über sie Bescheid wussten. Kein Wunder, jemand der so vollkommen aussah konnte ja nicht ganz koscher sein. Ganz zu schweigen davon, dass sie, zu allem Überfluss, auch noch viel zu viel wusste, als es einem Mensch gestattet war.

Stimmt, er sollte Luan davon erzählen, dass sie von ihr als Traumbrecher enttarnt worden waren. Bevor Ferris aber dazu kam, aus eigenem Antrieb vom Boden aufzustehen, wurde er bereits grob von Luan am Kragen gepackt und gewaltsam hochgezogen. Überrascht von dieser Stärke, die er seinem Freund gar nicht zugetraut hatte, versuchte er erst mal sein Gleichgewicht wiederzufinden. Im nächsten Augenblick wurde er aber auch schon von Luan gegen den nahegelegenen Kleiderschrank gestoßen.

„Alter!“, reagierte Ferris äußerst perplex und hielt sein Gegenüber auf Abstand, indem er ihn mit einer Hand von sich wegdrückte. „Was hast du denn für ein Problem?!“

„Das weißt du ganz genau!“, fuhr Luan ihn wütend an. „Wieso musstest du ausgerechnet Vane anrufen?! Ich habe dir oft genug gesagt, dass ich den Kerl hasse!“

„Oh, entschuldige, dass ich mir Sorgen um dich gemacht habe“, erwiderte Ferris, allerdings eher amüsiert als reumütig. Diese heitere Note fügte sich nicht harmonisch mit den Worten zusammen, die er daraufhin sagte. „Ist ja nicht so, als würde der Atemfluss unsere Körper frisch halten und vor dem Verfall bewahren – was es also recht kritisch werden lässt, wenn wir zu viel davon verlieren.“

Mit Atemfluss meinte Ferris die Energie, von der Traumbrecher umgeben waren und die nur bei aktivierter Traumzeit sichtbar wurde. Eben jene Energie, durch die auch Alpträume vernichtet wurden, indem sie als Munition für ihre Pistolen diente. Davon, dass Ferris den etwas fachlicheren Ausdruck verwendet hatte, wirkte Luan sichtlich irritiert, konnte sich aber sicher durchaus denken, worauf er damit hinauswollte: Es sollte ihn daran erinnern, in welcher Lage er sich befand.

Einst wurden ihre Träume mithilfe der Energie ihrer eigenen Seele in konzentrierter Form zusammengefasst und waren in einer Taschenuhr gebändigt worden. So eine starke Ansammlung von Träumen auf sechs Stunden zu begrenzen, verursachte natürlich einen gewissen spirituellen Druck, der dank der eigenen Energie unter Kontrolle gehalten werden konnte.

Verbrauchte ein Traumbrecher zu viel Energie, wurde neue stets automatisch im Inneren der Taschenuhr gebildet, sofern noch Zeit von den sechs Stunden übrig war, die aktiv genutzt werden konnte. Die Nähe zu aktiven Träumen hielt die Energie selbst lebendig und ließ sie sich vermehren, wie in einem natürlichen Kreislauf, einem Fluss, wodurch einem Traumbrecher also theoretisch niemals die Munition ausgehen konnte. Manchmal brauchte es nur seine Zeit, bis der Mangel ausgeglichen wurde, das war von Person zu Person unterschiedlich.

In Luans Fall hatte er das gleiche Problem wie jeder Rentner in diesem Beruf, denn seine Uhr war nicht mehr dazu imstande, neue Energie zu erschaffen, aufgrund seiner eingefroren Sekunde, der er es zu verdanken hatte, dass seine Träume bereits tot waren. Von toten Träumen konnte die Energie sich nicht vermehren und verkümmerte, früher oder später. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als sich wieder und wieder künstliche Energie zuführen zu lassen.

Wozu, wenn es doch sowieso keine aktive Traumzeit mehr gab, deren Druck kontrolliert werden müsste? Auf Jagd gingen solche Fälle wie er eigentlich gar nicht mehr, nein, es gab einen anderen Grund. Daran wurde Luan scheinbar nur höchst ungern erinnert und dachte wohl auch gar nicht erst daran, diese Tatsache näher ans Tageslicht zu holen.

Stattdessen wanderte sein Blick kurz zu Mara, die ihren Worten viel zu aufmerksam lauschte, als wollte sie ja keine Kleinigkeit verpassen. Danach sah er wieder vorwurfsvoll zu Ferris.

Ich kann es echt nicht leiden, wenn er mich so anschaut, dachte er für sich.

Alleine wegen Mara sollten sie ihr Gespräch doch besser vertagen und nicht vor ihr über solche Dinge sprechen, genau das sagte ihm jedenfalls Luans Gesichtsausdruck. Dieser stummen Forderung kam Ferris aber nicht nach, nahm es sogar eher als Gelegenheit wahr, ihm endlich davon zu berichten, dass diese Frau über Wissen verfügte, mit dem sie gar nicht ausgestattet sein dürfte. Kaum hatte er Luan davon erzählt, wandte er sich komplett von ihm ab und schenkte Mara seine Aufmerksamkeit.

„Ist das wahr? Du weißt, was Traumbrecher sind?“, fragte er ungläubig nach.

Sie nickte. „Ja, aus einem Buch.“

„Was für ein Buch?“

Diarium Fortunae.“

Der Titel sagte Luan allem Anschein nach einiges, denn er wurde ernst. Noch ernster als sonst und Ferris hätte nicht geglaubt, dass das möglich war. Generell zeigte er heute auf einmal viel mehr Emotionen. Entweder blieb sein Freund normalerweise bei Diskussionen einfach nur mürrisch oder verschloss sich komplett. Wie auch immer, dieses Buch kam Ferris im Gegensatz Luan nicht mal ein klitzekleines bisschen bekannt vor und er scheute auch nicht davor zurück es offen zuzugeben.

„Muss man das kennen?“, warf Ferris in den Raum. „Davon habe ich noch nie gehört.“

Für diese Aussage erntete er von Luan nur wieder diesen genervten Blick, den er immer von ihm bekam, sobald er etwas tat oder sagte, was sein Kollege als absolut unangebracht empfand. „Das ist ein Buch aus der Schatzkammer von Atanas. Das sollte sich gar nicht hier in der Menschenwelt befinden und zwar nicht nur, weil da allerhand Informationen über Traumbrecher und Fortunae drinstehen.“

„Nicht nur?“, wiederholte Ferris und zuckte mit den Schultern. „Egal, dann holen wir es eben zurück. Atanas wird sicher dankbar sein.“

„Er wird nicht nur dankbar sein“, fügte Luan hinzu, dann sprach er wieder zu Mara. „Du sagtest doch, dass du hier in Limbten wohnst. Befindet sich das Buch auch hier?“

Zum zweiten Mal bestätigte sie mit einem Nicken. „Ja, in einem Buchladen. Ich arbeite und wohne auch da.“

Dieses Bild störte Ferris. Wieso war sie gegenüber Luan so gesprächig und antwortete ihm so gehorsam? Bestimmt musste zwischen ihnen etwas vorgefallen sein, als er nicht dabei war oder Luan war nur gut darin solche Frauen zu handhaben. Mara wirkte quasi wie ausgewechselt und suchte sogar den Kontakt zu ihrem Retter, dem das wiederum eher weniger gefiel. An seiner angespannten, teils abgewandten Körperhaltung konnte Ferris das genau erkennen.

„Gut, wir fahren direkt dorthin“, zog Luans Stimme ihn aus diesen Gedanken.

Begeistert stimmte Ferris in dieses Vorhaben mit ein. „Alles klar, dann mal los!“

„Mit wir, meine ich nur Mara und mich. Nicht dich.“

Luan sagte diese Worte ohne jedes Gefühl in der Stimme, wodurch diese Richtigstellung seinerseits erst recht schrecklich abweisend klang. Davon wollte Ferris sich aber garantiert nicht so ohne weiteres den Wind aus den Segeln nehmen lassen und reagierte darauf relativ locker.

„Ach, jetzt sei mal nicht so.“

„Ich bin aber so. Genau jetzt“, wies Luan ihn weiter ab, machte sich sogar schon auf dem Weg zurück zur Tür. Mara folgte ihm, ohne jede Aufforderung.

Langsam wurde es doch schwer, die gute Stimmung aufrecht zu erhalten, aber Ferris hielt durch und strahlte immer noch. „Komm schon, wir sind Partner. Theoretisch darfst du ohne mich gar nicht agieren, solange wir hier auf Mission sind.“

„Theoretisch solltest du vor anderen gar nicht so viel ausplaudern, auch wenn Mara über unseren Beruf Bescheid weiß“, beschwerte Luan sich über die Offenheit, mit der Ferris in Anwesenheit einer dritten Person sprach. Seine Hand griff nach der Türklinke, doch er blieb nochmal stehen und sah über die Schulter hinweg zu ihm. „Außerdem kann ich niemanden gebrauchen, der diese ganze Sache nicht ernst genug nimmt.“

Angestrengt biss Ferris die Zähne zusammen, um dem mit einem Lächeln zu begegnen. „Sehe ich für dich wirklich so aus, als würde ich die ganze Zeit nur Spaß haben?“

„Oh ja“, antwortete Luan abwertend und sah wieder nach vorne, weil er endlich gehen wollte.

Instinktiv bekam Ferris den Drang loszurennen und ihn am Arm zu packen, damit er nicht ging. So wollte er die Sache nicht im Raum stehen lassen, doch wenig später folgte schon ein lauter Knall und sagte ihm, dass er sich offenbar nicht dazu hatte durchringen können, Luan aufzuhalten. Er hatte sich nicht vom Fleck rühren können, die Tür war ins Schloss gefallen und beide waren fort. Ohne ihn.

„Du bist wirklich sauer auf mich, huh?“, stellte Ferris fest und senkte den Kopf. „Dabei hatte ich nur gehofft Vane findet etwas Neues heraus. Ich will meinen alten Freund zurückhaben.“

Nur schwer widerstand er dem Drang, seine Kraft an einem der Möbelstücke auszulassen. Stattdessen zwang er sich dazu, eines der Betten anzusteuern und ließ sich dort auf die Matratze fallen. Nach lächeln war ihm spätestens jetzt nicht mehr zumute. Seufzend vergrub er das Gesicht im Kopfkissen, irgendetwas sorgte aber dafür, dass er sich nochmal aufrichtete. Da lag etwas auf der Matratze, was ihn stutzig werden ließ.

Ein kleiner, roter Samen.

Eine Sekunde später fiel ihm dann ein, dass Mara zuletzt auf diesem Bett gelegen und ein wenig Schlaf nachgeholt hatte.
 


 

***
 


 

Luan hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen, kaum dass die Zimmertür ins Schloss gefallen war. Dabei war er sogar noch viel ruhiger gewesen, als er sich in Wirklichkeit fühlte und Ferris konnte froh sein, dass sich etwas in ihm dagegen sträubte, seiner Wut vollkommen freien Lauf zu lassen. Er war wirklich ziemlich sauer auf Ferris.

Alpträume zu jagen bedeutete ihm sehr viel und Vane war jemand, der ihm diese Aufgabe wegnehmen wollte. Natürlich wird Ferris es nur gut gemeint haben, dennoch änderte es rein gar nichts daran, dass er ihn mit den Anruf an Vane verraten hatte. So leicht könnte er ihm das nicht verzeihen. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Wieso? Immerhin hatte der Schuldige bis zum Schluss gelächelt und es nicht für nötig gehalten, sich bei ihm zu entschuldigen.

Manchmal werde ich aus ihm nicht schlau, ging es ihm durch den Kopf. Mir ist es lieber, wenn er wie ein offenes Buch ist, aus dem man lesen kann.

Das Thema Buch brachte ihn schließlich zurück auf den Grund, wegen dem er das Zimmer nun so schnell wieder verlassen hatte. Während sie auf dem Weg zum Ausgang waren, nutzte er die Zeit und stellte Mara schon mal weitere Fragen, von denen er die Antworten brauchen könnte. Sie folgte ihm schweigend und hielt sich zu dicht bei ihm an seiner Seite auf, wie er fand.

„Du arbeitest also in dem Buchladen?“

„Richtig.“

„Dann weißt du auch, von wem der geführt wird?“

„Natürlich.“

„Und?“, hakte er ungeduldig nach.

„Nichts und“, meinte sie und sah ihn bedeutungsvoll an. „Ich habe dich längst gefragt, ob du sie kennst und du hast mir darauf noch keine Antwort gegeben.“

Auf solche Spielereien konnte Luan gut verzichten. Am liebsten hätte er sie dazu gedrängt, einfach mit der Sprache rauszurücken, kramte aber doch zunächst in seinem Gedächtnis nach, wann sie ihm diese Frage angeblich gestellt haben könnte. Fündig wurde er letztendlich nicht und beschloss, es gut sein zu lassen. Spätestens bei ihrer Ankunft am Buchladen würde er so oder so erfahren, wer dieses Geschäft führte und ob diese Person auch dafür verantwortlich war, dass sich dieses wertvolle Buch dort befand.

Also beendete er diese Unterhaltung nur mit einem knappen Laut, was Mara herzlich egal war, denn sie sprach etwas anderes an. „Dieser Ferris, ist der immer so?“

„Du meinst ein Playboy, der immer nur Spaß hat?“, rutschte es ihm raus, obwohl er mit ihr gar nicht darüber reden wollte.

„Nein“, widersprach sie ruhig und klang fast etwas mitfühlend. „Ich meine, ob er sich immer so ... verstellt.“

„Wie bitte?“

„Nicht so wichtig.“

Aus diesem Mädchen wurde er ebenfalls nicht schlau, das war allerdings nichts neues, dabei kannte er sie noch nicht lange genug. Warum sollte jemand wie Ferris sich verstellen und wie kam sie überhaupt darauf? Oder wollte sein schlechtes Gewissen ihn nur dazu bringen zurückzugehen, um seinen Partner doch noch zu holen? Stur schüttelte er diesen Gedanken ab.

Unsinn, ich wüsste nicht wieso, dachte er. Ich habe hier niemanden verraten.

In der Eingangshalle angekommen grüßte er kurz die Frau an der Rezeption, die ihm freundlich zuwinkte und verließ mit Mara das Hotel. Draußen angekommen bemerkte er sofort, dass der Krankenwagen nicht mehr da war, was er nur begrüßte. Gut, dass der Doktor nie lange dem Hauptquartier fern bleiben konnte, weil es dort zu viel zu tun gab. Womöglich vermisste er es auch nur, an seinen Forschungen zu arbeiten.

Plötzlich sprach Mara ein Problem an, an das er vorher nicht gedacht hatte. „Und womit fahren wir? Zu Fuß wäre es etwas weit.“

Leider konnte er den Wagen von Ferris nirgendwo entdecken und selbst wenn er schon hier gewesen wäre, könnte er nicht damit fahren, ohne Führerschein. Also blieb ihnen nur eins übrig: „Wir werden ein Taxi nehmen.“

„Na, dann viel Glück“, schmunzelte Mara erst und musste dann lachen.

Zwei Dinge gab es, die Luan daran irritierten. Zum einen fragte er sich, wieso sie ihm ausgerechnet jetzt Glück wünschte und zum anderen hatte er sie zum ersten Mal lachen gehört, was ihr erstaunlich gut stand. Daher klang er reichlich erstaunt, als er nachfragte. „Was soll das denn heißen?“

„Soll heißen, dass es hier in der Stadt nicht viele davon gibt“, erklärte sie. „Ist schwer, hier ein Taxi zu bekommen.“

Großartig, noch dazu besaß Luan auch kein Handy, mit dem er einen Fahrdienst anrufen könnte. Normalerweise erledigte Ferris solche Angelegenheit immer, darum hatte er sich noch nie selbst kümmern müssen. Nur deswegen würde er aber nicht zu ihm gehen und darum bitten doch mitzukommen. Lieber wartete er am Straßenrand darauf, dass zufällig ein Taxi vorbeifuhr.

Grummelnd marschierte er auch direkt vorwärts, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Wie zuvor folgte Mara ihm. An der Straße angekommen vergrub Luan beide Hände in den Manteltaschen. Ruhe sollte er jedoch nicht haben, da Mara ihn erwartungsvoll von der Seite ansah und er sie deshalb in ein weiteres Gespräch verwickelte, in der Hoffnung, dass es sie davon abbringen würde, ihn so anzustarren.

„Du wusstest also von Anfang an über Traumbrecher Bescheid?“, setzte er an und schielte zu ihr runter. „Was sollte dann dieses Theater mit meiner Taschenuhr?“

„Oh, ich wusste nicht von Anfang an, dass du ein Traumbrecher bist“, korrigierte sie und löste den Blick von ihm, wie er es sich erhofft hatte. „Ich habe das Buch erst vor kurzem angefangen zu lesen und weiß noch nicht viel über sie.“

„Hm, verstehe.“

„Sag“, begann sie unruhig. „Hat jeder von euch eine Taschenuhr?“

Die Antwort verweigerte er ihr. „Ich finde, du weißt schon mehr als genug.“

Bedrückt ließ sie den Kopf hängen. Irgendetwas bereitete ihr wohl Sorgen, sie wirkte auf einmal so abwesend. Bevor er auch nur den Drang dazu entwickeln konnte, zu fragen, was denn los sei, lenkte etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Direkt vor ihnen hielt völlig unerwartet ein Wagen an, den er auf Anhieb wiedererkannte: Es war das Auto von Ferris.

Am Steuer saß jemand, den er sehr gut kannte, aus der Zeit, die er bei Vane im Labor verbracht hatte: Naola Palles, treue Assistentin des Doktors und eine von wenigen weiblichen Traumbrechern. Sie war Fünfundzwanzig, ein Jahr jünger als Ferris. Jemand musste sie damit beauftragt haben, sich um den Wagen zu kümmern und ihn herzubringen.

Sie stieg aus und blickte über das Dach hinweg zu ihnen rüber. „Na? Hast du es überstanden?“

Damit meinte sie die Behandlung bei Vane. Ihre Stimme sorgte stets dafür, dass Luan sich geborgen fühlte, was daran liegen musste, dass sie sich oft um ihn gekümmert und ihm das Leben mit Vane um einiges angenehmer gestaltet hatte. Im Gegensatz zu diesem fanatischen Forscher besaß Naola ein sehr mitfühlendes Wesen, in dem auch viele Überraschungen steckten.

„Halbwegs“, lautete seine Antwort und er ergriff gleich die Chance, die sich mit ihrem Eintreffen anbot. „Hast du Zeit? Ich bräuchte jemanden, der mich wohin fährt.“

Naola musste nicht erst darüber nachdenken. „Für dich immer. Wo soll es denn hingehen?“

„Zu einem Buchladen.“ Mit einem Kopfnicken deutete er zu Mara. „Sie wird dir den Weg zeigen.“

„Na schön, dann steigt mal ein.“
 


 

***
 


 

Mara war vorne eingestiegen, so konnte sie Naola besser sagen, wo sie langfahren musste. Das war Luan nur recht, auf die Art hatte er auf dem Rücksitz seine Ruhe. Schweigend beobachtete er, wie Mara hin und wieder in eine Richtung deutete und Naola mit einem Nicken bestätigte.

Es gab etwas, was er ungemein faszinierend an Naola fand und das waren ihre violetten, langen Haare. Bei manchen Traumbrechern konnten sie eine unnatürliche Farbe annehmen, je nachdem worauf die Energie geprägt war. Bisher kannte er aber nur zwei andere Personen, bei denen sich die Haarfarbe dermaßen ungewöhnlich verändert hatte, Naola ausgeschlossen.

Als sie etwas später dann dazu gezwungen waren, an einer roten Ampel zu halten, blickte die Fahrerin nach hinten zu Luan. Ein sanftes, hellblaues Augenpaar fixierte ihn. „Hast du Streit mit Ferris?“

„W-Was?!“, reagierte Luan überrumpelt und zog den Kopf ein. „Wie kommst du denn darauf?“

„Hättet ihr keinen Streit, würde Ferris dich doch jetzt fahren“, schlussfolgerte sie. „Was ist passiert?“

Schützend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Darüber will ich nicht reden.“

„Du willst nie über deine Gefühle reden, Luan“, meinte sie, in einer behutsamen Tonlage. „Was ist Ferris denn für dich?“

„W-Wie?!“

Jetzt schaute auch Mara ihn interessiert an, was dafür sorgte, dass er sich wie bei einem Verhör vorkam. Selbst als die Ampel wieder auf grün sprang, ließ Naola sich dadurch nicht stören und wartete auf eine Antwort von ihm. Angespannt drückte Luan den Kopf fest in die Lehne vom Rücksitz und grübelte darüber nach, was er sagen sollte. Ob er generell was dazu sagen wollte.

Ein angenehmer Schauer durchfuhr ihn, als jemand eine Hand auf sein Bein legte und ihm dadurch Halt geben wollte. Überrascht musste er feststellen, dass es Maras Hand war und ihr Anblick rief ihm etwas ins Gedächtnis. Worte, die einst jemand anderes ständig zu ihm gesagt hatte. In diesem Augenblick lag die Antwort klar und deutlich vor ihm.

„Ein guter Kerl.“

Zufrieden lächelte Naola. „Dann solltest du dich unbedingt mit ihm vertragen.“

„Ja“, stimmte Luan leise zu und wich ihrem Blick aus. „Ich muss aber erst was anderes erledigen.“

„Mit anderen Worten: Du traust dich nicht.“ Endlich richtete Naola den Blick zurück auf die Straße und das Hupkonzert hinter ihnen löste sich auf der Stelle auf, kaum dass sie losfuhr. „Soll ich für dich mit ihm sprechen?“

Statt etwas zu sagen, nickte er nur und wusste, dass sie es im Rückspiegel sehen konnte. Auch Maras Hand löste sich von seinem Bein, damit sie sich ebenfalls auf die Straße konzentrieren und angeben konnte, wo sie langfahren mussten. Das erlaubte Luan, sich wieder zu entspannen und erleichtert auszuatmen. Irgendwie fühlte er sich deutlich besser als vorher.

Bis er die Sache mit dem Buch geregelt hatte, konnte Naola mit Ferris reden und danach wurde es höchste Zeit, dass sie zusammen anfingen an ihrer Mission zu arbeiten.

Jemand, der nicht mehr träumen kann

Maron. So hieß der Buchladen, zu dem Mara sie geführt hatte. Einfach nur Maron. Schon als Luan diesen Namen zum ersten Mal las, glaubte, nein, wusste er, ihn von irgendwoher zu kennen und das verursachte einen seltsam krampfartigen Druck in seinem Magen. Noch konnte er sich aber nicht erklären, woher dieses unangenehme Gefühl kam, das bei Betrachtung dieses Namens in ihm hochkam. Noch nicht.

Naola konnte mit dem Wagen nur kurz an dem Fußgängerweg vor diesen Geschäft halten, weil es dort in der Nähe keine Parkplätze gab. Schlimm war das nicht, denn sie wollte ja sowieso zurückfahren und für ihn mit Ferris reden. Kaum dass sie ausgestiegen waren, sich verabschiedet und die Türen zugeschlagen hatten, setzte sie ihr Vorhaben auch sofort in die Tat um und fuhr mit dem Auto davon.

„Gehen wir rein“, drängte Mara, nachdem Naola samt Wagen aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.

Er schielte seitlich zu ihr runter, genau wie zu dem Zeitpunkt, als sie erst am Straßenrand beim Hotel auf ein Taxi warten wollten, bevor Naola aufgetaucht war. Mara blickte bereits beunruhigt Richtung Buchladen und es war ihr wieder anzumerken, dass sie sich wegen etwas Sorgen machte.

„Mh-hm“, stimmte Luan ihr zu und tat den ersten Schritt, um zu dem Geschäft zu gehen.

„Warte.“

Leicht irritiert hielt er nach nur einem Schritt inne. „Hm?“

„Ich muss dich vorher noch was fragen“, begann sie, doch dann schwieg sie.

Ungeduldig hakte er nach. „Ja?“

In diesem Augenblick spielten sich mehrere Stimmungen hintereinander in ihrem Gesichtsausdruck ab, wodurch sich wieder zeigte, wie wechselhaft ihr Gefühlsleben und ihre ganze Art an sich war: Ihre anfängliche Unsicherheit wandelte sich in Gleichgültigkeit und wurde dann von einer Welle aus Mitgefühl fortgespült, woraufhin sich eine Spur von Abscheu erkennen ließ. Letztendlich blieb es doch Sorge, die alle vorherigen Stimmungen wieder ablöste.

„Ach, nicht so wichtig“, sagte sie schließlich und ging los, dem Buchladen entgegen, ohne ihm dabei einen weiteren Blick oder ein Wort zu schenken.

Dieses Verhalten brachte Luan reichlich durcheinander und er starrte ihr hinterher, blieb in dem Moment aber noch wie angewurzelt stehen. „Okay, was sollte das denn jetzt?“

„Hm?“ Nur ein wenig drehte sie den Kopf zur Seite, so dass sie ihn halbwegs über die Schulter hinweg mit den Augen erfassen konnte. „Nichts, war doch nicht so wichtig. Nicht für mich.“

„Aha?“, gab Luan zurück und setzte sich nun auch selbst in Bewegung. Nach ein paar großen Schritten hatte er den Abstand zwischen ihnen aufgeholt. „Ehrlich, du bist sehr ... unausgeglichen.“

Fast wäre ihm ein etwas hässlicheres Wort rausgerutscht und seltsam lag ihm ebenfalls auf der Zunge, doch er konnte sich noch rechtzeitig zusammenreißen. Nur ungern wollte er unhöflich erscheinen oder sie gar beleidigen, auch wenn er fest davon überzeugt war, dass mit ihr eindeutig etwas nicht stimmte und sie in Verbindung mit den letzten Geschehnissen stehen musste.

„Ich bin unausgeglichen?“, wiederholte sie leise und er konnte im Augenwinkel wahrnehmen, wie sich ein Lächeln auf ihren Lippen formte, dabei klangen ihre folgenden Worte eher traurig. „Gut, dann mache ich anscheinend alles richtig.“

Luan, der keine Ahnung hatte wovon sie sprach, ließ es damit lieber auf sich beruhen. Es war offensichtlich, dass er mit ihr eine komplizierte Bekanntschaft gemacht haben musste und für gewöhnlich war es ihm lieber, sich von solchen Menschen fernzuhalten. Wegen dem Buch war er nicht mal dazu gekommen, sie endlich auszufragen, was ärgerlich war, aber diesen Gegenstand zu sichern war erst mal wichtiger.

Von außen betrachtet wirkte der Buchladen wie ein kleines, gemütliches Geschäft, das eingebettet zwischen zwei anderen, größeren Gebäuden ruhte. Von der Lage her befand es sich weit außerhalb der Stadtmitte, wo vermutlich die anderen Läden zu finden waren. Hier hingegen schienen sie sich in einem ruhigen Wohnviertel zu befinden, wo es viele, vom Stil her, alte Bauwerke gab, die jedoch gut gepflegt aussahen.

Draußen standen jeweils zwei hölzerne, runde Tische mit Stühlen und einem Sonnenschirm, der bei diesem kühlen Herbstwetter etwas deplatziert wirkte. Blumen schmückten sowohl diese Sitzgelegenheit als auch die Fensterbänke aus und sorgten für ein farbenfrohes, einladendes Bild. Würde Luan es nicht besser wissen, hätte er gedacht, hierbei handelte es sich um ein kleines Café in einer Gegend, wo nur Stammkunden hingingen und sich jeder kannte.

Vor der Eingangstür ließ er Mara den Vortritt, was ihm von ihr einen auffallend nervösen Blick einbrachte. Trotzdem betrat sie als erstes den Buchladen, Luan folgte ihr. Als er über die Türschwelle trat, reagierte die schwarze Kruste auf seinem Körper plötzlich auf etwas. Ein unangenehmes Kribbeln schlich von seinem Hals herab und breitete sich aus, was ein Zeichen war, das ihn in Alarmzustand versetzte.

Mit einer Hand schnappte er Mara am Arm, damit sie stehenblieb und nicht ohne ihn weiterging, die andere griff schon in die Manteltasche, um die Taschenuhr hervorzuholen. Aufmerksam ließ er den Blick rasch durch den gesamten Laden schweifen und sammelte erste Eindrücke. Außer ihnen besuchte zurzeit niemand anderes das Geschäft, was schon mal vorteilhaft war.

Direkt links von ihnen befand sich eine Theke, in der hinteren, rechten Ecke lag eine weitere Tür und mehrere, hohe Bücherregale zogen sich in gleichmäßigen Reihen durch den Raum, einige standen auch an den Wänden. Dazwischen mischten sich allerhand dekorative Objekte, die er zunächst nicht weiter beachtete, ihn aber mehr an einen Kramladen denken ließen als an einen reinen Buchladen.

Insgesamt machte das Gemäuer einen leicht baufälligen Eindruck, aber es besaß einen gewissen Charme. Außerdem war es dem Eigentümer irgendwie gelungen, es trotz all dem Kram, der sich hier finden ließ, ordentlich erscheinen zu lassen.

„Was ist denn los?“, wollte Mara wissen, da er sie festgehalten hatte und nicht mehr losließ.

„Hier ist etwas“, antwortete Luan, in einem Flüsterton.

Jetzt klang sie ziemlich verängstigt, aber nicht etwa durch seine Antwort, sondern eher weil sie genau das scheinbar befürchtet hatte. Zumindest glaubte er, das an ihrem Tonfall zu hören. „Oh nein.“

Als seine Hand die Uhr berührte, legte sich, wie gewohnt, ein hellblauer Schleier wie eine zweite Haut über die Umgebung, für eine erweiterte Sichtebene. Prompt entglitt Luan ein erstaunter Laut, bei dem Anblick, der sich ihm jetzt gerade bot. Wie von selbst entspannte er sich wieder vollkommen, ließ Mara aber vorsichtshalber noch nicht los, sondern betrachtete weiterhin die besondere Form dieser Existenz, mit der sie hier im Raum standen.

Zu seiner Erleichterung ließ das Kribbeln auf der Stelle nach, so wie immer, wenn er das Ziel erfasst hatte. Diesmal handelte es sich aber nicht um einen Alptraum, von dem Gefahr ausging, ganz und gar nicht. Eigentlich stritten Traumbrecher noch heute oft darüber, ob man dieses Wesen überhaupt zu den Alpträumen einordnen konnte. Das, was er hier sah, war ein Trugmahr, so nannte man diese Gestalt jedenfalls.

Im Raum schwebten hunderte, leuchtende Kugeln in den unterschiedlichsten Größen, die Luan stets als Sterne bezeichnete. Ihr weißes Licht vermittelte Unschuld und Reinheit, manchmal sogar Wärme. Einige Kugeln leuchtenden stärker, andere schwächer. Jetzt konnte Luan es auch hören, all die melodischen, glockenartigen Klänge, die harmonisch einen Chor bildeten und ein eigenes, individuelles Lied schufen.

Jeder Trugmahr sang ein eigenes und keine Melodie glich jemals der eines anderen, mindestens einige Töne waren immer anders. In diesem Fall war es ein langsames Lied, das eine leicht melancholische und zugleich friedvolle Atmosphäre verbreitete. Daran konnte Luan problemlos festlegen, dass dieser Trugmahr keinen Groll in sich hegte oder in irgendeiner Form Ärger machen würde.

Ein Trugmahr bestand, wie alle Alpträume, aus Ansammlungen von Gefühlen. Bei dieser Gattung gehörten sie aber einst einem Menschen, der verstorben war und auf der spirituellen Ebene in dieser Welt festsaß. Entweder weil diese Person es selbst so wollte oder durch irgendwen mit Gewalt in Aureuph festgehalten wurde, die Ebene, die für Traumbrecher mit Hilfe ihrer Taschenuhr sichtbar wurde und jedes Mal in einem Hellblau ausgekleidet erschien.

Anders als bei richtigen Alpträumen beinhalteten die Gefühle eines Trugmahrs auch Erinnerungen aus dem Leben. Sobald diese Bilder aus der Vergangenheit größtenteils eine negative Natur besaßen, wurde diese Gattung von Neulingen oft fälschlicherweise für einen Nachtmahr gehalten, da ihre Erscheinung dann auch dementsprechend ausfiel. Je mehr Groll ein Verstorbener in sich trug, desto dichter lagen die Kugeln, die jeweils für eine Erinnerung standen, beieinander und konnten einen einzigen Körper bilden, dessen Farbe ins rötliche überging.

War ein Trugmahr von einer Menge Groll gegenüber den Lebenden befallen, gab es auch Exemplare, die sich absichtlich als Alptraum ausgaben. Ausrichten konnten sie nur nicht viel, außer vielleicht einigen Menschen mit ihrer Anwesenheit einen Schauer über den Rücken zu jagen.

Zu viele Geister durften sich allerdings nicht auf einmal in der spirituellen Ebene dieser Welt ansammeln, sonst konnte das empfindliche Gefüge, aus dem das Reich Aureuph für solcherlei immaterielle Existenzen bestand, zusammenbrechen. Deshalb gab es unter den Traumbrechern noch eine andere, gesonderte Gruppierung, deren Aufgabe einzig darin bestand, Trugmahre ausfindig zu machen und sich um sie zu kümmern. Solche Wesen durfte man nämlich nicht gewaltsam vernichten, schließlich mussten sie wiedergeboren werden und den Kreislauf des Lebens aufrecht erhalten.

Für Luan gab es an der Stelle also rein gar nichts zu tun, außer dem Hauptquartier zu melden, dass er einen Trugmahr entdeckt hatte. Bisher hatte er noch nie einen mit einer derartig friedlichen Ausstrahlungskraft zu Gesicht bekommen, darum merkte er gar nicht, wie er mit weit geöffneten Augen dastand und fasziniert diese Ansammlung von Sternen der Erinnerungen auf sich wirken ließ.

„Du?“, mischte sich Maras Stimme in das Lied des Trugmahrs und es war beinahe unheimlich, wie perfekt sich ihr Klang dort einfügte. „Was siehst du? Was ist denn hier?“

Den Blick konnte er nicht von dem Trugmahr lösen, dafür ließ er sie aber wieder los und antwortete ihr mit ruhiger Stimme. „Nichts, was uns etwas antun würde. Keine Sorge.“

„Wirklich?“ Sie klang zweifelnd und trat etwas dichter zu ihm, weil sie vermutlich Schutz suchte. „Es ist also kein Alptraum? Was siehst du dann?“

„Ich sagte, es wird uns nichts antun“, kam es nun deutlich abweisend von Luan. „Mehr musst und darfst du auch nicht wissen. Übrigens spüre ich wieder deine Körperwärme, also tritt etwas zurück.“

„Aber“, wandte sie ein, „ich habe Angst.“

Widerwillig löste er nun doch den Blick von dem Trugmahr und wandte sich ihr zu. „Das wird diesmal kein Problem darstellen, also macht das nichts. Würdest du jetzt bitte etwas Abstand schaffen?“

Schweigend trat sie ein Stück von ihm zurück und schlang die Arme um ihren Körper, als würde sie frieren. Jetzt fiel Luan auch auf, dass sie ihre Kleidung gewechselt hatte, da sie nun nichts weiter als ein dünnes Kleid trug und die rote Decke musste sie wahrscheinlich irgendwann abgelegt haben, als sie erfahren hatte, wem sie genau gehörte. Ein Wunder, dass Ferris ihr noch nicht seine blaue Jeansjacke mit den vielen Pailletten angedreht hatte. Vielleicht war Mara auf diese Geste auch nur nicht eingegangen.

„Danke, schon besser“, sagte Luan. „Dann bring mich mal zu dem Besitzer des Ladens, das lenkt dich von deiner Angst ab.“

„Besitzerin“, korrigierte Mara ihn. „Es ist eine sie, das hatte ich schon längst durchsickern lassen.“

Irgendwie war sich Luan nicht sicher, ob sie sich mit dieser Aussage nur ein wenig bei ihm rächen wollte oder sich nichts weiter dabei dachte. Selbst wollte er jedenfalls nicht weiter drüber nachdenken und folgte Mara zu der Tür in der hinteren, rechten Ecke des Ladens. Dahinter offenbarte sich eine kleine, überschaubare Küche, die möglicherweise auch als eine Art Pausenraum genutzt wurde.

Hier befand sich auf der linken Seite eine weitere Tür, doch der schenkte Luan noch keine Aufmerksamkeit, sondern behielt Mara im Blick. Vorsichtshalber legte er die Taschenuhr, dank der Kette, um den Hals, damit er auch den Trugmahr nicht aus den Augen verlieren konnte. Dieser schien sie zu verfolgen, was kein unübliches Verhalten für solche Geister war.

Unsicher und nervös schaute Mara sich um, wollte kaum vorwärts gehen. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie mit dem Fuß gegen einen Widerstand stieß, gab aber anschließend einen freudigen Laut von sich. Schon bevor sie sich zu dem Gegenstand runter beugte, ahnte Luan, dass es sich um das besagte Buch handeln musste, deshalb schaute er interessiert über ihre Schulter, als sie hochkam und es in den Händen hielt.

Wahrhaftig stand der Titel Diarium Fortunae auf dem Einband, aber etwas an diesem Buch machte ihn auf Anhieb misstrauisch. Deswegen wollte er über Maras Schulter hinweg nach der wertvollen Lektüre greifen, doch auf einmal drückte sie es fest gegen ihre Brust und schritt zielstrebig zu der nächsten Tür im Raum, da hier offensichtlich sonst niemand war. Ein leiser Seufzer entfuhr ihm und er ging ihr hinterher, um sie nicht zu verlieren.

Hinter der nächsten Tür lag ein Raum, der wohl nur als Verbindung zu den zwei Treppen diente, wovon eine nach oben und eine nach unten führten. Zuerst folgte er Mara über eine von den Treppen nach oben ins nächste Stockwerk, wo sich zwei Schlafzimmer, ein Bad und eine Abstellkammer befanden, von der Eigentümerin des Ladens fehlte aber jede Spur. In einem der Schlafzimmer war ihm nur ein Foto von einem rothaarigen Mann mit Bart aufgefallen, auf dem jemand mit einem Stift den Namen Edgar Maron verewigt hatte.

Ansonsten ließ sich oben nichts Hilfreiches finden, also stiegen sie nach kurzer Zeit schon wieder nach unten und gingen weiter in den Keller des Gebäudes hinab, der als großer Lagerraum diente und wirklich wie ein Kramladen aussah. Hier lagerten allerhand Gegenstände, Kartons und noch viel mehr, so dass es Luan unmöglich war, mit einem einzigen Blick den Raum mit all seinen Einzelheiten zu erfassen.

Im Vergleich zu den oberen Stockwerken war es hier unten sehr unordentlich, staubig und vor allem dunkel, was ihm natürlich nichts ausmachte, denn er konnte durch seine Taschenuhr gut sehen. Mara machte sich jedoch ein bisschen Licht, indem sie eine alte Glühbirne anschaltete, die nackt von der Decke hing.

„Hier ist auch niemand“, stellte sie fest, nachdem sie sich auch hier etwas genauer umgeschaut hatten. „Wo ist sie nur?“

„Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?“

„Zuletzt?“ Eine Denkpause folgte, in der sich noch mehr Sorge in ihren Gesichtsausdruck schlich. „Zuletzt habe ich sie oben in der Küche gesehen, als sie vorne im Laden die Tür schließen wollte.“

Nachdenklich griff Luan unbewusst nach seiner Taschenuhr, um sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her zu wippen. Dass ein Ladenbesitzer wegging, ohne vorher das Geschäft anständig zu schließen, konnte er sich nicht vorstellen und die Tür oben war offen gewesen. Außerdem war durch Maras Verhalten anzunehmen, hier könnte sich etwas Schlimmes ereignet haben. Sie war so furchtbar besorgt. Nur was war passiert? Ob es damit zu tun hatte, dass sie von einem Nachtmahr besessen so einen weiten Weg schlafgewandelt war?

Für einen Moment nahm Luan all seine Konzentration zusammen, umklammerte die Taschenuhr nun mit einer Hand und sein Blick glitt langsam nochmal durch den gesamten Kellerraum. Losgelöst von seinem Körper flog er mit seinem geistigen Auge nochmal rasend schnell durch das komplette Haus, durchquerte mühelos Wände und suchte jeden Winkel nach Unstimmigkeiten ab.

Nicht mal eine Minute später kehrte er durch ein einziges Blinzeln wieder in die normale Sicht zurück und obwohl er diesmal nicht lange im Geiste durch Aureuph gereist war, spürte er ein Pochen hinter seiner rechten Schläfe, das rasch nachließ. Geheimgänge oder gar versteckte Räume konnte Luan nicht ausmachen, weder unnatürliche noch natürliche, wie Menschen sie manchmal in alten Villen hinter Bücherregalen bauten.

„Hoffentlich ist ihr nichts passiert“, fügte Mara schließlich, nach einer Weile des bedrückten Schweigens, zu ihren letzten Worten hinzu.

Maras Unruhe sorgte dafür, dass er auch jetzt die Möglichkeit, dass die Besitzerin eben doch das Haus verlassen hatte, nicht in die engere Auswahl zog. Also schlug er vor, weiter nach ihr zu suchen. „Gehen wir nochmal hoch und sehen uns die Küche genauer an.“

Etwas hielt ihn jedoch davon ab, noch bevor er sich zur Treppe umdrehen konnte. Das Lied des Trugmahrs, von dem sie bis in den Keller hinab verfolgt worden waren, wurde plötzlich um einiges lauter, als wollte er auf sich aufmerksam machen, womit er Erfolg hatte. Sofort war Luans Blick wieder auf die vielen, leuchtenden Sterne gerichtet, die aufgeregt zu tanzen schienen.

Mara bemerkte gleich, dass er abgelenkt wurde. „Was ist los?“

„Nichts“, beruhigte er sie und gab ihr durch eine Geste mit der Hand zu verstehen, dass sie eben noch warten sollte. „Nichts Schlimmes. Einen Moment nur.“

Die einzelnen Kugeln fingen an, eine Linie, ein Band zu bilden, dem Luan zu einem Bücherregal folgte, hinter dem der Trugmahr dann verschwand. Eilig schob er das, glücklicherweise fast leere, Möbelstück zur Seite. Bei dieser Aktion regnete eine Menge Staub auf ihn herab und besudelte seinen schwarzen Mantel. Hinter diesem Regal befand sich bloß eine graue Steinwand, sonst war nichts Auffälliges zu sehen. Zumindest so lange nicht, bis die Kugeln des Trugmahrs anfingen sich auf dieser Wand zu einem Symbol anzuordnen. Ähnlich wie ein Sternenbild.

Das Symbol nahm Gestalt an, wurde riesengroß. So groß, dass es locker von einem Menschen ausgefüllt werden konnte. Ein Kreis, in dessen Innerem eine senkrechte Raute eingeschlossen war. Jeweils an vier Stellen außerhalb des Kreises wurden Worte mit einer Symbolschrift gebildet, die der von Traumbrechern zwar ähnlich war, aber Luan nur grob übersetzen konnte: Mond. Dunkel. Kalt. Morgen.

„Ich glaub’s nicht“, murmelte Luan vor sich hin und öffnete den Sprungdeckel seiner Taschenuhr, um die Pistole zu beschwören. „Ein Siegel.“

Ja, dort verbarg sich anscheinend ein Siegel, sofern der Trugmahr ihn nicht an der Nase herumführte, doch dafür war die Erscheinung dieses Exemplars zu friedfertig. Hierbei handelte es sich um ein Siegel, das den Zugang zu dem Refugium eines Alptraums versperrte. Solche Verstecke waren nur sehr schwer zu finden, da es sich um Risse in der Wirklichkeit handelte, die man nicht auf der Sichtebene von Aureuph ausfindig machen konnte.

Nur Reinmahre waren dazu imstande solch ein Refugium zu erschaffen, sollten sie schon lange genug in der Realität Fuß gefasst haben und noch nicht von einem Traumbrecher vernichtet worden sein. Solche Fälle gab es zwar nur äußerst selten, aber leider gab es sie. Ein Reinmahr versteckte sich in so einem erzeugten Riss, um sich vor seinen Feinden zu schützen und baute diesen Ort heimlich weiter aus, bis es irgendwann zu immensen Störungen in der Welt kam. Häuser konnten zum Beispiel durch so einen erweiterten Riss von einem Tag auf den anderen einstürzen.

Mara atmete in seinem Rücken tief ein vor Schreck, als er seine Pistole zur Hand nahm, weil sie keine Ahnung hatte was vor sich ging. Mit dem Lauf zielte er auf den ersten, vom Trugmahr markierten Schriftzug und sprach dann direkt zu diesem. „Okay, ich hab’s. Aus dem Weg.“

„Wie bitte?“, reagierte Mara verwirrt.

Der Trugmahr zog die Kugeln von der Stelle zurück, so dass sie wieder frei lag und Luan einen Schuss abfeuern konnte, der das erste Wort im Siegel zersplittern sollte. Noch war nichts zu sehen, aber als er diesen Vorgang mit dem zweiten Wort wiederholte, bildeten sich an den jeweiligen Einschussstellen schwarze Wirbel, die durch einen weißen, zuckenden Blitz als Linie miteinander verbunden wurden.

Zwei weitere Schüsse später zerbrach das Siegel mit einem lauten Knall, was man nicht sehen, aber gut hören konnte. Als alle vier Stellen miteinander verbunden waren, zogen die Blitze die einzelnen Wirbel in der Mitte zusammen, um einen einzigen, großen zu bilden, vor dem Luan nun stand. Stille und Kälte drang von der anderen Seite zu ihm hervor.

Er ließ die Waffe sinken und wandte sich zu dem Trugmahr, der sich hinter ihm wieder im Raum verteilt hatte. „Danke.“

„Äh?“ Erneut war Mara ziemlich verwirrt, zu Recht. Ohne den Kontakt zur Taschenuhr konnte sie das gewaltsam geschaffene Tor zum Refugium nicht sehen, nur eine leere Wand. „Wofür denn? Was ist los?“

„Nichts“, log Luan sie an und blickte zu ihr. „Ich werde jetzt kurz verschwinden und ich will, dass du dich nicht vom Fleck rührst.“

Nun fing sie an panisch zu werden und klammerte sich noch fester an das Buch. „Was?! Warte, rede mit mir! Lass mich hier nicht so stehen! Ich sagte dir doch, dass ich Angst habe!“

„Das brauchst du nicht“, versicherte er, so ruhig und eindringlich wie er konnte. „Warte einfach hier auf mich. Allein wegen dem Buch in deinem Arm werde ich auf jeden Fall zurückkommen.“

Ohne auf ihre Reaktion darauf zu warten, drehte er sich zu dem Wirbel und sein Griff um die Pistole verstärkte sich. Entschlossen trat er durch das Tor, in das Refugium. Für Mara musste es so aussehen, als wäre er durch die Wand gegangen und er konnte noch hören, wie sie rief: „Bitte geh nicht! Ich darf dich doch nicht aus den Augen lassen!“
 


 

***
 


 

Luan fand sich im Nichts wieder. Ein tiefschwarzes, endloses Nichts. Es wirkte jedenfalls endlos, was es nicht war.

Der Raum musste stark begrenzt ausfallen, denn dieses Refugium war möglicherweise erst vor kurzem entstanden. Erkennen konnte er es daran, dass es außer Schwärze wirklich nichts anderes zu sehen gab, keine einzige, individuelle Note, durch die sich das Versteck an den jeweiligen Alptraum anpasste. Einzig eine unheimliche Stille erfüllte diesen Ort, begleitet von einem kalten Gefühl, das sein Herz an sich zu reißen versuchte.

Wenige Meter vor ihm gab es dann aber doch etwas, dort lag jemand. Eine etwas mollige Frau mit langen, lockigen und hellbraunen Haaren. Natürlich musste sie die Besitzerin des Buchladens sein, daran gab es keinen Zweifel. Zum ersten Mal erlebte Luan es, dass ein Alptraum einen Menschen in sein Refugium gebracht und dort eingesperrt hatte.

Reinmahre lösten sich mit der Zeit gänzlich von der Person, durch deren Klartraum sie in die Wirklichkeit gelangen konnten. Welchen Grund sollte ein Alptraum also haben, einen Menschen hierher zu bringen? Hatte das Buch Diarium Fortunae etwas damit zu tun? Darüber sollte Luan erst nachdenken, wenn er diese Frau hier rausgeholt hatte. Ein zu langer Aufenthalt in einem Riss konnte nicht gesund für einen gewöhnlichen Menschen ausfallen.

Also beeilte er sich, klemmte seine Pistole vorläufig hinter dem Gürtel unter seinem Mantel fest und kniete sich neben ihr hin. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken, da sie auf dem Bauch gelegen hatte, und erstarrte förmlich bei dem Anblick ihres Gesichts. So sehr, dass er sie fast rücksichtslos wieder fallengelassen hätte, was wegen der Starre nicht geschah, die seinen Körper erfasst hatte. Sogar den Atem hielt er an, aus Angst, sie könnte aufwachen und handeln, ehe er selbst dazu kam.

Dieses Gesicht kenne ich, schoss es ihm durch den Kopf. Ich kenne diese Frau!

Bernadette, ein weiblicher Traumbrecher. Ihr Name war Bernadette Maron, deshalb kam ihm der Name des Buchladens schon so bekannt vor und nun erinnerte er sich auch schwach daran, dass Mara sie in einer Frage an ihn mal erwähnt hatte, auf die er nicht reagieren konnte. Bernadette Maron. Wie konnte er bis hierher nur so furchtbar blind sein? Ferris hatte recht, viel zu oft übersah er die offensichtlichsten Dinge, nur weil er sich zu sehr mit anderen Sachen beschäftigte.

Ein feindseliger, finsterer Ausdruck gewann die Macht über Luan und sein ganzer Körper zitterte bald schon vor Anspannung. Seine Hände bohrten sich bereits in ihre Schultern, an denen er sie festhielt und das sorgte dafür, dass ihre Augenlider zu zucken anfingen, weil sie den Schmerz spürte. Er musste hart schlucken und fing schwer an zu atmen, als er sah, wie sie darauf reagierte. Am liebsten hätte er gerade aus dem Grund noch fester zugepackt. Viel zu viel Beherrschung war nötig, um dem Drang zu widerstehen.

Ich verstehe nicht warum, dachte er. Warum ausgerechnet jetzt? Wieso finde ich sie gerade jetzt?!

Wie besessen glitt sein Blick von ihrem Gesicht runter zu ihrer Taschenuhr, die sie, genau wie er, um ihren Hals trug. Während sie inzwischen dabei war mühevoll die Augen zu öffnen und schleichend zu sich kam, nahm er die Gelegenheit war, ihr Herz an sich zu nehmen. Nach wenigen Handgriffen befand sich ihre Uhr auch schon in seinem Besitz und er ließ sie zu Boden sinken, damit er wieder aufstehen konnte.

„Wer ist da?“, nuschelte sie undeutlich, noch halb abwesend. „Edge? Bist du es?“

Wer oder was Edge war und ob sie vielleicht diesen Edgar Maron damit meinte, wusste Luan nicht und es war ihm auch herzlich egal. Mit hasserfüllter Stimme erhob er das Wort. „Ich bin es.“

Im ersten Moment schien sie ihn nicht zu erkennen, was auch daran lag, dass er ihr die Taschenuhr abgenommen hatte. Außer Schwärze sah sie nun wirklich nichts anderes mehr, erst recht nicht ihn, wie er neben ihr stand, daher fragte sie nochmal: „Wer bist du?“

„Jemand, den du gut kennst“, antwortete er, seine Stimme schien dunkler und dunkler zu werden. „Jemand, der nicht mehr träumen kann.“

„Nein“, entgegnete sie ungläubig und mit einem Mal riss sie die Augen weit auf. „Das kann nicht sein. Luan? Was suchst du denn hier? Ich dachte, du wärst im Hauptquartier.“

Die schwarze Ablagerung auf seiner Haut hatte angefangen sich zu erhitzen, schon als er den ersten Blick auf ihr Gesicht geworfen hatte. Mittlerweile fühlte es sich geradezu wie ein Feuer an, das ihn gnadenlos zu verbrennen drohte. Der Schmerz dieser Hitze ließ ihn noch schwerer atmen, beinahe nach Luft schnappen. Von außen war davon nichts zu sehen, keine einzige Schweißperle, einfach nichts.

Bernadette versuchte sich aufzurichten, doch Luan reagierte schnell und wich einige Schritte mit ihrer Taschenuhr in der Hand zurück, bis sie kraftlos wieder zurück zu Boden fiel. Seltsamerweise war es keine Angst, mit der sie danach zu ihm sprach, sondern irgendetwas anderes. Etwas, was von dem Hass in ihm verschluckt wurde und die Hitze in ihm brachte diese negative Stimmung förmlich zum Kochen. „Luan, ich weiß, dass du mir nicht zuhören willst, aber ich kann dir alles erklären.“

„Ach ja?!“, fauchte er wütend zurück und die Hand, in der er ihre Uhr festhielt, verkrampfte sich. „Was willst du mir denn erklären?! Du bist eine Verräterin! Du hast mich und das Hauptquartier schändlich verraten und im Stich gelassen! Und wie es aussieht, hast du sogar eines der kostbarsten Gegenstände aus der Schatzkammer von Atanas gestohlen!“

„Ich weiß“, warf sie ein, ohne sich dagegen zu sträuben und presste eine Hand gegen ihre Brust, die aufgrund der Entfernung zu ihrer Taschenuhr sehr schmerzen musste. „Ich leugne das nicht, aber ich hatte einen guten Grund. Bitte, lass es mich erklären.“

„Oh nein! Für Verrat kann es niemals einen guten Grund geben! Niemals!“

Immer weiter steigerte er sich in seinen Hass hinein, konnte das bedrohliche Knistern des Feuers in seinen Ohren hören. Konnte spüren, wie er die Kontrolle zu verlieren drohte und sein Verstand taub für klare Gedanken wurde. Statt Reue oder Einsicht zu zeigen, hielt Bernadette an ihrer Bitte fest, dadurch verbesserte sie ihre Situation nicht gerade.

„Bitte, Luan“, flehte sie ihn an, nach wie vor mit einem Gefühl in der Stimme, das ihn nicht erreichen konnte. „Bitte, höre mich an, bevor du etwas tust, was du später bereuen wirst.“

„Solange ich nur das tue, was ich will, kann ich gar nichts bereuen.“

Jedes weitere Wort von ihr ging in dem Knistern der Flammen unter, von denen er umgeben war. Achtlos ließ er die Taschenuhr aus der Hand gleiten und sie fiel zu Boden. Anschließend hob er ein Bein, sein Fuß schwebte bedrohlich über der Uhr.

„Nun, ich werde nichts bereuen. Luan aber ganz bestimmt.“

Ein unheilvolles Lächeln umspielte seine Lippen. Dann trat er zu.

Kümmert mich nicht

Luans Fuß war nur noch knapp einen halben Zentimeter von der Taschenuhr entfernt, als er abrupt mitten in der Bewegung stoppte und für einige Sekunden regungslos in dieser Position verharrte, wie eine leblose Puppe. Schließlich zog er das Bein wieder zurück, ohne sein Vorhaben, Bernadettes Herz zu zerstören, beendet zu haben.

Er senkte langsam den Kopf. Das Lächeln schwand nicht aus seinem Gesicht, bekam nur zusätzlich eine zutiefst amüsierte Note. Sacht tippte er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand gegen das Ziffernblatt seiner eigenen Uhr, deren Sprungdeckel noch geöffnet war. Ein undefinierbarer, tiefer Laut verließ seine Kehle.

„War nur“, hauchte er, „ein kleiner Scherz.“

In seiner Stimme lag eine spürbar boshafte Natur, hatte ansonsten aber nichts von ihrer vorherigen, typischen Klangart verloren. Gemächlich beugte er sich runter und hob die Uhr von Bernadette auf, die erleichtert aufatmete. Zwar mochte sie nichts gesehen haben, doch durch die Wärme seiner Hand konnte sie gewiss spüren, dass ihr wertvollster Besitz zumindest nicht mehr auf dem Boden herumlag.

„Was hattest du vor?“, fragte sie vorsichtig. „Was hast du gemacht?“

Sein Lächeln wandelte sich zu einem Grinsen. „Och, nichts. Ich habe mir nur einen kleinen Spaß mit den zerbrechlichen Gefühlen eines Menschen gemacht.“

Offenbar schien sie zu wissen, was passiert war und wer sich gerade hier mit ihr unterhielt, denn es stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Ernst vermischte sich mit Verleugnung, diese Kombination passte überhaupt nicht zu ihr, selbst er sah das. Aus irgendeinem Grund wollte sie einfach nicht wahrhaben oder gar akzeptieren, was hier geschah, deshalb ging sie auf Nummer sicher, indem sie ihn direkt darauf ansprach.

„Luan? Bist du es?“

War er es? In ihren Augen mit Sicherheit nicht, er dagegen machte daraus keinen allzu großen Unterschied. Derjenige, den sie Luan nannte, war von Hitze verschlungen und schlafen geschickt worden. Die schwarze Kruste auf seiner Haut – dieses Gefängnis – war kühl geworden. Eiseskälte hatte das brennende Gefühl vertrieben und die knisternden Flammen zum Schweigen gebracht, durch die er nach draußen gelangen konnte.

„Oh, Luan ist im Moment nicht zu erreichen. Tut mir schrecklich leid~“, antwortete er, in einem gespielt mitleidigen Ton und schloss grob den Deckel der Taschenuhr, die um seinen Hals hing. Hinter dem Gürtel unter seinem Mantel löste sich die Handfeuerwaffe in einem grellen Blitzlicht auf. „Du kannst mich aber ruhig weiter so nennen. Im Prinzip, wenn man es ganz genau nimmt, kommt es doch sowieso auf dasselbe hinaus.“

„Das tut es nicht“, widersprach Bernadette gleich. „Du bist nicht Luan.“

„Mh-hm~ Interessant“, ging er darauf ein. Einige federnde Schritte brachten ihn wieder näher zu ihr, bis er an ihrer Seite stand und sich mit dem Oberkörper über sie beugen konnte. „Dann sag du mir doch, wer oder was ich bin. Du weißt es ganz genau, stimmt’s?“

Sie machte sich nicht mal die Mühe, dem zu widersprechen. „Stimmt.“

„Also?“

„Ich werde es nicht aussprechen.“

„Oh je.“ Diese Aussage brachte ihn zum Schmunzeln. „Typisch, Menschen waren schon immer wahre Meister darin, alles auszublenden, was sie als schlecht und bösartig erachten.“

„Ich bin kein Mensch“, korrigierte sie ihn und starrte ziellos nach oben, direkt in sein Gesicht, wo für ihre Augen nichts als Schwärze zu sehen war. „Nicht mehr.“

„Ach, richtig. Ich vergaß.“ Seine Augen formten sich zu Schlitzen und seine Miene wurde kalt. „Ihr seid ja wandelnde Tote, die sich nur dank ihrer Träume noch bewegen können und durch den sogenannten Atemfluss frischgehalten werden. Schon blöd, dass ein Mensch erst sterben muss, bevor er zum Traumbrecher werden kann, was?“

Damit traf man bei Traumbrechern immer einen wunden Punkt, auch Bernadette wandte den Kopf bedrückt zur Seite, nur aus einem anderen Grund, als er zuerst dachte. „Rede nicht darüber. Luan könnte deswegen leiden.“

Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. „Kümmert mich nicht. Der Junge hat so viele Komplexe, auf die kann man gar nicht alle Rücksicht nehmen, selbst wenn ich wollte.“

„Es sollte dich aber kümmern“, meinte sie und ihre Stimme war in diesem Augenblick derartig tadelnd, dass es die Atmosphäre in Hochspannung versetzte.

„Ah~“, reagierte er erfreut, verlor jedoch nicht den kalten Ausdruck in seinem Gesicht. „Jetzt kommen wir der Sache schon näher.“

„Welcher Sache?“

„Na, dem Grund dafür, warum ich hier bin.“

Schwungvoll lehnte er sich zurück, in eine aufrechte Position, ließ ihre Taschenuhr ein Stück aus seiner Hand gleiten, bis er die Kette zu fassen bekam und fing an sie an dieser durch die Luft zu wirbeln, in Kreisen, wie eine Windmühle. Darauf reagierte Bernadette mit einem schwerfälligen Stöhnen und kniff die Augen zusammen. Sicher wurde ihr durch diese Spielerei mit der Uhr gerade schlecht.

Summend drehte er sich auf einem Bein um und ging ein paar Schritte durch das Refugium, das leider noch ziemlich unspektakulär aussah, furchtbar kläglich. Wenigstens konnte er die tiefen Abgründe der Schwärze genießen, von der sie umgeben waren. Immer weiter und weiter schleuderte er die Taschenuhr herum, während er einen Schritt nach dem anderen tat, als würde er einen kleinen Spaziergang unternehmen.

„Ich bin in Luan gefangen und er hat nicht den leisesten Schimmer davon“, begann er und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, dabei kroch die Feindseligkeit in ihm hoch, wenn er nur daran dachte. „So gut wie keiner von euch Traumbrechern weiß, dass ihr die ganze Zeit in euch selbst einen Alptraum herumschleppt. Darum könnt ihr ja auch nicht auf eurer Jagd von Alpträumen befallen werden. Wie auch, wenn schon einer in euch haust?“

„Ich will es nicht hören“, unterbrach Bernadette ihn und versuchte noch einmal wie vorhin sich aufzurichten, doch sie war ohne ihr Herz zu kraftlos dafür. Sie war dazu gezwungen auf dem Rücken liegenzubleiben.

„Du weißt es, willst aber nicht darüber reden? Glaubst du, durch Schweigen diese Tatsache aus der Welt schaffen zu können?“ Solch ein absurdes Verhalten stimmte ihn nicht sonderlich erfreut, seine Miene wurde noch kälter. „Pech für dich, dass ich das anders sehe. Ich bin jetzt hier und wir werden reden.“

Anscheinend hatte er mit seiner letzten Aussage etwas angesprochen, was sie besonders reizte, denn sie wurde plötzlich wütend. „Du solltest eigentlich überhaupt nicht hier sein! Vane hatte mir damals zugesichert, dass er dafür sorgt, Luan im Hauptquartier festzuhalten!“

„Korrekt“, bestätigte er. Mitten im Dreh ließ er die Kette los, so dass ihre Uhr nach oben flog und er sie in der Luft mit einer Hand wieder auffangen konnte. „Hat der Doktor dir etwa nicht berichtet, dass Luan schon seit langer Zeit zurück im Jagdgeschäft ist?“

„Was?!“, erwiderte sie ungläubig.

„Das heißt wohl nein.“ Zu sehen, wie die Enttäuschung in Bernadette zu sprießen anfing, weckte Schadenfreude in ihm. „Wie tragisch, wo du und der Doc euch so sehr darum bemüht habt, dafür zu sorgen, dass Luan nicht mehr zu intensiven Gefühlsausbrüchen fähig ist, nur um mein Wachstum zu verhindern. Ich kann dich trösten, das hat wunderbar geklappt. Ich lag zeitweise quasi im Koma.“

„Und das hätte so bleiben sollen“, versetzte sie ihm einen imaginären Schlag, allein durch diese Worte.

Ihre Uhr knackte verdächtig, als er sie, aus einem Impuls heraus, so fest mit der Hand umklammerte, dass diese vor Anstrengung zu zittern begann. Zeitgleich entfuhr Bernadette ein Schmerzensschrei, der ihn mit einem wohltuenden Schauer erfüllte.

Drei Mal schnalzte er leise mit der Zunge und wies sie anschließend zurecht. „Werd nicht frech. Sonst könnte ich auf ganz, ganz schlimme Gedanken kommen, die dir nicht gefallen werden.“

„Schon gut“, keuchte Bernadette schwerfällig. „Also, was willst du? Warum bist du hier?“

Dass sie sich endlich kooperativ zeigte, brachte ein freudiges Lächeln in sein Gesicht zurück, das mehr als aufgesetzt und falsch war. „Ich war gerade dabei, es zu erklären, bis du mich unterbrochen hast.“

Den Druck auf die Taschenuhr verringerte er ein wenig, behielt aber ein gewisses Maß an Anspannung in der Hand bei. Nachdem er einige weitere Schritte durch das Refugium gegangen war, lehnte er sich schließlich mit dem Rücken an einer Wand an, die von einem Menschen sicher als unsichtbar bezeichnet werden würde. Von dort beobachtete er Bernadette genau und fuhr mit seiner Erklärung fort, doch er setzte an der Stelle an, wo er auf Luans Gefühlswesen zu sprechen gekommen war.

„Ihr mögt euch viel Mühe gegeben haben, aber einen Verrat vergisst man niemals. Egal, welches Wesen, ein Herz, das Verrat erfahren hat, wird sich immer daran erinnern.“ Kurz schloss er die Augen und schüttelte den Kopf, weil ihm ein Ereignis aus einer weit entfernten Vergangenheit in den Sinn kam. Einer Vergangenheit, in der Traumbrecher noch nicht existierten. Gekonnt schüttelte er sie schnell ab. „Manche Gefühle lassen sich nicht so einfach unterdrücken oder gar ausschalten, Vane musste das erst kürzlich feststellen, als er mich untersucht hat. Es erstaunt mich, dass er Luan nicht gleich wieder dieses Beruhigungsmittel verabreicht hat.“

„Vane hat nichts unternommen? Obwohl er gemerkt hat, dass du wieder aktiv geworden bist?“, hinterfragte Bernadette, die ihm keinen Glauben schenken wollte und sehr betroffen war.

Lachend fuhr er sich mit der freien Hand durch die Haare. „Sag bloß, das geht dir schon zu Herzen? Du solltest dir lieber selber Vorwürfe machen, dass ich dank dir endlich mal nach langem wieder rausgekommen bin.“

„Dank mir?“

„Jaha~.“ Nun ließ die Anspannung in seiner Hand vollständig nach, da er ihre Taschenuhr vorsichtig gegen die von Luan drückte. „Der Kleine ist wirklich ziemlich enttäuscht und verletzt wegen dem, was du ihm damals angetan hast. Es war klar, dass diese Narbe eine heftige Reaktion seiner Gefühle hervorrufen würde und das haben wir uns zu Nutze gemacht, mit Erfolg.“

Bernadette sagte nichts dazu, sondern schwieg. Die Übertragung von Luans Gefühlen für sie sorgte dafür, dass ihr Tränen in die Augen schossen und diesen Anblick genoss er sehr. Nachdenklich zog sie dann ihre Augenbrauen zusammen, etwas schien ihr auf den Lippen zu liegen, aber sie blieb still. Vermutlich wollte sie nur nicht mehr mit ihm reden, als es nötig war. Hauptsache sie gewann ihre Sprache zurück, wenn es zu dem Teil kam, wegen dem er hier war.

„Kommen wir langsam zum Thema“, fuhr er fort und löste den Kontakt der beiden Taschenuhren zueinander wieder. „Ich hätte mich längst von Luan lösen und meinen eigenen Körper bekommen müssen. Eigentlich waren wir sogar schon mal voneinander gelöst, bis seine Traumzeit einfror. Ausgerechnet die letzte Sekunde, ein großes Mysterium. Damals hat mich etwas mit Gewalt wieder an ihn gebunden, als es passierte und nun hänge ich in diesem Gefängnis fest.“

Es folgte eine kurze Pause seinerseits, bis er einen theatralischen Seufzer von sich gab. „Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass ich Luan eben auf andere Weise brechen muss, auch wenn ihr mir das nicht leicht macht. Du und der werte Herr Doktor Belfond.“

„Es ist notwendig, dich zu stoppen“, warf sie ernst ein und fügte dem rasch noch etwas hinzu. „Um Luan zu retten.“

„Wirklich? Ist das so, ja?“, hinterfragte er, wenig überzeugt. „Wenn dem so ist, wieso meintest du dann vorhin zu mir, dass es mich kümmern sollte, wie Luan fühlt?“

Abermals zeigte sie, wie gut sie schweigen konnte, wenn sie wollte. Ab hier würde es schwer werden, die gewünschte Information aus ihr herauszubekommen, doch das war ihm auch vorher schon klar gewesen. Also stieß er sich von der unsichtbar erscheinenden Wand ab und ließ ihre Uhr wieder zu Boden fallen, trat jedoch nicht drauf, sondern ließ sie dort zurück, als er nochmal zu ihr rüberging.

Neben ihr ging er auf die Knie, was sie nervös werden ließ, da sie seine Nähe spüren musste. Sorgen darüber, dass sie sich wehren könnte, waren überflüssig. Nicht nur die Entfernung ihrer Uhr machte sie schwach, auch von dem Kampf mit dem Wesen, das sie letztendlich hergebracht hatte, musste sie sich noch angeschlagen fühlen. Das mochte schon ungefähr zwei Tage her sein, aber in einem Riss erholten sich Traumbrecher allem Anschein nach nicht.

„So, jetzt wird es spannend“, begann er, mit äußerst eindringlicher Stimme. „Ich weiß aus einer zuverlässigen Quelle, dass ihr, du und dieser lästige Vane, genau darüber Bescheid wisst, wieso Luans letzte Sekunde eingefroren ist und ich will es wissen, denn ich hänge da genauso drin. Außerdem würde es mich auch interessieren, wovor ihr uns beide zu retten versucht.“

Weiterhin machte sie keinerlei Anstalten etwas zu sagen und blickte nur stumm geradeaus, durch ihn hindurch. Allmählich verlor er die Geduld, dieses Treffen mit ihr wollte er nicht ohne Antworten beenden. Ungehalten beugte er sich erneut über sie, stützte sich links und rechts neben ihrem Kopf mit den Händen auf dem Boden ab.

„Denkt ihr, ich bin so blind wie Luan?“, zischte er. „Ja, ihr versucht seit Jahren mich zurückzudrängen und zu verhindern, dass ich mich ausweite, aber ich bin ein Alptraum. Wir erkennen es durchaus, ob man uns vernichten oder schützen will. Also sag mir, was da läuft!“

„Es tut mir leid“, erwiderte sie, darum bemüht, kein bestimmtes Gefühl nach außen dringen zu lassen. „Es ist uns verboten, darüber zu sprechen. Eins kann ich dir aber sagen: Wir schützen dich sicher nicht deinetwegen, uns geht es nur um Luan.“

Schreiend ballte er die Hände zu Fäusten und schlug mit beiden einmal kräftig gegen den Boden, was Bernadette nicht mal zum Zucken brachte. Wutentbrannt stand er auf, stampfte durch das Refugium. Ein stark ausgeprägter Zerstörungsdrang wurde wach, dem er nicht nachgehen konnte, weil er keinen Zugriff auf seine Fähigkeiten mehr besaß, seit jener Nacht. Seit Luan um seine verdammte, letzte Sekunde gebracht worden war.

Plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus. „Natürlich geht es um Luan, um wen sonst? Weißt du was? Jetzt kümmert mich sein Wohl noch weniger als vorher! Ich pfeif auf dein Wissen, mir ist sowieso gar nicht so wichtig, was mit mir passiert! Ich will nur, dass dieser Kerl, in dem ich festsitze, endlich gebrochen wird!“

Das war gelogen. In Wahrheit war ihm sein eigenes Wohl viel zu wichtig und das war nicht richtig. Alpträume machten sich niemals über etwas oder jemanden sorgen. Nie, ganz besonders nicht um jemanden. Auch nicht um sich selbst. Es war unnatürlich, dass er anders empfand. So sollte er sich nicht verhalten, doch wie konnte er diese Empfindung ausmerzen? Diese Unruhe machte ihn wahnsinnig und er konnte nichts dagegen tun, darum wollte er herausfinden, woran es lag.

Sein Gelächter erstickte jäh, als ihm bewusst wurde, dass er von Bernadette keine Antwort bekommen würde. Nicht, wenn sie die Wahrheit sagte. Davon abgesehen war er ihnen doch total egal, wie hatte er jemals etwas anderes annehmen können? Oder hatte er so denken wollen? Nein, er war ein Alptraum, sein Denken war anders. Sein Denken sollte anders sein. So lief es falsch, er durfte so etwas wie Hoffnung oder Angst nicht kennen.

„Dir ist es also verboten, darüber zu sprechen?“, griff er ihre Aussage von eben auf. „Ich schätze, dann hat es auch keinen Sinn länger zu reden. Schade, es war irgendwie nett.“

Mittlerweile fühlte sich jeder Schritt schwer an und so dauerte es viel zu lange, bis er an der Stelle ankam, wo noch ihre Taschenuhr lag. Völlig schutzlos. Wie zuvor hob er das Bein an und ließ seinen Fuß bedrohlich über diesen Gegenstand schweben. Stellte sich vor, wie dieses Herz gleich unter seiner Sohle zusammenbrechen würde. Fähigkeiten mochte er nicht mehr einsetzen können, für einen starken Tritt, der die Uhr in mehrere Teile zerspringen lassen sollte, dürfte es aber reichen.

„Hey“, hörte er sie hinter sich sagen. „Was machst du?“

„Vorhin war es nur ein Scherz“, flüsterte er, so dass sie ihn nicht hören konnte. Sanft strich er mit der Hand über das Herz von Luan, das um seinen Hals hing. „Ich habe aber nicht gesagt, dass ich es nie tun würde. Die beiden können versuchen was sie wollen, wer so viele Komplexe hat, wird früher oder später daran brechen. Ein bisschen helfe ich dem Glück aber gerne nach.“

Für genug Schwung hob er das Bein noch ein Stück mehr an, fixierte die Uhr auf dem Boden mit seinen Augen und war bereit. Wie vorhin schnellte sein Fuß herab, auf das Herz zu. Plötzlich ertönte aus dem Nichts heraus eine Stimme, auf die Luan in ihm reagierte, obwohl er gar nicht anwesend sein konnte, weil er schlief.

„Stopp!“, schrie jemand, eine Frauenstimme.

Sofort hielt er inne und berührte mit der Schuhsohle zwar die Taschenuhr zu seinen Füßen, hatte aber gerade noch rechtzeitig abgebremst. Jeglicher Druck, der den Gegenstand ernsthaft beschädigen könnte, blieb aus. Empört drehte er sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und seine Augen weiteten sich, als er Mara sah, die mit einem so erstaunlich hohen Tempo auf ihn zu rannte, dass es unheimlich war.

Nicht mal einen Wimpernschlag später prallte sie mit ihrem Körper auch schon heftig gegen ihn. So heftig, dass es ihn nicht mehr auf den Beinen hielt und er zu Boden gerissen wurde. Aus Reflex kniff er die Augen zusammen, konnte nur noch hören, wie der Sprungdeckel seiner Taschenuhr aufsprang und ahnte, was passieren würde, wenn er sie wieder öffnete. Deshalb hielt er sie geschlossen, um nicht mitzuerleben, dass er derjenige war, der zurück in die schlafende Position fiel.
 


 

***
 


 

Luan starrte in das Schaufenster, vor dem er stand. Dahinter waren so viele Farben. Helle. Dunkle. Kaum eine Farbe harmonierte mit der anderen und er fragte sich, ob sie jemand absichtlich so verteilt hatte, damit nichts richtig zusammenpasste. Dadurch wirkte das Bild irgendwie sehr fröhlich, als hätten sie immer eine Menge Spaß, gerade weil sie so unterschiedlich waren.

Es war das Schaufenster zu einem Süßigkeitenladen, in das er hinein starrte. Ganz allein, von Stille umgeben, wartete er hier. Vor vielen, vielen Jahren hatte er schon mal hier gestanden, als Kind. Der Anblick war haargenau wie damals, sogar die Anordnung der Süßigkeiten, deren Farbenpracht ihn blendete. War das hier real oder eine Erinnerung? Wie war er überhaupt hergekommen?

„Was machst du da?“, sprach ihn jemand von der Seite an. Eine Frau.

Erschrocken schwenkte er den Blick zur Seite, aber da war niemand. Der Fußgängerweg führte nur in ein weißes Nichts, sah so aus, als hätte jemand das Bild auf einer Leinwand nicht zu Ende gezeichnet. Den gleichen Anblick gab es auf der anderen Seite und er bemerkte, dass er wirklich ganz allein war. Nicht mal Passanten waren zu sehen, auch kein Verkäufer im Süßigkeitenladen oder Kunden.

Nur er war hier. Vor diesem Schaufenster, in dem so viele bunte Farben zu sehen waren. Zögerlich hob er die Hände und legte sie auf das Glas, näherte sich mit dem Gesicht diesem Hindernis, in dem Glauben, dann könnte er sie besser sehen. Die Farben. All diese fröhlichen Farben, zwischen denen es für graue Trostlosigkeit keinen Platz gab.

Hier hatte er sie damals zum ersten Mal getroffen, Estera. Sie war fasziniert davon gewesen, dass er so beeindruckt durch das Schaufenster sah. Als einzige hatte sie sich zu ihm gestellt, von allen anderen Menschen war er ignoriert worden. An einem Kind, das vor einem Süßigkeitenladen stand, war eben nichts Besonderes. Erst recht nicht an einem Kind wie ihm.

Abgenutzte, alte Kleidung war schon immer ein Zeichen dafür, dass man aus armen Verhältnissen stammte. In seinem Fall war es auch noch Kleidung mit einem aufgenähten Symbol auf dem Rücken gewesen, bei dem es sich um das Logo für ein Waisenhaus handelte und in dem alle Kinder diese einheitliche Kleidung trugen. Hässliche, graue, trostlose und einheitliche Kleidung. Ein Stempel, damit jeder sofort Bescheid wusste. Betrübt lehnte er sich mit der Stirn gegen die Scheibe und seufzte, wodurch das Glas beschlug.

Jedenfalls hatte er mit Estera zusammen Stunden in das Schaufenster geschaut, für ihn hatte es sich so lange angefühlt und es war, bis dahin, die beste Zeit seines Lebens gewesen. Irgendwann waren sie ins Gespräch gekommen, auf Anhieb hatte es sich vertraut angefühlt. Sogar jetzt konnte er noch hören, wie viel sie gelacht hatten. Wie lange war es wohl schon her? Sein letztes Lachen.

„Luan!“, ertönte abermals eine Stimme, wesentlich lauter als eben.

Er löste sich von der Scheibe und hielt den Atem an, als er statt seinem eigenen Spiegelbild jemand anderes sah. „Estera!“

Keinen Zweifel, sie war es. Langes, blondes Haar. Warmherzige, grüne Augen. Nur ihre Stimme klang anders, als er sie in Erinnerung hatte. Nicht so ruhig und friedlich, nein, etwas jagte ihr höllische Angst ein. Panisch schlug sie gegen das Glas und schrie um Hilfe, flehte ihn förmlich ohne Unterlass an, sie aus diesem Gefängnis zu befreien.

„Estera!“

Kräftig fing auch er an gegen die Scheibe zu schlagen, dachte gar nicht erst darüber nach. Die ersten Risse ließen nicht lange auf sich warten. Rasch vermehrten sie sich, bildeten ein Spinnennetz. Einige Splitter fielen bereits herab. Mehr und mehr folgten, dann gab das Hindernis endlich restlos nach.

Er wollte nach ihr greifen, doch kaum hatte er das Glas gebrochen, war sie verschwunden und ließ nur ein tiefes, schwarzes Loch zurück, in das er hinein fiel.

Ich tue nur meine Pflicht

Allein das Rauschen war schon wie Musik in seinen Ohren, aber erst als Luan das kalte Wasser auch auf der Haut spürte merkte er, wie dringend er das gebraucht hatte. Es tat unbeschreiblich gut. So sehr, dass er die Augen schloss und durchatmete. Für einen Moment verweilte er regnungslos in dieser Position und entspannte seinen Körper.

Entspannung. Beinahe hätte er vergessen wie sich das anfühlte, so lange schien es her zu sein. Er lauschte dem Klang des laufenden Wasserhahns und drohte in einen Tagtraum abzudriften, der ihn an eine hohe Klippe führen wollte, mit einer beeindruckenden Aussicht auf ein weites, grünes Tal. Überdacht wurde dieser Anblick von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel und die Sonne schloss alles in eine warme Umarmung ein. Direkt von dieser Klippe floss ein Wasserfall in das Tal hinab, in dem Ruhe und Frieden herrschte.

Als er die Augen wieder öffnete, blickte Luan aber nicht auf ein Tal, sondern in sein eigenes Spiegelbild, das ihn ungläubig anstarrte. „Das war ... seltsam.“

Seltsam, weil er eigentlich schon seit langem, ja sogar Ewigkeiten nicht mehr dazu in der Lage gewesen war zu träumen, auch nicht im wachen Zustand. Sowieso war es ein mehr als befremdliches Gefühl, zu sehen, wie wach sein Spiegelbild aussah. Natürlich war die Müdigkeit, die sich im Laufe der letzten Jahre angesammelt hatte und ihm stets deutlich in sein Gesicht geschrieben stand, nicht vollständig verschwunden, doch er wirkte erholt. Genau so fühlte er sich auch.

Tatsächlich hatte er geträumt und konnte sich auch daran erinnern. Sein letzter Schlaf war von einem Traum begleitet gewesen, der sich vor diesem Süßigkeitenladen abgespielt hatte, wo er einst Estera traf. Im Grunde war das nichts, worüber man sich wundern musste oder gar aufgeregt sein sollte, aber für Luan war es etwas Besonderes, trotz des eher schlechten Ausgangs dieser Szene. Träumen war für ihn etwas, was er schon viel zu lange nicht mehr erfahren durfte und er hatte geglaubt, es nie wieder erleben zu können.

Zwar besaß er keinerlei Wissen darüber, wann und wieso genau er überhaupt in diesem Refugium eingeschlafen war, aber diese Frage war ihm bis jetzt auch noch gar nicht in den Sinn gekommen. Nach seinem Erwachen waren das Staunen und die Freude darüber, dass er wirklich einen Traum erlebt hatte, viel zu groß gewesen. Allmählich wurde ihm jedoch bewusst wie kindisch er sich benommen haben musste, als er Bernadette und Mara sofort begeistert davon erzählt hatte, ohne dabei richtig Luft zu holen.

Obwohl er einen tief sitzenden Groll gegenüber Bernadette hegte und sich hätte fragen sollen, wie Mara in diesen Riss gelangt war, hatte er sie beide einfach zugetextet – alles andere wurde als nebensächlich abgestempelt, zu diesem Zeitpunkt. Inzwischen hatte er sich aber beruhigt und war reichlich beschämt davon, wie er sich nur so unprofessionell verhalten konnte. Am liebsten würde er auf der Stelle im Erdboden versinken.

„In letzter Zeit läuft nichts wie gewohnt“, sprach er zu sich selbst und seufzte. „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Ein letztes Mal füllte Luan seine Handflächen mit Wasser, um sich damit das Gesicht zu waschen und drehte es anschließend ab. Mit einem Handtuch, das mehr als weich war, trocknete er sich ab und betrachtete nochmal sein Spiegelbild. Endlich war er dazu gekommen sich frisch zu machen, nun sah er wieder ordentlich und gepflegt aus, noch dazu erholt. Keine einzige Haarsträhne tanzte mehr aus der Reihe und er hatte sich auch rasieren können, was nötig gewesen war.

Bernadette hatte ihm dafür einige noch unbenutzte Sachen von ihrem Mann gegeben, der sie eh nie brauchen würde, weil er tot war, wie sie ihm sagte. Ihm war gleich der Name Edgar Maron durch den Kopf geschossen, der auf dem Foto in einem der Schlafzimmer stand und Luan war davon überzeugt, dass der Trugmahr in diesem Buchladen der Verstorbene Geist ihres Mannes sein musste. Darum hatte er ihn auch zu dem Siegel von diesem Refugium geführt, in dem seine Frau gefangen war. Edgar hatte gewollt, dass er Bernadette an seiner Stelle da rausholte.

Ich habe gar nicht gewusst, dass sie mal verheiratet war, dachte Luan und stützte sich mit den Händen auf dem Waschbecken ab. Davon hat sie damals nie ein Wort verloren.

Jeder Mensch hatte wohl so seine Geheimnisse, das vergaß er ab und zu ganz gern mal, obwohl es ein bekannter Spruch war. Nachdenklich hing er das Handtuch zurück auf die dafür vorgesehen Stange, die neben dem Waschbecken an der Wand befestigt war und räumte auch die restlichen Utensilien zurück dorthin, wo sie hingehörten. Irgendwie kam er sich dabei auf eine Art wie ein Narr vor, immerhin blieb Bernadette eine Verräterin und er sollte sie festnehmen, statt in ihrem Badezimmer die Ordnung zu wahren.

Dafür, dass die Wohnung im Obergeschoss des Buchladens sonst eher klein war, wirkte dieses Bad erstaunlich groß und dürfte, vom Schnitt des Gebäudes her gesehen, gar nicht hier reinpassen. Bei der Suche nach ihr war ihm das gar nicht aufgefallen, aber da hatte er ja auch nur Zeit für einen kurzen Blick gehabt. Vermutlich hatte Bernadette irgendwann mal ihre Traumzeit mitsamt Prägung genutzt, um diesen Raum ihren Wünschen anzupassen.

Soweit er wusste war sie auch eine von wenigen, deren Schöpfungen nicht wieder nach einiger Zeit verschwanden, sie blieben erhalten. Traumbrecher mit einer Schöpfer-Prägung gab es viele, aber es war beeindruckend, dass ihre ein solch konstantes Wesen besaßen. Generell beneidete Luan jeden mit dieser Art von Prägung, denn seine eigene stellte für ihn keinen großen Nutzen mehr dar, was ihn sehr ärgerte. Ausgerechnet Prägungs-Fähigkeiten konnten Traumbrecher nämlich auch ohne ihre Traumzeit anwenden, zwar nicht sonderlich wirksam, aber immerhin. In seinem Fall nützte es ihm nichts.

Durch ihre schöpferischen Fähigkeiten hatte Bernadette den Raum vermutlich so weit ausgebaut, dass hier eine große Eckbadewanne und zusätzlich eine Dusche Platz fanden. Das war gewiss ein Luxus, den man teilen konnte. Wozu sie aber zwei Waschbecken benötigte, die nebeneinander lagen, konnte er nicht nachvollziehen. Außerdem standen, für seinen Geschmack, zu viele Schränke in diesem Bad, wo allerhand Zeug aufbewahrt wurde, damit auch nichts fehlte. Zu hell war es ihm auch, die Farbe Weiß dominierte stark den Raum.

Was ihm aber positiv ins Auge sprang, war die Sauberkeit und die Ordnung. Übertriebene Reinheit brachte jede Fliese zum Glänzen und jedes noch so kleine Teil hatte seinen festen Platz. Offensichtlich war Bernadette das Badezimmer von allen Räumen am wichtigsten. Das würde mit absoluter Sicherheit der einzige Punkt bleiben, in dem sie sich ähnlich waren. Lange genug hatte er sich hier aufgehalten, es wurde Zeit diese Frau zur Rede zu stellen.

Schnellen Schrittes verließ er das Bad, lehnte die Tür nur leicht an und folgte dem engen Flur Richtung Treppe, um wieder ins Erdgeschoss zu gehen. Hoffentlich hatte sie die Gelegenheit nicht genutzt und sich aus dem Staub gemacht, daran hätte er schon viel früher denken sollen. Dieser Traum hatte ihn derart durcheinander gebracht und mit Gefühlen erfüllt, die er kaum noch kannte, dass er nachlässig geworden war. Von nun an sollte er sich wieder zusammenreißen.

Unten im Zwischenraum angekommen, wo ihn nur noch eine Tür von der anliegenden Küche trennte, hielt er kurz inne, als er Bernadettes Stimme hörte. Sie war also noch da und nicht einfach geflohen, aber mit wem unterhielt sie sich? Mit Mara? Langsam schlich er näher zur Tür, die ebenfalls nur angelehnt worden war, zu seinem Vorteil. Mara meinte zu ihm, dass dieser Buchladen hier ihren Arbeitsplatz und auch Wohnort beinhaltete, also interessierte es ihn natürlich, worüber die beiden sprachen.

Möglicherweise steckten sie zusammen unter einer Decke. Auszuschließen war das nicht, wenn man bedachte, dass Bernadette eine Verräterin und Mara allgemein ein viel zu großes Rätsel war. Konzentriert fing er an zu lauschen und konnte sich schnell auf die Stimme von Bernadette einstellen, die sehr aufgebracht klang. Eine Mischung aus Enttäuschung und Tadel sprudelte aus ihr heraus, während sie ihrem Ärger Luft machte.

„Darum geht es nicht, du hättest mir mal Bescheid sagen können!“, donnerte ihr lautes Organ durch die Küche. „Hast du eine Ahnung, wie ich mich gerade fühle?! Ich wäre echt gern darüber in Kenntnis gesetzt worden!“

Es folgte eine kurze Pause, ehe sie empört weitersprach. „Nein, vom Weihnachtsmann. Natürlich von dir, du verfluchter Zelot! Von wem denn sonst?!“

Noch eine Pause, diesmal fiel sie ein wenig länger aus als die vorherige, dafür war ihre Reaktion umso heftiger. „Ich habe dich schon verstanden, du musst es mir nicht nochmal vorkauen, zur Geißel nochmal! Die Frage bleibt trotzdem: Wieso weiß ich davon nichts?! Du hät-, äh, was? Ja, toll. Jetzt weiß ich es, schon klar! Aber viel zu spät! Wenn ich rauskriege, dass du das wieder nur aus rein geistlicher Onanie zugelassen hast, komme ich dich besuchen! Verlass dich darauf!“

Luan hob irritiert eine Augenbraue. Entweder schwieg Mara wie ein Grab, während sie von Bernadette so angeschrien wurde oder die telefonierte gerade mit irgendjemanden, über den sie sich tierisch aufregte. Das würde auch die Pausen zwischendurch erklären, in denen sie nichts sagte und Stille herrschte. Welche arme Seele wohl am anderen Ende hing? Da konnte man glatt Mitleid bekommen, so wie sie an die Decke ging.

„Ach, von wegen! Typen wie du und sich ändern?! Da fällt ja eher der Mond auf die Erde!“, fauchte sie und es folgte ein Geräusch, das Luan in den Ohren schmerzte. Ein hohes Quietschen, gefolgt von schweren Schritten. Bestimmt war sie soeben von einem Stuhl aufgestanden, dessen Beine über den Boden gerutscht waren. Auf einmal sprach sie wesentlich ruhiger weiter als vorher. „Egal, hast du soweit alles verstanden, was ich dir gesagt habe? Mir ist gleich wie du es anstellst, aber du musst irgendwas unternehmen. Mir sind seit damals die Hände gebunden, aber wir können unmöglich nur zuschauen.“

Jetzt schien es höchst interessant zu werden, so ernst wie sie klang. Neugierig drückte Luan sich noch dichter gegen die Wand neben der Tür und hoffte auf einige Details, die verrieten, wobei sie nicht zuschauen konnten. Dummerweise waren sie aber am Ende des Gesprächs angelangt und er hatte wohl den wichtigsten Teil, den Anfang und die Mitte, von diesem Telefonat verpasst, denn sie ging zu einer Verabschiedung über.

„Gut, ich verlass mich auf dich. Wir sollten besser auflegen“, sagte sie, jeglicher Ärger war wie weggeblasen. „Tut mir leid, dass ich laut geworden bin. Ich mache mir nur Sorgen.“

Erneut folgte eine Pause. Eine sehr lange Pause, die Luans Nerven nach und nach verpuffen ließ. Nur schwer konnte er den Drang unterdrücken die Küche zu stürmen, ihr das Telefon zu entreißen und herauszufinden, wer an der anderen Seite der Leitung saß. Dieser jemand musste in jedem Fall ein weiterer Verräter sein, wenn er mit Bernadette kooperierte, was auch immer sie genau planten. Konnte sich nur um was Schlechtes handeln.

Der Gedanke daran, dass demnach wahrscheinlich noch mehr Verräter unter ihnen rumliefen, machte ihn wütend und es erschreckte ihn, wie deutlich er dieses Gefühl in sich aufkochen spüren konnte. Sonst geriet er eher selten richtig aus der Fassung, konnte seinen Emotionen oft keinen richtigen Ausdruck verleihen und wenn, dann nur in einem gewissen Maß. Deshalb blieb er unter anderem in den Welten eines Alptraumes auch so ruhig und wurde nie von Angst heimgesucht. Gewohnheit und Training spielte aber auch eine Rolle, das wollte er gar nicht bestreiten.

Beunruhigt presste er sich eine Hand gegen die Brust, atmete tief durch. Mir wird ... so warm.

Möglicherweise war er zu gestresst. Ja, das konnte sein. Ferris und Luan hatten sich noch nicht auf ihre eigentliche Mission konzentrieren können, weil sie bisher nur mit allerhand Zwischenfällen beschäftigt waren. Erst tauchte Mara auf, gefolgt von einem Reinmahr und nun traf er eine alte Verräterin wieder, die unerlaubt eines der wertvollsten Schätze von Atanas in ihrem Buchladen beherbergte. Unter diesen Aspekten konnte nur Stress anfallen.

Ein Kichern riss ihn aus seinen Gedanken und sorgte dafür, dass er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Lauschen richtete. Klang, als hätte dieser Jemand am Telefon sie beruhigen können, sie schien von etwas berührt zu sein. „Nun, vielleicht habe ich mich ja in dir getäuscht. Danke dir.“

Nachdem eine letzte, sehr kurze Pause folgte, verabschiedete sie sich und hatte aufgelegt. Zumindest war danach nichts mehr zu hören. Bevor sie noch auf die Idee kommen könnte nach ihm zu sehen und ihn dann hier entdeckte, sollte er besser langsam mal die Küche betreten. Ohne länger zu zögern löste er sich von der Wand und schob die Tür auf, um zu ihr in den Raum zu gehen.

„Ah, Luan. Na?“, begrüßte sie ihn gleich, mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen. „Und? Fühlst du dich jetzt wieder besser? Du siehst schon mal danach aus, so heruntergekommen hatte ich dich gar nicht in Erinnerung.“

Ihre Bemerkung sorgte dafür, dass er den Blick abwandte und die Arme vor der Brust verschränkte. „So schlimm war es nun auch nicht.“

Ehrlich gesagt doch, für gewöhnlich ging Luan nur ungern mit zerzausten Haaren auf die Straße und durch die beiden Male, wo er traumlos geschlafen hatte, war ihm sein Zeitgefühl abhanden gekommen. Dass sich sogar schon langsam Anzeichen eines Bartes nach außen hin zeigten, war ihm gar nicht aufgefallen, bis Bernadette ihn, leider wenig dezent, darauf hingewiesen und ihm ihr Bad angeboten hatte. Wenigstens darüber musste er sich erst mal keine Gedanken mehr machen.

Prüfend ließ er den Blick durch die Küche schweifen, aber außer Bernadette und ihm war niemand anwesend, was ihn zu folgender Frage brachte: „Wo ist Mara?“

„Oben, in ihrem Zimmer“, antwortete sie und schüttete sich gerade Kaffee aus einer Kanne in die Tasse, die sie vorher aus einem der Hängeschränke geholt hatte. „Sie meinte, dass sie ein bisschen weiterlesen will. Willst du auch?“

Sie meinte den Kaffee, was Luan verneinte, indem er den Kopf schüttelte. Dieses Getränk hatte er noch nie gemocht und das würde sich auch in Zukunft nicht ändern. Danach bot sie ihm noch einige andere Möglichkeiten an, angefangen von Tee bis hin zu Säften und Milch, doch auch das lehnte er alles ab. Schließlich zuckte sie mit den Schultern, nahm mit ihrer Tasse Kaffee an dem Tisch Platz und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er sich auch setzen sollte.

Besonders angetan war Luan nicht davon, schon allein weil er immer noch Wut verspürte, aber da war auch etwas anderes. Mit ihr in so einer alltäglichen Umgebung zu sein, brachte auch andere, angenehmere Gefühle zum Vorschein und nur dank denen gelang es ihm sich auf dem Stuhl niederzulassen, der ihr gegenüber stand. Von der Entspannung, die er vorhin noch oben im Bad in sich getragen hatte, war spätestens jetzt nichts mehr übrig, denn sein Körper stellte sich bereits auf eine Auseinandersetzung mit ihr ein.

„Sie wollte also lesen?“, setzte Luan nochmal bei Mara an. „Etwa in dem Buch, das für menschliche Augen gar nicht bestimmt ist?“

„Beruhige dich“, erwiderte sie. Damit meinte sie sicherlich nicht nur seine gereizte Art, sondern auch die kampfbereite Körperhaltung. „Es nützt keinem von uns etwas, wenn du dich so aufregst.“

„Rede nicht so mit mir, als wolltest du mich erziehen“, brummte er abweisend. Bevor sie zur Verräterin geworden war, hatte sie sich ständig wie eine fürsorgliche Mutter um ihn gekümmert und dieses Verhalten war sie offenbar noch nicht losgeworden, obwohl inzwischen so viele Jahre vergangen waren. Die Zeiten hatten sich geändert. „Ich kann mich darüber nur aufregen. Du weißt genau, dass viel zu viele Geheimnisse in diesem Buch stehen und es sich deshalb gar nicht in der Menschenwelt befinden dürfte.“

Genüsslich nahm sie erst einen Schluck aus ihrer Tasse – also konnte er nicht mehr heiß sein, was darauf hindeutete, dass ihr Gespräch mit der Person am Telefon länger gedauert hatte. „Selbstverständlich weiß ich das. Darum würde ich ja auch nie einen Menschen in dieses Buch reinschauen lassen.“

Luan wurde hellhörig. „Heißt das, Mara ist kein Mensch?“

Also lag er von Anfang an richtig, dass etwas an ihr merkwürdig war. Allein die Tatsache, dass sie scheinbar eigenständig den Riss zu einem Refugium betreten konnte, schloss jegliche Zweifel aus. Diese Erscheinung von Estera blieb auch ein Punkt, den er nicht außer Acht lassen konnte, genau wie einige andere Dinge. Wenn sie kein Mensch war, was war sie dann? Von Bernadette erhoffte er sich eine Antwort, aber sie lachte nur.

„Also, wenn sogar andere Traumbrecher es nicht erkennen, dann ist sie wirklich was Besonderes. Das war mir sofort klar, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe.“ Abwesend starrte sie in ihre Tasse, ihr Lächeln bekam diese mütterliche Note, die Luan von früher her kannte und er musste sich zusammenreißen, sich nicht von diesem warmen Gefühl einnehmen zu lassen. „Mach dir wegen Mara keine Gedanken und lass sie ruhig das Buch lesen. Ich glaube, es könnte ihr weiterhelfen.“

Fassungslos schlug Luan mit einer Faust auf den Tisch und lehnte sich vor. „Selbst wenn sie kein Mensch ist, kann das nicht geduldet werden! Nicht mal wir Traumbrecher dürfen in dieses Buch reinschauen, weil es Wissen beinhaltet, das eine Macht in sich birgt, mit dem keiner umgehen könnte!“

Bernadette nahm ihn plötzlich eindringlich in Augenschein, als würde sie sich wegen etwas sorgen und versuchte schnell ihn zu beruhigen. „Es handelt sich bei dem Buch bloß um eine Kopie und nicht um das Original. Die Seiten, die eine mentale Veränderung des Lesers herbeiführen würden, sind in dem Band nicht enthalten, eben weil es nur eine Kopie ist, ohne den magischen Einfluss, den das Original ausüben kann.“

An dieser Erklärung überraschten Luan mehrere Dinge. Es war ungewöhnlich, dass sie so viel über dieses Buch wusste, von dem er noch keine Ahnung gehabt hatte. Von allen Traumbrechern war er am längsten im Geschäft, aber dass es angeblich Kopien von solch einem Machtwerk geben sollte war ihm neu und erschütterte ihn ein wenig. Mentale Veränderung und magische Einwirkung? Davon hörte er auch zum ersten Mal. Allerdings konnte er sich nicht darauf verlassen, dass sie ihm die Wahrheit sagte, also sollte er vorsichtig bleiben.

Luan kam nicht dazu, sein Misstrauen ihr gegenüber zu äußern, denn sie schnitt ihm vorher das Wort ab. „Außerdem, Luan, wenn du wirklich so pflichtbewusst bist, wie du tust, warum stürmst du dann nicht sofort nach oben und nimmst Mara das Buch ab? Worauf wartest du noch, wenn das Buch so verboten und gefährlich ist?“

Damit hatte Bernadette einen Volltreffer gelandet. Richtig, worauf wartete er überhaupt? Original oder Kopie, in beiden Fällen war es gegen die Regeln irgendjemanden, außer Atanas, dieses Buch lesen zu lassen. Ein guter Traumbrecher hätte sich längst darum gekümmert und das Buch sichergestellt, es an sich genommen, aber er hatte es bisher einfach bei Mara gelassen. Er senkte den Kopf, fühlte sich schlecht.

Ich bin wirklich ein schlechter Traumbrecher, kritisierte er sich, in Gedanken. Ich hätte Bernadette längst festnehmen und Mara das Buch wegnehmen sollen. Seit wann arbeite ich so schlampig?

Gedankenverloren blickte er an Bernadette vorbei zum Fenster, wo es draußen schon Abend wurde. War etwa wirklich schon wieder so viel Zeit verstrichen, dass es bald dunkel sein würde? Es war beschämend, dass so viele Stunden vergangen waren und sie nicht einen nennenswerten Erfolg zu verzeichnen hatten. Sollte das Hauptquartier davon erfahren, wie würden sie reagieren? Bestimmt durfte er sich von den anderen Traumbrechern dann anhören, wie nutzlos er war und nicht mal einer Frau ein Buch abnehmen konnte.

Mara hatte sich so sehr an dieses Buch geklammert. So sehr, als wäre es einer ihrer größten Schätze, den es zu beschützen galt. Er wäre sich wie ein Verbrecher vorgekommen, es ihr zu entreißen. Solange sie es nicht las, war es noch in Ordnung gewesen, aber jetzt sollte er handeln. Regeln mussten befolgt werden, da konnte und durfte er keine Rücksicht nehmen. Auf niemanden. Sein Blick verfinsterte sich und er stand auf, die Hand glitt bereits ins Innere seiner Manteltasche, aus der er seine Taschenuhr hervor zog.

Wie üblich kleidete sogleich ein hellblauer Farbschleier alles aus und gab die Sicht auf Aureuph frei, in der auch der Trugmahr wieder sichtbar wurde. Die leuchtenden Kugeln schwebten um Bernadette herum, als wollten sie sie beschützen und ihr nahe sein. Mit dem Wissen, dass es sich um ihren Mann handelte, der ihr selbst nach dem Tod nicht von der Seite wich, fiel Luan sein folgendes Handeln nicht unbedingt leicht. Auch der Gedanke daran nicht, diesen Trugmahr melden zu müssen.

Er öffnete den Sprungdeckel und nahm seine Pistole zur Hand, die wie immer aus einem grellen, weißen Licht hervorkam. Rasch legte er die Uhr um seinen Hals, dann richtete er die Waffe auf Bernadette. „Wir haben genug geredet. Ich nehme dich hiermit fest.“

„Tu das nicht, Luan“, entgegnete sie. Statt ernst zu werden und sich bedroht zu fühlen, spiegelte sich Mitgefühl in ihrem Gesicht wider. „Wir wissen beide, dass du bei weitem nicht mehr die Fähigkeiten besitzt, um mich schlagen zu können.“

„Weiß ich“, bestätigte er, doch sein Griff um die Pistole wurde noch stärker. „Und es ist mir egal. Ich tue nur meine Pflicht. Ich lasse eine Verräterin ganz bestimmt nicht frei rumlaufen.“

In der Tat hatte es keinen Sinn mit dieser Waffe auf sie zu zielen. Jeder wusste, dass Traumbrecher nicht von Alpträumen befallen werden konnten und daher würde es nichts bringen, eine Energiekugel auf sie abzufeuern. Energien konnten sich nicht gegenseitig neutralisieren, höchstens verbinden. Bei ihr würde ein Schuss also rein gar nichts bewirken. Selbst wenn sie einen Alptraum in sich tragen würde, könnte er diesen dadurch nur von ihr lösen und seine Gestalt nach draußen zwingen.

Viele andere Optionen hatte Luan aber auch nicht zur Auswahl, da er wirklich sehr eingeschränkt war in seinen Fähigkeiten. Und doch blieb er entschlossen, was Bernadette nicht so leicht hinnehmen wollte. Zwar blieb sie seelenruhig auf ihrem Stuhl sitzen, machte aber auch keine unbedachten Bewegungen mehr. „Lass es sein. Ich will nicht, dass du verletzt wirst.“

„Schön, dann lass dich einfach von mir festnehmen, damit ich dich ausliefern kann“, reagierte er kalt. Seine Augen waren fest auf sie fixiert. „Wird Zeit, dass du für deine Taten bestraft wirst.“

Eisern erwiderte sie seinen Blick, sagte zunächst nichts darauf. Die Atmosphäre zwischen ihnen war angespannt, mehr als das. Ihr war anzusehen, dass sie im Kopf gerade alle möglichen Mittel und Wege durchging, die ihr aus dieser Situation helfen könnten. Irgendwie erwartete Luan eine dieser schwachen Ausreden, wie sie oft von solchen Leuten zu hören waren. Von wegen sie hätten einen guten Grund für ihr Handeln gehabt, aber Bernadette schien zu wissen, dass solchen Aussagen bei ihm der absolut falsche Weg waren.

Irgendwann erhob sie sich ebenfalls von ihrem Platz, möglichst langsam. In ihren blauen Augen lag ein Schimmer, den er nicht genau deuten konnte. War es Trauer? Verzweiflung? Oder Hoffnung? Was auch immer es war, er ließ sich davon nicht beeinflussen und hielt weiterhin die Waffe auf sie gerichtet, so sinnlos das auch war. Dieses Bild brachte Bernadette zum Seufzen, was bei ihr in der Regel kein gutes Zeichen war.

„Vielleicht mache ich jetzt einen riesigen Fehler“, begann sie und schüttelte den Kopf. „Aber da es sowieso schon zerbrochen ist, macht es kaum noch einen Unterschied.“

Wovon redete sie? Er verstand kein Wort, konnte aber auch nicht nachfragen, weil sie plötzlich anfing zu singen. Verwirrt lauschte er ihrem Gesang, der sich klar und ruhig anhörte. Den Text konnte er nicht verstehen, da sie eine Sprache verwendete, die er nicht kannte. Je länger sie sang, desto lauter schien ihre Stimme zu werden, sich direkt in seinen Kopf vorzuarbeiten. Verursachte einen Schwindel, der sich seltsam angenehm anfühlte, als würde er mit dem Geist in ein Meer eintauchen und davon getragen werden.

Ja, das Hellblau schien sich vor seinen Augen tatsächlich zu einem Meer zusammenzuschließen und ihn von ihrem Gesang fortzutragen. Nach und nach wurde es wieder leiser, drang bald nur noch als ein weit entfernter Nachhall zu ihm durch. Ein ohrenbetäubendes Klirren riss ihn dann aus seiner Trance, ließ ihn panisch nach Luft schnappen, als hätte er Atemnot. Gleichzeitig löste sich etwas von ihm, das tief in seinem Inneren verborgen lag. Etwas, das eine Lücke zurückließ.

Emotionen brachen durch diese Lücke nach außen, erwachten aus einem langjährigen Schlaf, begleitet von Bildern. Rasend schnell zogen sie an seinem inneren Auge vorbei, besaßen keinen Zusammenhang. Noch nicht. Und der Gedanke daran, dass sie sich zu einem Film zusammenschließen könnten, machte ein bestimmtes Gefühl ganz besonders lebendig, das er zu lange nicht mehr verspürt hatte. Er konnte dem nicht standhalten.

„HÖR AUF!“, schrie Luan und feuerte aus Reflex einen Schuss aus seiner Pistole ab.

Der Knall ließ ihn aufschrecken. Mehrmals musste er blinzeln, bis sich das Meer um ihn herum auflöste und das Hellblau seine alte Form zurückgewann. Sein Herz raste wie verrückt, hämmerte wie ein Kind gegen seine Brust, das sich vor etwas fürchtete. Angst. Das war eindeutig Angst. Es schnürte ihm die Kehle zu, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Wo kam dieses Gefühl auf einmal her? Was trieb Bernadette hier mit ihm?

Völlig regungslos stand sie da, nicht ein einziger Muskel rührte sich mehr. Kein weiterer Laut verließ ihre Kehle. Ihr Kopf hing schlaff nach unten. Statt sich zu sammeln und sie nochmal anzusprechen tat Luan etwas, was keinen Sinn machte: Er drehte sich um und rannte weg. Getrieben von dem Trommeln in seiner Brust, das nicht länger in diesem Gebäude bleiben wollte. Weg von dieser Frau und diesem geheimnisvollen Gesang, mit dem sie in seinen Geist eingedrungen war. War sie das wirklich? Was hatte sie getan?

Luan dachte nicht weiter drüber nach, sondern rannte einfach. Aus der Küche in den vorderen Verkaufsbereich des Buchladens und auf die Straße hinaus, in die kühle Herbstluft.

Ich hatte keine Ahnung (Teil 1)

Die kalte Luft hatte sofort eine positive Auswirkung auf Luan und sorgte wieder für etwas mehr Klarheit in seinem Kopf. Trotzdem rannte er einfach blind weiter, direkt auf die Straße zu, aber kurz davor prallte er mit seinem Körper plötzlich gegen ein Hindernis. In seiner panischen Flucht aus dem Buchladen schien er gar nicht wahrgenommen zu haben, dass ihm etwas oder jemand im Weg stand.

„Hoppla!“, kam es überrascht von einem Mann, gegen den er soeben gestoßen war. Der hielt diesem Zusammenprall mühelos stand und konnte Luan sogar noch rechtzeitig an den Schultern festhalten, als er rückwärts nach hinten zu fallen drohte. „Hey, wieso hast du es so eilig? Du verletzt dich noch.“

„Ferris?“, erwiderte Luan ebenso überrascht und blickte zu dem Mann auf.

Keinen Zweifel, es war tatsächlich Ferris, an der Stimme hatte er ihn gleich erkannt. Warum war er hier? Naola wollte sich doch mit ihm unterhalten oder war dieses Gespräch etwa schon längst über die Bühne gegangen? Gut möglich, genug Zeit war inzwischen ja schon vergangen und offenbar wollte Ferris nun zu ihm stoßen, also hatte er sich eigenständig hierher begeben. Irgendwie erfüllte es Luan mit Erleichterung, seinen Arbeitskollegen zu sehen, was schon lange nicht mehr vorgekommen war.

Erst blieb er aber von dem Anblick verwirrt, denn Ferris trug die Haare offen und nicht mehr zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. An sich war das nichts besonderes, nur hatte er ihn ewig nicht mehr so rumlaufen sehen, wenn überhaupt. Eigentlich konnte er sich nicht daran erinnern, ihn jemals mit offenen Haaren gesehen zu haben, deshalb war es auch so ungewohnt. Neben dieser äußerlichen Veränderung gab es noch mehr, was an Ferris nicht so recht stimmte.

Noch immer hielt er ihn an den Schultern fest, obwohl es nicht mehr nötig wäre und er durchaus alleine stehen konnte. Eindringlich blickte sein braunes Augenpaar ihn an und entweder bildete Luan sich das nur ein oder es war auf einmal heller als sonst, ging von der Farbe her leicht ins rötliche über. Seine Verwirrung wurde größer, konnte sich jedoch nicht gegen die Angst durchsetzen, die noch in ihm steckte und sein Herz weiterhin schneller schlagen ließ als gewöhnlich.

Abgesehen von diesen Dingen war Ferris wie immer, so schien es jedenfalls. Etwas an ihm fühlte sich seltsam fremd an, doch dem konnte Luan anfangs kaum Beachtung schenken. Er war im Moment generell zu durcheinander und innerlich aufgewühlt, wodurch nicht auszuschließen war, dass ihm gerade die Einbildung nur einen Streich spielen wollte. Diese Vermutung wurde aber auch schon durch den folgenden Satz zerstört, den Ferris nachdenklich vor sich hin murmelte.

„Nanu? Wer hat denn die Atemhypnose bei dir gebrochen?“

Unter Traumbrechern wurde alles, was mit Gefühlen und Energie im Zusammenhang stand, also die Seele mit all ihren Bestandteilen, als Atem bezeichnet. Daher wusste Luan auch etwas mit dem Begriff anzufangen, nur fragte er sich wie Ferris auf einmal darauf kommen konnte. Dank diesem Einwurf bekam er aber immerhin eine Ahnung, was Bernadette gerade mit ihm gemacht haben könnte, auch wenn es nicht möglich sein durfte. Dazu würden ihr nämlich die nötigen Fähigkeiten fehlen, zumindest dachte er das, bis heute.

Eine Atemhypnose konnte nur durch Traumbrecher mit der entsprechenden Prägung durchgeführt werden. So wie Alpträume mit ihren Fähigkeiten in die vier Kategorien Schöpfer, Koloss, Schall und Atem eingeteilt wurden, galt das auch für die Prägung bei den Traumbrechern, durch die sie eine gewisse Individualität erlangten. Nur jene mit einer Schall-Prägung konnten eine sogenannte Atemhypnose durchführen, aber Bernadettes Fähigkeiten lagen im Bereich der Schöpfer. Wie sollte sie also dazu in der Lage sein?

Außerdem müsste Luan demnach ja irgendwann mal von jemandem mit einer Atemhypnose belegt worden sein, wovon er nichts wusste. Alle Details kannte er nicht, aber so etwas wurde meistens bei einem Traumbrecher durchgeführt, um dessen Gefühle zu kontrollieren, sollte der Probleme damit haben. Manche waren nicht dazu in der Lage ihre Angst im Angesicht eines Alptraumes vollkommen zu unterdrücken, in solchen Fällen half ihnen diese Methode dabei aus.

Er selbst hatte so etwas nie nötig gehabt oder doch? Selbst wenn hätte er vorher dafür sein Einverständnis abgeben müssen, ein solches war bei ihm nie erfragt worden. Moment, bedeutete das etwa, seine Gefühle waren wirklich durch eine Atemhypnose manipuliert worden? Das würde erklären, wieso er wieder Angst empfinden konnte, doch das war zu absurd. Daran hatte er aus eigener Kraft gearbeitet, also wollte er das nicht glauben. Und woher sollte dann ausgerechnet Ferris davon wissen?

Dem entging nicht, wie intensiv diese Information in Luans Kopf verarbeitet wurde, die er ihm gegebene hatte und anscheinend war ihm das nicht so recht. Folglich versuchte er davon abzulenken und hielt ihn dabei nach wie vor fest. „Bist du mit allem fertig geworden, was du hier tun wolltest?“

Halb abwesend realisierte Luan, dass der Blickkontakt zwischen ihnen noch anhielt und es langsam unangenehm wurde, aber er konnte auch nicht wegsehen. Das Gefühl der Angst war noch da und deshalb wollte er die Augen nicht von seinen abwenden, weil Ferris ihm ein bisschen Sicherheit gab, so merkwürdig der sich auch benehmen mochte.

„Nicht ganz“, antwortete er leise.

„Nicht ganz?“, wiederholte Ferris und neigte den Kopf leicht zur Seite. „Hast du dieses Buch etwa nicht gefunden?“

Luans Augen weiteten sich. Das Buch. Er hatte es immer noch nicht sichergestellt und war stattdessen einfach abgehauen. Zu der Angst gesellten sich nun einige andere Gefühl hinzu, ließen seine Brust schwer werden. Ihm wurde wieder so warm, dabei war es nach wie vor kühle Herbstluft, die seine Lungen füllte. In seinem Inneren herrschte Unruhe und ein Teil der Emotionen blieb hinter den anderen zurück, als würden sie in einer Art Netz hängenbleiben, in dem nun ein Loch klaffte.

Der andere Teil wandelte sich in Hitze um, seine Sicht begann allmählich zu flimmern und er rieb sich keuchend die Augen. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht, was er auch Ferris mitzuteilen versuchte. „Ich wollte mich ja darum kümmern, aber irgendwie läuft momentan nichts mehr so, wie es sollte.“

Statt auf seine Worte einzugehen, machte Ferris für sich selbst eine Erkenntnis, auf die er wohl gekommen war, während er Luan beobachtet hatte. „Oh je, da war wohl kein Profi am Werk, was? Ist dir heiß?“

„Was?“, reagierte Luan irritiert und sah ihn wieder an, konnte ihn aber nur verschwommen erkennen.

Sämtliche Klarheit, die ihm die frische Luft eingebracht hatte, wurde durch diese Hitzewelle und einen Gefühlsstau getrübt. Luan konnte kaum noch richtig denken, ihm drohten die Sinne vollkommen abhanden zu kommen. Reinste Verwirrung herrschte in seinem Kopf und zu allem Überfluss benahm Ferris sich auch noch so seltsam, das bewies er durch seine nächste Aktion nochmal zusätzlich.

Ferris löste seine Hände von Luans Schultern und legte nun einen Arm um diese, kam dichter an ihn heran. Neben ihm beugte er sich so weit zu ihm runter, dass er ihm ins Ohr flüstern konnte. „Würdest du dich gefälligst noch etwas zusammenreißen?“

Das war eindeutig eine Drohung, die Ferris soeben ausgesprochen hatte, aber Luan glaubte nicht, dass sie an ihn gerichtet war. An wen dann? Eine derart eisige Stimmlage erlebte er zum ersten Mal von Ferris, es jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Solch eine Tonlage kannte er bisher nur von Vane, umso mehr gefiel es ihm nicht. Ehe er sich aber dazu in irgendeiner Weise äußern konnte, zog sich die Hitze so blitzschnell zurück, dass ihm kurzzeitig schwindelig wurde und Ferris ihm Halt geben musste. Zurück blieben nur noch die wirren Emotionen, doch diese eine Last war von ihm genommen worden, wie durch Zauberei.

„Besser?“, wollte Ferris wissen und drückte ihn noch mehr an sich, als wollte er ihn trösten.

Erstaunt sah Luan ihn an und konnte ihn wieder glasklar erkennen, er hatte also seine normale Sicht zurück. „Ja. Besser.“

Das Gefühlschaos war wesentlich besser zu ertragen, wenn man vor lauter Hitze nicht den Verstand zu verlieren drohte. Dennoch fühlte sich seine Brust schwer wie Blei an und in seinem Inneren spielte alles verrückt. Wenigstens hatte er jetzt einigermaßen Platz im Kopf, um sich zu fragen, was mit Ferris los war. Seit er mit ihm zusammengestoßen war hatte er Fragen gestellt, deren Ursprung Luan nicht nachvollziehen konnte und wissen wollte, wie er auf sie gekommen war.

„Wie hast du?“, begann er und stockte, um nochmal anders anzufangen. „Ich meine, woher wusstest du, dass-“

„-du vor lauter Hitze zergehst?“, beendete Ferris seinen Satz und musste schmunzeln. „Wer mitten in einem kalten Herbst wie diesen so sehr schwitzt wie du, dem muss heiß sein, oder?“

Zögernd strich Luan sich mit einer Hand über die eigene Stirn und stellte fest, dass er wirklich schwitzte. Kein Wunder, der Grad der Hitze war nicht niedrig gewesen. „Und wie hast es angestellt, dass es aufhört?“

„Was?“

„Die Hitze.“

„Ich soll etwas gemacht haben, damit sie verschwindet?“, erwiderte Ferris und sah ihn besorgt an. „Du bist gerade ziemlich durcheinander, kann das sein?“

Jetzt wurde Luan unsicher. Ja, er war durcheinander. Lag es wirklich daran? Überfordert senkte er den Kopf und bettete ihn in seinen Händen, Kopfschmerzen bahnten sich an. So hatte er sich noch nie gefühlt, er wollte einfach nur dass die Ruhe wiederkehrte und dieser Sturm an Emotionen zurückging, besonders das Herzrasen machte ihn verrückt. Wie konnte er das abschalten? Sollte er doch zurückgehen und Bernadette zur Rede stellen?

„Hör zu, ich mach dir einen Vorschlag“, fuhr Ferris fort. „Lass uns zurück zum Hotel fahren, damit du dich für heute ausruhen kannst. Das Buch kannst du auch noch morgen holen, auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an, findest du nicht?“

Richtig war das nicht. Natürlich wusste Luan, dass er das Buch holen musste und auch Bernadette nicht einfach so ignorieren durfte, aber dieser Vorschlag klang so gut. In diesem Augenblick bevorzugte er es, seine Pflichten hinten anzustellen und erst zu seiner Ruhe zurückzufinden. Dieses Chaos in seinem Inneren loszuwerden, egal ob dahinter nun eine Atemhypnose stecken mochte oder nicht.

Deshalb wehrte er sich auch nicht, als Ferris ihn bereits mit sich Richtung Auto schob, mit dem er hergekommen sein musste. Also hatte Naola ihr Versprechen gehalten, sonst wäre Ferris nicht wieder im Besitz seines Wagens. Auch daran stach Luan etwas ins Auge, was seine ohnehin große Verwirrung weiter anfachte: Es war komplett schwarz lackiert. Zuletzt war es doch noch knallrot gewesen, genau wie die Decke im Kofferraum, oder?

Kaum hatte Ferris den Wagen aufgeschlossen, führte er Luan auch schon auf die Seite des Beifahrers, wo er die Tür öffnete und ihn in den Sitz drückte. Er half ihm sogar noch dabei seinen Gurt anzulegen, bevor er sich auf die Fahrerseite begab und dort selbst einstieg. Kurz darauf fuhr das Auto auch schon los und Luan wagte es in den Seitenspiegel auf seiner Seite zu sehen, weil er einen letzten Blick auf den Buchladen werfen wollte. Nicht mal eine Sekunde später stieß er einen erschrockenen Laut aus.

Schwarz. Im Spiegel war nichts zu sehen, außer Schwärze. Überall, nicht nur im Seitenspiegel, wie Luan dann feststellen musste. Vorne. Hinten. Komplett schwarz. Das Auto war vollständig von einem tiefen Schwarz umgeben, nichts anderes war mehr zu sehen. Nicht mal Straßenlaternen, also konnte es sich um keine natürliche Dunkelheit handeln, zumal es auch noch nicht Nacht gewesen war. Ein Alptraum war auch nicht in der Nähe, sonst hätte Luans Ablagerung längst reagiert. Es sei denn, es handelte sich um einen Reinmahr, aber zwei so nah beieinander wäre ungewöhnlich.

Luan wollte Ferris dazu auffordern sofort anzuhalten, aber ihm stieg ein Rauch in die Nase, durch den er anfangen musste zu husten. Bald hatte sich ein grauer Schleier im gesamten Innenraum des Wagens ausgebreitet und der Hustenreiz wollte gar nicht mehr aufhören. Schützend legte Luan einen Arm vor Mund und Nase, in der Hoffnung dadurch weniger von diesem Rauch einzuatmen, was nur mäßig half. Sein Blick schnellte zu Ferris rüber und offenbarte, dass er den Hustenanfall ihm zu verdanken hatte.

Genüsslich zog Ferris an einer Zigarette. Verstört starrte Luan ihn an und konnte seinen Augen kaum trauen. Vor langer Zeit hatte Ferris ihm zuliebe das Rauchen aufgegeben, weil er genau wusste wie empfindlich er darauf reagierte und es nicht leiden konnte. Wann hatte er sich diese Zigarette angezündet? Schlimmer war jedoch, dass er seine Hände nicht am Steuer hatte, sondern eine zum Rauchen nutzte und die andere als Kissen hinter den Kopf gelegt hatte. Gemütlich saß er zurückgelehnt in seinem Sitz und sah geradeaus nach draußen in die Schwärze, als gäbe es dort eine Menge zu sehen.

Normalerweise hätte Luan längst nach seiner Taschenuhr gegriffen, nur hinderte ihn das nervöse Zittern seines Körpers daran, das ihn heimsuchte. Auch seine Sprache schien er verloren zu haben, deswegen konnte er Ferris einfach nur weiter entsetzt anstarren. In ihm drehte sich alles und er wusste nicht, was er tun sollte. Was überhaupt hier los war. Tränen sammelten sich in seinen Augen und er war sich nicht mal sicher, ob es nur an dem Rauch lag, der ein unangenehmes Brennen verursachte.

„Meine Güte“, gab Ferris schließlich amüsiert von sich, nur nicht auf die fröhliche Art, wie es sonst bei ihm der Fall war. Diesmal schien er sich über ihn lustig zu machen. „Ich hatte ganz vergessen was für ein armseliger Anblick du sein kannst, ohne diese Atemhypnose. Muss schlimm für dich sein, huh? Mach dir nichts draus, sie waren eben lange weggeschlossen, daher reagierst du jetzt auch so empfindlich auf alles. Das vergeht bald.“

Von dem was Ferris sagte verstand Luan kein Wort und wurde von Ratlosigkeit überfallen. Hustend hakte er nach. „Was meinst du?“

„Na, den Emotionsschub, den du gerade durchmachst.“ Ohne den Blick auf ihn zu richten, sprach er weiter und seine Mimik blieb amüsiert. „Ich weiß ja nicht, was Bernadette sich dabei gedacht hat, aber leicht macht sie es dir damit nicht.“

„Woher weißt du das?“ Nervös drückte Luan sich mit dem Rücken tiefer in den Sitz hinein und nahm den Arm wieder runter, da es kaum etwas brachte. „Woher weißt du, dass ich Bernadette getroffen habe? Ich habe es noch niemandem erzählt.“

Nicht nur das, wie hatte Ferris den Weg zum Buchladen überhaupt finden können, ohne Mara oder Luan? Darüber musste er sich gar nicht erst den Kopf zerbrechen, weil Ferris sich offen zeigte und zugab, dass er ihn erwischt hatte.

„Huch~. Wie dumm, da habe ich mich wohl jetzt verraten“, tat Ferris so, als wäre er überführt worden und nahm einen weiteren Zug von der Zigarette. Den Rauch pustete er stückchenweise mit einigen Abständen zueinander aus, bevor er den Kopf in seine Richtung drehte und grinste. „Ich habe ihr schon vor etwa zwei Tagen einen Besuch abgestattet und halte mich seitdem in der Gegend hier auf. Leider war sie nicht besonders erfreut darüber, mich zu sehen.“

Vor zwei Tagen? Das konnte überhaupt nicht sein, da waren sie schon zusammen unterwegs gewesen. Hierbei konnte es sich nicht um den wahren Ferris handeln, nur mit wem oder was hatte es Luan hier dann zu tun? Und wo war er? Fühlte sich an, als würde das Auto noch fahren, dabei hatte Ferris nicht mehr die Hände am Steuer. Panik erfasste ihn, in der er mit der Hand in seine Manteltasche greifen und endlich seine Taschenuhr zum Einsatz bringen wollte, doch er kam nicht dazu.

Mitten in der Bewegung fing Ferris ihn ab, indem er ihn mit der freien Hand an seinem Unterarm packte und sich näher zu ihm beugte, was ihm möglich war, da er sich nicht angeschnallt hatte. Dadurch machte er sich erst recht verdächtig, nur half Luan diese Einsicht nicht weiter, solange er nicht an seine Uhr rankam und sich nicht wehren konnte.

„Das solltest du nicht tun, mein Freund“, warnte er ihn in einem Flüsterton und drückte so fest zu, dass Luan vor Schmerz mit den Zähnen knirschte. „Ich bin hier, um dir ein faires Spiel vorzuschlagen und das hast du nur meinem Wirt zu verdanken, weil er dich so sehr mag. Also mach besser keine Dummheiten oder ich könnte mich kurzfristig umentscheiden.“

Der Griff um seinen Unterarm lockerte sich ein wenig, so dass der Schmerz nachließ und plötzlich huschte ein sanftes Lächeln über Ferris‘ Lippen. „Außerdem mag ich keine Taschenuhren. Sie sorgen immer nur für Streit, das ist sooo furchtbar.“

Schwer atmete Luan ein und aus, musste hart schlucken. „Wer bist du?“

„Das ist der falsche Ansatz.“ Das Lächeln hielt an, verlor auch nicht seine positive Ausstrahlung. Angesichts dieser Situation kam es trotzdem unheimlich rüber. „Deine Frage müsste eher lauten: Was bin ich?“

Jetzt war also endgültig klar, dass es sich hierbei nicht um den richtigen Ferris handelte. Ein Alptraum kam eigentlich auch nicht in Frage, dafür war diese Gestalt zu menschlich in ihrem Verhalten. Vielleicht ein Dämon? Dann hätte Luan ein gewaltiges Problem am Hals, aber auch da sorgten einige Punkte für Zweifel. Gegen eine dämonische Form wäre er auch vollkommen hilflos, also wollte er diese Möglichkeit nicht in Betracht ziehen. Für Dämonen waren andere Jäger zuständig, schon allein weil Traumbrecher nicht die nötigen Fähigkeiten gegen diese Feinde vorweisen konnten und Luan selbst in seinem Fachgebiet schon ziemlich eingeschränkt war.

Eine neue Rauchwolke wehte ihm entgegen, genau ins Gesicht und löste wieder einen Hustenreiz bei ihm aus. Offenbar wollte Ferris ihn damit aus seiner Gedankenwelt zurückholen, in die er abgedriftet sein musste. „Du bist ganz schön unhöflich, Luan. In einem Gespräch sollte man aufmerksam bleiben und nicht in geistige Abwesenheit geraten.“

Der Husten hielt an und hinterließ erste Spuren im Hals, die das Schlucken unangenehm werden ließen. Es war lächerlich darauf zu hoffen, dass dieser Typ ihm diese Bitte erfüllen würde, aber Luan ließ es auf einen Versuch ankommen. „Könntest du die Zigarette ausmachen?“

„Mal sehen. Wenn du jetzt aufpasst und mir zuhörst, dann bin ich eventuell so nett“, ging Ferris auf diese Bitte ein und ließ seinen Arm los, um sich wieder anständig in seinen Sitz zurücklehnen zu können. „Sei also schön brav und bleib einfach ruhig sitzen, verstanden?“

Widerwillig stimmte Luan dem mit einem Nicken zu, was seinen Gesprächspartner überaus zufrieden stimmte und ihn dazu brachte weiterzusprechen, ohne ihn vorher mit einer Pause auf die Folter zu spannen. „Geißel dürfte dir ja ein Begriff sein, nicht wahr?“

Natürlich wusste Luan, was eine Geißel war: Die mächtigste und finale Form aller Alpträume, allerdings galten sie bloß als Legende, da geschichtlich keine Begegnungen oder gar Kämpfe mit dieser Art festgehalten worden waren. Viele hochrangige Alpträume wurden zu Dämonen, wenn es den Traumbrechern nicht gelang sie rechtzeitig zu vernichten, ausgenommen war die Geißel. Den Grund dafür hatte man noch nicht herausgefunden, schließlich war nicht mal sicher, ob es diese Form in Wirklichkeit gab, auch wenn die Erzählungen über sie ja irgendwoher stammen mussten.

„Tja, du darfst dich glücklich schätzen“, sprach Ferris weiter und sah ihn gespannt an. „Du hast gerade das Vergnügen mit einer. Ich bin eine Geißel.“

Statt Hitze schoss nun Kälte durch Luans Körper. Wie versteinert saß er da und blickte angeblich in die Augen einer Geißel, die anfingen rot zu glühen. In ihnen verbarg sich ein tiefer Abgrund aus Hass, der nach den letzten Worten freigelegt worden war. Abscheu hatte das Lächeln förmlich in Stücke gerissen und sich den Thron in der Mimik seines Herren zurückerobert. Innerhalb von Sekunden vollzog Ferris, diese selbsternannte Geißel, in seiner Ausstrahlung eine so extreme Wandlung, dass Luan nicht mal mehr wagte zu blinzeln. So viel Bosheit hatte er selten bei einem Alptraum erlebt und er fragte sich, wie es diesem Exemplar bisher gelungen war sie so gut zu verstecken.

Das schwere Gefühl in seiner Brust wurde fast unerträglich und doch schaffte Luan es irgendwie, dass seine Stimme nicht in diesem Wirbel der Emotionen verloren ging. „Eine Geißel?“

„Ganz recht“, bestätigte er, der Klang seiner Stimme war nun deutlich tiefer als vorher. „Ich bin der Grund dafür, warum ihr hierher in diese Stadt geschickt wurdet.“

In dem Punkt lag das Hauptquartier also goldrichtig, dass es sich diesmal um einen großen und vor allem gefährlichen Einsatz handelte. Ob dieser Ferris hier die Wahrheit sagte, stand zwar noch nicht fest, aber bei der Bosheit, die er ausstrahlte, musste er zweifelsohne ein Feind sein. Mühevoll versuchte Luan den Sturm zu ignorieren, der in ihm wütete und ihn zu lähmen versuchte, denn er wollte erneut versuchen an seine Taschenuhr ranzukommen. Trotz dem steifen Gefühl in seinen Gliedern huschte seine Hand bereits unter den Mantel, weiter kam er aber auch nicht.

Sein Gurt hatte sich plötzlich in mehrere weitere Bänder aufgeteilt und die schlangen sich kreuzförmig um ihn herum, um ihn komplett an den Sitz festzubinden, ohne jegliches Zutun von Ferris. Vermutlich waren sie nur durch seinen Willen gelenkt worden, eine andere Erklärung fiel ihm spontan nicht ein. Sie zogen sich so fest zu, dass er nur noch mäßig Luft bekam und anfing zu keuchen.

„Ich hatte dir doch gesagt, dass ich diese Taschenuhren nicht ausstehen kann. Hörst du nicht zu?“, kommentierte Ferris dieses Verhalten und nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, ehe er fortfuhr. „Du kannst dich entspannen, noch habe ich nicht vor, gegen dich zu kämpfen. Ich will nur mit dir reden.“

Durch den Rauch und die Gurte bekam Luan kaum noch Luft, konnte nur noch mit leiser, kratziger Stimme etwas darauf sagen. „Und wieso?“

„Zuhören ist wirklich nicht so deine Stärke, aber das liegt sicher an der gelösten Atemhypnose.“ Er wandte sich von ihm ab und schloss die Augen. „Wie gesagt, mein Wirt mag dich. Außerdem wäre ein Sieg ohne Gegenwehr außerordentlich langweilig. Muss ich wohl auch von meinem Wirt haben.“

„Wirt?“, presste Luan hervor. „Was für ein Wirt?“

„Oh Mann, können alle Menschen nur so schwer denken, wenn sie von Emotionen heimgesucht werden?“, reagierte er genervt und schüttelte den Kopf. „Was glaubst du, wieso ich wohl so wie Ferris aussehe, hm?“

Ferris. In Luan klingelten sämtliche Alarmglocken. Ob er in Ordnung war? Naola wollte zu ihm, hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Noch konnte er nicht sicher sein, ob er hier wirklich eine Geißel vor sich hatte und sie sich mal in Ferris eingenistet hatte, besonders weil Traumbrecher doch immun gegen den Befall von Alpträumen sein sollten.

Sorge keimte in Luan auf und wirkte sich wie eine Medizin auf seinen Geist aus, konnte den tobenden Sturm in ihm ein wenig unter Kontrolle bringen und die Ruhe zurück aus dem Loch holen, in das sie gefallen war. Er musste etwas unternehmen und nach Ferris sehen. Der echte könnte immer noch im Hotel sein.

„Ah, dein Emotionsschub legt sich schon? Ging erstaunlich schnell.“ Der Alptraum, Luan wollte ihn nicht länger als Ferris und auch noch nicht als Geißel bezeichnen, öffnete die Augen wieder und klopfte mit einer Hand sacht gegen die Fensterscheibe neben sich. „Du willst ja wohl nicht schon gehen? Wo ich nur für dich dafür gesorgt habe, dass wir hier eine gemütliche Sitzgelegenheit haben.“

Schweigend warf Luan nach dieser Bemerkung nochmal kurz einen Blick nach draußen. Immer noch alles schwarz. Jetzt, wo sich die Emotionen tatsächlich ein wenig legten und zur Ruhe kamen, wurde ihm auch bewusst worum es sich bei diesem Ort handeln musste: Ein weiteres Refugium, deshalb gab es hier auch nur Schwärze.

Offenbar hatte dieser Alptraum sich schon mehrere in der Gegend angelegt, was denkbar schlecht war. In der Realität könnte es ernsthaften Schaden anrichten, sollten sich zu viele Risse in einem Gebiet befinden. Auf jeden Fall deutete es darauf hin, dass der Alptraum neben ihm wahrlich hoch entwickelt sein musste, normalerweise war es schon schwer genug für einen von ihnen auch nur ein einziges Refugium zu erschaffen.

Ich muss hier raus, sagte er sich in Gedanken. Ich muss wissen, was mit Ferris passiert ist.

Es war ihm egal, was der Alptraum, ob nun Geißel oder nicht, noch mit ihm zu besprechen hatte und warum er ihn nicht einfach aus dem Weg räumte. Sollte Ferris wirklich mal sein Wirt gewesen sein, konnte das alles Mögliche bedeuten. Er musste einfach hier raus! Nur wie? Gegenwärtig war er nicht dazu in der Lage sich zu befreien und selbst wenn er an seine Taschenuhr rankäme, hätte er nur die Energiekugeln zur Verfügung. Bei einem Feind, der mehrere Risse erschaffen konnte, würde sehr viel Energie nötig sein, um ihm halbwegs zu schaden.

„Sagte ich nicht, dass du mit deinem Verstand bei mir bleiben sollst?!“, zischte der Alptraum wütend und beugte sich zu ihm, packte ihn grob am Kragen.

Bei der Berührung ging all der Hass, den diese Person in dieser Sekunde empfand, auf Luan über. Strömte durch seinen Körper hindurch, hinunter in seinen rechten Unterarm, wo sich dieses Gefühl anstaute, sich zu einem Knoten verdichtete und eine Reaktion hervorrief, die Luan schon lange nicht mehr erlebt hatte: Ein gleißendes, rötliches Licht schoss aus seinem Unterarm hervor. Hüllte sie beide vollständig ein und explodierte nahezu.

Sehen war nicht mehr möglich, da Luan von dem Licht geblendet wurde, aber er konnte hören, wie etwas durch die Luft sauste. Klang, als würden unzählige Pfeile durch die Gegend schießen und dieses Refugium auseinander reißen. Pechschwarze Splitter fielen nach und nach herab, lösten sich auf, als würden sie von der aggressiven Rotfärbung des Lichtes verschluckt werden. Schließlich zog sich diese Kraft nach nicht mal einer Minute in seinen Unterarm zurück, aus der sie gekommen war und Stille kehrte ein.

Bevor Luan etwas erkennen konnte, mussten seine Augen sich zunächst erholen, vor denen noch etliche Lichtpunkte tanzten. Kühle Herbstluft wehte ihm durch die Haare, also musste er sich wieder draußen befinden und dass er die Arme frei bewegen konnte war ebenfalls ein Zeichen dafür. Unter ihm spürte er den kalten Asphalt, also befand er sich auch nicht mehr in dem Sitz von dem Wagen. Was war passiert? Er hatte eine Ahnung, konnte es aber nicht glauben.

„Meine Atem-Prägung. Sie funktioniert wieder?“, murmelte er ungläubig und sah nach rechts auf seinen Arm hinab.

Dort kreisten sechs lange, hellblau leuchtende Klingen gleichmäßig um seinen Unterarm herum, die ein bisschen an Schwerter erinnerten. Jetzt begaben sie sich gerade in die Ruhephase und legten sich dicht aneinander, so dass sie wie eine leuchtende Armschiene aussahen. Zögernd tippte er mit dem Zeigefinger dagegen und die Klingen zersprangen sofort in viele einzelne, winzig kleine Fragmente, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Zurück blieb ein leichtes Gewicht, dass er am Arm spüren, aber nicht mehr sehen konnte.

Ohne es zu merken musste Luan vor Freude lächeln. Die Atem-Prägung hatte bei ihm nicht mehr funktioniert, seit einst seine Traumzeit einfror, daher war es wie eine glückliche Wiedervereinigung für ihn. War wirklich eine Atemhypnose schuld daran, dass ihm diese Fähigkeit abhanden gekommen war? Falls ja, musste er dringend herausfinden, wer ihm das angetan hatte und vor allem warum. Mit dieser Prägung könnte der Kampf gegen Alpträume wieder um einiges leichter für ihn werden, damit hätten seine Kollegen sogar ernsthafte Konkurrenz. Atem-Prägungen waren sehr selten.

Leider hielt die Freude nicht lange an, denn er rief sich selbst in Erinnerung, dass er etwas zu tun hatte. Er stand auf und sah sich um. Von dem Alptraum, der das Aussehen von Ferris angenommen hatte, war weit und breit nichts mehr zu sehen, als wäre er nie da gewesen. Auch das Refugium war verschwunden, es musste durch seine Atem-Prägung zerstört worden sein. Kein Wunder, bei einem solchen Hass, der auf ihn übergangen war und diese Explosion verursacht hatte. Mittlerweile war es noch dunkler geworden, aber noch nicht Mitternacht, sondern später Abend.

Direkt vor ihm befand sich das Hotel Tesha. Hatte der Riss, in dem er bis eben noch gewesen war, sich etwa hierher bewegt? Darüber sollte er sich später Gedanken machen, zuallererst wollte er nach Ferris sehen. Entschlossen rannte er los und stürmte in das Gebäude hinein, hoffte inständig darauf, dass sein Freund wohlauf war. Derweil war aus den Schatten heraus ein amüsiertes Lachen zu vernehmen, kaum dass hinter Luan die Eingangstür zugefallen war.

„Ich gebe zu, das war mein Fehler. Damit habe ich nicht gerechnet“, ertönte die Stimme der Geißel und sie trat in das Licht einer Straßenlaterne. „Schade, ich bin nicht dazu gekommen dir zu sagen, was ich sagen wollte. Nun, wir haben uns nicht zum letzten Mal gesehen, mein Lieber.“

Ein aufgerauchter Zigarettenstummel fiel zu Boden und er holte einen kleinen, roten Samen aus seiner Hosentasche hervor. „Dann hab mal viel Spaß mit meinen Kindern, Howler.“

Ich hatte keine Ahnung (Teil 2)

Luan rauschte förmlich wie ein Blitz durch die Eingangshalle des Hotels und wich geschickt allen Hindernissen aus, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Gezielt steuerte er die Treppen zum ersten Stock an, den Rest der Umgebung blendete er völlig aus. Die Wirklichkeit um ihn herum verwandelte sich dadurch, in seinen Augen, zu einem Film, der zu unscharf war, um überhaupt etwas anderes erkennen zu können, außer dem Ziel. Alles andere verlor gänzlich seine Farbe, wurde grau und unbedeutend.

Bis zu drei Stufen auf einmal nahm Luan mit jedem Schritt, als er die Treppe hinauf stürmte. Er flog geradezu nach oben und hielt erst wieder an, nachdem er durch eine weitere Tür endlich im ersten Stock angelangt war. Bloß ein paar Sekunden hatte es gedauert von der Straße aus dort anzukommen, für ihn war aber jede einzelne zu viel gewesen. Sorge war es, durch die er so überaus nervös war und selbst jeder Atemzug kam ihm wie eine Verschwendung von kostbarer Zeit vor.

So nervös und besorgt war er schon lange nicht mehr gewesen, dabei dachte er, dass seine Ruhe zurückgekehrt war und dieser Emotionsschub sich gelegt hatte. Schuld war dieser Typ, der sich als Geißel vorgestellt hatte und dessen Wirt angeblich Ferris sein sollte. Falls es sich hierbei um einen Alptraum handelte, ob nun Geißel oder eine andere Gattung, konnte sein Partner in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Erst recht weil es Ferris offenbar dann auch nicht gelungen war diesen Feind zu vernichten, wenn der sich noch zu Luan begeben und ein Gespräch mit ihm halten konnte.

Jedenfalls hielt er kurz inne, kaum dass er durch die Tür in einen langen Flur gekommen war, auf dem mehrere Zimmer lagen, unter anderem auch das von Ferris und Luan. Hier vermittelte die etwas abgeschwächte Beleuchtung eine angenehme Wärme und Geborgenheit, was an den farbigen Lampenschirmen aus Glas lag, durch die das Licht einen orangeroten Stich bekam. Deshalb war der kalte Windhauch auch gleich doppelt so auffällig, der hier in der Luft lag, wie ein unheilvolles Omen. Es brachte Luan sogar zum Schaudern, woran er gar nicht mehr gewöhnt war.

Mit mir stimmt immer noch etwas nicht. Den Gedanken schüttelte er jedoch schnell ab. Egal, nicht jetzt.

Kaum wandte er sich in die Richtung, wo der Raum mit ihrer Zimmernummer lag, erblickte er sofort jemanden, den er kannte. „Naola?!“

Sie saß regungslos neben der Tür zu ihrem Zimmer, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und sah ziemlich mitgenommen aus, mehr konnte er von seinem Standpunkt aus noch nicht feststellen. Also setzte er sich in Bewegung, das Geräusch seiner schweren Schritte wurde von dem braunen Teppich gedämpft, mit dem der Holzboden im Flur ausgeschmückt worden war. Direkt neben ihr ging er in die Knie und legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie sachte zu schütteln, da sie bisher noch nicht auf den Ausruf ihres eigenen Namens reagiert hatte.

„Naola“, wiederholte er ihren Namen, diesmal um einiges ruhiger. „Hey, kannst du mich hören?“

Zum Glück schien sie doch nicht bewusstlos zu sein, wie Luan erst befürchtet hatte. Träge hob sie den Kopf ein wenig an, bis sie mit ihren Augen sein Gesicht erfassen konnte und brachte ein weiches Lächeln zustande, als sie ihn erkannte. „Hey, Luan.“

Ihre Stimme war leise und klang erschöpft. Die Sanftmut war aus ihren hellblauen Augen verschwunden, mit der sie sonst jeden stets zu beruhigen wusste und ihr violettes Haar war furchtbar zerzaust. Auch bei ihr war es nun Sorge, von der ihre etwas abwesende Mimik erfüllt war. Bevor Luan nochmal etwas sagte oder gar tat, warf er zunächst einen prüfenden Blick auf sie.

Aus der Nähe sah es noch schlimmer aus, als von weitem, denn ihre Kleidung war teilweise zerrissen und auf ihrer Haut ließen sich zahlreiche merkwürdige Druckstellen erkennen. Außenstehende hätten zweifelsohne angenommen, dass Naola von jemandem rücksichtslos verprügelt worden sein musste, weil diese Flecken richtigen Hämatomen täuschend ähnlich sahen. In Wahrheit handelte es sich dabei aber um Male, wie sie nur von Alpträumen verursacht werden konnten. Ihre Form erinnerte an eine Symbolschrift, ähnlich wie die, die Luan erst kürzlich am Siegel zu dem Refugium im Buchladen von Bernadette gesehen hatte.

Angst und Schmerz. Das waren die beiden Worte, die am häufigsten vorkamen und die er übersetzen konnte, bei den restlichen war er sich nicht sicher. Nur ein Alptraum, dessen Fähigkeiten in der Kategorie Schall oder Atem lag, konnte solche Male an einem Menschen hinterlassen und damit war bewiesen, dass Naola in einen Kampf geraten sein musste. Diese Tatsache verursachte bei Luan ein schlechtes Gewissen, schließlich war sie eigentlich nicht in der Jagd tätig, so wie die meisten Traumbrecher, sondern arbeitete nur als Assistentin auf der Krankenstation im Hauptquartier. Viel Erfahrung mit Kämpfen besaß sie demnach nicht.

Zügig nahm Luan seine Taschenuhr zur Hand, legte sie um seinen Hals und kontrollierte mit den Augen grob beide Richtungen im Flur, doch eine Gefahr war nicht in Sicht. Noch nicht. Ehe er dem genauer auf den Grund gehen würde, wandte er sich wieder an Naola. „Was ist passiert?“

„Ich weiß nicht genau“, antwortete sie geschwächt und atmete schwer. „Eigentlich wollte ich zusammen mit Tesha nach einem gemütlichen Café suchen, aber ich bin vorher nochmal zurück in euer Zimmer, um etwas zu holen.“

Tesha? Das Hotel hieß so. Gab es hier etwa eine Person mit dem gleichen Namen? Musste wohl so sein. Jetzt erinnerte er sich auch daran, dass Ferris den Namen ebenfalls schon mal in Verbindung mit einer Frau erwähnt hatte. Offenbar fehlten Luan hier aber einige Zusammenhänge, deswegen konnte er Naola nicht ganz folgen, doch daran ließ er sich nicht stören und hörte ihr einfach weiter zu, was sie noch zu sagen hatte. Details konnte er auch noch zu einem späteren Zeitpunkt erfragen, sollte das nötig sein.

„Aber als ich da reinging, war es schon zu spät.“ Mit dem Kopf nickte sie zu der Tür neben sich. „Das Zimmer und auch Precious, einfach weg. Stattdessen hockt da drin jetzt ein Alptraum, von dem ich überrascht wurde.“

Precious. Damit war Ferris gemeint, nur Naola nannte ihn so. Wann und wie das zwischen ihnen zustande gekommen war, wusste Luan nicht, aber er hatte auch nie einen von ihnen danach gefragt. Ernst, aber ruhig, sprach er weiter mit ihr – wenigstens schien der schlimmste Teil von diesem Emotionsschub wirklich vorbei zu sein, so dass er langsam zu seiner alten Form zurückfand. „Hast du etwa versucht zu kämpfen?“

„Natürlich“, bestätigte sie und senkte bedrückt den Kopf. Tatsächlich hing auch bei ihr die Taschenuhr um ihren Hals, mit geöffnetem Sprungdeckel. „Schließlich muss Precious noch da drin sein. Er hat tief und fest geschlafen, als ich gegangen bin. Ich glaube nicht, dass er zwischendurch aufgewacht und weggegangen ist, dafür war er zu ... müde.“

Anhand ihrer kurzen Pause vor dem letzten Wort ahnte Luan, dass ihr Gespräch mit Ferris etwas zutage gebracht haben musste, über das sie nicht vor ihm sprechen konnte, was auch in Ordnung war. Sollte Ferris ihr etwas anvertraut haben, das sie vor ihm nicht offen erwähnen konnte, würde er es nicht mit Gewalt versuchen herauszufinden. Außerdem war es jetzt auch wichtiger, sich um dieses Problem mit dem Alptraum zu kümmern, der ihr Zimmer in Beschlag genommen hatte. Dass Ferris angeblich zuletzt geschlafen haben sollte, beunruhigte Luan.

Dieser Typ, die Geißel, hatte behauptet, Ferris wäre sein Wirt. Normalerweise konnten Traumbrecher nicht von Alpträumen befallen werden, aber was wenn doch? Da wäre auch immer noch die Sache mit der unbekannten Gattung, mit der sie es zu tun bekommen hatten und die von Luan fälschlicherweise für einen Reinmahr gehalten worden war. Hing alles mit dieser Mission zusammen, wegen der sie hier waren? Allmählich entwickelten sich die Ereignisse in eine gefährliche Richtung und brachten Luans jahrelange Erfahrung durcheinander, wodurch es für ihn schwer wurde klare Gedanken zu fassen.

„Leider habe ich schnell gemerkt, dass ich keine Chance gegen diesen Feind habe“, fuhr Naola fort und lenkte seine Konzentration somit zurück auf sie. „Irgendwie habe ich es aber geschafft zu fliehen. Ich glaube fast, dass es mich freiwillig hat gehen lassen.“

„Es hat dich freiwillig gehen lassen?“ Ungläubig schüttelte Luan den Kopf. „Wie meinst du das?“

„Als wäre ich nicht die, die es haben will.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Ich schon“, murmelte sie und wurde immer leiser. „Ich wusste ja, dass er traurig ist. Aber nicht, wie traurig. Luan, du solltest Hilfe rufen. Mein Handy. Bitte.“

Diese Worte waren ihre letzten, denn ihr Kopf sackte kraftlos zur Seite und ihr fielen die Augen zu. Vorsichtig hielt Luan sie fest, um sie vor einem unsanften Zusammenstoß mit dem Boden zu bewahren. Möglichst behutsam nahm er sie danach gleich in den Arm und hob sie ein Stück rüber in die Mitte des Flurs, wo er sie auf dem braunen Teppich ablegte. Direkt im Anschluss kontrollierte er, ob sie noch atmete und war erleichtert, als er gedanklich einen Haken hinter diesen Punkt setzen konnte.

Bei der Menge an psychischen Malen, die auf ihrer Haut zu finden waren, sollte sie dennoch besser schnellstmöglich von einem Arzt untersucht werden und in dem Fall war ihre Gesundheit natürlich wichtiger als der Groll, den Luan gegenüber Vane empfand. Zumal Naola selbst ihn noch darum gebeten hatte Hilfe zu rufen, auch wenn sie sicher meinte, dass er einen anderen Traumbrecher schicken lassen sollte, weil er in seinen Fähigkeiten zu eingeschränkt war. Da wusste sie aber auch noch nicht, dass seine Atem-Prägung wieder funktionierte.

Wenn ich das Hauptquartier um Hilfe bitte, werde ich am Ende nur von dieser Mission abgezogen, befürchtete Luan und durchsuchte Naolas Taschen bereits nach ihrem Handy, während er weiterdachte. Das lasse ich nicht zu. Ich schaffe das alleine und ich werde es beweisen. Auch Vane.

In ihrer Innentasche von der schwarzen Weste, die sie über einem weißen Hemd trug, fand er ihr Handy und war zum ersten Mal froh darum, dass Ferris ihm den Umgang mit solchen Geräten mal ausgiebig beigebracht hatte. Sonst würde er jetzt nämlich dumm dastehen, aber so gelangte er problemlos in ihr Adressbuch und konnte die Nummer von Vane wählen. Ungeduldig hielt er sich das Handy ans Ohr und wartete darauf, dass dieser Arzt ranging.

Schon vor dem zweiten Anrufton nahm jemand an der anderen Leitung ab und es war Vane persönlich. „Was gibt es noch?“

Bestimmt erwartete er Naola, von wem sollte er über ihrem Handy auch sonst angerufen werden? Diese tiefe, unterkühlte Stimme hätte Luan gerne für die nächste Zeit gemieden, aber es ging nicht anders. Mühevoll unterdrückte er den Hass, den er allein durch das Hören von Vanes Stimme verspürte und antwortete, in einem neutralen Tonfall. „Ich bin’s.“

„Luan?“, reagierte Vane überrascht, was er nur selten von ihm erlebte. Ohne zu zögern kam er aber gleich zum Punkt. „Was ist passiert?“

Luan würde niemals freiwillig Vane anrufen, wenn es nicht zwingend notwendig war und das wusste dieser auch. Daher war es nicht verwunderlich, dass er scheinbar schon mit dem Schlimmsten rechnete und fest davon ausging, es wäre etwas passiert, bei dem ärztliche Hilfe gebraucht wurde. So war es ja auch und Luan verschleierte das Problem nicht. „Sie müssen nochmal herkommen, zum Hotel Tesha in Limbten, in den ersten Stock. Naola wurde von einem Alptraum mit etlichen, psychischen Malen übersät und sie ist gerade eben bewusstlos geworden. Ich kann nicht einschätzen, wie schlimm es um sie steht.“

„Ich bin sofort da“, meinte Vane und erkundigte sich gar nicht erst nach weiteren Details. „Du wirst dich nicht vom Fleck rühren, Luan.“

Der Befehlston passte ihm gar nicht und das ließ er ihn auch spüren. „Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.“

Eine Reaktion wartete Luan nicht ab. Er beendete einfach ohne jede Verabschiedung das Gespräch und legte das Handy neben seine Besitzerin. „Tut mir leid, Naola.“

Würde er Hilfe anfordern, könnte man ihn von der Mission abziehen. Gleiches galt dafür, wenn er hier seelenruhig auf Vane warten würde, der ohnehin angekündigt hatte, dass er nur einen Grund dafür suchte, um ihn zurück nach Hause schicken zu können. Zum zweiten Mal so kurz hintereinander musste der Doktor nun schon das Hauptquartier verlassen und in beiden Fällen war Luan darin verwickelt, Pluspunkte hatte er also garantiert nicht gesammelt.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich um diesen Alptraum zu kümmern und ihn vorher alleine zu erledigen. Davon abgesehen wusste keiner, was mit Ferris war. Je länger er wartete, desto realer könnte die Wahrscheinlichkeit werden, dass er ebenfalls verletzt war und in Gefahr schwebte. Entschlossen stand er auf und schritt zu der Tür mit der Zimmernummer Hundertvier rüber, das von Ferris und Luan schon bezogen worden war.

Nach dem, was Naola ihm erzählt hatte, könnte sich dahinter wieder eine Gattung von Alptraum verbergen, den er nicht kannte. Für gewöhnlich ließen die nämlich keinen Traumbrecher ohne weiteres entkommen, erst recht nicht wenn sie um einiges schwächer waren. Und was oder wen meinte Naola damit, als sie von Trauer sprach? Nun, er würde es selbst herausfinden müssen.

Diesmal wird Ferris im Notfall wohl nicht auftauchen. Er atmete tief durch. Diesmal muss ich ihn retten.

Dieser Gedanke trieb ihn dazu an, die Tür zu öffnen und den Raum dahinter zu betreten.
 


 

***
 


 

Luan mochte noch nicht wissen, mit welcher Gattung von Alptraum er sich konfrontiert sah, aber zumindest konnte er auf Anhieb die Fähigkeit endgültig einordnen: Schall.

Hinter der Tür lag nichts als Schwärze, ähnlich wie bei den letzten zwei Refugien und doch war es vollkommen anders. Von der ersten Sekunde an war das Pochen eines kräftigen Herzschlags zu hören, der ungleichmäßig, aber ohne lange Pausen die Atmosphäre mit seinem Klang erfüllte. Hinzu kamen all die feinen, roten Äderchen, die sich wie ein kompliziertes Netz durch die Schwärze zogen und bei jedem einzelnen Ton leicht zu glühen anfingen, somit reagierten sie auch auf das pulsierende Geräusch.

Letztendlich waren es aber die Stimmen, durch die Luan dem Alptraum die entsprechende Fähigkeit zuordnen konnte. Zahlreiche Stimmen hallten von allen Seiten her wider und bildeten einen lauten Chor, von dem er kein Wort verstehen konnte. Schall beinhaltete alles, was auch nur im Ansatz mit Geräuschen zu tun hatte, sonst nichts. Im Regelfall konnten die meisten Alpträume keinerlei Klänge in ihren Welten erschaffen, höchstens zulassen, außer sie waren darauf spezialisiert oder besaßen mehrere Fähigkeiten auf einmal, was auch durchaus vorkommen konnte.

Ein weiterer Beweis dafür, dass er es hier mit einem Schall-Alptraum zu tun hatte, war die endlos weite Schwärze, in deren Ferne zwar hin und wieder rötlich das Netz aus Adern aufglühte, sonst aber nichts anderes in dieser Welt existierte. Nur ein Schritt in diese Ungewissheit genügte und Luan wurde von einer Schwerelosigkeit erfasst, gegen die er sich nicht wehren konnte. Unaufhaltsam begann sein Körper zu schweben, entfernte sich von der Tür. Diese knallte selbstständig wie von Geisterhand zu und wurde immer transparenter, bis sie sich schließlich gänzlich ins Nichts aufgelöst hatte. Sie war verschwunden. Und mit ihr der einziger Ausgang.

Sieht so aus, als würde der Alptraum mich nicht wieder so leicht gehen lassen wollen, dachte Luan und ruderte mit den Armen, um in eine aufrechte Position zu gelangen. Naola hatte wirklich Glück.

Viel Kontrolle über seine Flugbahn besaß er nicht, er schwebte einfach durch diese Welt, in der immer noch ein Chor aus Stimmen lebte. Bei genauerem Hinhören schienen einige weiter weg zu sein, andere wesentlich näher. Auch daran, dass manche Äderchen nur an bestimmten lokalen Punkten zu glühen anfingen, während andere Teile dieses Netzwerkes tot blieben, konnte man erkennen, dass die Stimmen aus verschiedenen Richtungen kamen und eine unterschiedliche Intensität besaßen.

Plötzlich war ein lautes Grollen zu hören, dem Luan durch sein Gehör folgte und den Blick dorthin lenkte, von wo aus es herzukommen schien. Das Netz glühte an einer Stelle besonders stark, brannte fast, so grell war das Licht, doch es war weit weg. Dafür kam aber etwas anderes näher, raste geradewegs auf ihn zu und auch wenn er es nicht sehen konnte, dröhnte es dafür umso lauter in seinen Ohren. Eine Stimme, deren Klang sich direkt in seinen Kopf hinein bohrte.

„Du bist an diesem Unglück schuld, hörst du?!“, schrie eine Männerstimme vorwurfsvoll, war voller Wut und Abscheu. „Also tu gefälligst, was ich dir sage! Oder hast du Spaß daran, andere leiden zu sehen?!“

Es fühlte sich wie ein kräftiger Faustschlag gegen die rechte Schulter an, kaum dass diese Stimme verklungen war. Zeitgleich fraß sich das Gefühl von Reue in sein Innerstes hinein, als würde sich eine geballte Faust mitten in seinen Geist hinein graben und dort diese negative Stimmung freisetzen, indem die Hand als Behälter geöffnet wurde. Ein brennender Schmerz entfaltete sich an der Stelle, wo dieser Schlag ihn getroffen hatte.

Wäre Luans Körper nicht von dieser schwarzen Ablagerung überwuchert, könnte man, genau wie bei Naola, jetzt eine Druckstelle auf seiner Haut sehen. Soeben wurde er mit einem psychischen Mal gebrandmarkt: Reue.

Tatsächlich konnte er sie deutlich fühlen. Erste Selbstvorwürfe bahnten sich an, gepaart mit dem Gedanken, was für ein schlechter Mensch er war. Natürlich wusste er, dass dieses Gefühl nicht ihm gehörte, dennoch war es erstaunlich lebendig. Ein Schall-Alptraum machte sich häufig Stimmen aus Erinnerungen zunutze, die in dem Träumer einst negative Emotionen verursacht hatten und nutzte sie als Waffe gegen jeden, der in seine Welt eindrang. Durch diese Vorgehensweise wurde das Opfer geschwächt und der Alptraum gestärkt, nährte sich davon. All diese Stimmen trugen also die Gefühle desjenigen in sich, der gerade schlief und aus dessen Traum eine neue Welt geschaffen worden war: Ein Alptraum, die Schattenseite.

Gerade als Luan etwas unternehmen wollte, schlugen bereits weitere Stimmen auf ihn ein, jeweils an unterschiedlichen Körperstellen. Wieder war es derselbe Mann wie zuvor, jedes Mal:

„Du bist ein Nichtsnutz! Manchmal frage ich mich, wieso ich dich überhaupt am Leben lasse.“

„Gib mir noch einmal Widerworte und es knallt! Ich schwöre, du wirst danach nie wieder aufstehen!“

„Halt deine verdammte Klappe! Noch ein Wort und es war dein letztes!“

„Geh mir aus den Augen, ich ertrage deinen Anblick nicht! Hau ab oder ich vergesse mich!“

Angst war diesmal das Wort, das sich jetzt als Mal bei ihm einbrannte. Ja, das hatte er bei Naola am häufigsten finden können, neben Schmerz. Nachdem er glaubte es endlich losgeworden zu sein, setzte das Herzrasen bei ihm wieder ein, gefolgt vom kalten Schweiß und das Zittern. Zusätzlich begann aber nun auch Todesangst in ihm zu sprießen, wie ein Unkraut, das man so leicht nicht mehr loswerden konnte. Es war grauenvoll, davon wollte er auf keinen Fall noch mehr abbekommen. Intensiver durfte es nicht werden.

Schnell ließ er den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen und griff schon nach seiner Pistole, noch bevor das weiße, feurige Licht zersplitterte. Nun musste er sich beeilen, denn an mehreren Stellen begann das Netz aus Adern wieder bedrohlich stark zu glühen und erneut wurde er mit Stimmen bombardiert. Rasch feuerte er einige Schüsse ab, nur trafen durch das Zittern in seinen Gliedern nicht alle ihr Ziel. Einige Energiekugeln kamen aber durch, doch sie erbrachten nicht die Wirkung, die er eigentlich damit erreichen wollte.

Er hatte dorthin gezielt, wo das Glühen äußerst stark war, weil dort das Netz normalerweise empfindlich genug wurde, so dass eine Energiekugel ein Loch in dieses Gebilde reißen konnte – an den Stellen sammelten sich nämlich stets Teile des Alptraumes an. Nach und nach konnte man auf die Weise diese Welt zum Einsturz bringen und den wahren Alptraum zwingen sich zu zeigen, nur passierte jetzt etwas ganz anderes. Statt dass sich erste Löcher bildeten, zerplatzten die Energiekugeln wortwörtlich beim Zusammenprall, ohne irgendeinen Schaden zu hinterlassen.

Sein Angriff war ein Fehlschlag, der Feind dagegen war erfolgreicher. Die nächsten Stimmen drangen in seinem Kopf ein, prasselten wie Fäuste auf ihn nieder und schleuderten ihn diesmal zurück, als hätte er wirklich reale Schläge kassiert.

„Hör auf damit!“, flehte jemand verzweifelt. Die Stimme gehörte einer anderen Person, nicht diesem Mann von den vorherigen Malen. „Bitte, es tut mir leid! Du tust mir weh!“

„Ferris?!“, warf Luan erschrocken ein.

Keinen Zweifel, diese Stimme gehörte Ferris und obwohl er um einiges jünger klang, erkannte Luan ihn sofort. Bisher hatte er es noch leugnen wollen, aber spätestens jetzt musste er einsehen, dass Ferris mit hoher Wahrscheinlichkeit der Träumer war, der von einem Alptraum befallen wurde. Naola meinte zwar, dass Ferris geschlafen hatte, als sie gegangen war, aber es passte einfach nicht ins Bild. Traumbrecher waren immun gegen Alpträume. Er wollte es nicht wahrhaben.

Auch die restlichen Stimmen trafen ein, die ebenfalls einem jungen Ferris gehörten und als Mal den Schmerz in sich trugen. Durch sie fing Luan an zu schreien.

„Bitte lass das, Cowen! Ich habe das nicht mit Absicht gemacht, echt nicht!“

„Okay, ich höre ja auf! Ich höre auf damit, hörst du?! Warte, Cowen!“

„Ich kann nicht mehr, Cowen.“

Der Schmerz ließ das Unkraut namens Todesangst zwar wieder verwelken, wandelte die Angst vor dem Sterben dafür aber in einen Wunsch um, was Luan zusätzlich mit Entsetzen erdrückte. Tiefe Verzweiflung kroch in ihm hoch, verbündete sich mit dem Schmerz, der sich mit scharfen Klauen um seinen Geist festklammerte und ihn einengte. Sie waren wie eine Einheit, gegen die er kaum ankam. Glichen sogar eher einer Armee, von der jegliche Hoffnung gnadenlos niedergetrampelt wurde.

Kurz nach den letzten Stimmen bildeten sich auch schon die nächsten. Inzwischen glühte das gesamte Netz immer heller und heller, labte sich an den negativen Gefühlen in Luan und die ließen den Alptraum nicht nur mächtiger werden, er wurde auch aktiver. Die nächsten Töne, die Luans Gehör erreichten, waren keine Worte mehr. Anstelle von Sätzen waren es nur noch Schreie, von denen er heimgesucht wurde. Auch die stammten wieder von Ferris, deshalb konnte er sie kaum ertragen. Noch mehr Schmerz wurde in Form von Malen auf seinen Körper eingebrannt und erste Risse bildeten sich in seiner Kleidung, als würde sie ihm jemand vom Leib reißen wollen.

Verdammt, ich halte das nicht aus!

Früher hatten ihm Begegnungen mit Schall-Alpträumen nicht mal halbwegs so viel ausgemacht wie in diesem Moment. Eigentlich kam er sogar immer gut gegen sie an, weil er die Emotionen nicht intensiv genug nachempfinden konnte. Ob es daran lag, dass er den Träumer in diesem Fall zu gut kannte oder diese Atemhypnose etwas damit zu tun hatte, darüber wollte er nicht nachdenken. Nicht jetzt. Er musste dringend etwas unternehmen.

Aber was? Er hatte es mit einem Schall-Alptraum zu tun, so viel stand fest und da es ihm gelungen war das Innenleben des Zimmers in der Realität zu verändern, wies es auch wieder auf einen Reinmahr hin. Bei allen anderen Arten hätte er erst noch selbstständig über den Schlafenden in den Traum eindringen müssen. Und wenn es doch kein Reinmahr war, sondern noch ein Exemplar einer unbekannten Gattung? Zu denen fehlten ihm Informationen und die übliche Vorgehensweise gegen Schall-Welten funktionierte hier auch nicht. Machtlosigkeit drohte ihn zu lähmen, wie beim letzten Mal.

„Nein, diesmal nicht. Meine Traumzeit ist eingefroren, aber meine Beine funktionieren noch. Richtig, Ferris?“, keuchte Luan und schloss den Sprungdeckel seiner Taschenuhr. „Nicht nur meine Beine, ich habe auch noch etwas anderes. Das wird es schon richten.“

Die Pistole löste sich in einem grellen Lichtblitz auf und er tippte mit dem Zeigefinger gegen das unsichtbare Gewicht, das noch an seinem rechten Unterarm zu spüren war. Sofort erwachten die sechs Klingen wieder zum Leben und begannen hellblau zu leuchten, verströmten eine vertraute Kälte – noch unbeschrieben und rein. Sie verließen ihre Ruhephase und nahmen kreisförmig Position ein, mit seinem Handgelenk als Ausgangspunkt. In dieser Lage sahen sie ein wenig einem großen Armreif ähnlich, der sich wie ein Schirm um seinen kompletten Unterarm bis hin zu seiner Schulter aufgespannt hatte.

Im Augenwinkel nahm er einige Punkte in der Ferne wahr, die im Netz stärker zu glühen anfingen und ein Vorzeichen für den nächsten Angriff des Alptraums waren, auf den Luan schleunigst reagieren musste. Noch mehr psychische Male wollte er sich nicht einfangen, seine jetzigen hatten mehr als genug Spuren hinterlassen. Gezielt streckte er den rechten Arm nach oben, zog die Beine dichter an sich und machte sich kleiner, um Schutz unter dem Schirm aus Klingen zu suchen, die automatisch länger und breiter wurden, so dass Luans Körper komplett von ihnen überdacht wurde.

Wie ein heftiger Stromschlag traf die nächste Schallwelle aus Stimmen und Schreien in die Spitze des Klingenschirms ein, von dem die damit verbundenen Gefühle umgeleitet wurden. Abermals rauschte Angst und Schmerz erst wieder durch sein Innerstes, verharrten dort jedoch nicht, weil sie weitergeleitet und dann von seiner Atem-Prägung absorbiert wurden. Dadurch verfärbte sich das Hellblau erschreckend schnell zu einem Hellrot, auch die Leuchtkraft nahm gewaltig zu. Die Klingen erhitzten sich.

Druck entstand und die Gefühle stauten sich im Knotenpunkt an, drohten zu explodieren, genau wie zuvor in diesem Refugium. Das war nicht gut. Letztes Mal hatte er sich nicht in der Wirklichkeit befunden, nur in einem Riss und selbst das war schon heikel genug gewesen. Solch eine Explosion in der Realität würde erheblichen Schaden anrichten, das konnte und durfte er nicht zulassen. Nur war es zu lange her, seit er zuletzt mit seiner Prägung gekämpft hatte und Atem-Fähigkeiten waren äußerst schwer zu handhaben.

Dafür hatte die Atem-Prägung aber einen entscheidenden Vorteil: Für sie war keine Traumzeit nötig, um effektiv genug zu sein, da sie ihre Energie lediglich aus Gefühlen bezog, anders als bei anderen Prägungen.

Konzentration! Du schaffst das!

Inzwischen schien der Alptraum ihn als Gefahr erkannt zu haben und wollte zu einem finalen Angriff übergehen. Abrupt verstummte der ungleichmäßige Herzschlag, der zwischen all den Stimmen ohnehin untergegangen war und auch das Netzwerk aus feinen Äderchen starb ab, nur für einen kleinen Augenblick. Einen Atemzug später entflammte das Gebilde aus Fäden nahezu, hüllte Luan ringsherum in ein glühendes, bedrohliches Feuer ein und schoss ihm eine einzige, gebündelte Stimme entgegen, in der sämtliche angesammelten Kräfte stecken musste.

„Schön!“, platzte es aus Luan heraus, dem es gar nicht bewusst war, dass er seine Gedanken laut aussprach. „So kann ich dich nicht verfehlen!“

Mit der linken Hand gab er seinem rechten Arm einigermaßen Halt und musste glücklicherweise nicht zielen, konnte einfach irgendwo zuschlagen, da der Alptraum dumm genug war, sich für seinen Angriff derart aus der Deckung zu wagen. Konzentriert versuchte er die Kontrolle über die angestauten Gefühle in den rot leuchtenden Klingen nicht zu verlieren und konnte kaum noch atmen, sein Körper sowie sein Geist standen gerade unter einer enormen Anspannung. Kurz bevor sie doch zu explodieren drohten, gab er die absorbierten Gefühle in einem Schuss frei, den er irgendwo mitten in die glühende Fläche um sich herum gesetzt hatte.

Wie Pfeile brausten alle sechs Klingen gleichzeitig davon, der Rückstoß zog einen stechenden Schmerz in Luans Unterarm mit sich, den er aber kaum noch wahrnahm. Das Leid, das er durch die Male verspürte, war viel schwerer zu ertragen. Auch das konnte er jedoch kurzzeitig ausblenden und hielt gespannt die Klingen im Blick, wie sie sich geschwind ihren Weg bahnten, geradewegs auf das Netz zu. Ein qualvolles Geheul ertönte, als Luans Geschoss sich durch die glühende Wand bohrte, als wäre sie bloß weiche Butter.

Das Geheul wurde lauter, der Schnitt immer größer und größer, den die Klingen verursachten. Sie hatten sich am Einschlagpunkt getrennt und zogen sich nun sternförmig durch das Gebilde, brachten die Welt aus dem Gleichgewicht. Leider konnte Luan sich nicht darüber freuen, immerhin hatte auch der Alptraum noch einen letzten Schlag gegen ihn abgefeuert und von dem wurde er erfasst. Während um ihn herum alles langsam zu schneeweißem Traumsand zerfiel, musste er sich der Stimme in seinem Kopf stellen und dem Gefühl, von der sie begleitet wurde.

Ferris war es, der den folgenden Satz sagte. Seine Stimme klang nicht mehr jung, mehr so, wie sie auch heute war. Das Gefühl, mit dem Luan infiziert wurde, war Hass. Ein tiefer Abgrund aus Hass. Vor diesem Abgrund hatte Luan erst vor wenigen Minuten schon einmal gestanden. Ja, es war wie bei ihm. Wie bei diesem Typ, der sich selbst Geißel nannte.

„Ich hasse dich, Cowen! Meinetwegen könntest du ruhig heute schon verrecken!“

Cowen. Den Namen hatte Ferris oft in den Mund genommen. Wer war das? Luan wusste es nicht, heute hatte er ihn zum ersten Mal gehört. Dabei konnte es sich aber nur um jemanden handeln, der das Leben von Ferris sehr negativ beeinflusst haben musste, wenn dieser Cowen fast nur Angst und Schmerz in den Erinnerungen von ihm auslöste. Davon, dass Ferris so viel Leid in sich trug, hatte Luan keine Ahnung.

Schwer wie ein Stein sank er in den tiefen Abgrund des Hasses hinab, der keinen Boden zu haben schien.

„Wirklich“, sagte er. Seine Stimme zitterte und war kratzig. „Ich hatte keine Ahnung.“

Die psychischen Male brannten und würden ohne weiteres auch nicht wieder verschwinden. Oder war es die schwarze Kruste, die auf seiner Haut brannte? Ihm war furchtbar warm, nein, heiß. So sehr, dass seine Sicht wieder zu flimmern angefangen hatte und er nichts erkennen konnte. Erschöpft schnappte Luan nach Luft, doch die Gefühle von Ferris raubten ihm den Atemreflex. Ihre Samenkerne lagen noch immer tief in seinem Geist vergraben, lebten sich dort aus wie eine unheilbare Seuche. Die Reue. Die Angst. Der Schmerz. Und der Hass.

Wie auf Stichwort nahm die Hitze zu, als würde etwas oder jemand in ihm darauf reagieren, dieses Gefühl positiv aufnehmen und sich daran stärken. Panisch streckte Luan seine rechte Hand aus und fing unkontrolliert an zu schreien. „NEIN!“

Ich hatte keine Ahnung (Teil 3)

Plötzlich waren sie weg. Die negativen Emotionen ließen nach, mit nur einem einzigen Wimpernschlag, durch den sich alles verändert hatte.

Luan lag mit dem Rücken auf einem festen, harten Untergrund und es existierte keine Spur von Schwerelosigkeit mehr. Schweigend starrte er an die Decke einer Räumlichkeit, statt auf das Netzwerk aus Äderchen in der Schwärze. Verwirrung ersetzte nun das Leid, das sich eben noch durch sein Innerstes gefressen hatte, ausgelöst durch die psychischen Male. Sie wirkte sich ungewohnt wohltuend auf ihn aus und brachte ihn wieder zur Ruhe, kühlte sogar die Hitze effektiv ab. So schnell wie ihn Panik gepackt hatte, war sie jetzt auch wieder verschwunden.

Was ist passiert?

Langsam richtete Luan sich auf, blieb vorerst aber noch sitzen und machte sich mit den Augen ein Bild von seiner neuen Umgebung. Offenbar befand er sich im Erdgeschoss eines Hauses, das von der Einrichtung her sehr altmodisch wirkte. Auf eine seltsame Art wurde deswegen auf Anhieb ein heimisches Gefühl in ihm geweckt, weil er sich an das Waisenhaus aus seiner Kindheit zurückerinnerte, aber dadurch entkamen zeitgleich auch reichlich unangenehme Dinge aus ihrem Verlies der Vergessenheit. Dinge, an die er eigentlich nie wieder zurückdenken wollte und er konnte sie nur mit viel Mühe noch von sich fernhalten.

Hier waren keinerlei Farben präsent, sondern es regierte einzig ein trostloses Grau, unter dessen Führung automatisch eine bedrückte Stimmung aufkam. Kein Wunder, dass er sich so sehr ans Waisenhaus erinnert fühlte, hierbei handelte es sich aber definitiv um ein anderes Gebäude. Eine vage Vermutung hatte Luan auch bereits, nur wollte er sich zunächst weiter umschauen und nahm seine Umgebung noch etwas genauer in Augenschein.

Direkt vor ihm führte eine Treppe nach oben in ein anderes Stockwerk, hinter ihm gab es eine Tür, auf der linken Seite blickte er nur gegen eine Wand und rechts präsentierte sich ihm ein Bereich, den er spontan als Wohnzimmer einschätzte, in dem wohl auch gegessen wurde. Dort stand nämlich ein Esstisch, an dem für vier Personen Platz war, aber in diesem Moment war er vollkommen leer. Trotzdem konnte er nicht mehr den Blick von diesem Tisch abwenden und blieb mit seinen Augen förmlich daran hängen, dort gab es jedoch nichts Außergewöhnliches zu sehen. Oder?

Sehen konnte er wirklich nichts, dafür glaubte er leise eine Stimme zu hören, kaum dass er den Esstisch mit den Augen erfasst hatte. Klang nach einem Kind. Genau konnte er es nicht einschätzen, denn er musste sich ziemlich konzentrieren, um sie überhaupt wahrnehmen zu können. Instinktiv stand Luan auf und wollte den Abstand zu dem Tisch verringern, indem er ganz normal darauf zuging, nur schien er kein bisschen näher heranzukommen. Er bewegte sich, ohne dass er vorwärts kam, als würde er nur auf einer Stelle laufen.

Also doch, dachte er und blieb stehen. Ich weiß, was das hier ist.

Über ihm war auf einmal ein Poltern im ersten Stock zu hören, gefolgt von einem Schluchzen und der wütenden Stimme eines Mannes, die Luan schon zuvor in der Schall-Welt gehört hatte und mutmaßte, dass es Cowen war:

„Mir reicht es jetzt endgültig damit!“, brüllte er, sein lautes Organ donnerte durch das Haus und ließ die Wände erzittern. „Willst du, dass die anderen über uns reden?! Benimm dich endlich wie ein normales Kind! Höre ich noch einmal, wie du mit ihm redest, bekommst du große Probleme mit mir! Du wirst nicht mehr mit diesem Theeder spielen!“

„Aber er ist immer bei mir“, schluchzte ein Kind daraufhin verängstigt. Ob es wieder Ferris war? „Er wird nicht so einfach weggehen.“

„Dann sieh zu, wie du ihn loswirst! Haben wir uns verstanden?!“

Schwere Schritte folgten und brachten die Treppenstufen zum Knarzen, jemand kam scheinbar nach unten, doch auch jetzt konnte Luan niemanden sehen. Nur hören. Irgendjemand schleppte sich gerade mit viel Wut die Treppen von oben nach unten, ging weiter zur Tür hinter ihm und verließ das Haus, was Luan aus dem Lärm in seinem Rücken schloss, der durch einen Knall verursacht wurde. Wenig später kam noch jemand anderes nach unten, diesmal waren die Schritte aber kaum zu hören, entweder weil die Person sehr leicht war oder absichtlich schlich, um den Stufen keinen weiteren Laut zu entlocken.

Anschließend löste sich die Treppe auf, zerfiel zu grauer Asche und trennte sich von einer strahlend weißen Leinwand ab. Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet ihm, dass das gleiche auch mit der Tür geschah, durch die Cowen das Haus verlassen hatte. Auch dort brach dieser Teil des Bildes von dem Haus auseinander, wurde zu Asche und regnete ins bodenlose Nichts herab, das sich unter seinen Füßen ausweitete. Nur das Wohnzimmer blieb vorerst noch bestehen.

Ja, es ist wirklich eine.

Eine Erinnerung. Die Stimme, mit der er von dem Schall-Alptraum zuletzt angegriffen worden war, musste eine derart persönliche und intime Wunde in Ferris aufgerissen haben, dass es Luan geradewegs in eine Erinnerung von ihm gezogen hatte, fernab von dem aktuellen Traum. Gefühle waren eine besondere Form von Erinnerungen, daher war es nicht verwunderlich, wenn man bei einem Kampf gegen Schall- oder Atem-Alpträume ungewollt in solch einem Zweig aus der Vergangenheit landete. Je nach Fähigkeit, mit der man in eine Erinnerung geschleudert wurde, konnte man von der dann auch nur bestimmte Teile erleben, darum hörte Luan bloß Stimmen.

Es war erstaunlich, dass er nebenbei noch ein Bild von dem Ort sehen konnte, in dem sich die Erinnerung abspielte. Jedenfalls erklärte es auch, warum er nicht vorwärts kam, wenn er lief. Der Schall-Alptraum konnte das Bild nicht realistisch genug aufbauen, nur als starren Hintergrund zeigen und selbst das war ungewöhnlich, da er eigentlich nur die Stimmen und Geräusche übertragen können müsste. An der Stelle hätte Luan sich beinahe wieder in die Frage verloren, mit was für einem Alptraum er es wohl dann genau zu tun hatte, aber er konzentrierte sich auf die Erinnerung, wenn er schon mal hier war.

Er drehte sich Richtung Esstisch und lauschte. Das Schluchzen war nun klar und deutlich zu hören. Endlich wurde die Stimme am Tisch laut genug, so dass er sie problemlos hören konnte, was wahrscheinlich daran lag, dass der Teil der Erinnerung in der Reihenfolge als nächstes dran war. Zu der einen Kinderstimme, bei der es sich um Ferris handeln musste, kam nun eine zweite hinzu. Im Vergleich zu Ferris klang sie wesentlich älter, war aber jugendlicher Natur und gehörte zu einem Jungen, den er keinem bekannten Gesicht zuordnen konnte.

„Hey, Kleiner“, sagte der Junge gut gelaunt, aber er schien besorgt zu sein. „Du lässt dich doch nicht etwa von ihm einschüchtern?“

„Doch“, erwiderte Ferris und schluchzte immer noch. „Ich darf Cowen nicht enttäuschen.“

Zwischen den zwei Stimmen mischte sich noch ein anderes Geräusch hinzu, das Luan sofort erkannte: Ferris zeichnete etwas. Wegen Vane hörte er es inzwischen schnell heraus, sobald ein Kugelschreiber oder andere Stifte über Papier geführt wurden. Wenigstens war es bei Ferris nicht so aufdringlich und störend wie bei Vane, vielmehr unschuldig. Was für ein Bild er wohl zeichnete?

Als Reaktion folgte von dem Jungen ein empörter Laut. „Also willst du mich jetzt echt loswerden?“

„Was soll ich denn sonst machen? Du hast doch gesehen, wie wütend er wieder war.“

„Aber wir haben doch immer so viel Spaß zusammen.“

„Ich weiß.“

„Na also. Willst du dir das so leicht wegnehmen lassen?“

„... Ich weiß nicht.“

Aus dem, was Luan bisher zu hören bekommen hatte, schlussfolgerte er, dass es sich bei dem Jungen um diesen Theeder handeln musste, von dem Cowen gesprochen hatte. Wieder ein Name, den er heute zum ersten Mal hörte. Noch ein Fremder. Komischerweise kränkte ihn die Erkenntnis, wie wenig er eigentlich über Ferris‘ Vergangenheit wusste, sehr. Nein, es schmerzte ihn sogar, dabei hätte er ihn oft genug danach fragen können, aber bisher war dafür nie ein guter Grund aufgetaucht. Davon abgesehen bohrte Luan für gewöhnlich nicht gerne in der Vergangenheit von anderen Leuten herum, im Gegenzug erwartete er das auch umgekehrt von seinem Umfeld.

Geduldig wartete er die weiteren Ereignisse ab, aber es tat sich nichts mehr. Sollte das etwa schon alles gewesen sein? Wenn ja, dann müsste sich auch das restliche Bild auflösen und eine weiße Leere zurücklassen, in der nur ein Herzstück dieser Erinnerung zurückbleiben dürfte. Genau wie bei einer Schöpfer-Welt würde er darauf eine Energiekugel abfeuern und könnte dieses Szenario hinter sich lassen. Wieso geschah nichts mehr? Störte etwas die Ereignisabfolge und ließ sie einfrieren? So ein Problem konnte Luan nun wirklich nicht gebrauchen.

Ich muss hier langsam raus, da draußen wartet noch ein Feind auf mich.

Stimmt, da er in eine Erinnerung abseits des aktiven Traumes gestoßen worden war, musste sein Geist von seinem Körper getrennt worden sein und gerade wehrlos dem Schall-Alptraum gegenüberstehen, dessen Welt er zerstört hatte. Getrennt war nicht das richtige Wort, vielmehr war er aus einer real gewordenen Traumwelt in einen anderen Traum geraten. Nachdenklich glitt sein Blick über das Wohnzimmer, wo er nach irgendwelchen Hinweisen suchte und ihm sprang in der Tat etwas ins Auge: Die Ränder, an denen das Foto des Wohnzimmers bereits ins Weiße überging, sahen so aus, als hätte jemand sein künstlerisches Werk auf einer Leinwand mitten beim Zeichnen abgebrochen.

„Genau wie in dem Traum, den ich kürzlich hatte“, flüsterte Luan vor sich hin.

Den Gedanken konnte er gar nicht erst weiterspinnen, da ihn jemand sofort davon ablenkte und zwar war es die Stimme von Theeder. Diesmal klang sie jedoch um einiges lebhafter und hörte sich nicht so an, als würde sie von einer alten Kassette abgespielt werden. „Jo, Kollege!“

Sogleich schnellte Luans Blick zurück zu dem Esstisch und er verstand nun gar nichts mehr, als er dort jemanden sitzen sah: Einen Jugendlichen mit langen, blonden Haaren, die er zu einem Zopf gebändigt hatte. Ein braunes, leicht rötliches Augenpaar beobachtete amüsiert die Ratlosigkeit, mit der Luan bei diesem Anblick dastand. Zu seiner Kleidung zählten ein braunes Top, eine schwarze, enge Hose sowie abgetragene Schuhe und zwei Armstulpen mit roten Streifen, die er sich bis über die Ellenbogen gezogen hatte. Etwas an seiner Ausstrahlung ähnelte verdächtig der von Ferris, das Auftauchen dieses Fremden machte Luan aber misstrauisch.

„Bist du Theeder?“, fragte er nach, da er es nur von der Stimme her vermuten konnte.

„Höchstpersönlich“, bestätigte der Junge und grinste verspielt. „Schön, dich mal kennenzulernen, neuer, bester Freund von Ferris.“

Was hatte er hier zu suchen? Allein dass er in Farbe zu sehen war, war ein Beweis dafür, dass er kein Teil der Erinnerung sein konnte. Oder doch? Wieso konnte er dann auf dem Tisch sitzen und Luan dagegen kam nicht mal vom Fleck, weil er nichts weiter als ein starres Abbild um sich hatte? In letzter Zeit waren so viele unerwartete Zwischenfälle eingetreten, dass er sich besser gleich damit abfinden sollte. Langsam aber sicher schwirrten ihm dennoch mehr als genug ungelöste und rätselhafte Fragen im Kopf herum, wegen denen Luan sich unbewusst abweisend zeigte.

Statt darüber nachzugrübeln, sprach er Theeder einfach direkt darauf an. „Wer bist du und warum bist du hier?“

„Das sind wahrlich ausgezeichnete Fragen! Ich würde sie dir gern ausführlich beantworten, aber da die Zeit knapp ist, hier eine Kurzform.“ Begeistert sprang er vom Tisch, stemmte eine Hand in die Hüfte und deutete mit dem Daumen der anderen auf sich selbst. „Ich bin ein Sakromahr, also ein Teil davon. Nur ein Fragment, das ich damals eigenständig in den Erinnerungen von Ferris versteckt habe, bevor er mich leider loswerden musste. Sozusagen als kleine Absicherung für meine Existenz.“

„Ein Sakromahr?!“

Jegliche Feindseligkeit fiel schlagartig von Luan ab. Natürlich, das erklärte einiges, was diese Erinnerung hier betraf und warum Cowen wollte, dass Ferris Theeder loswurde. Imaginäre Freunde waren selten gern gesehen und wurden häufig als irgendeine psychische Störung oder etwas dergleichen abgestempelt, dabei war ein Sakromahr durchaus real, konnte aber nur von dessen Erzeuger gesehen werden und entstand in den meisten Fällen aus Tagträumen. Von einem Sakromahr ging keine Gefahr aus, zumindest äußerst selten.

Entscheidend war stets der Inhalt des Wunsches, aus dem so ein Alptraum geboren wurde, wobei Luan sie ungern so betrachtete, aber sie wurden leider als solche gezählt. Viel zu lange war es her, seit Luan zuletzt einem begegnet war, dabei wurde er einst wegen einem Sakromahr überhaupt zum Traumbrecher. Aus dem Grund wühlte ihn der Anblick von Theeder auch innerlich auf. Zu gern würde er alles über diese Traumgestalt in Erfahrung bringen, zum Beispiel wieso Ferris ihn erschaffen hatte und wie Theeder zu ihm stand.

„Wie ich merke, wurde der gute Ferris von einem Alptraum befallen. Ihm bleibt wirklich nichts erspart, dauernd muss ich mich um den Kleinen sorgen“, meinte Theeder und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, mit der er zuvor auf sich gedeutet hatte. „Wir haben also im Prinzip keine Zeit für ein langes Gespräch. Du musst schnell hier raus und ihm helfen, deine Geißel nimmt da draußen vielleicht schon alles auseinander.“

Meine Geißel?“

Überrascht neigte Theeder den Kopf zur Seite. „Oh, du weißt noch nicht viel, kann das sein?“

Wie wahr. Viele Jahre lagen hinter ihm, in denen er Erfahrungen und Wissen sammeln konnte, doch seit sie zu dieser Mission aufgebrochen waren schien es so, als wüsste er bei weitem noch nicht alles, höchstens einen Bruchteil von der ganzen Wahrheit. Selbst ein Sakromahr sprach nun von einer Geißel, was Luan nicht gefiel. Ganz und gar nicht. Sollte es in ihm selbst eine geben, hätte er es dann nicht merken müssen? Konnte er diesem Theeder glauben? Konnte er überhaupt noch an etwas von dem glauben, was er gelernt und verinnerlicht hatte?

„Hey, Alter! Nicht abdriften!“, holte Theeder ihn aus seinem Schock heraus. „So wie es aussieht, hat deine Geißel die Gelegenheit ausgenutzt und dich hier eingesperrt.“

Luan verstand nichts, aber er versuchte, sich auf das Problem einzulassen. „Wie kommst du darauf?“

„Och, es gibt so ein paar Punkte, die darauf hinweisen.“ Selbstsicher zwinkerte er ihm zu. „Und ich lag bisher nie falsch bei solchen Sachen. Alpträume durchschauen andere Alpträume recht schnell, was Sinn macht, findest du nicht?“

„Ich kann dir nicht folgen“, gab Luan zu und musste schwer seufzen. „Aber ich dachte mir schon, dass hier was nicht stimmt. Die Erinnerung läuft nicht weiter.“

„Äh, also das liegt an mir, weil ich gar nicht hier sein dürfte.“ Es folgte ein Lächeln als Entschuldigung, wie es auch Ferris oft bei ihm nutzte. „Ist aber dein Glück. Mit mir hat deine Geißel sicher nicht gerechnet. Ich werde mich opfern und dich hier rausholen.“

Klang so, als würde Luan sonst so oder so nicht so leicht aus dieser Erinnerung rauskommen können, ob mit oder ohne die Anwesenheit von Theeder, die laut ihm hier alles lahmgelegt hatte. Zweifelnd schüttelte Luan den Kopf. „Und wie willst du das anstellen? Ich meine, ich begreife ehrlich gesagt gar nicht, was hier los ist.“

Life is complicated~“, kommentierte Theeder, sang es sogar fast vor sich hin. „Tja, wenn man denn eins hat. Ich bin ja nur ein Sakromahr.“

Das stimmte nicht, auch ein Sakromahr hatte ein Leben. Niemand wusste das besser als Luan, deshalb wollte er auch gerade widersprechen, aber Theeder unterbrach ihn. „Sag, kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Wie?“ Irritiert sah er ihn an, nickte aber. „Sicher.“

Erleichterung begann in Theeders Augen zu leuchten. „Wenn du da draußen alles erledigt hast, kannst du Ferris sagen, dass er mich wieder freilassen soll?“

„Dich freilassen?“

„Ja, er ist mich so gut losgeworden, dass er mich sogar vergessen hat“, erzählte er weiter und griff hinter sich nach etwas, das auf dem Tisch lag, um es ihm zu zeigen: Eine Kinderzeichnung von Theeder. „Ich mache ihm keinen Vorwurf, war keine leichte Entscheidung für ihn gewesen damals.“

Fragen brannten Luan auf der Zunge. So viele Fragen. Dafür war keine Zeit, das wussten sie beide, also nickte er nur noch einmal entschlossen und Theeder tat es ihm gleich. Schließlich schwand jegliche Emotion aus seiner Mimik, als er die folgenden Worte aussprach: „Gut, und jetzt erschieß mich.“

Das war also mit opfern gemeint. Klar, diese Erinnerung hing eng mit Theeder zusammen, also dürfte sie zerbrechen, wenn er ihn auslöschte. Zwar war er nur ein Fragment, das nicht hier sein dürfte, aber er blieb ein zentraler Punkt und hatte sich im Laufe der Zeit ohne Zweifel mit diesem Erinnerungszweig verbunden. Erst wollte sich Luans Körper dagegen sträuben, einen Sakromahr zu erschießen, doch er dachte an Ferris und daran, dass er für Theeder offenbar auch wichtig war und er ihn in Sicherheit wissen wollte. Je länger Luan zögerte, desto größer die Gefahr, dass es sonst zu spät sein würde.

Also öffnete er den Sprungdeckel seiner Taschenuhr. Nahm seine Pistole zur Hand. Zielte. Und drückte ab. Ohne ein Wort. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren.
 


 

***
 


 

Mit einem schweren Atemzug kehrte Luan in die Wirklichkeit zurück, seine Lungen füllten sich sofort mit kühler Herbstluft. Vor seinen Augen lösten sich noch die letzten Splitter der Erinnerung auf, ehe er endlich klar sehen konnte. Jetzt musste er schnell die Situation einschätzen und vor allem seinen Gegner ausfindig machen, also huschten seine Augen gleich hastig in sämtliche Richtungen. Sein Herz fing wieder an zu rasen.

Er befand sich außerhalb des Hotels, stand auf einer von den rot leuchtenden Klingen, die weit oben in der Wand feststeckte und ihm somit Halt gab. Seine Atem-Prägung war also noch aktiv und jemand musste sie benutzt haben, als er mit dem Geist abwesend gewesen war. Etwa wirklich eine Geißel, wie Theeder sagte? Die Vorstellung behagte ihm nicht, sorgte für Gänsehaut, jedenfalls an den Stellen, wo sich noch keine schwarze Ablagerung über seine Haut gezogen hatte.

Einige Meter entfernt klaffte ein großes Loch in der Außenwand des Hotels, sicher lag dort das Zimmer von Ferris und Luan, wo sich zuvor noch ein Alptraum mit seiner Schall-Welt eingenistet hatte. Schäden waren also in jedem Fall schon entstanden, hoffentlich war wenigstens niemand verletzt worden. Nervös jagte sein Blick weiter durch die Gegend, suchte nach mehr Einzelheiten und er fand auch rasch die nächsten: Sämtliche Menschen in der Umgebung schliefen, einige Passanten lagen reglos auf dem Boden herum.

Warum er nicht glaubte, dass sie tot waren? Ein Lied war zu hören, das er gut kannte und der Sänger stand am Eingang zum Hotel: Vane. Neben seiner Tätigkeit als Arzt war seine Schall-Prägung auch für andere Dinge nützlich, so zum Beispiel dafür, die Menschen in solchen Situationen aus dem Verkehr zu ziehen und so eine Massenpanik zu verhindern oder kein zu großes Aufsehen durch ihren Kampf zu erregen.

Ruhig, eindringlich und friedlich drang es in den Geist ein, das Schlaflied, ein Klang so rein und ungetrübt, wie Luan es nur von Vane her kannte und nicht anders konnte, als es faszinierend zu finden. Den Text verstand er nicht, weil eine fremde Sprache genutzt wurde, aber die Gefühle kamen an. Zu gut sogar, Müdigkeit erfasste ihn und er begann schon bedrohlich zu schwanken, musste aufpassen nicht von der Klinge runterzufallen.

Will er mich etwa auch einschlafen lassen? Sonst kann er doch kontrollieren, ob nur Menschen oder Traumbrecher betroffen sein sollen.

An Vanes Seite saß Naola, die wieder bei Bewusstsein war und ihrem Vorgesetzten dabei half, sein Lied in der Umgebung zu verteilen, indem sie mit ihrer Schöpfer-Prägung einen Wind schuf, der die Töne mit sich in die Ferne trug. Auch zu ihm, was nicht gut war. Besser er machte auf sich aufmerksam, sonst könnte er bald schon einschlafen und nichts mehr unternehmen, also schrie er so laut er konnte in ihre Richtung.

„Vane! Naola!“ Synchron blickten sie zu ihm hoch, sahen merkwürdig misstrauisch und feindselig aus. „Ich schlafe hier gleich ein! Lenkt die Töne woanders hin!“

Erst durchbohrte Vane ihn mit einem prüfenden Blick und ließ sich nicht davon ablenken seelenruhig weiter sein Lied zu singen. Anscheinend sah er dann etwas in Luan oder machte eine Feststellung, durch die er die Klangfarbe seiner Stimme nur minimal änderte, aber das reichte aus, um Luan als Betroffenen auszugrenzen. Augenblicklich verzog sich die Müdigkeit und er war hellwach, so wie es sein sollte. Mehr aus Reflex nickte er Vane dankend zu und suchte erneut mit den Augen die Gegend ab, immerhin hatte er den Feind noch nicht gesichtet.

„Luan!“, rief Naola ihm zu, da Vane weitersingen musste. „Über dir!“

„Über mir?!“

Kampfbereit sah Luan nach oben, in einen dunklen, mit Wolken bedeckten Himmel. Kein Feind in Sicht, was nicht heißen musste, dass er nicht da war. Grundlos würde Naola ihn bestimmt nicht auf diese Richtung hinweisen, Wachsamkeit war also angesagt. An seinem Unterarm ruhte nur noch eine Klinge, auf einer weiteren stand er drauf, aber wo waren die anderen vier? Erst da bemerkte er, dass seine Gefühle noch gar nicht mit seiner Prägung in Verbindung standen, dabei war sie momentan aktiv am Arbeiten.

Vorsichtig tippte er gegen die einzelne Klinge an seinem Unterarm und sie leuchtete kurz noch kräftiger auf, verkettete sich mit seinem Inneren. Jetzt konnte er es auch wieder spüren, sechs zusätzliche feine Herzschläge in seinem Handgelenk. In seinem Kopf vernetzten sich die Empfindungen sowie Eindrücke der Klingen mit seinen eigenen, wodurch er ihre Positionen mitgeteilt bekam. Nicht mit Bildern oder Stimmen, einzig durch Gefühle. Über ihm spürte er eine Welle aus Hass, ausgehend von vier verschiedenen Punkten und sie wurde stärker, näherte sich ihm.

Dann brach er aus der Wolkendecke hervor, wie ein Blitz: Der Alptraum, dicht hinter ihm vier rot leuchtende Klingen, von denen er verfolgt wurde. Er sah genauso aus wie dieser Reinmahr, der sich als eine unbekannte Gattung herausgestellt hatte. Sein gesamter Körper bestand aus schneeweißem Traumsand, der verhärtet war. Wieder besaß er eine menschliche Gestalt, war geschlechtslos und hatte kein Gesicht, in dem sich Emotionen erkennen ließen. Der letzte Alptraum von dieser Sorte war stumm, weil er ein Schöpfer gewesen war, aber dieser hier redete ununterbrochen.

Reden war weit hergeholt. Aus ihm kamen unverständliche, schrille Laute heraus, zwischendurch ließ sich jedoch ein bestimmtes Wort heraushören, das er mit viel Leidenschaft zischte: „Geißeeeeeel~! Geißeeeeeel~! Geißeeeeeel~!“

„Na warte“, zischte Luan zurück. „Mit dir mache ich kurzen Prozess.“

Letztes Mal hatte er fast seine ganze Energie dafür verbraucht, um einen Schuss abfeuern zu können, mit dem er den anderen Alptraum dieser Art vernichten konnte. Diesmal würde es anders ablaufen, noch einmal wollte Luan hinterher nicht in einem Krankenwagen oder schlimmstenfalls im Hauptquartier aufwachen.

Zügig löste sich die eine Klinge von seinem Unterarm und schwebte nach unten, ein kleines Stück höher neben die andere, die in der Wand steckte, so dass Luan sie wie eine Treppenstufe hinauf steigen konnte. Kaum hatte er einen Fuß von einer Klinge auf die nächste gesetzt, riss sich die aus der Wand los und eilte als nächstes knapp über die andere, bildete eine weitere Treppenstufe für Luan. In einem gleichmäßigen, zeitlich perfekt abgepassten Tempo lösten sich die Klingen auf diese Weise wieder und wieder gegenseitig ab, so halfen sie Luan dabei durch die Luft zu rennen. Weg von dem Gebäude, an dem er weitere Schäden vermeiden wollte.

„Geißeeeeeel~!“, kreischte der Alptraum euphorisch und flog im Zickzack durch die Gegend, floh vor seinen vier Verfolgern.

„Er ist ganz schön schnell, sie erwischen ihn nicht“, stellte Luan fest, verlor jedoch nichts von seiner Entschlossenheit. „Das lässt sich ändern.“

Als er weit genug von dem Hotel entfernt war, hoch oben in der Luft, blieb er auf einer von den zwei Klingen stehen und winkte die andere zu sich zurück, an ihren Ausgangspunkt an seinem Handgelenk, wo sie sich auch gleich positionierte. Danach streckte er beide Arme gerade nach vorne und breitete sie aus, bis er einen Halbkreis angedeutet hatte. Durch diese Geste streckte sich die Klinge unter seinen Füßen aus, bot ihm mehr Fläche, auf die er sicher stehen konnte und bildete eine große, schwebende Plattform.

Jetzt musste er nur noch den Alptraum auf sich aufmerksam machen, von dem er noch nicht entdeckt worden war oder er wurde einfach von ihm ignoriert. Dafür öffnete er den Sprungdeckel seiner Taschenuhr und durch das grelle, weiße Licht, aus dessen Feuer die Pistole erschien, wurde er tatsächlich endlich vom Feind wahrgenommen. Sein Kopf verdrehte sich in Luans Richtung, auf eine unmenschliche Art und Weise, scheinbar um ihn anzuschauen, in Wahrheit reagierte er aber sicher nur auf das Geräusch, das zu hören war, als das weiß leuchtende Feuer zersplitterte.

Erst konnte Luan Feindseligkeit spüren, ähnlich wie bei Vane und Naola eben, bis sie sich in Freude umwandelte und der Alptraum mit seiner Stimme förmlich vor Leidenschaft explodierte. „Luaaaaaan~!“

„Was?“ Luan war zwar verwundert, schloss derweil aber den Deckel von seiner Uhr wieder und die Pistole löste sich auf. „Woher kennst du meinen Namen?“

Statt einer anständigen Antwort stieß sein Gegner ihm einen ohrenbetäubenden Schrei entgegen, mitten im Flug, ohne dafür anzuhalten. Dieser Schrei war nicht mehr unsichtbar, wie zuvor in der Schall-Welt, sondern es war ein rot glühender Blitz, der geradewegs auf ihn zuschoss. Trotz seiner Verwunderung riss Luan reaktionsschnell den Arm hoch, an dem sich die Klinge zu einem Schild ausgeweitet hatte, hinter dem er so gerade eben Schutz fand. Hätte er nicht bereits so viele Gefühle absorbiert, könnte er die Klingen nicht einzeln und getrennt voneinander in ihrer Form verändern, so wie er es jetzt tat.

Der Blitz schlug mit voller Wucht gegen das Schild und warf ihn einige Schritte nach hinten. Fast wäre er von der Plattform gefallen, denn mit solch einem starken Aufprall hatte er nicht gerechnet. Knapp vor dem Abgrund gewann er den Halt zurück und nahm einen festeren Stand ein, während das Gefühl, das in dem Schrei lebte, von seiner Klinge aufgenommen, nahezu verschlungen wurde. Sein rechter Arm zitterte vor Anstrengung, als der Blitz ihm eine stark konzentrierte Menge an Hass durch den Körper jagte, ehe dieses Gefühl mit seiner Prägung verschmolz und sich die Leuchtkraft ein wenig erhöhte.

Völlig planlos nahm der Alptraum Luan mit weiteren Schreien unter Beschuss, realisierte nicht, dass er damit nichts bei ihm ausrichten konnte – andere Angriffsmethoden beherrschte er vermutlich nicht. Von mehreren Stellen im Himmel aus schlugen rote Blitze auf ihn ein, mit einem hohen Tempo brauste der Feind nämlich weiter hin und her, floh vor den vier Klingen in seinem Rücken, die ihn hartnäckig verfolgten. Jeder Einschlag ließ seine Prägung heller und heller leuchten, fütterte sie mit mehr Macht.

Dadurch nahm die Geschwindigkeit der Verfolger des Alptraums massiv zu, bis die erste Klinge ihn bald schon überholte und dabei einen sauberen Schnitt auf einer Seite des Körpers hinterließ. Auch die anderen zogen an ihrem Ziel vorbei, bohrten sich mühelos durch den Traumsand hindurch. Vor Schmerz begann der Alptraum zu heulen und musste seine Angriffswelle auf Luan stoppen, verkrampfte sich, konnte nicht mal mehr weiterfliegen. Feuer brach aus den offenen Stellen hervor, genau wie beim letzten Mal.

„Pech für dich, dass ich keine Angst vor Feuer habe.“

Die vier Klingen eilten zu ihm zurück, nahmen ihre üblichen Positionen neben der anderen an seinem Unterarm ein und verbündeten sich zu einer Einheit. Auch wenn noch eine fehlte, dürfte die angesammelte Menge an Gefühlen reichen, um dem Alptraum den Rest zu geben. Eigentlich war die Energie aus der Pistole nötig, aber die Gefühle wurden in seiner Atem-Prägung ebenfalls zu einer Form von Macht umgewandelt, so dass sie genauso gut funktionierte. Also gab er einen letzten, gezielten Schuss ab und diesmal war der Schmerz beim Rückstoß so enorm, dass ihm Tränen in Augen schossen.

Es sah aus, als würde eine gebündelte Kugel aus Licht wie ein Komet durch die Luft schießen und hinterließ einen feurig roten Schleier auf seiner Flugbahn. Der Himmel ging in Flammen auf, als seine Prägung auf den Alptraum traf und explodierte, ihn in sich einschloss. Das Licht blendete ihn, wie bei der Explosion im Refugium. Schützend legte er einen Arm vor sein Gesicht und schloss die Augen, um hinterher nicht wieder halb blind dazustehen. Er glaubte, den Alptraum noch einmal seinen Namen rufen zu hören, ehe er schließlich für immer verstummte.

Unter ihm verblasste das aggressive Rot zu einem neutralen Weiß, die Leuchtkraft nahm innerhalb von Sekunden ab und das kühle, ruhige Hellblau kehrte langsam in die Klinge zurück, aus der sämtliche Gefühle verbraucht worden waren. Auch die Dunkelheit nahm den Himmel wieder in Beschlag, als die Explosion vorbei war und nur die anderen fünf Klingen zum Vorschein kamen, die gemächlich zu ihm zurück schwebten. Der Alptraum war restlos vernichtet worden.

„Geschafft“, stellte er fest und atmete durch. „Ich habe es geschafft, ohne Energie zu verbrauchen.“

In Luan wurde eine Begeisterung freigesetzt, an der er sich nicht mal für einen kurzen Moment erfreuen konnte. Nachdem all der Hass, den er absorbiert hatte, mit der Explosion und dem Alptraum verschwunden war, machten sich die psychischen Male bemerkbar, von denen er einige abbekommen hatte. Reue, Angst und Schmerz begannen in seinem Inneren wild zu toben, begleitet von einem letzten, winzigen Funken Hass, der ihm den Atem raubte. Er fing an zu keuchen und versuchte gegen den Sturm anzukämpfen, was unmöglich war, solange die Male auf seiner Haut brannten.

Unbewusst suchte sein Blick den von Vane, weil er wusste, dass er sie ohne ärztliche Hilfe nicht loswerden würde, dafür fehlten ihm die nötigen Fähigkeiten. Der hatte sein Lied inzwischen wohl beendet, denn er stand nicht mehr am Eingang, nur Naola saß noch dort und sah ziemlich erschöpft aus. Wo war der Doktor hin? Luan wurde unruhig, Todesangst und Todeswunsch wechselten sich miteinander ab, waren nach wie vor ein fester Bestandteil von der Angst und dem Schmerz. Aus Unruhe wurde schnell Panik, die Male fingen an ihre Wirkung zu entfalten.

Plötzlich spürte er dann, wie sich etwas auf seiner Haut bewegte. Erst erstarrte er, glaubte es sich bloß eingebildet zu haben. Hoffte sogar darauf, denn ihn überkam eine böse Vorahnung. Mit zitternden Händen strich er einen Ärmel von seinem schwarzen Mantel hoch und wollte einen Blick auf die schwarze Kruste dort werfen. Sie bewegte sich! Schlängelte sich vorwärts, eroberte noch mehr Fläche von seinem Körper, überall. Er spürte, wie sie sich überall zu regen angefangen hatte. Jetzt erreichte die Panik ihren Höhenpunkt.

„Nein, nein! Das ist schon seit Jahren nicht mehr passiert! Ich dachte, sie wächst nicht mehr?!“

Auf einmal setzte die Schwerkraft wieder ein und zog seinen Körper nach unten. Angst war in ihm freigesetzt worden, nur nicht die von den psychischen Malen, es war seine eigene, die erwacht war. Unter dieser Angst konnte er seine Fähigkeiten nicht aufrecht erhalten, seine Prägung hatte sich eigenständig in die Ruhephase begeben, somit konnte er sich nicht mehr in der Luft halten. Unaufhaltsam stürzte er hinab, kam dem harten Asphalt der Straße unter ihm näher und näher.

Daran, dass er jeden Moment auf dem Boden einschlagen könnte, dachte er nicht, dafür machten ihn die Bewegungen auf seinem Körper viel zu verrückt. Auch an seinem Hals kroch dieses schwarze Teufelszeug nun empor und er wagte sich kaum noch zu schlucken oder zu atmen. Zum ersten Mal wünschte er sich, dass Vane herausgefunden hätte was es war, um es ihm abzunehmen. Irgendwie hatte er es geschafft zu verdrängen, wie viel Angst es ihm machte, wenn es sich ausbreitete, so wie jetzt. Panische Angst.

Wieso?! Wieso jetzt?! Es war doch jahrelang ruhig! Es ist nie was passiert!

Er kniff die Augen zusammen und war kurz davor aufzuschlagen, doch dann endete sein Sturz viel weicher, als er erwartet hatte.

„Alles in Ordnung?“, fragte ihn jemand.

„... Vane?“

Fast traute er sich gar nicht, öffnete die Augen aber dann doch wieder und blickte direkt in das Gesicht des Doktors, lag sogar in seinen Armen. Hatte er ihn etwa aufgefangen? Ja, es musste so sein. Seltsamerweise war Luan kurzzeitig sehr erleichtert darüber, seine Panik und Angst löschten diese angenehme Empfindung aber auf der Stelle aus, eroberten sich ihr Revier zurück. Die Regungen auf seiner Haut wurden immer lebendiger, raubten Luan seinen klaren Verstand. Hilfesuchend klammerte er sich an Vanes Kittel fest.

„Vane! Es wächst wieder!“, haspelte er und bemerkte nicht, dass er diese Worte ohne Pause wiederholte.

Zunächst ging Vane auf die Knie und legte ihn halb auf seinen Beinen ab, ehe er etwas darauf erwiderte. „Beruhige dich, Luan. Du machst es sonst nur schlimmer.“

Luan konnte sich nicht beruhigen, selbst wenn er gewollt hätte. Ununterbrochen wiederholte er seine Worte, steigerte sich mehr und mehr in Panik und Angst hinein. Jeder hätte erkannt, dass er auf normalem Wege nicht zu beruhigen war, auch Vane wurde das bewusst und die Klangfarbe seiner Stimme veränderte sich, als er auch seine Worte noch einmal wiederholte. „Beruhige dich.

Die Kälte in seiner tiefen Stimme war anders als sonst, kein bisschen abweisend und distanziert. Vanes Worte richteten sich nicht einfach nur an sein Gehör, sie drangen direkt in seinen Geist ein, wo sie sich an sein Herz richteten. Der klare Klang schien ihn zu reinigen, verbannte sämtliche Misstöne aus seinem Inneren und löste den Sturm auf, sorgte für Windstille. Wie glasklare Eiskristalle im Sonnenlicht, so rein und fesselnd war seine Stimme. Brachte Luan wirklich zur Ruhe.

Er verstummte und schloss die Augen, konnte dennoch weiterhin spüren, wie sein Körper von der Ablagerung eingenommen wurde. Ein kleiner Rest von der Angst blieb daher erhalten, als Luan es nochmal aussprach. „Es wächst weiter.“

„Ich weiß.“

„... Helfen Sie mir“, flehte er leise und wagte nicht sich zu bewegen. „Bitte, tun Sie etwas.“

„Schon gut“, entgegnete Vane und drückte Luan an sich. Eine Geste, wie er sie bis jetzt noch nie von diesem Mann erlebt hatte. Wahrscheinlich lag es an seiner Größe, wegen der Luan anfing sich sicher zu fühlen. Oder es waren die folgenden Worte: „Ich bin hier und werde dir helfen. Alles wird gut.“

Erneut fing Vane an zu singen und Luan glaubte, dass dieses Lied diesmal allein für ihn bestimmt war.

Ich will die Wahrheit wissen

Vanes Gesang füllte den gesamten Raum aus und war wie ein wohltuender Regenschauer, der den Schmerz an den Stellen linderte, wo sich psychische Male in die Haut gebrannt hatten. Die Worte prasselten wirklich wie einzelne, unsichtbare Wassertropfen auf Luan nieder und drangen mühelos durch jegliche Kleidung sowie die schwarze Kruste hindurch, um sich dann wie eine heilende Salbe auf den Druckstellen zu verteilten.

Wegen der Ablagerung auf seinem Körper konnte Vane nicht sehen, an welchen Stellen genau all die Male lagen, daher hatte Luan sich gar nicht erst ausziehen müssen, aber das wäre sowieso nicht nötig gewesen. Jedes gesungene Wort fand nämlich von ganz alleine den richtigen Weg zu den jeweiligen Zielpunkten, so ähnlich wie bei der Anziehungskraft von Magneten.

Es handelte sich bei dem Lied wieder um eine ihm fremde Sprache, dieselbe, die zuvor Bernadette bei ihm angewandt hatte und die auch von Vane dazu genutzt worden war, um dieses Schlaflied vor dem Hotel zu singen. Obwohl Luan sie nach wie vor nicht verstand und ihm der Inhalt des Textes somit verschlossen blieb, konnte der diesmal einige Stellen herausfiltern, deren Bedeutung er anhand der mit ihnen verbundenen Stimmlage zu erahnen glaubte. Manche Passagen klangen verdächtig nach einem Befehl von Vane an seine eigene Prägung, nach einer Art Forderung etwas Bestimmtes zu tun. Jetzt gerade meinte er ein „Finde die Reue“ herauszuhören, das sich in die Ruhe und Reinheit des Liedes mischte.

Ein neuer, frischer Regenschauer prasselte auf ihn nieder, fast glaubte Luan sogar tatsächlich kurzzeitig einen solchen hören zu können. Mit geschlossenen Augen lag er auf einem der Betten in seinem Hotelzimmer, in dem Vane schon seit einer Weile die Behandlung seiner psychischen Male in Angriff nahm. Vor Behandlungsbeginn hatte er Luan aber noch danach ausgefragt, ob er ihm nennen könnte, welche negativen Emotionen in seinen Geist gebrannt worden waren, angeblich weil es helfen würde ihn schneller von seinen Leiden zu befreien.

Viel Konzentration und Mühe waren dafür nötig gewesen, da Luan zu dem Zeitpunkt noch sehr unter der Wirkung dieser Male gelitten hatte, doch es war ihm gelungen, Vane die gewünschte Information zu geben. Diese Antwort schien in der Tat geholfen zu haben, inzwischen fühlte Luan sich schon wesentlich besser und das nach nur wenigen Minuten. Nur noch ein einziges Mal war übrig, das Vane von ihm entfernen musste. Früher war er nicht so schnell darin gewesen wie heute, sein Können war in den letzten Jahren ordentlich gestiegen, er hatte zweifelsohne einiges an Erfahrung hinzu gewonnen.

Na ja, verlor er sich in den Gedanken. Er musste das hier auch bestimmt schon sehr oft machen.

An dieser Stelle wollte Luan lieber nicht an seine erste Begegnung mit einem Schall-Alptraum zurückdenken, zumal die Erinnerung ohnehin viel zu verschwommen war. Viel zu lange her. Also leerte er seinen Kopf und ließ die Behandlung weiter über sich ergehen. Wie zuvor drangen die nächsten, gesungenen Worte einfach durch das schwarze Hindernis hindurch, berührten das Reuesymbol in Form einer Druckstelle auf seiner Haut und vertrieben das Brennen, bildeten eine kühle Schicht über dem Mal.

Schließlich änderte sich Vanes Stimmlage beim Singen wieder etwas und gab einen neuen Befehl durch, der ungefähr „Löse die Reue“ bedeuten könnte, wenn Luan es richtig einschätzte. Schon oft war er erstaunt darüber, was für eine Masse an Farben eine einzelne Stimme annehmen konnte. Egal, wie viele unterschiedliche Tonlagen er schon von ihm gehört hatte, Vane schien niemals das Sortiment an Neuheiten auszugehen. Ähnlich wie bei einem Künstler, dem es nicht an Ideenreichtum und Schaffensdrang mangelte.

Sofort spürte er, wie das Gefühl der Reue sich in ihm regte und dieses letzte bisschen Unkraut mit seinen Wurzeln aus dem Boden seines Inneren gerissen wurde. Ein kurzes Stechen folgte in der rechten Schulter, wo das Mal lag, danach wurde es geradezu gewaltsam von der Kraft, die in Vanes Stimme lag, aufgesogen. Eine Gewalt, die sich nicht schmerzhaft anfühlte, sondern nur ein Wegweiser für die Reue war, dass sie nicht länger in Luan bleiben konnte und gehen musste. So war es auch. Dieses Gefühl, das sich unerlaubt in ihm breitgemacht hatte, löste sich von ihm und ließ eine willkommene Leere zurück, in der nur noch Platz für seine eigenen Emotionen blieb. Wie es sein sollte.

Langsam öffnete Luan die Augen, starrte erst an die Decke des Zimmers, drehte den Kopf aber gleich zur Seite und lenkte seinen Blick auf Vane, der neben ihm auf der Bettkante saß, die Augen fest auf den Punkt an seinem Körper gerichtet, an dem das letzte Mal lag. In einer Hand hielt er, wie immer, einen Kugelschreiber, damit er sich jederzeit Notizen machen konnte. Sein dazugehöriges Klemmbrett ruhte jedoch auf seinem Schoß und statt zu schreiben hatte er die Hand mit dem dafür nötigen Werkzeug auf dieser Unterlage abgelegt, während er in der anderen seine geöffnete Taschenuhr festhielt.

Hätte Luan gerade Kontakt zu seiner eigenen, könnte er dank der Sicht auf Aureuph sehen, wie sich jetzt ein pechschwarzer Faden aus tausenden, feinen Sandkörnern von seiner rechten Schulter aus direkt zu der Uhr des Doktors zog, wo die Reue in diesem Zentrum der Energie vom Atemfluss spurlos vernichtet wurde, ohne dass die Pistole dafür notwendig war.

Eine Besonderheit, zu der nur Schall-Prägungen fähig waren, weil sie mit ihrem Gesang Auswirkungen von feindlichen Fähigkeiten wie diese, zu denen die Beeinflussung von Emotionen zählten, locken und treiben konnten, wie sie wollten. Psychische Male wurden durch Schall verursacht und waren auch nur durch diesen wieder aufzuheben, gerade darum war es ja so tückisch für die meisten Traumbrecher, von solchen gebrandmarkt zu werden. Bestenfalls vermied man solche Treffer, es sei denn, diese Angriffe machten der Zielperson nicht so viel aus. Zur letzteren Sorte hatte Luan sich eigentlich auch gezählt.

Knapp eine Minute später klappte Vane den Deckel der Taschenuhr wieder zu und ließ sie in einer Brusttasche seines weißen Kittels verschwinden. Noch eine weitere Minute verstrich, in der er das Lied mit einigen letzten Zeilen zu einem Ende führte und daraufhin verstummte. Im Raum blieb ein gewisses Echo von seinem Gesang zurück, dank dem die Atmosphäre nicht von Stille heimgesucht werden konnte, obwohl sie beide vorerst schwiegen. Natürlich widmete Vane sich als nächstes doch noch seinen Notizen, richtete den Blick auf die Akte am Klemmbrett und fing an zu schreiben. Genervt verzog Luan das Gesicht, als er dieses verhasste Geräusch vernahm und musste sich ein Seufzen verkneifen.

Er schwenkte den Blick von Vane hinüber zu Ferris, der in dem anderen Bett im Zimmer lag und noch schlief, demnach war er also wirklich der Träumer gewesen, der von einem Alptraum befallen worden war. Bis zum Schluss hatte Luan das Gegenteil gehofft, so lächerlich seine Sturheit auch sein mochte. Ändern würde sich das wohl auch nicht so bald.

Gleichmäßig hob und senkte sich der Brustkorb von Ferris, er wirkte ziemlich friedlich, dabei gingen die Eindrücke, die Luan in diesem Kampf von ihm gewonnen hatte, in eine ganz andere Richtung. Im Moment war er aber einfach nur froh, dass es Ferris gut ging. Noch nie war Luan so erleichtert darüber, ein Opfer nach einem Kampf so friedlich schlafen zu sehen wie jetzt.

Niemand würde darauf kommen, dass Ferris vor einer Weile noch einen Alptraum durchlebt und hier eine Auseinandersetzung mit einem übernatürlichen Wesen stattgefunden hatte. Das Loch in der Wand war nämlich von Naola längst wieder einwandfrei verschlossen worden, indem sie diese mit ihrer Schöpfer-Prägung und ein wenig Traumzeit wiederhergestellt hatte. Für kleine Spielereien konnte man Prägungen zwar jederzeit einsetzen, nur für solche Dinge oder gar um effektiven Schaden im Kampf anrichten zu können, musste man auch etwas Zeit von seinen sechs Stunden einbüßen.

Anders hätte Ferris, dessen Schöpfungen auf alles ausgelegt war, was mit Wasser zu tun hatte, in ihrem ersten Kampf gegen eine unbekannte Gattung sicher keinen Eisregen oder diesen Schild heraufbeschwören können. Versuchte er etwas außerhalb dieses Bereiches zu schaffen, konnte er es im schlimmsten Falle nicht kontrollieren, es sei denn er hatte ausreichend dafür geübt. Naola schien auf jeden Fall ihren Handlungsbereich der Prägung ausgeweitet zu haben, da ihr Schwerpunkt als Schöpferin eigentlich bei Wind lag.

All diese Gedanken über Prägungen führten Luan zu seiner eigenen. Vorsichtig hob er seinen rechten Arm ein Stück an und konnte das leichte Gewicht der sechs Klingen, die im Ruhemodus waren, zwar noch spüren, aber etwas war anders. Durch dieses Lied, das Vane für ihn gesungen hatte, als seine Ablagerung sich auszubreiten drohte, wurde nicht nur der Wachstum gestoppt, wofür Luan ihm durchaus dankbar war, auch der Kontakt zu seiner Atem-Prägung schien seitdem gestört zu sein. Sie war noch da, könnte genutzt werden, nur war der Zugriff auf einmal schwerer geworden. Komplizierter.

Der Grund dafür war, dass er es kaum schaffte sein Innerstes mit den Klingen zu verketten, seine Empfindungen und Eindrücke mit ihnen zu teilen. Ihm gelang es nicht mal, irgendein vorhandenes Gefühl stark genug hervorzuheben, so dass er Kontakt zu seiner Prägung fand. Schuld war die besagte Atemhypnose, die von Ferris‘ Doppelgänger – auch hier weigerte Luan sich nach wie vor, an eine echte Geißel zu glauben – angesprochen worden war. Das Loch in dem Netz, durch das derart intensiv allerhand verloren geglaubte Emotionen geströmt war und von denen er sich förmlich überfallen gefühlt hatte, war wieder verschlossen. Von Vane, womit ihm etwas klargeworden war.

„Sie waren das“, sagte Luan schließlich und brach das altbekannte Schweigen zwischen ihnen, hielt den Blick aber auf Ferris gerichtet.

Ohne vom Klemmbrett aufzuschauen oder das Schreiben zu unterbrechen, antwortete Vane ihm: „Was genau meinst du?“

„Diese Atemhypnose“, sprach er es einfach direkt an, so vorwurfsvoll und missbilligend wie er nur konnte. „Sie waren das.“

„Du weißt es also“, erwiderte Vane bloß eintönig, Anzeichen eines schlechten Gewissens suchte man vergeblich. Ebenso wie eine Regung, an der man herausfinden könnte, was er dazu dachte. „Liegt das denn nicht nahe?“

„Sie leugnen es also nicht mal?“

„Wie gesagt, es liegt nahe. Wieso sollte ich also?“

Ja, es lag in der Tat sehr nahe und Luan ärgerte sich darüber, dass er nicht früher darauf gekommen war. Wie sollte er aber auch klar denken können, bei einem solchen Emotionsschub, wie er ihn erlebt hatte? Und doch war es ärgerlich sowie ein bisschen peinlich, erst jetzt darauf gekommen zu sein. Niemand anderes außer Vane konnte dafür in Frage kommen, immerhin hatte er damals allerhand Untersuchungen mit Luan angestellt, als er eine Zeit lang bei ihm im Labor leben musste, von denen er selbst gar nichts mitbekommen hatte.

So etwas wie eine Atemhypnose war Luan bisher aber nie in den Sinn gekommen und Vane ging wohl etwas Ähnliches durch den Kopf, denn er hakte in dieser Richtung nach. „Früher oder später musste es rauskommen. Woher weißt du es? Hast du es selbst gemerkt?“

„Sie sind unglaublich“, merkte er verächtlich an, machte durch und durch von der negativen Seite dieses Wortes Gebrauch. „Verschweigen, nein, verheimlichen mir, was Sie mit mir angestellt haben und glauben dann noch, solche Fragen stellen zu dürfen?“

Vane bewies, wie unglaublich er war und überhörte diese Bemerkung gekonnt. „Hat es dir jemand gesagt?“

„Ja“, knurrte Luan schon fast und störte sich massiv daran, wie er mit ihm umging.

Lust auf ein ewiges hin und her hatte er einfach nicht, mal wieder, also fügte er sich. Zumal sich ihm sonst das Bild aufzudrängen versuchte, in dem er noch auf der Straße vor dem Hotel in Vanes Armen lag und wie ein kleines Kind von ihm beruhigt wurde, obendrein hatte er ihn auch noch gerettet. Am schlimmsten war es, dass ihm sein Gewissen einreden wollte, dem Doktor gegenüber mehr Respekt zu zeigen. Die komplette Szene war ihm im Nachhinein ungeheuer peinlich, es ließ sich kaum in Worte fassen und darum musste sein unausgesprochener Dank genügen. Für einen Retter lasteten außerdem zu viele schwere Taten auf Vanes Schultern, um ihn als solchen anerkennen zu können.

„Ich bezweifle aber, dass Sie mir abkaufen werden, wer mir das gesagt hat“, fügte Luan noch hinzu.

„Wie kommst du darauf?“

„Weil ich es selbst kaum glauben kann.“

„Hm.“ Interesse wurde in Vane geweckt, der ausdauernd weiterschrieb. „Ich höre?“

„Eine Geißel.“

Das nervtötende Geräusch des Kugelschreibers, der über das Papier jagte, erstickte jäh. Nicht lange, nur für ein paar Sekunden vielleicht, dann kehrte es auch schon zurück. „Aha.“

„Dachte ich mir doch, dass Sie es auch nicht glauben.“

„Das habe ich nicht gesagt, oder?“, widersprach Vane ihm, mit Nachdruck in der Stimme. „Ich habe nur nicht damit gerechnet.“

Von dieser Bemerkung ließ Luan sich nicht erst ablenken und brachte die Unterhaltung zurück zu dem Thema, das ihn momentan mehr als nur beschäftigte. „Da Sie wissen wollten, woher ich von der Atemhypnose weiß, war es bestimmt nicht in Ihrem Sinne, dass ich jemals davon erfahren sollte, richtig?“

„Richtig.“ Derartige Bestätigung hatte er nicht erwartet, kam ihm jedoch gelegen.

„Dann wissen Sie doch sicher auch, dass es nicht erlaubt ist, eine Atemhypnose an jemandem ohne dessen Einverständnis durchzuführen, oder?“, fragte Luan weiter und blieb durch den Anblick von Ferris einigermaßen ruhig, war nur leicht angespannt.

„Selbstverständlich weiß ich das, aber“, Vane hielt beim Schreiben nochmal inne, „hätte ich um deine Erlaubnis gebeten, wäre die Antwort mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nein gewesen.“

„Tausendprozentig.“ Liegend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Wieso haben Sie überhaupt eine Atemhypnose bei mir angewendet?“

Das Geräusch, wie Vanes Kugelschreiber über das Papier fuhr, setzte wieder ein. „Um deine Gefühle einzudämmen. Dazu ist diese Methode schließlich da.“

„Schon klar“, brummte Luan. „Aber aus welchem Anlass?“

Plötzlich versperrte ihm etwas die Sicht auf Ferris. Vane hatte abermals aufgehört zu schreiben und stützte sich mit der Hand direkt neben seinem Kissen ab, dadurch konnte er nur noch den weißen Stoff des Kittels an seinem Arm sehen. Höchst widerwillig legte er den Kopf ein wenig zurück, bis er sehen konnte, dass Vane sich leicht über ihn gebeugt hatte und mit einem ernsten Blick ansah, den Luan ebenso ernst erwiderte. Aufgrund seiner Größe war Vane noch immer weit genug mit dem Oberkörper von ihm entfernt, nicht mal sein langes Haar erreichte ihn ansatzweise.

„So redselig heute?“, stellte Vane fest.

Den Augenkontakt brach Luan nach dieser Frage auch schon ab, um zur Seite zu schielen. „Und? Kommt selbst bei mir mal vor. Wundert Sie das etwa wirklich?“

„Hm.“ Nachdenklich musterte Vane ihn, was Luan merkte, ohne ihn dafür anschauen zu müssen und er ließ ihn einfach machen. Was auch immer der Doktor bei ihm zu finden hoffte, war ihm egal, solange er irgendwann seine Frage beantwortete. Dieser stummen Forderung kam Vane dann auch nach. „Der Anlass dafür hängt mit dem Problem zusammen, das ich erst vor einigen Stunden bei dir festgestellt habe.“

Für einen Atemzug lang blieb Luan die Luft weg und seine Augen weiteten sich, als er das hörte, ehe er aber etwas darauf sagen konnte, übernahm Vane weiterhin das Sprechen: „Letztes Mal wolltest du es nicht wissen. Wie sieht es jetzt aus?“

Richtig, er hatte es letztes Mal abgelehnt, eine Antwort darauf zu erhalten, was bei ihm festgestellt worden war, obwohl es ihn interessierte. Er hatte sich einfach nicht getraut. Warum genau eigentlich? Er konnte sich nur daran erinnern, dass Vane diesbezüglich ungewohnt sorgsam geklungen und es ihn verunsichert hatte, aber das konnte nicht der Grund gewesen sein. Gab es überhaupt einen? Erst jetzt, als er genauer darüber nachdachte, merkte er, dass er sein eigenes Handeln nicht nachvollziehen konnte. Wenigstens konnte er die Gelegenheit ergreifen und die Antwort doch noch in Erfahrung bringen.

Entschlossen stellte er sich dem Blick von Vane wieder, der nichts von seinem Ernst verloren hatte. Diesmal fiel Luans Antwort anders aus. „Ich will es wissen. Sagen Sie es mir.“

Verborgen in den dunkelbraunen Tiefen von Vanes Augen flackerte etwas auf und erlosch kurz danach auch schon so schnell, wie es angefangen hatte zu leuchten, so dass Luan nicht einschätzen konnte was es zu bedeuten hatte. War es so etwas wie eine Vorahnung gewesen, die sich bei ihm erfüllt hatte? Jedenfalls mischte sich ab hier eindeutig Sorge in seine Stimme, versuchte, sich hinter der Kälte zu verstecken. „Dachte ich mir.“

Luan verstand nicht, was er meinte. „Wie bitte?“

„Ich dachte mir, dass du jetzt gewillt sein würdest, die Antwort zu erfahren.“

Normalerweise müsste Vane sich nun seinem Klemmbrett zuwenden und etwas notieren, so wie Luan es von ihm gewohnt war, aber das geschah nicht. Weiterhin verharrte er in dieser Position, versperrte ihm mit dem Arm die Sicht auf Ferris und behielt ihn ziemlich genau im Auge, achtete auf jede kleine Bewegung oder Geste, sobald Luan sie in irgendeiner Form zeigte und es selbst sicher nicht mal merkte. Automatisch drückte er sich mit Kopf und Oberkörper tiefer ins Kissen sowie die Matratze hinein, wollte dem Doktor ausweichen, was in dieser Lage nicht funktionierte.

Etwas stimmte nicht, das war offensichtlich. Bis auf weiteres versuchte Luan trotzdem an seine Antwort zu kommen und sich nicht zu sehr von diesem Verhalten verunsichern zu lassen, so wie letztes Mal. „Schön, dann sagen Sie es mir jetzt auch.“

„Das hat keine Eile“, lehnte Vane ab und stellte seinerseits eine neue Frage: „Bernadette Maron hat versucht die Atemhypnose bei dir zu brechen, liege ich da richtig?“

Klang vielmehr nach einer Feststellung, von der er bereits felsenfest überzeugt war und sich nur noch eine letzte Zustimmung von ihm holen wollte – oder was für ein Spiel trieb dieser Kerl hier gerade? Wäre Luan nicht so überrascht davon, dass Vane der Name von Bernadette so selbstverständlich über die Lippen kam, hätte er empört nachgehakt, wieso er ihm seine Antwort verweigerte und davon ablenkte. Jetzt richtete sich seine Aufmerksamkeit jedoch erst für einen kurzen Augenblick auf das aktuelle Thema.

„Woher wissen Sie das?“, wollte Luan wissen und wurde von Misstrauen gepackt.

Auch hierauf wollte Vane ihm keine richtige Antwort geben. „Das ist auch nur etwas, das nahe liegt.“

„Für mich nicht, also antworten Sie mir endlich anständig, wenn ich Sie was frage.“

„Beenden wir das Gespräch“, wich er erneut aus und gab sich nicht mal die Mühe eine bessere Ausweichmöglichkeit zu suchen, sich vor den Antworten zu drücken. Er zog sich bereits in eine aufrecht sitzende Position zurück, gab somit den Blick auf Ferris wieder frei und beschäftigte sich lieber damit, neue Notizen in die Akte zu schreiben, die er auf dem Klemmbrett vor sich hatte – mit Sicherheit Luans Akte. „Ich habe alle Male entfernt, aber auch du solltest dich jetzt ausruhen. Schlaf am besten, morgen sehen wir weiter.“

Mit auch meinte er Naola, die in einem der Nachbarräume auf dem Flur dieses Stockwerkes ebenfalls ein Zimmer gemietet hatte, weil sie von Ferris zu einem Date eingeladen worden war und sich deshalb kurzerhand Urlaub gönnte, den Vane ihr sogar angeblich bewilligt hatte. Zumindest war ihm das von ihr erzählt worden, kurz bevor sie sich zum Schlafen in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen hatte, um der Bettruhe nachzukommen, die ihr von Vane verordnet worden war und sobald er ihr etwas sagte, tat sie es auch sofort. Als seine Assistentin musste sie das wohl auch, wobei sie aber stets Freude daran hatte, weil sie gern für diesen Mann arbeitete – unverständlich für Luan.

Der wollte jedenfalls nicht gehorsam nachgeben und sich zum Schlafen hinlegen. Erst war Vane ihm noch ein paar Antworten schuldig, das ließ er ihn auch wissen und wurde sogar allmählich lauter, weil ihn Ungeduld zu plagen anfing. „Ich werde garantiert nicht schlafen! Antworten Sie mir gefälligst! Und was heißt hier wir?!“

„Reg dich nicht so auf, das bekommt dir nicht gut.“

„Weichen Sie mir nicht dauernd aus!“

Weiterhin schenkte Vane seinen Forderungen keinerlei Beachtung, realisierte sie sicherlich, aber ging nicht darauf ein. Als er schließlich seine letzten Worte niedergeschrieben hatte und aufstand, um zu gehen, war Luan völlig fassungslos darüber. Stellte er für diesen Mann etwa nur so etwas wie eine Figur in seinem Spiel dar, deren Handlungen alleine er bestimmte und mit der er umspringen konnte wie er wollte? Genau so kam Luan sich vor. Nichts, was neu für ihn war, in der Vergangenheit hatte Vane sich schon oft über seinen Willen hinweg gesetzt, doch irgendwann war das Fass auch mal endgültig übergelaufen.

„Ich werde diese Nacht noch einmal zum Hauptquartier zurückkehren“, erklärte Vane und hielt ihm den Rücken zugedreht. Abwesend blickte er auf das Klemmbrett in seiner Hand, vermutlich um alle Notizen vorsichtshalber rasch zu überfliegen und tippte sich mit dem Kugelschreiber in der anderen gegen das Kinn. „Da es so aussieht, als wäre meine Anwesenheit hier etwas länger von Nöten, werde ich für einen Ersatz sorgen müssen, der mich solange vertritt, damit ich nicht immer hin und her wechseln muss. Ist auch besser für meine Patienten.“

Ratlos starrte Luan ihn an und richtete sich endlich im Bett auf. „Könnten Sie mal Klartext mit mir reden?“

„Das tue ich doch gerade“, beruhigte er ihn, sah im Gegensatz zu ihm scheinbar das Problem nicht oder war nur sehr gut darin es zu ignorieren und wiederholte stattdessen, was er vorhin gesagt hatte, nur etwas anders formuliert. „Ich werde für eine Nacht weg sein, um mich nach einem Ersatz für die Krankenstation umzusehen. Morgen früh komme ich wieder, schlaf dich bis dahin aus und bleib hier.“

„Sehen Sie mich an!“, rief Luan ungehalten und konnte seine Stimme kaum noch im Zaum halten.

Zu seiner Erleichterung erzielte er damit einen kleinen Erfolg, denn Vane drehte sich tatsächlich zu ihm um, ließ die Hand mit dem Kugelschreiber in die Seitentasche seines Kittels sinken und den anderen Arm mit dem Klemmbrett am Körper runter hängen. „Schon gut, ich höre dir zu, also beruhig dich.“

„Wie soll man sich denn beruhigen, wenn Sie solche Spielchen mit einem treiben?!“ Angespannt vergrub Luan eine Hand in seinen Haaren und kümmerte sich gerade nicht darum, dass er damit seine Frisur ruinieren könnte. Das war sie gewiss sowieso bereits. Seine Augen suchten den Blickkontakt zu ihm und verlangten geradezu nach Erklärungen. „Macht Ihnen das hier so viel Spaß, ja? Was verstecken Sie vor mir? Ich habe wirklich genug davon, reden Sie endlich. Ich will die Wahrheit wissen!“

Im nächsten Moment zeigte Vane eine Seite, die Luan total aus seiner Wut riss. Die gesamte Körperhaltung von ihm veränderte sich, wurde etwas schlapper, allein das war schon ungewöhnlich genug, aber was sich in seinem Gesicht abspielte, ließ das schlechte Bild, das er über diesen Arzt hatte, wie einen Spiegel in sich zusammenbrechen, hinter dem das wahre Ich zum Vorschein kam.

Ein Glanz entfaltete sich in seinen Augen, der eine Traurigkeit offenbarte, wie Luan es ihm nie zugetraut hätte. Alles an Vane wirkte auf einmal traurig und er zog die Augenbrauen zusammen, als würde ihn irgendwas schmerzen, wenn er Luan ansah. Sogar die Klangfarbe seiner Stimme war anders, nicht mehr von einer distanzierten Kälte begleitet, eher verzweifelt.

„Eindeutig zu instabil“, flüsterte Vane vor sich hin, doch das Echo seiner Stimme prallte von den Wänden ab, spielte eine deprimierende Melodie, wie auf einem Klavier. Trug die Worte zu Luan. „Was hat sie sich dabei gedacht?“

Vane zog die Hand wieder aus der Seitentasche hervor, ohne den Kugelschreiber, streckte sie nach Luan aus, bis er seinen Kopf erreichte und sie behutsam auf seinem Haar ablegen konnte. Da er noch immer direkt seitlich neben dem Bett stand, war die Entfernung zwischen ihnen nicht allzu groß, durch diese Berührung fühlte Luan sich ihm aber wesentlich näher. Er war wie versteinert von der Gefühlswandlung, die Vane ihm hier zeigte und konnte nicht beurteilen, ob sie echt oder nur meisterhaft gespielt war. Ausgehend von der Berührung seiner Hand, die auf seinem Kopf verweilte und ihn kein bisschen störte, wollte er ausnahmsweise gar nicht daran zweifeln, dass es echt war.

„Mit der Wahrheit würde ich dir keinen Gefallen tun, also behalte ich sie lieber für mich“, begründete Vane sein Handeln ruhig. Viel zu ruhig und einfühlsam, er war gar nicht wiederzuerkennen. „Ich verstehe, dass du Antworten willst, aber heute ist viel passiert. Lass uns morgen sehen, wie es weitergehen soll, in Ordnung?“

Zu eingenommen von seiner Offenheit, mit der er ihm entgegentrat, nickte Luan nur stumm. Noch länger in Unwissenheit verbringen zu müssen passte ihm gar nicht, aber er konnte Vane gerade nichts mehr entgegen bringen, solange er so zu ihm war und ihn damit in jeglicher Form entwaffnete. Dankbar nickte Vane ebenfalls und zog seine Hand zurück. Nur einen Wimpernschlag später fing Luan an zu frieren und wurde sich erst da bewusst, wie viel Wärme diese Berührung ihm gegeben hatte.

„Ich gehe jetzt“, kündigte er an und wandte sich von ihm ab. „Bleib hier und ruh dich aus.

Diese Worte hatte er mit einer Klangfarbe in der Stimme gesagt, die Luan zeigte, dass er trotz dieser Szene eben doch der alte Kontrolltyp blieb, denn Vane hatte soeben seine Schall-Prägung dazu genutzt, um ihn auf jeden Fall hier festzuhalten. Für gewöhnlich regte Luan sich darüber auf, sobald er diese Technik an ihm anwendete, diesmal konnte er nur die Augen verdrehen und mit dem Kopf schütteln.

Sobald Vane es für nötig erachtete, konnte er mit seiner Prägung andere Leute wortwörtlich beeinflussen, indem er mit Hilfe seiner Stimme einen Befehl tief im Geist des anderen so fest verankerte, dass man sich nicht so leicht davon lösen konnte. Eine solche Anweisung hallte dauerhaft im Geiste wider, deswegen machte es kaum Sinn sich dagegen zu wehren und man kam dem lieber nach. Eine Art Manipulation sozusagen.

Athamos“, sprach Vane den Namen des Hauptquartiers laut und deutlich aus.

Bloß Sekunden später dürfte es auch auf seinen Ruf reagiert haben, so dass genau vor ihm eine Art Tor auftauchte, das Luan ohne Taschenuhr nicht sehen konnte und somit tat sich für ihn gar nichts, aber er wusste es besser. Längst hatte Vane seine Uhr aus der Brusttasche geholt und sie sich um den Hals gelegt, wodurch es ihm möglich war zu sehen, was vor ihm geschah. Für Luan sah es so aus, als würde Vane sich mitten in seiner Bewegung in Luft auflösen, kaum dass er einen Schritt vorwärts machte und durch das Tor trat, das sich für ihn geöffnet hatte. Der Doktor war erst wenige Sekunden fort, doch auch der Durchgang zu Athamos dürfte wieder verschwunden sein.

Athamos, so nannte sich das Hauptquartier der Traumbrecher und außer ihnen kannte den Namen auch niemand, zumindest sollte das bestenfalls so sein. Sobald man ihn nämlich laut aussprach, bildete sich aus dem Nichts heraus ein Tor vor dem jeweiligen Traumbrecher, durch das er hindurch schreiten und sich direkt im Hauptquartier wiederfinden konnte. Ohne eine Taschenuhr sollte man jedoch nie versuchen, durch das Tor zu gehen, da das Sicherheitsnetz sonst nicht viel von diesem Jemand übriglassen würde. Laut Gerüchten gab es sogar eine dritte Absicherung, von der bisher aber nie Gebrauch gemacht werden musste.

Auf jeden Fall sprachen Traumbrecher untereinander deshalb in normalen Gesprächen nie den eigentlichen Namen aus, verwendeten stets die Umschreibung Hauptquartier oder Heim und vermieden ihn so lange, bis sie zurück nach Hause wollten. Auf anderem Wege kam man nur schwer dorthin. Dank dieser Reisemöglichkeit, mit der man jederzeit von allen Orten aus problemlos und gemütlich wieder nach Athamos gelangen konnte, war es Vane auch möglich gewesen, so fix hierher zu kommen, in beiden Fällen.

Gedankenverloren starrte Luan auf die Stelle, an der Vane vorhin noch gestanden hatte und zuckte leicht zusammen, als plötzlich eine andere, ihm vertraute Stimme im Raum ertönte: „Ich hab den Doc noch nie so gesehen.“

Ferris war aufgewacht. Er saß, wie Luan, aufrecht im Bett und sah zu ihm herüber, trug ein amüsiertes Lächeln im Gesicht, wirkte aber ziemlich erschöpft. „Kam mir gerade vor, als hätte ein Vater zu seinem Sohn geredet.“

Vater und Sohn? Die Vorstellung schob Luan lieber gleich weit von sich und wollte Ferris gerade ansprechen, als der ihm mit einem Lachen zuvorkam und einfach weitersprach: „Das war irgendwie total niedlich~.“

„Du änderst dich wirklich nie, was? Kannst du dir solche Aussagen nicht einfach sparen?“, kommentierte Luan und konnte darüber nur seufzen. Schlimm genug, dass er hier festsaß, weil Vane ihm den Befehl dazu gegeben hatte. „Gut, dass du wach bist. Wir müssen dringend reden.“

„Reden, huh?“, wiederholte Ferris. Er lächelte bedrückt. „Das glaube ich auch.“

Erzähl mir von deiner Vergangenheit

„Du warst von einem Alptraum besessen“, konfrontierte Luan das Opfer direkt damit, statt ihn erst langsam darauf vorzubereiten.

Bei einem gewöhnlichen Menschen hätte er es natürlich niemals so offen angesprochen und es einfach verschwiegen, in diesem Fall sprach er aber mit einem anderen Traumbrecher, also war es in Ordnung. Die Gesamtsituation war eine völlig andere als sonst, deshalb sollte man Ferris diese Tatsache besser gar nicht allzu lange vorenthalten und sich mit ihm zusammen diesem Thema stellen. Wahrscheinlich würde es auch erst mal dauern, bis Ferris Luan diese Aussage überhaupt abkaufte und das war noch ein Grund mehr, warum er gleich zu Beginn schonungslos mit dieser Nachricht rausrückte.

Aber dann wurde er von Ferris überrascht, denn der zeigte eine gänzlich andere Reaktion als erwartet. Nicht nur, dass diese Mitteilung keinesfalls neu für ihn zu sein schien, er blieb sogar ungewohnt ruhig, als er die folgenden Worte sagte: „Ich weiß.“

„Wie, du weißt es?“, meinte Luan perplex. Eigentlich müsste Ferris hier derjenige sein, der ungläubig und erstaunt dreinblickte, doch übernahm Luan diese Rolle gerade an seiner Stelle. „Woher denn?“

„Ich habe dich im Traum gesehen“, antwortete Ferris und schmunzelte amüsiert, weil er so einen Anblick selten an Luan beobachten konnte. In letzter Zeit war es aber bestimmt schon viel zu oft vorgekommen, dass er so ein Gesicht machte und Luan war froh darum, es selbst nie sehen zu können. „Auch den Alptraum konnte ich sehen.“

Normalerweise blieb den Opfern nach dem Befall eines Alptraumes nur in Erinnerung, dass sie schlecht geschlafen hatten und selbst das kam nicht bei jedem vor. Manche konnten sich gar nicht mehr entsinnen, was sie geträumt hatten oder ob sich überhaupt etwas dergleichen bei ihnen im Schlaf getan hatte. Oft fühlten sie sich aber nach dem Aufstehen einfach nur schlapp, dachten nicht weiter darüber nach und starteten in ihren Alltag.

Die Behauptung von Ferris war daher sehr interessant und gleichermaßen unglaubwürdig, doch es offenbarte Luan auch erneut, dass er vieles noch nicht wusste. In diesen Gedanken wollte er sich lieber gar nicht erst verlieren, es würde ihn nur frustrieren. Das aktuelle Gespräch hingegen brachte ihm bisher nur Verwirrung und darauf ließ er sich eher ein als auf Frust, also hielt er es am Laufen: „Und dann bleibst du so gefasst? Findest du das etwa nicht unbegreiflich?“

„Selbstverständlich ist es unbegreiflich. Traumbrecher, die von Alpträumen befallen werden. Hat man so etwas schon mal gehört?“ Glaubwürdig kam das nicht unbedingt rüber, so sorglos wie Ferris nun lächelte. Vorhin war es noch ein bedrücktes Lächeln gewesen. „In Panik auszubrechen würde mir aber nicht helfen.“

Dieser Wortwechsel allein genügte und Luan merkte, wie seine Nerven strapaziert wurden. „Du sollst ja auch nicht gleich in Panik ausbrechen.“

„Sondern?“

Ihm drängte sich ein Spruch auf, den er anbringen und Ferris somit aufzeigen wollte, wie gut ihm etwas mehr Ernst tun würde. Darauf verzichtete er jedoch und wählte kurzerhand einen anderen Satz, der im Kern eine ähnliche Bedeutung besaß. „Wir dürfen diesen Fall nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

„Tue ich nicht“, garantierte Ferris ihm und betonte seine Worte zusätzlich dadurch, dass er sich mit einer Faust gegen die Brust klopfte. Eine Geste, die man bei ihm schon als eine Art Versprechen ansehen konnte. „Lass uns also darüber reden, hm?“

„Gut. Also du sagtest, dass du den Alptraum und mich gesehen hättest? Was genau hast du denn gesehen? Und wo?“, hakte Luan nach, rutschte an die Bettkante und blieb dort aufrecht am Rand sitzen. „Also ich habe nichts von deiner Anwesenheit gespürt, falls du auch da warst, in derselben Traumwelt wie ich.“

Ferris bemerkte das Interesse von Luan sofort und wirkte erfreut darüber, wie dieser ihm seine Aufmerksamkeit in diesem Thema schenkte. „Ich war auch nicht dort, wo du gekämpft hast. Du konntest mich gar nicht sehen.“

Das ließ Luan stutzig werden. „Wo sollst du sonst gewesen sein?“

Offenbar wusste Ferris nicht so recht, wie er es formulieren sollte. Ihm war anzusehen, dass er sein Gedächtnis nach einem halbwegs passenden Wort durchsuchte, mit dem er den Ort beschreiben konnte, an dem er sich während des Kampfes aufgehalten hatte. Um was für einen es sich dabei wohl handeln könnte? Noch war Luan ziemlich ratlos und ging in Gedanken derweil nochmal durch, was für gewöhnlich mit den Träumenden geschah. Ließ Ferris somit seine Zeit, sich den richtigen Ausdruck für das herauszusuchen, was es für ihn zu beschreiben galt.

Sobald einer ihrer Feinde sich den Traum des Schlafenden zu Eigen gemacht hatte, wurde das Opfer aus dem Weg geräumt, indem dessen Geist in einen Gegenstand eingesperrt wurde, der anschließend das Herzstück des Ganzen bildete. Auf diese Weise war abgesichert, dass der Träumer nicht mehr aufwachen konnte und gleichzeitig den Alptraum nicht dabei störte, die Welt nach seinen Wünschen umzugestalten. Solange die Betroffenen weiterschliefen und nicht mehr dazu fähig waren aufzuwachen, blieb der jeweilige Traum lebendig und stellte ein sicheres Heim für den Alptraum dar. Dort konnte er dann tun und lassen was er wollte.

Was zum Herzstück wurde, war von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hing auch damit zusammen, wovon der aktuelle Traum handelte. Auch auf die Gattung des Alptraumes kam es an, denn einige waren derart geschickt darin in ihren Opfern zu lesen, dass sie trotzdem aus dem Kontext des Traumes heraus ein Herzstück erschaffen konnten, von dem sie wussten, dass es als besonderes Symbol für den Schlafenden galt. Der Grad der Erinnerung, die das Opfer mit diesem Gegenstand verband, war entscheidend, um dessen Geist darin einsperren zu können. Dort erlebte man außer Schwärze nichts mehr vom Traum mit und blieb dennoch ein wichtiger Teil davon, hielt das Gebilde zusammen.

Zerstörte man das Herzstück, brach dadurch der Traum sofort in sich zusammen, da ihm ein wichtiger Stützpfeiler entrissen wurde. Der Geist des Opfers war wieder frei und diese Person schlief einfach traumlos weiter, während der Traumbrecher sich noch dem Feind stellen musste, um ihn restlos zu vernichten. So sah der normale Ablauf aus, darum verstand Luan auch immer noch nicht, wieso das eine Mal nur ein rötlicher Samen zurückgeblieben war, anstelle eines Menschen.

Ja, der Samen. Den sollte ich mir jetzt vielleicht nochmal genauer anschauen, kam es ihm in den Sinn. Von diesem Vorhaben wurde er aber gleich abgehalten, kaum dass es ihm eingefallen war.

„Ein Hohlraum!“, rief Ferris schließlich überzeugt. „Ja, das kommt ganz gut hin. Ich war in einem versteckten Hohlraum.“

Im Geiste wiederholte Luan dieses Wort, konnte sich aber noch nichts darunter vorstellen und fragte Ferris weiter aus. „Wie hat er ausgesehen?“

„Irgendwie creepy.“

Es war typisch für Ferris, dass er nicht mal dann ernst genug sein konnte, nachdem er selbst von einem Alptraum befallen worden war. Wieder unterdrückte er einen dazu passenden Spruch, stieß nur genervt einen Seufzer aus und versuchte Ferris wenigstens dadurch deutlich zu machen, wie sehr ihm diese Ausdrucksweise missfiel. „Geht das auch bitte vernünftig?“

„Ach, habe ich dir wieder zu viel Spaß?“, scherzte Ferris und streckte ihm, wie ein kleines Kind, die Zunge raus, nur um ihn noch mehr zu ärgern. Daran musste er wirklich eine Menge Spaß haben.

Fast wäre Luan spätestens jetzt eine seiner üblichen Reaktionen darauf herausgerutscht, doch er konnte sich noch ein drittes Mal rechtzeitig zusammenreißen und tat es auch diesmal nicht. Nach dem, was er über Ferris durch den Schall-Alptraum sowie die Erinnerung erfahren hatte, würde er sich nur schlecht fühlen, sollte er ihn wegen seinem zu hohen Spaßfaktor zurechtweisen. Also schluckte er seinen Ärger runter und behielt ihn ausnahmsweise für sich, versuchte sich stattdessen erneut an einer anderen Erwiderung.

„Meinetwegen kannst du gern so viel Spaß haben wie du willst.“ Sogar aus seiner Stimme hatte Luan jegliche Form von Ärger und Anzeichen dafür verbannt, dass ihm Ferris mit seiner Art mal wieder auf die Nerven ging. „Könntest du mir trotzdem bitte eine etwas genauere Beschreibung geben? Mit diesem creepy alleine kann ich halt nichts anfangen.“

Jetzt hatte Luan es doch noch geschafft, Ferris zu überraschen, denn er starrte ihn mit großen Augen an und war sich unschlüssig darüber, wie er dieses Verhalten deuten sollte. Wenig später nickte er dann aber verstehend, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, konnte sich so scheinbar besser vorstellen, wie der besagte Hohlraum ausgesehen hatte. Als er das Bild wohl klar genug wieder vor sich hatte, begann er, es zu beschreiben.

„Es sah aus wie ein großer Thronsaal aus weißem Marmor, mit Säulen und all dem Kram, in dem eine oder mehrere Bomben eingeschlagen haben. Er war sehr verwüstet und zerstört, echt wie so ein Schlachtfeld. Da war auch dieses komische, schwarze Zeug, das fast überall festklebte und so kaum noch was von dem hübschen Weiß des Marmors zu sehen war. Ich musste tierisch aufpassen wo ich hintrete, weil sich viele Risse durch den Boden zogen und die waren stellenweise so tief, dass ich da ungern reinfallen wollte. In den Wänden klafften dann noch diese riesigen Löcher, durch die ich zwar nach draußen schauen, den Saal aber nicht verlassen konnte.“

Luan hätte nicht gedacht, dass Ferris doch dazu in der Lage sein konnte so gute Beschreibungen abzuliefern. Ein Hohlraum, der wie ein Thronsaal aussah? Wieso hatte Ferris den Ort nicht gleich als solchen beschreiben und erst nach einem anderen Wort dafür gesucht? Aufmerksam hatte Luan ihm gelauscht, seine Stirn legte sich mehr und mehr in Falten, weil dieses Bild schon wieder ein neues Rätsel lieferte, das es zu lösen galt, neben all den anderen in der Warteschlange.

Etwas beschäftigte ihn aber ganz besonders. „Wieso konntest du diesen Saal nicht verlassen? Wenn die Löcher so riesig waren, hättest du doch sicher durch gepasst?“

„Das schon. Aber ich durfte nicht“, meinte Ferris nur, zuckte lasch mit den Schultern und öffnete kurz ein Auge, um ihm einen Blick zuwerfen zu können, der verriet, dass er selbst nicht schlauer war als Luan. „Frag mich nicht wieso, etwas hinderte mich einfach daran. Ich wusste, dass ich dazu gezwungen war dort zu bleiben und nicht rausgehen durfte, weil das ein Gefängnis war, in dem man seine Zeit abzusitzen hatte.“

Es wurde immer mysteriöser. Ob es damit zusammenhing, dass Ferris ein Traumbrecher war? Landeten diese etwa an so einem Ort, sollten sie von Alpträumen befallen werden? Nachdenklich vergrub Luan sein Kinn in einer Hand, atmete einmal tief ein und aus, sagte vorerst nichts dazu. Sein Schweigen fasste Ferris richtig auf und schloss das Auge wieder, um mit seiner Erzählung über diesen Hohlraum weiter zu machen. Wie gebannt hing Luan an seinen Lippen.

„Wie ich schon sagte, konnte ich durch die Löcher in den Wänden nach draußen schauen, falls ich es so nennen kann. Ich hatte nämlich das Gefühl bloß kleine Eindrücke von dem Bildschirm eines Fernsehers einsehen zu können, weil die Außenwelt des Thronsaals das reinste Störbild war.“

„Hm“, kommentierte Luan nur knapp. „Und wie willst du den Alptraum und mich dann gesehen haben?“

„Ganz einfach.“ Ferris öffnete nun beide Augen wieder, griff hinter sich nach dem Kissen und klemmte es zwischen seinen Rücken und der Wand, gegen die er sich lehnte, nachdem er bis zum Kopfende des Bettes gerutscht war. „Irgendwann wurde dann doch noch ein Bild angezeigt und ich hatte eindeutig den Blick auf eine Schall-Welt, auch wenn sie vor lauter Schnee schwer zu erkennen war, aufgrund einer miesen Übertragung. Dort war die weiß leuchtende Gestalt eines Menschen zu sehen, die gegen einen Schatten kämpfte.“

„Sollen das etwa der Alptraum und ich gewesen sein?“

„Ich wusste eben, dass du mich retten kommen würdest und die weiße Gestalt nur du sein konntest.“ Grinsend legte Ferris beide Hände hinter seinen Kopf, als Ersatzkissen. Dieser Gedanke machte ihn sichtbar glücklich, Luan dagegen eher ein bisschen verlegen. „Und es war mir auch klar, dass nur ein Alptraum mich an einem so seltsamen Ort einsperren konnte. Ist doch logisch.“

Verständnislos löste Luan seine Hand vom Kinn und strich sich mit ihr durch die Haare. Demnach hatte Ferris nichts als Vermutungen aufgestellt, das hätte er sich auch denken können. Verurteilen wollte er ihn deswegen aber nicht, immerhin war es bestimmt nochmal ein ganz anderes Gefühl, ob man selbst in diesem Thronsaal feststeckte oder es nur erzählt bekam. Nachvollziehen konnte er trotzdem noch so einiges nicht, zum einen wieso er diesen Ort als Hohlraum bezeichnete.

Fing jetzt etwa sogar Ferris damit an, ihm wichtige Dinge zu verschweigen? Nein, das konnte Luan sich nicht vorstellen, dafür log dieser Mann viel zu schlecht, so dass er es ihm längst angesehen hätte. Ein kurzer Augenkontakt zu ihm reichte dann auch aus, um sich dessen völlig sicher zu sein. Ferris war einfach zu ehrlich und es passte zu ihm, dass er bezüglich dieser weißen Gestalt sowie dem Schatten bloß seinem Bauchgefühl gefolgt war.

„Du hast mich also gerettet“, sprach Ferris es an und lächelte ihm wieder zu, diesmal sehr herzlich. „Vielen Dank. Wer weiß wie es sonst geendet hätte? Wobei ich sicher in die Geschichte eingegangen wäre, hättest du mich nicht gerettet: Als der erste Traumbrecher, der von einem Alptraum vernichtet wurde statt umgekehrt. Keine Auszeichnung, auf die man stolz sein könnte, aber es wäre eine.“

Obwohl er die letzten Sätze mit einem Lachen in der Stimme sagte und es, wie immer, nicht so ernst meinte, wie man es nehmen sollte, gefiel Luan das gar nicht. „Sag sowas nicht, das ist nun wirklich nicht witzig.“

„Sorry, ehrlich“, entschuldigte er sich rasch. „Keine Sorge, meine Dankbarkeit ist größer als der Wunsch nach Ruhm.“

„Hör auf, bedank dich nicht bei mir“, warf Luan ein und blickte beschämt zur Seite. „Ich habe nur meine Schuld beglichen. Jetzt sind wir quitt.“

„Wir sind quitt?“

Warum konnte Ferris eine versteckte Botschaft nicht erkennen, wenn Luan ihm schon eine zuspielte? In solchen Dingen war er nicht besonders gut, sie machten ihn stets verlegen. Gerade jetzt merkte er es wieder sehr stark und fragte sich, ob es an dem lag, was Vane vorhin als zu instabil bezeichnet hatte. War seine Atemhypnose, die der Doktor gerichtet zu haben schien, etwa nicht komplett wiederhergestellt worden? Dabei hätte Luan ein Sicherheitsnetz für seine Gefühle in diesem Moment ganz gut gebrauchen können, sonst übermannte ihn die Verlegenheit nicht in so einer Höhe wie es gegenwärtig geschah.

„Du hast mich doch letztes Mal auch gerettet, schon vergessen?“, murmelte er, mit dem Versuch, dabei mürrisch zu klingen. „Sieh es also als Dank meinerseits an, dass ich diese Schuld beglichen habe.“

„Ist nicht wahr, du bedankst dich gerade echt bei mir?! Damit habe ich gar nicht mehr gerechnet“, platzte es aus Ferris raus. „Ich dachte schon, ich spinne mir nur was zusammen. Das habe ich ja schon ewig nicht mehr erlebt bei dir, kannst du das wiederholen? Ich war nicht vorbereitet, aber jetzt kann ich es nochmal richtig aufnehmen~.“

Wie sehr Luan sich wünschte, er hätte sich doch nicht noch nachträglich bei Ferris bedankt. Nachdem der aber seinen Dank für die Rettung vor dem Alptraum so offenherzig ausgesprochen hatte, fühlte Luan sich unwürdig dafür, da Ferris ihm zuvor ebenfalls zu Hilfe gekommen war und er sich seinem Retter bisher nicht mal erkenntlich gezeigt hatte. Im Gegenteil, bei ihrem letzten Zusammentreffen war Luan nicht gerade dankbar zu ihm gewesen. Immerhin hatte er es endlich nachgeholt, wenn auch etwas verspätet.

Dummerweise war Ferris nun dadurch mehr als euphorisch und konnte seine Begeisterung nicht zurückhalten, wodurch er Luan noch mehr in Verlegenheit brachte. Wie ein Kleinkind strahlte Ferris über das ganze Gesicht und auch sein Lächeln war noch aufdringlicher als sonst, obwohl Luan kaum für möglich gehalten hatte, dass Ferris sich in dem Punkt immer noch steigern konnte.

„Keine Ahnung, was dich dazu bewegt hat, aber mir gefällt das“, teilte er seine Meinung dazu mit. Sein Lächeln wandelte sich zu einem Grinsen. „Der Doc hatte nicht ganz unrecht, du bist heute wirklich sehr gesprächig. Sollte man ausnutzen, diese Phase. Wenn du also schon so gut dabei bist und Dank aussprechen konntest, möchtest du dich nicht auch gleich dafür entschuldigen, dass du mein Autoradio geschrottet hast?“

Empört verschränkte Luan die Arme. „Daran warst du selbst schuld. Dein Gekreische war kaum zu ertragen, wenn du Lieder mitgesungen hast und du nie damit aufhören wolltest, wenn ich dich darum gebeten hatte.“

„Du hast einfach keinen Geschmack für Musik. Mir wurde schon oft gesagt, dass ich ganz gut singen kann!“, verteidigte Ferris sich selbstsicher.

„Diese anderen waren nur freundlich zu dir. Du solltest nicht immer alles glauben, was man dir sagt.“

„Ist das so? Na, dann muss ich dir ja auch nicht glauben.“

„Das ist etwas anderes“, grummelte Luan, diesmal wirklich mürrisch. „Außerdem war ich das mit deinem Radio nicht mal.“

„Ha, als ob! Die Ausrede kommt viel zu spät, du hast es längst zugegeben!“

„Glaub doch, was du willst“, wehrte er weiter ab und schnaubte beleidigt. „Überspann den Bogen mal nicht so, sonst nehme ich meinen Dank gleich zurück.“

„Sowas nimmt man nicht zurück, das gehört sich nicht“, entgegnete Ferris unbeeindruckt, gab sich überaus gelassen und sicher.

Gefallen ließ Luan sich das nicht und holte gleich zum Gegenschlag aus. „Es gehört sich auch nicht, seine Traumzeit so achtlos zu verschwenden, wie du es immer tust.“

„Komm mir jetzt nicht wieder mit der Leier“, winkte Ferris ab.

„Doch! Es ist ein guter Zeitpunkt dafür. Erinnerst du dich nicht daran, was ich gesagt hatte?“ Entschlossen stand Luan auf und ging zu dem Bett hinüber, auf dem Ferris saß, um sich dort auf dem Rand auch schon wieder niederzulassen. „Ich hatte angekündigt, dass du von mir dazu noch was zu hören bekommen würdest.“

Tatsächlich betrachtete Ferris es etwas misstrauisch, dass Luan sich zu ihm gesetzt hatte. Gestört fühlte er sich nicht, sondern war nur davon verunsichert, ließ sich aber dadurch nicht von ihrem Gespräch ablenken. Jedenfalls nicht sonderlich lange. „Stimmt, da war was. Du warst sauer, gell?“

„Ja, und ich bin übrigens immer noch sauer auf dich.“ Er lehnte sich ein Stück nach hinten und stützte sich mit beiden Händen auf der Matratze ab, während er Ferris vorwurfsvoll ansah. „Das vergesse ich nicht so schnell.“

„Ich weiß“, erwiderte Ferris und sah ihn eindringlich an, auf eine merkwürdige Weise. Fast schon verträumt. „Mir wäre eine Entschuldigung trotzdem lieber, wenn du schon so eine Phase der Offenheit an den Tag legst und so viel redest.“

„Ich wollte nur unsere Lage besprechen, in der wir uns befinden.“ Abweisend versuchte Luan ihn förmlich mit den Augen zu erschießen, was natürlich nicht funktionierte. „Warum willst du unbedingt eine Entschuldigung von mir hören?“

„Weil Autofahrten total öde geworden sind, seit du das Radio zerstört hast“, schmollte Ferris und versuchte es auf einer anderen Schiene. „Komm schon, ich wurde von einem Alptraum befallen und fühle mich echt ausgelaugt, also gib mir etwas Zuspruch, damit ich mich wieder besser fühle~.“

Nach diesem lahmen Versuch nahm Luan ihn etwas gründlicher in Augenschein. Schon als er aufgewacht war hatte er bereits erschöpft ausgesehen und jetzt, da er genauer hinsah, merkte er auch wie mitgenommen Ferris in Wahrheit war. Es stand in seinen Augen geschrieben, in denen die Quelle jugendlicher Energie versiegt und die Lebensfreude etwas verblasst war. Dagegen kam Luan nicht an, also gab er sich einen Ruck und erfüllte dieser Nervensäge ihren Wunsch. Dafür löste er den Blick von ihm, den er stattdessen ziellos geradeaus richtete.

„In Ordnung, hiermit entschuldige ich mich bei dir.“ Bereits nach diesen Worten holte Ferris schon tief Luft, doch Luan war noch nicht fertig. „Allerdings nicht für das verdammte Radio. Das war ich nicht und dabei bleibe ich.“

Enttäuscht pustete Ferris sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Du bist sooo stur.“

„Können wir uns jetzt wieder unserer Arbeit widmen und über den Alptraum sprechen?“ Unruhig legte er sich die bisherigen Fakten zurecht. „Es ist eine unbekannte Art aufgetaucht, die Traumbrecher befallen kann, wie wir an dir gesehen haben. Das ist verrückt, ja, aber wir müssen bereden, wie unsere nächsten Schritte aussehen sollen.“

„Erstens: Ich finde es wundervoll, dass du wir sagst“, reagierte Ferris zufrieden. „Zweitens: Ich will erst noch eine richtige Entschuldigung, dann können wir gerne mit der Arbeit weitermachen.“

„Du bist so ein nerviger Idiot.“ Länger konnte Luan es nicht für sich behalten. „Außerdem war das vorhin eine richtige Entschuldigung.“

„Ach ja? Wofür denn, wenn nicht für das Radio?“

Ich kann niemanden gebrauchen, der diese ganze Sache nicht ernst genug nimmt“, wiederholte Luan einen Satz, den er zu ihm gesagt hatte, bevor er zusammen mit Mara zum Buchladen aufgebrochen war. „Dafür ist die Entschuldigung gewesen. Tut mir ehrlich leid, dass ich das gesagt habe.“

Keine Reaktion folgte daraufhin von Ferris, er schwieg, genau wie Luan. Inzwischen war das Echo von Vanes Gesang und seiner Stimme an sich doch restlos verklungen, weshalb die Atmosphäre erdrückend wurde, als Stille eintrat. Etwas an der Ausstrahlung von Ferris änderte sich schleichend, was Luan nicht ganz geheuer war. Nach einer Weile wagte er es zögernd den Blick wieder zu ihm zu lenken und erschrak erst, da plötzlich jemand ganz anderes auf dem Bett zu sitzen schien.

Jemand, dessen Gesichtsausdruck emotionslos, einfach leer und unbeschrieben war. Ein fremdartiger Anblick, den Luan sich immer erträumt hatte und jetzt als unheimlich empfand, als dieser heimliche Wunsch wahr wurde. Auch die Stimme von Ferris klang anders, etwas tiefer und quoll geradezu über vor lauter Kummer, es war furchtbar deprimierend. „Oh Mann. Ich hatte es schon befürchtet, da macht jede Anstrengung gar keinen Sinn mehr.“

Nachzufragen traute Luan sich kaum, aber er überwand sich und nahm eine ernste Stimmlage an. „Was hast du befürchtet?“

„Du hast bei deinem Kampf gegen den Alptraum sicher einige Sachen gesehen, die dir neu über mich waren, ist es nicht so?“

Das war noch äußerst milde ausgedrückt, wie Luan fand. Früher oder später wollte er sowieso zu diesem Punkt kommen, nur war es doch ziemlich niederschmetternd, Ferris in der Realität so deprimiert zu erleben. Noch dazu in der Gegenwart, in der seine Vergangenheit weit hinter ihm lag. Zurückweichen kam jetzt aber nicht mehr in Frage, nicht nur, weil er diesem Theeder ein Versprechen gegeben hatte. Auch er selbst wollte mehr erfahren, also stellte er sich der bedrückten Stimmung und wollte ihn gerade direkt darauf ansprechen, doch er schnitt ihm vorher das Wort ab.

„Bist du deshalb so nett zu mir, heute?“, fragte Ferris und atmete flach.

Unsicherheit wuchs in Luan heran. Sicherlich spielte er hier gerade an, dass er kein Mitleid haben wollte und das war etwas, was Luan gut verstehen konnte. Mitleid konnte man am allerwenigsten gebrauchen, wenn einen etwas herunterzog, also musste er aufpassen und seine nächsten Worte gut überdenken. Nur fühlte er sich dieser Herausforderung recht schnell nicht gewachsen und beschloss, einige Schritte zu überspringen. Er nahm sein Vorhaben, ihn direkt darauf anzusprechen, nochmal in Angriff und wurde diesmal nicht unterbrochen, bevor er es aussprechen konnte.

„Erzähl mir von deiner Vergangenheit“, bat er ihn.

Gedanklich legte Luan sich bereits die Gründe zusammen, nach denen Ferris bestimmt gleich verlangen würde. Für diesen musste es bedenklich sein, dass er nach all den Jahren jetzt erst auf die Idee kam mehr über seine Vergangenheit wissen zu wollen und Luan könnte es ihm nicht mal verübeln, wenn er es verneinen würde, ihm etwas von sich zu erzählen.

Während Ferris ihn stets wie einen Freund behandelte, dachte Luan hingegen oft nur als Arbeitskollege über ihn. Dabei bedeutete er ihm etwas, sonst würde er nicht wissen wollen, wieso seine Vergangenheit mit so viel Schmerz und Angst verbunden war, wie er am eigenen Leibe spüren musste.

Statt einer Ablehnung, folgte aber etwas anderes. „Bist du dir sicher, dass du die hören willst?“

Irritiert sah Luan ihn an und wurde von ihm mit einem Blick heimgesucht, der ohne Worte ausdrückte, dass er hinterher ein komplett anderes Bild von Ferris haben und es bitter bereuen könnte, sobald er die Wahrheit hinter allem kannte. Unterstrichen wurde das von einem depressiven Schlund, der sich mehr als deutlich in seinen Augen geöffnet hatte und ihn hart schlucken ließ. Weiterhin kam ein Zurück jedoch nicht in Frage, ab jetzt wäre es nur noch feige. Wenn Ferris eigentlich ein Mensch war, der so sehr litt, wollte er verstehen warum. Auch warum er es dann nie gemerkt hatte.

„Ja, bin ich“, versicherte er ihm und drückte sich von der Matratze ab, um sich wieder nach vorne lehnen zu können, wo er sich mit den Armen auf seinen Beinen abstützte. „Ich hätte nicht gefragt, wenn ich mir unsicher wäre.“

„Weiß ich das? Du bist ein guter Lügner“, zweifelte Ferris und änderte ebenfalls seine Position, nahm seine Hände wieder nach vorne, um sie in seinem Schoß zu betten. „Du willst es nicht wegen mir wissen.“

Der letzte Satz war gar nicht an ihn gerichtet, vielmehr sprach er ihn zu sich selbst. Eine innere Stimme wollte ihm weismachen, dass Ferris glaubte, Luan würde sich nur für seine Vergangenheit interessieren, weil eine Geißel aufgetaucht war, aber das war absurd. Noch wusste Ferris nicht mal, dass Luan einer begegnet war, die ihn als ihren Wirt bezeichnete und ob sie die Wahrheit gesagt hatte stand auch noch in Frage.

Wegen der Geißel, schoss es ihm durch den Kopf. Stimmt, auch deswegen wäre es nicht schlecht, über alles Bescheid zu wissen, was Ferris angeht. Ein Feind ist dieser Typ allemal.

An der Stelle wusste Luan nicht, wie er sich verhalten sollte. Zu groß war die Befürchtung, mit jedem Wort etwas Falsches sagen zu können, also konnte er nur dasitzen und Ferris hoffend ansehen. Irgendwann ließ der dann seine Hand kurz in die Hosentasche verschwinden und zog sie samt seiner Taschenuhr wieder hervor, was ein ausgesprochen gutes Zeichen war. Besonders als er sie nach ihm ausstreckte und die Uhr zugänglich hinhielt, wider seinen Erwartungen. Zügig wollte Luan auch seine eigene hervorholen und bemerkte dabei wie mitgenommen sein Mantel vom Kampf war. Mitten in der Bewegung hielt er inne, als Ferris das Wort erhob: „Was genau willst du denn wissen?“

„Am besten alles“, antwortete er sofort.

„Ich warne dich, das kann lange dauern und wir müssten unsere Arbeit dafür erst mal weit nach hinten schieben.“

„Das macht mir nichts“, versicherte er und holte auch seine Taschenuhr raus, umklammerte sie fest. „Ich habe die ganze Nacht Zeit, bis morgen früh.“

„Wenn der Doc wiederkommt?“

„Genau, dann können wir unser Gespräch über den Alptraum immer noch fortführen.“

Es wäre wichtig, endlich die vergangenen Ereignisse zu besprechen und diese Mission mit Zielen voranzutreiben. Es wäre wichtig, endlich das Buch sicherzustellen und Bernadette dingfest zu machen. Es wäre wichtig, endlich herauszufinden was es mit Mara auf sich hatte. All das hatte Luan nicht vergessen, aber ihm war das hier gerade am wichtigsten und da bei dieser Mission sowieso nichts wie gewohnt lief, dürfte es nicht falsch sein, sie mal etwas nach hinten zu stellen.

„Könnte knapp werden“, meinte Ferris und scherzte keineswegs dabei, dafür war er viel zu ernst. Ein Nicken zu der Uhr in seiner Hand deutete an, dass er ihm die Erlaubnis gab. „Auf deine Verantwortung.“

Bereit streckte Luan auch seine Hand nach ihm aus, führte sie über seine und drückte behutsam die beiden Taschenuhren aneinander. Schlagartig erklang ein Orchester aus tickenden Uhren in seinem Kopf, ging in seinen Geister über und verhallte auch bald schon, ließ ein unsichtbares Band zurück, über das sie nun miteinander verbunden waren, ähnlich wie er es mit Mara in der Welt dieses Schöpfers gewesen war. Sie konnten von nun an ebenfalls nur über ihre Gedanken miteinander sprechen, sogar noch viel mehr.

Verbanden sich zwei Traumbrecher auf diese Weise, strömten automatisch auch die Gefühle des anderen auf einen ein und es erschreckte Luan, dass er seltsamerweise außer einer einsamen, verzweifelten Leere nichts von Ferris vermittelt bekam.

Zeitgleich schlossen sie ihre Augen, um sich besser auf das konzentrieren zu können, was gleich geschehen würde. Ihre Hände schlangen sich fester ineinander und im Inneren dieses daraus entstandenen Raumes ruhten ihre zwei Herzen, aus denen ein einziges geworden war. Ihnen standen sämtliche Tore des jeweils anderen offen: Gefühle. Gedanken. Geheimnisse. Erinnerungen. Alles, was einen als Einzelperson ausmachte und worauf Außenstehende im Regelfall keinen Zugriff hatten. Recht bald stellten sie sich auch körperlich von alleine aufeinander ein und atmeten gemeinsam, im gleichen Takt.

Ferris öffnete den Weg zu seinen Erinnerungen, gab Luan somit den Blick auf seine Vergangenheit frei und es setzten sich erste Bilder zusammen, die er erlebte, als wäre es seine eigene Geschichte. Im Hintergrund hörte er, wie Ferris seine Gedanken zu den ersten Szenen äußerte. Und so begann ihre Reise.

Ich bin nicht normal

Ich will, dass du das weißt:

Du bist die erste Person, der ich alles über meine Vergangenheit verraten werde. Nicht mal die, die ich während meiner Kindheit, in der Jugend und als Erwachsener um mich hatte und sich als enge Kontakte beschimpfen lassen, wussten die Wahrheit. Die Wahrheit darüber, was hinter der Kulisse meines Lebens vor sich gegangen war. Viele hatten es als perfekt bezeichnet, aber Perfektion lässt sich gut schauspielern, wenn man den Dreh erst mal raus hat.

Es waren reine Gedanken, die Luan erreichten und durch die Ferris gerade zu ihm sprach. Erst konnte er nur ein leises, röchelndes Echo aus weiter Ferne wahrnehmen, das langsam näher kam. Nach und nach wurden die einzelnen Worte nicht nur lauter, sondern auch deutlicher. Das Röcheln wandelte sich zu einem klaren und gleichmäßigen Klang, als würde Ferris‘ Stimme wieder zu Atem kommen, kaum dass sie bei Luan angekommen war. Ganz anders als bei Mara, deren Stimme jedes Mal in einem Echo erstickt war, wenn sie in Gedanken zu ihm gesprochen hatte.

Noch etwas war anders: Ferris klang plötzlich auffallend teilnahmslos, obwohl seine Stimme zuvor noch förmlich in Kummer ertrunken war. Von sich und seinem Leben sprach er so, als wäre es nur ein kaltes Objekt ohne Seele oder Bedeutung, von dem er sich schon längst distanziert hatte.

Der depressive Schlund, mit dem Luan bereits vorhin Bekanntschaft gemacht hatte, wurde dadurch aber nur noch mächtiger und war derart präsent, dass man glaubte nach ihm greifen zu können. Luan drängte sich die Vorstellung auf, wie dieses gewaltige Maul der Depression ihm bei diesem Versuch sofort die Hand abbeißen würde, weshalb er anfing sich unwohl zu fühlen. Dieses Gefühl wurde in Sekundenschnelle zu Ferris übertragen, mit dem er verbunden war und dem entlockte diese Regung von Luan kurzzeitig ein stumpfes Lachen, mehr nicht.

Noch war Luan nur von Schwärze umgeben. Einer simplen Schwärze, die jeder Mensch erreichen konnte, indem er einfach nur die Augen schloss und an der nichts Außergewöhnliches dran war, wenn man sie nicht entsprechend einzusetzen wusste. In diese Farbe, diesen finsteren Abgrund, sank er schließlich hinein und ließ sich gänzlich in ihre Arme fallen, bis sich erste Veränderungen zeigten.

Zuerst ertönte das Rauschen von Wasser, von dessen Lärm einige Stimmen verschluckt wurden, die nun ebenfalls zu hören waren, wenn auch nur sehr undeutlich. Schließlich wurde Luan von den Armen der Schwärze aufgefangen und plötzlich mit einem kräftigen Schubs nach oben geschleudert. Den finsteren Abgrund ließ er dadurch mit rasender Geschwindigkeit hinter sich. Bald schon war es ein Dunkelblau, das ihn aus den Fängen der Schwärze befreite und je höher er flog, desto heller wurde der Farbton, bis er ein weißes Netz aus Licht vor Augen hatte. Sonnenlicht, das wie ein heiliger Wegweiser durch die Wasseroberfläche eines Meeres brach, aus dem Luan nun auftauchte.

Aus Reflex schnappte er nach Luft, dabei hatte er keinerlei Atemnot und erlebte diese Reise nicht mal körperlich, er war nur im Geiste hier. Ein Blinzeln genügte und Luan stand aufrecht mit den Füßen auf der Wasseroberfläche, durch die er eben erst nach draußen gebrochen war. Bei jedem Menschen und auch jedem Traumbrecher spiegelte sich das Innerste in einer anderen Form wider, nahm ein bestimmtes Bild an. Im Falle von Ferris war es also ein tiefes Meer aus Wasser, das in ihm verborgen lag. Ehrlich gesagt hatte er nicht mit etwas derlei Ruhigem gerechnet, eher mit etwas, das wild und lebhaft war.

Seine Schöpfer-Prägung mochte zwar auf Wasser ausgelegt sein, nur musste das nicht zwingend auch sein Innerstes widerspiegeln. Wie es aussah, hatte Luan sich in dem Punkt getäuscht. Damit konnte er sich dann aber nicht näher befassen, da es endlich losging. Im nächsten Augenblick sah er auch schon die erste Szene vor sich, mit der Ferris die Erzählung seiner Vergangenheit einläutete. Die erste Erinnerung. Eine sehr frühe, junge Erinnerung, wie Luan schnell feststellte. Ferris war hier noch ein Kind, gerade mal sechs Jahre alt. Diese Information konnte er problemlos abrufen, dabei war sie ihm fremd und doch erschien sie gleichzeitig nicht neu für ihn.

Den folgenden Ereignissen wohnte Luan nur als Beobachter bei und war eine Art Geist, der von niemandem in diesen Erinnerungen gesehen oder gar bemerkt werden konnte. Bloß wenige Schritte entfernt stand ein Kinderbett auf der Wasseroberfläche, in dem Ferris lag. Eine Frau saß bei ihm, auf der Bettkante und er erkannte sie gleich als seine Mutter wieder, was daran liegen musste, dass er durch die Taschenuhr mit Ferris verbunden war – er sah sie in Wahrheit nämlich zum ersten Mal. Erklärte auch, wieso er auf Anhieb das genaue Alter von Ferris wusste. Hier würde ihm wirklich nichts verborgen bleiben.

Langes, feuerrotes Haar bedeckte ihren gesamten Rücken. Das Rot war ziemlich kraftvoll, wirkte durch die zahlreichen Locken ungezähmt und frei. Leider konnten ihre Haare nur auf den ersten Blick darüber hinwegtäuschen wie dünn, nahezu abgemagert seine Mutter war und auch ihr zu groß geratenes Nachthemd konnte es nicht verbergen, das musste einem Sorgen bereiten. Mit ihrem blauen Augenpaar, in dem eine sanfte Kälte wohnte, warf sie ihrem kleinen Sohn gerade einen liebevollen Blick zu und lächelte ihn beruhigend an – dieses Lächeln war dem von Ferris, wie Luan ihn kannte, täuschend ähnlich.

An Ferris dagegen entdeckte Luan erstmals ein Detail, das ihn zunächst erschreckte, weil er davon bisher überhaupt nichts wusste: Der Junge hatte blaue Haare. Ein ähnlich kraftvolles Dunkelblau wie das Rot seiner Mutter. So sah also seine natürliche Haarfarbe aus? Durch die Verbundenheit zu ihm konnte er von vornherein ausschließen, dass er schon als Kind Farbexperimente durchgeführt hatte. Dunkelblau war tatsächlich seine natürliche Haarfarbe. Luan war alleine davon schon überrascht und die Reise hatte noch nicht mal richtig angefangen.

Außer dem Bett und den beiden war ansonsten weit und breit nichts anderes zu sehen, nur ein endlos weites Meer, auf dem sich diese Szene abspielte, begleitet von einem ruhigen Wellenrauschen. Über ihnen nahm eine Wolkendecke aus Nebel die Sicht auf den Himmel oder was auch immer sich dahinter verborgen halten könnte. Als die beiden anfingen zu sprechen, ahnte Luan, dass das zwei der Stimmen sein mussten, die er schon dort unten in der Schwärze gehört hatte, aber vom Rauschen des Wassers verschluckt worden waren.

„Mama?“, fragte Ferris zögerlich und zog sich die Bettdecke ein Stück ins Gesicht, um sich darunter zu verstecken, nur mit den Augen lugte er noch unter ihr hervor. „Hast du mich lieb?“

„Natürlich habe ich dich lieb, Schatz“, antwortete seine Mutter. Ihre Stimme war tiefer, als Luan erwartet hätte und auch kratzig, wie die einer Raucherin.

„Ehrlich?“

„So ehrlich, dass andere vor Neid platzen würden.“

Schockiert starrte Ferris sie mit großen Augen an. „Aua!“

Schmunzelnd strich sie ihm über den Kopf. „Das darfst du nicht so wörtlich nehmen.“

„Hä?“

„Nicht so wichtig“, meinte sie, lächelte weiter liebevoll und hielt diesen Gesichtsausdruck die ganze Zeit über aufrecht. „Niemand wird wirklich platzen und ich habe dich auf jeden Fall sehr lieb.“

Anscheinend zweifelte Ferris daran, was auch seiner Mutter auffiel, deshalb versuchte sie den Grund dafür herauszufinden, wieso ihr Sohn sie danach gefragt hatte. „Hat etwa jemand behauptet, ich würde dich nicht lieb haben?“

Unsicher zog Ferris sich nun doch die Decke vollständig über den Kopf und schwieg. Er traute sich offenbar nicht ihr zu sagen, warum er darauf gekommen war. So leicht gab seine Mutter aber nicht auf und fing damit an ihn durch die Bettdecke hindurch mehrmals zu stupsen, was Ferris zum Lachen brachte. Nicht etwa, weil er kitzelig war, sondern es einfach lustig fand. Kitzelig war er noch nie gewesen, das war eines der wenigen Dinge, die Luan über ihn wusste.

„Hör auf!“, bat Ferris seine Mutter, als er kaum noch Luft bekam vor Lachen.

„Nö.“ Erbarmungslos stupste sie ihren Sohn weiter durch die Decke hindurch an. „Erst, wenn du mir sagst, warum du geglaubt hast, dass ich dich nicht lieb habe.“

„Okay, ich sag es!“, ergab der Junge sich und kam wieder hervor, kaum dass seine Mutter damit aufgehört hatte ihn zu stupsen. Etwas verhalten rückte er mit der Antwort raus. „Cowen meinte, du hast mich nicht lieb.“

Es geschah schon wieder. Die Informationen über Cowen wurden an Luan übermittelt und entwickelten sich automatisch zu einem festen Bestandteil seines Wissens: Cowen Haze, der einzige Bruder von Ferris, war genau zehn Jahre älter als er und zu diesem Zeitpunkt demnach gerade sechzehn Jahre alt. Wie kam ein Jugendlicher in dem Alter darauf, seinem kleinen Bruder so etwas zu erzählen? Mit Vermutungen hielt Luan sich lieber noch zurück und schaute weiter schweigend zu.

Die Stimme von Ferris‘ Mutter nahm eine Note an, die nicht genau definiert werden konnte und ihre blauen Augen schienen etwas von ihrer Farbe zu verlieren. „Wie kommt er denn darauf?“

„Weil ich nicht normal bin“, lautete Ferris' Antwort, der dabei an seinen Haarsträhnen zupfte und sie in ihre Richtung hielt, um seine folgenden Worte zu unterstützen. „Da. Ich habe blaue Haare und Cowen sagt, das ist nicht normal.“

„Ferris, Schätzchen, du weißt doch genau, dass ich und auch Papa deine blauen Haare lieben, genau wie dich selbst.“ Sie versuchte, ihm das zu beweisen und wuschelte ihm mit beiden Händen ohne Scheu durch das Haar. „Selbst wenn du überall Haare hättest und ein kleines Kuschelmonster wärst, würden wir dich lieb haben. Es ist doch egal, wie du aussiehst.“

Über diese Aussage musste Ferris amüsiert kichern, sah seine Mutter direkt danach aber auch schon wieder unsicher an. „Und was ist mit den Dingen, die ich kann?“

„Hm? Du meinst Schuhe zubinden? Das ist doch großartig, dass du das kannst.“

„Nein, ich meine die Dinge, die ich im Schlaf mache“, erklärte Ferris weiter, während er noch über die Worte seiner Mutter lachte – und kurzzeitig stolz darauf wirkte, sich die Schuhe zubinden zu können. „Cowen hat gesagt, ich mache nachts im Schlaf Dinge, die unheimlich sind. Ich lasse Sachen schweben und so.“

Jetzt gelang es ihr nicht mehr, noch länger zu lächeln. „Ist das wahr?“

„Ich weiß nicht.“ Seine Unsicherheit wuchs, als er sah, dass seine Mutter nicht mehr lächelte. „Es ist also doch schlimm?“

Ein wenig gehemmt schüttelte sie rasch den Kopf. „Nein, nein. Das ist nicht schlimm.“

„Wirklich nicht?“, hakte Ferris kleinlaut nach.

„Wirklich nicht.“ Sanft drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn. „Du bist perfekt, so wie du bist. Schlaf jetzt, Schatz.“

„Okay, Mama.“

Perfekt. Das Wort hallte noch eine Weile unheilvoll über die Szene hinweg in die Ferne. Diese Erinnerung endete und verblasste, begleitet von den Gedanken, die Ferris nach dieser Unterhaltung mit Luan teilte:

Dass ich großes Potenzial dafür hatte Traumbrecher zu werden, zeigte sich schon sehr früh bei mir. Dank meiner Mutter habe ich es als Kind nie für schlimm gehalten, wenn ich Dinge geschehen lassen konnte, während ich schlief. Es waren ja auch nur harmlose Sachen, die nie wirklich gefährlich wurden. Am Anfang. Bald schon konnte ich auch im wachen Zustand Außergewöhnliches geschehen lassen, allein durch meine Träumereien. Meine Eltern, besonders meine Mutter, hielt daran fest, dass es nichts war, weswegen man sich sorgen musste und mein Vater vertraute ihr. Nur mein Bruder blieb anderer Meinung.

Traumbrecher wurden danach ausgewählt, wie hoch die Intensität ihrer Träume war und wenn Ferris schon als Kind so früh gezeigt hatte, dass sie bei ihm derart stark konzentriert waren, wunderte es Luan nicht, welchen Beruf er heute ausübte. Auch seine Haare waren vorher schon besonders gewesen, ohne jedes Färbemittel. Luan unterbrach diese Gedanken, als sich die nächste Szene auf der Wasseroberfläche des Meeres bildete.

Diesmal war etwas mehr zu sehen als vorher. Ein gut gepflegter Garten eines Familienhauses offenbarte sich vor Luan, der auf den ersten Blick sehr kinderfreundlich aufgebaut war. Haufenweise Spielzeug lag in einem Sandkasten herum, an einem großen Baum hing eine Schaukel und es gab genug freie Spielwiese, auf der Ferris als Abbild dieser Erinnerung erschien, wieder als Kind. Jetzt war er acht Jahre alt.

Mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen stand er zuerst reglos auf dem Gras, bis er plötzlich losrannte. Im Kopf stellte er sich vor, er wäre ein Flugzeug und würde durch den Himmel gleiten, was dazu führte, dass Ferris in dieser lebhaften Tagträumerei tatsächlich vom Boden abzuheben drohte. Nur nicht körperlich. Seine Füße lösten sich vom Boden und er schwebte empor in die Luft oder eher: Sein Geist tat es, der sich von seinem Körper löste. Rückwärts fiel diese leere Hülle ins Gras, kaum dass Ferris sie verlassen hatte.

Fasziniert betrachtete Luan dieses Ereignis und war fast neidisch darauf, dass Ferris als Kind schon zu solchen Dingen fähig war. Etwas sollte diese fantasievolle Reise des Jungen aber bald schon stören und das würde bestimmt Cowen übernehmen. Der achtzehnjährige Junge war soeben aus dem Haus in den Garten getreten und runzelte missbilligend die Stirn, als er Ferris so verträumt im Gras liegen sah. Endlich konnte Luan sich ein Bild von ihm machen.

Cowen hatte pechschwarzes, kurzes Haar und es lag so ordentlich, dass es fast schon als unnatürlich bezeichnet werden konnte, weil jede einzelne Strähne einen festen Platz besaß. Einige längere Haarsträhnen rahmten ein hellblaues Augenpaar ein, das wie pures Eis eine stechende Kälte verströmte. Sein strenger Blick ließ keinerlei Fehler zu und Luan fühlte direkt eine unangenehme Anspannung, dabei war Cowen noch nicht mal eine Minute anwesend. Bevor der auf seinen jüngeren Bruder zuging, richtete er sich mit zwei kurzen Handgriffen seine Kleidung, die aus einem faltenfreien, weißen Hemd samt Krawatte und enger, dunkler Hose bestand – entweder arbeitete er schon oder besaß für einen jungen Erwachsenen einen unheimlich gepflegten Stil.

Ungehalten beugte Cowen sich neben Ferris zu diesem runter und stemmte beide Hände in die Hüfte. „Ferris! Du träumst schon wieder, oder? Hör auf damit!“

Eindeutig, es war die Stimme, die Luan schon in der Schall-Welt dieses Alptraums gehört hatte. Sie klang so gestochen scharf wie seine eisblauen Augen wirkten und Ferris reagierte auch sofort auf Cowen. Sein Geist wurde schwer, fiel unsanft vom Himmel herab und verband sich wieder mit seinem Körper, in dem er erst mal tief durchatmen musste, als er die Augen aufschlug. Nervös erwiderte er Cowens tadelnden Blick.

„Was treibst du überhaupt hier draußen?!“, fuhr Cowen ihn wütend an und machte dabei eine ausholende Handbewegung. „Ich habe dir doch gesagt, dass du im Haus bleiben sollst, wo ich dich im Auge behalten kann!“

„Ich weiß“, sprach Ferris eingeschüchtert und zog den Kopf ein. „Tut mir leid. Ich bin aber so gern draußen. Drinnen ist es langweilig.“

Unterkühlt verschränkte Cowen die Arme vor der Brust. „Du meinst wohl eher: Drinnen kannst du nicht unbemerkt vor dich hin träumen. Solange ich auf dich aufpassen muss, möchte ich Unfälle vermeiden und du verursachst nur welche, wenn man nicht auf dich aufpasst.“

„Ich spiele doch nur“, verteidigte Ferris sich, wich aber Cowens Blick aus. „Und Mama sagt, es ist nicht schlimm, dass ich so lebhaft träume.“

„Mutter fürchtet sich vor dir und deinen Träumereien.“ Cowen hielt kurz inne und Luan glaubte, dass sich so etwas wie Hass in seinen Augen widerspiegelte. „Sie ist nur so nett zu dir, weil sie sich vor dir fürchtet und nicht riskieren will, dass du ihr was antust!“

Darauf reagierte Ferris erschrocken und sein Blick fixierte sich wieder auf Cowen. „Das ist nicht wahr!“

„Du glaubst doch nicht wirklich daran, dass Mutter ein Kind wie dich liebt?“

Verzweifelt schüttelte Ferris den Kopf. „Doch! Sie hat es mir gesagt!“

„Eines Tages wirst du schon noch aufwachen“, beendete Cowen die Diskussion und packte seinen Bruder grob am Arm, um ihn auf die Beine zu ziehen. „Bis dahin solltest du endlich lernen, Erwachsenen zu gehorchen! Sonst richtest du irgendwann noch ein Unheil an.“

„Aua!“, jammerte Ferris, wehrte sich aber auch nicht gegen Cowen. „Du tust mir weh!“

„Gut, dann lernst du vielleicht mal, dass Ungehorsam seine Folgen hat!“

„Cowen, lass ihn los!“, mischte eine wesentlich ältere, tiefe und raue Stimme sich ein.

Calvin Haze, der Vater von den beiden, trat nun ebenfalls gerade aus dem Haus in den Garten und war ein stämmiger Mann mit Glatze, einem Dreitagebart und tiefgründigen, braunen Augen, die von der Farbe her exakt zu denen von Ferris passten. Dank der Verbundenheit erfuhr Luan, dass Calvin stets nur enge, kurzärmlige Oberteile in grün oder beige trug, durch die sein Körperbau gut zur Geltung kam. Dicht hinter ihm folgte seine Frau, Cowens und Ferris‘ Mutter, deren Namen Luan jetzt auch vermittelt bekam: Marcia Haze.

Offenbar waren die Eltern früher als erwartet zurückgekehrt, denn beide Kinder wirkten überrascht – Ferris doch eher erleichtert. Cowen gehorchte Calvin ohne Widerworte und ließ Ferris sofort los, der daraufhin schluchzend zu Marcia lief, um sich von ihr in den Arm nehmen zu lassen. Derweil trat Calvin näher zu Cowen und erdrückte ihn förmlich mit seinem Blick. Tiefe Krater zogen sich durch die Stirn des Vaters, als er seinen ältesten Sohn zur Rede stellte.

„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt“, begann Calvin ernst und sah seinen Sohn dabei verständnislos an. „Alt genug, um langsam mal an Reife zu gewinnen. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du Ferris nicht so behandeln sollst? Können wir euch wirklich nicht mal eine halbe Stunde alleine lassen? Er ist dein Bruder. Ich habe mich auf dich verlassen, dass du für die kurze Zeit auf ihn aufpassen kannst.“

„Kann ich auch“, erwiderte Cowen, mit viel Respekt in der Stimme.

„Ohne Ferris so zu behandeln, als hätte er etwas falsch gemacht.“

„Er hat aber etwas falsch gemacht!“ Vorwurfsvoll deutete Cowen auf Ferris. „Ich habe ihm gesagt, er soll drinnen bleiben und er hat nicht auf mich gehört. Soll ich ihn dafür etwa noch loben? Dann tanzt er uns doch allen nur auf der Nase herum.“

Seufzend rieb Calvin sich mit einer Hand über die Stirn. „Es ist Sommer, Cowen. Da kannst du Kinder nicht dazu zwingen, drinnen zu bleiben. Warum darf Ferris bei dir nicht rausgehen?“

„Weil er dann nur heimlich mit spielt und Chaos anrichtet!“

Fehlte da nicht etwas? Mit wem spielte Ferris? Es klang danach, als wäre ein Wort mitten in Cowens Satz verschluckt worden und gar nicht da, es war einfach so ausgeschnitten worden. Leider hatte Luan keine Zeit, sich darauf zu konzentrieren, wenn er keine wichtigen Details verpassen wollte, also ignorierte er den fehlenden Namen und konzentrierte sich auf die Szene, die wie ein laufender Film voranschritt.

„Er ist ein Kind“, begründete Calvin ruhig, was nicht zu seiner rauen Stimme passen wollte.

Schnaubend wandte Cowen sich ab. „Fein, unterstütz ihn ruhig. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Eines Tages werdet ihr es bereuen, nicht strenger mit ihm gewesen zu sein.“

Danach warf er einen raschen Blick zu Marcia, die seinem Blick betrübt auswich und Ferris noch enger an sich drückte. Auch diese Erinnerung verblasste im Anschluss und verschwand langsam, während Ferris sie erneut mit seinen Gedanken kommentierte:

Ungehorsam. Ich sollte noch lernen, was für ein großes Unheil das mit sich bringen konnte. Solange meine Eltern da waren und auf meiner Seite standen, habe ich aber immer nur gedacht, Cowen könnte mich nur einfach nicht leiden. Deshalb habe ich weitergemacht und mir das Träumen von ihm nicht verbieten lassen. Ich habe nie auf ihn gehört und getan, was mir Spaß gemacht hat und da nie etwas passiert war, machte ich mir auch keine Gedanken um mögliche Folgen. Irgendwann tat ich sogar gezielt die Dinge, die Cowen mir verbieten wollte. Das hätte ich nicht tun sollen.

Die Wolkendecke über Luan wurde schlagartig dunkler, nahm die Gestalt von Gewitterwolken an und ein lautes Donnern grollte wie eine körperlose Gestalt über die Wasseroberfläche hinweg. Alles an der Umgebung fühlte sich auf einmal so schwer an, dass Luan sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ein Unheil. Bestimmt würde die nächste Erinnerung ein Unheil einläuten, das alles verändern sollte. Angespannt bereitete Luan sich auf den folgenden Film vor und fragte sich, was wohl passieren würde. Schleichend kam er dem Grund dafür näher, wieso Ferris so viel Leid und Kummer in sich trug.

Es war Marcias Geburtstag. Inzwischen war Ferris zehn Jahre alt und seine Gestalt tauchte zusammen mit einer Tür auf, vor der er ungeduldig auf etwas wartete. Wenige Augenblicke später wurde sie geöffnet und Cowen, zwanzig Jahre alt, kam aus dem Zimmer, das dahinter verborgen lag – das Schlafzimmer ihrer Eltern. Aufgeregt wollte Ferris einen Blick ins Innere des Zimmers erhaschen, aber Cowen schloss die Tür bereits wieder zügig hinter sich.

„Was ist los?“ Ratlos blickte Ferris Cowen an. „Ist Mama noch nicht wach?“

„Mutter geht es nicht so gut“, antwortete er, seine Stimmlage war noch kälter und abweisender geworden. „Wir lassen sie schlafen. Den Kuchen können wir ihr auch später noch geben.“

Nach diesen Worten schob Cowen Ferris auch schon grob zur Seite und ging an ihm vorbei, geradewegs in die Küche. Auch dort erschienen nur die wichtigsten Teile der Umgebung, in dem Fall war es eine Ablage, wo schon ein Geburtstagskuchen mit brennenden Kerzen bereitstand. Schnell waren sie von Cowen allesamt gelöscht worden und nur noch feine Linien aus Rauch erinnerten daran, dass sie schon mal gebrannt hatten. Jetzt wirkte der Kuchen nur noch wie ein unvollkommenes Objekt, dem seine Perfektion entrissen worden war. Genau so schien es jedenfalls Ferris zu empfinden.

Mit aufgepumpten Wangen zeigte Ferris sich trotzig. „Wenn sich Mama nicht gut fühlt, heitert sie ein Kuchen doch erst recht auf! Ich will ihn ihr jetzt geben, nicht später.“

„Nein“, betonte Cowen deutlich. „Ein Kuchen wird Mutter nur noch mehr runterziehen, glaub mir.“

„Lügner!“ Wütend stampfte Ferris mit dem Fuß auf den Boden. „Du willst ja nur nicht, dass ich dabei bin. Kuchen heitert jeden auf!“

Auch Cowen wurde wütend und musste sich sichtlich zusammenreißen, nicht aus der Haut zu fahren. „Nein, eben nicht. Nicht jeden.“

„Wieso nicht?“

„Das verstehst du sowieso nicht. Dafür bist du noch viel zu klein.“

„Bin ich nicht! Ich bin schon zehn Jahre alt!“

„Und dass du hier so rumschreist, obwohl ich dir sagte, dass es Mutter nicht gut geht, zeigt eben doch, dass du noch ein kleines Kind bist“, beendete Cowen diese Diskussion und seine Augenbrauen zogen sich gefährlich dicht zusammen. „Ich werde Vater frühzeitig von der Arbeit abholen gehen. Das allein könnte Mutter jetzt aufheitern, nicht dieser dämliche Kuchen.“

„Aber-“, wollte Ferris einwerfen, doch er zuckte vor Schreck zusammen, als Cowens Faust mit einem lauten Knall auf den Tisch stürzte.

„Kein Aber, Ferris! Du bist ein Kind und Kinder haben auf Erwachsene zu hören!“, stellte Cowen nochmal die Verhältnisse klar. „Du willst nicht wie ein Kind behandelt werden? Schön, dann gebe ich dir hiermit eine Chance, zu beweisen, dass du doch keins mehr bist: Übernimm wenigstens für eine halbe Stunde etwas Eigenverantwortung und warte im Haus, bis ich mit Vater zurück bin. Mit zehn Jahren dürftest du das ja wohl locker hinkriegen, oder nicht?“

Eigentlich klang das nach einem fairen Angebot und dass Cowen ihn wirklich alleine lassen wollte, zeigte auch ein gewisses Maß an Vertrauen, egal wie gering es auch sein mochte – oder es war eher ein Zeichen dafür, dass er sich nur sehr um seine Mutter sorgte und er ihr helfen wollte. Beinahe hätte Ferris deshalb artig zugestimmt, nur schob Cowen dann noch etwas hinterher, was innerlich eine starke Trotzreaktion bei dem Kind auslöste.

„Und lass Mutter in Ruhe!“, befahl er. „Geh nicht in ihr Zimmer und lass den Kuchen hier stehen, kapiert?“

Zu Luans Überraschung folgten von Ferris keine Widerworte, sondern nur ein stummes Nicken und das hätte ihn in dieser Situation misstrauisch gestimmt. Cowen musste wohl zu besorgt um Marcia sein, um das zu bemerkten, denn er wirkte zufrieden und strebte ohne ein weiteres Wort schon Richtung Haustür. Wieder erschien sie als einziges, sichtbares Glied im Gesamtbild des Hauses und es war nur noch zu hören, wie Cowen draußen eilig mit einem Wagen wegfuhr.

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, suchte Ferris die gesamte Küche nach einem Feuerzeug oder Streichhölzern ab, wofür nach und nach ein Möbelstück nach dem anderen auf der Wasseroberfläche erschien. Das Puzzlebild der Küche setzte sich auf die Art langsam zusammen.

Anscheinend hatte man gut genug dafür gesorgt, dass sämtliche Hilfsmittel, mit denen man Feuer machen konnte, aus der Reichweite des Kindes entfernt worden waren. Frustriert stieß Ferris einen Seufzer aus, als er nicht fündig wurde und ...

... das Bild der Erinnerung verzerrte sich plötzlich. Begann wie wild zu flimmern, ähnlich wie bei einem Störsignal beim Fernseher. Es war nichts mehr zu erkennen, bis sich die Übertragung wieder fing und Ferris in der nächsten Szene mit dem Kuchen im Arm vor dem Zimmer seiner Eltern stand, in dem sich gerade nur seine Mutter aufhielt. Die Kerzen brannten alle und Ferris lächelte zuversichtlich.

Etwas fehlte hier. Warum war das Zwischenstück nicht einsehbar? Lag es daran, dass der erwachsene Ferris sich nur nicht mehr an alles erinnern konnte? Nein, Luan hatte einen Verdacht, aber er behielt ihn erst mal für sich. Seine Gedanken würden nur den Lauf der Erinnerungen stören.

„Ihr werdet schon sehen, ich heitere Mama ganz alleine auf~“, nahm Ferris sich fest vor und öffnete die Tür.

Dahinter kam ein einzelnes Doppelbett zum Vorschein, auf dem Marcia saß. Über der Wolkendecke des Meeres war ein weiteres Grollen zu hören, das hinabstieg und unruhige Wellenbewegungen auf der Wasseroberfläche auslöste. Jeder Schritt von Ferris brachte Dunkelheit in die Erinnerung, weil die Wolkendecke sich nun anfing schwarz zu verfärben. Jede Sekunde musste etwas geschehen, was das Innerste von Ferris in Aufruhr versetzte. Und ab hier geschah alles Schlag auf Schlag.

Marcia saß mit gesenktem Kopf alleine auf einer Seite des Doppelbettes – die Seite ihres Mannes, wie Luan vermittelt bekam. Sie rührte keinen einzigen Muskel und war wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, die nur zur Dekoration diente. Leblos und längst gebrochen. Genau das sagten ihre Tränen aus, deren glänzende Spuren noch auf ihren Wangen zu sehen waren.

Vorsichtig schlich Ferris sich näher ans Bett heran und hielt dabei den Kuchen vor sich.

Dann hob er ihn hoch, so weit wie er nur konnte.

Und es folgte ein fröhliches: „Mama! Alles Gute zum Geburtstag!“

Wie vom Blitz getroffen fuhr Marcias Kopf hoch, starrte wie versteinert mit verweinten Augen auf den Kuchen und in der Wolkendecke blitzte wirklich ein grelles Licht auf. Alles geschah so schnell, dass Luan kaum folgen konnte, aber er spürte die Emotionen. Ihre Gewalt brachte ihn ins Schwanken, besonders eine von ihnen. Erst vor kurzem hatte er dieses Gefühl wieder neu erfahren, weil Bernadette ein Loch in das Netz der Atemhypnose gerissen hatte: Angst.

„Monster!“, schrie Marcia unkontrolliert.

Ferris stieß vor Schock nur einen stummen Schrei aus und das sowohl wegen der Reaktion seiner Mutter als auch den Kerzen. Wie durch Geisterhand wandelten sich die kleinen Flammen zu Giganten heran, was Ferris dazu brachte, den Teller aus Reflex samt Kuchen einfach fallenzulassen und zurückzuweichen. Innerhalb von Sekunden wuchs das Feuer so stark heran, dass es bald schon das Bett eingekreist hatte. Eine unerträgliche Hitze brachte die Atmosphäre zum Flimmern, ähnlich wie vorhin und doch war es anders.

Das Schlafzimmer war von Feuer erobert worden.

Wie konnte sich Feuer so schnell ausbreiten?

Was Luan nun zu sehen bekam, waren nur noch kleine Ausschnitte von dem, was geschah. Fetzen einer Erinnerung, die eine hochgradige Verbrennung in der Seele von Ferris hinterlassen hatte. Ein Selbstschutz, um den Schmerz dieses Tages nicht zu lebendig werden zu lassen. Folgende Schnipsel bekam Luan zu sehen:

Marcias Schreie übertönten das grollende Donnern, das zum dritten Mal aus der Wolkendecke und über das Meer jagte – ohne Ziel. Ferris war auf den Boden gesunken und saß reglos da. Konnte nur entsetzt starren. Calvin stürzte irgendwann ins Zimmer und brüllte einen Befehl Richtung Cowen. Sie waren nach Hause zurückgekehrt. Cowen schnappte sich Ferris, hievte ihn sich auf die Arme und stürmte mit ihm aus dem Haus.

Calvin, fünfundvierzig Jahre alt, blieb bei Marcia, zweiundvierzig Jahre alt.

Sirenen heulten auf.

In dem letzten Filmausschnitt dieser Erinnerung standen die Brüder beide zusammen und doch alleine vor dem Haus, aus dem eine Menge Rauch nach außen drang, umgeben von Feuerwehr und Krankenwagen. Dann verblasste die Erinnerung. Ferris‘ Gedanken folgten:

Meine Eltern haben diesen Tag nicht überlebt. Sie sind gestorben, in einem Feuer, dessen Ursache auf die Kerzen des Geburtstagskuchens geschoben wurde. Natürlich wusste ich es besser. Es hatte an mir gelegen. An mir und der Tatsache, dass ich nicht normal war. Auch Cowen betrachtete mich von Anfang an als Schuldigen, während ich von meinen Mitmenschen mit Mitleid für diesen unglücklichen Vorfall überhäuft wurde. Wir beide waren die einzigen, die es besser wussten. Also ...

Aus dem Nichts tauchten zwei einsame Stühle auf, um die nächste Szene einzuläuten. Auf die musste Luan sich erst mal einstellen, da er noch glaubte die Hitze der Flammen deutlich in der Luft spüren zu können, die ihm das Atmen erschwerte. Sah nicht so aus, als würde sich die Wolkendecke nochmal aufhellen, sie blieb schwarz, dunkel und unergründlich. Eine Macht, deren Existenz es dem Meer unmöglich machte den Himmel zu sehen. Irgendwie deprimierend.

Auf den Stühlen erschienen Ferris und Cowen, jeweils in anderer Haltung. Das Kind war regelrecht in sich zusammengesackt, der Erwachsene dagegen saß aufrecht und fror den Schuldigen mit seinem Blick an dem Stuhl fest. Nur ein paar Tage waren seit dem Unfall vergangen, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Wahrscheinlich folgte nun so etwas wie eine Besprechung, mit dem Hintergrund, wie es weitergehen sollte. Oder eher ein Verhör, von Cowens Seite aus, gefüllt mit Beschuldigungen.

Er war es auch, der zuerst die eisige Stille zwischen ihnen brach. „Du bist schuld, dass sie tot sind.“

Ferris nickte nur schweigend.

„Wenigstens siehst du es ein“, fasste Cowen diese Einstellung positiv auf und verstärkte seine aufrechte Haltung, indem er seinen Körper anspannte. „Du weißt auch, woran es liegt?“

Wieder nickte Ferris schweigend.

„Dann sag es“, forderte sein Bruder mit fester Stimme. Keine Spur von Trauer war in ihr enthalten. „Ich will es von dir hören.“

„Ich bin nicht normal“, antwortete Ferris kleinlaut.

Er zeigte keinerlei Widerstand mehr gegen Cowen und fügte sich ihm gehorsam, was der nur begrüßte. „Genau. Wie sonst soll es möglich gewesen sein, dass das Feuer nur dir nicht geschadet hat? Definitiv nicht normal. Das müssen wir also dringend ändern.“

Überrascht hob Ferris den Kopf, den er bis dahin hängen gelassen hatte und warf ihm einen hoffnungsvollen Blick zu. „Wir? Du lässt mich also nicht allein?“

„Ich bin dein Bruder. Dein nächster Verwandter und alt genug, mich um dich zu kümmern“, fasste Cowen zusammen. „Was würde das für ein Licht auf mich werfen, wenn ich dich links liegen lasse? Natürlich lasse ich dich nicht allein oder gebe dich in andere Hände.“

Darüber war Ferris spürbar erleichtert, seine Mimik hellte sich sogar etwas auf. „Danke, Cowen! Ich werden von nun auch gehorsam sein, das verspreche ich dir.“

„Das will ich dir auch raten. Nochmal soll so etwas ja nicht passieren, also ist Gehorsam schon mal ein guter Anfang.“

Nein, nochmal durfte so etwas nicht passieren, dafür mussten sie unbedingt sorgen. Diese Gedanken von Ferris erreichten Luan klar und deutlich, sie wandelten sich zu seinen eigenen, so eng war die Verbindung. Besonders wegen Marcias Ausbruch ihm gegenüber wollte Ferris sich ändern, das hatte ihn nämlich sehr getroffen. Er wollte kein Monster sein, sondern perfekt, so wie sie es damals zu ihm gesagt hatte. Musste er also erst normal sein? Ja, so war es wohl. Von nun an würde Ferris alles dafür tun, um normal zu werden und Cowen sollte ihn leiten. Wenn er erst mal normal war, dann ...

„Ich werde dich schon richtig erziehen und wenn du es erst mal geschafft hast, normal zu werden, dann arbeiten wir an der Perfektion“, führte Cowen den Gedanken zu Ende.

Etwas überrumpelt neigte Ferris den Kopf. Hatte er sich verhört oder konnte Cowen Gedanken lesen? „Perfektion?“

„Ja, das ist sehr wichtig.“ Eine flüssige Bewegung genügte und Cowen war von seinem Stuhl aufgestanden, um zu Ferris rüberzugehen. „Aber eins nach dem anderen. Zuerst bringen wir Normalität in unser Leben, vorrangig in deines, also wirst du nicht mehr mit spielen, verstanden?“

Schon wieder. Da war ein Wort gänzlich aus dem Satz ausgeschnitten worden, wie es schon mal vorgekommen war. Mit wem sollte Ferris nicht mehr spielen? Luan ahnte, dass nur einer in Frage kommen konnte: Theeder. Ihn aus dem Gedächtnis zu streichen, musste Ferris wahrlich meisterhaft gelungen sein. Dieser Sakromahr hatte scheinbar viel Einfluss auf seine Kindheit gehabt und doch wurde er komplett vergessen.

Nach einer knappen Bestätigung von Ferris, dass er Cowen verstanden hätte, verblasste letztendlich auch diese Erinnerung und was folgte, waren wieder Gedanken:

Cowen brachte mir also bei, wie man normal war. Er hätte mich verstoßen oder gar Angst vor mir haben können, aber stattdessen blieb er bei mir und half mir sogar. Wir konnten auch zusammen in unserem Familienhaus bleiben, lediglich das Schlafzimmer meiner Eltern konnten wir die nächste Zeit nicht mehr nutzen. Unser Leben ging also weiter, in anderen Bahnen als vorher. Für mich war es in Ordnung, wenn Cowen streng wurde. Oder zu streng. So war es richtig, glaubte ich. Aber ...

Plötzlich störte etwas die Verbindung, in der sie sich gerade befanden. Noch bevor sich die nächste Erinnerung aufbauen konnte, verlor Luan den Halt unter seinen Füßen und fiel zurück ins Wasser. Wie ein schwerer Stein sank er auf den Grund des Meeres hinab, wo ihn Schwärze willkommen hieß. Nicht lange und sie stieß ihn zurück in die Wirklichkeit.

Das war zu früh.

Aber?

Ferris war noch nicht fertig gewesen. Noch lange nicht.

Das reicht mir nicht

Luan hörte bereits das laute Klingeln eines Telefons, noch bevor er mit seinem Geist richtig in die Realität zurückgekehrt war. Es wirkte so aufdringlich und störend, dass er sich schon nach den ersten Tönen zutiefst genervt davon fühlte und doch war es nicht das, was gerade die Harmonie der Verbindung ins Wanken brachte. Etwas anderes hatte mittendrin für eine unerwartete Trennung der beiden Taschenuhren gesorgt, wodurch auch das unsichtbare Band zwangsweise reißen musste, dank dem sein Geist mit dem von Ferris verbunden gewesen war.

Als Luan die Augen öffnete, um endgültig die Schwärze zu verlassen und herauszufinden, wer oder was die Verbindung gestört hatte, blickte er als erstes in das Gesicht von Ferris. Auch ihm war anzusehen, dass er dieses Telefonklingeln als äußerst penetrant empfand. Außerdem atmete er etwas schwerer als gewöhnlich, genau wie Luan, aber das war normal, wenn man seinen Geist mit dem eines anderen verband. Es war immer eine sehr intensive Erfahrung, die man wirklich als eine Art anstrengende Reise bezeichnen konnte.

„Endlich zurück?“, fragte eine vertraute Frauenstimme die beiden und stieß erst einen erleichterten Seufzer aus, bevor direkt im Anschluss schon eine Entschuldigung folgte. „Tut mir wirklich leid, dass ich eure Verbindung gestört habe, Jungs. Hier gibt es aber ein kleines Problem, für das ich keine andere Lösung gesehen habe.“

Synchron lenkten Luan und Ferris den Blick zu der Frau, die mit ihnen sprach und letzterer brachte sofort ein munteres Lächeln zustande, das sein gesamtes Gesicht vor Freude strahlen ließ. „Hey, Naola~!“

Was sollte Luan nun mehr verwundern? Dass Naola wegen eines kleinen Problems einfach zwei Traumbrecher bei einer Verbindung gestört hatte oder dass Ferris bei ihr wie auf Knopfdruck mühelos Fröhlichkeit vorspielen konnte, obwohl sich zuvor noch ein depressiver Schlund in seinen Augen gezeigt hatte? Nicht nur in seinen Augen, insgesamt war Ferris wie ausgewechselt und emotionslos gewesen. Wie konnte er auf einmal wieder so unbeschwert lächeln?

Im Hintergrund war das höchst nervtötende Klingeln derweil schon verstummt, zum Glück, also blieben Luan und Ferris einfach auf dem Bett sitzen, statt sich vom Fleck zu bewegen.

„Hey, Precious~“, erwiderte Naola seinen Gruß ebenfalls lächelnd.

„Du hast deinen Haaren ihre Freiheit geraubt?“, stellte Ferris bedauernd fest. Schmollte er etwa sogar ein bisschen? „Jetzt kommt die schöne Farbe doch gar nicht mehr zur Geltung.“

Ihre Haare hatte Naola sich zu einem geflochtenen Zopf zusammengebunden, was Luan gar nicht aufgefallen wäre, wenn Ferris das nicht angesprochen hätte. Schon von Anfang an war er mehr als begeistert von ihren lilafarbenen Haaren gewesen und Luan fiel nun auch wieder ein, wie groß die Vorliebe für außergewöhnliche Farben bei Ferris war. Bislang hatte Luan das nie verstanden, jetzt ließ sich das leicht auf die blauen Haare von ihm zurückführen, die Ferris mit Sicherheit nur färbte, um normaler zu wirken. Müsste er solche Haarfarben demnach nicht eigentlich als störend empfinden?

Als Naola auf die Frage antwortete, klang ihre Stimme entschuldigend. „Zum Schlafen ist das viel praktischer und so trage ich sie halt am liebsten.“

Zum Schlafen? Dass Naola ein Nachthemd trug und gerade frisch aus dem Bett gestiegen sein musste, bemerkte Luan ebenfalls erst jetzt, nachdem sie es angesprochen hatte. Offenbar war er noch mit seiner Wahrnehmung ganz woanders und seine Auffassungsgabe ließ daher zu wünschen übrig. Es musste mitten in der Nacht sein. Wann hatte sie Zeit gefunden, Kleidung zum Wechseln zu holen? War ihr das vom Hotel zur Verfügung gestellt worden?

Da Naola wusste, dass Ferris diese Erklärung nicht zufriedenstellen dürfte, schenkte sie ihm ein Zwinkern, ehe sie noch etwas hinzufügte. „Bei unserem Date trage ich sie aber gerne nochmal offen, nur für dich.“

Auch Ferris zwinkerte ihr zu. „Na gut, ausnahmsweise lasse ich mich mal vertrösten~.“

Es stimmte also, die beiden hatten wirklich ein Date vereinbart. Wozu? Hatten sie etwa Interesse aneinander? Wenn ja, zeigte sich das reichlich spät, wie Luan fand. Für Dates hätten sie schon viel früher weitaus bessere Gelegenheiten gehabt, darüber sollte er aber nicht gerade jetzt nachdenken. Musste jedenfalls ein recht interessantes Gespräch gewesen sein, das Naola mit Ferris geführt hatte.

Erwartungsvoll lenkte sie nun den Blick auf Luan und wartete schweigend ab, was ihn nur eine Augenbraue heben ließ. Musste er verstehen, wieso sie ihn nun so anstarrte? Für eine Begrüßung war Luan noch viel zu gefangen von den Eindrücken der Verbindung, erst recht für solch eine gute Laune, wie die beiden sie zeigten, konnte er sich nicht begeistern. Aus guten Gründen.

Vor seinem inneren Auge spielten sich noch die Bilder der Szenen ab, die Ferris ihm gezeigt hatte und er war erschüttert darüber, was passiert war. Geistesabwesend warf er den Blick zu seiner Taschenuhr, die er noch festhielt und stellte fest, dass Naola sie beide jeweils am Arm gegriffen hatte und ihre Hände auseinandergezogen haben musste. Luan neigte dazu, sich von ihr loszureißen und die Verbindung sofort wiederherzustellen, weil er auch den Rest erfahren wollte, aber er nahm sich zusammen.

Ein leichter Schmerz in Luans rechter Hand verriet ihm, dass Ferris zwischendurch fest zugedrückt haben musste. Kein Wunder, diese Ereignisse hatten bestimmt tiefe Wunden in ihm aufgerissen. Und er war noch nicht fertig gewesen.

Verärgert über diese ungebetene Unterbrechung erwiderte Luan den Blick von Naola und tat ihr den Gefallen, etwas zu sagen, verzichtete dabei aber auf einen Gruß seinerseits. Den Zeitpunkt dafür hatte er sowieso verpasst. „Was für ein Problem kann so wichtig sein, dass du dafür die Verbindung zwischen zwei Traumbrechern störst?“

„Machst du Witze?“, konterte Naola mit einer Gegenfrage und löste ihre Hände von den beiden, um eine davon in die Hüfte zu stemmen und mit der anderen zur Quelle des Lärms von eben deuten zu können, von der das andauernde Klingeln ausgegangen war. „Sag bloß, du hast das nicht gehört?“

Quasi wie auf Bestellung setzte das Klingen erneut ein und entlockte Naola damit ein Stöhnen. „Nicht schon wieder.“

Auf dem Nachttisch am anderen Bett, zu dem sie deutete, stand tatsächlich ein Telefon neben den Blumen sowie der Willkommenskarte und es klingelte ununterbrochen. Vorher war es Luan gar nicht aufgefallen, dass sie hier ein Telefon hatten, jetzt ließ es sich nur noch schwer ignorieren. Die Töne waren so schrill und schief, dass man schon taub sein musste, um sie überhören zu können. Daran sollte dringend einmal etwas geändert werden.

Seufzend stand Luan von Ferris‘ Bett auf und ging zu dem Telefon hinüber, wobei er die Taschenuhr vorerst in der Hand behielt. Wer wohl hier anrief? Darauf fand er spontan keine Antwort, gleich würde er es aber ohnehin erfahren, wenn er erst mal den Anruf entgegen nahm.

„Natürlich höre ich es“, antwortete Luan unterwegs und streckte seine freie Hand nach dem Telefon aus. „Konntest du vorher etwa nicht selbst rangehen?“

Den Gefallen hätte Naola ihnen ruhig tun können. Für irgendeinen Anruf musste Luan nun die Verbindung zu Ferris unterbrechen, was ihn sehr ärgerte.

„Glaubst du etwa wirklich, das ich nicht so weit mitdenken würde?“, erwiderte Naola leicht empört und ließ sich nun anstelle von Luan auf dem Bett nieder, wo auch Ferris noch saß. „Das habe ich schon versucht und jedes Mal war eine junge Frau dran, die unbedingt mit dir sprechen wollte. Egal, was ich gesagt habe, sie wollte nichts von mir hören und hat immer aufgelegt, um nochmal anrufen zu können.“

Kurz bevor seine Fingerspitzen das Telefon zu berühren drohten, hielt Luan inne. „Eine junge Frau?“

Das konnte nur Mara sein. Wer sollte sonst so dringend mit ihm sprechen wollen? Jemand anderes konnte es nicht sein, nur sie wusste noch über den Aufenthaltsort von Luan Bescheid. Warum rief sie hier an? Hing es damit zusammen, dass sie gesagt hatte, sie könnte ihn nicht mehr aus den Augen lassen oder vielleicht sogar mit Bernadette?

„Ja, sie klang ziemlich verzweifelt“, antwortete Naola besorgt auf seine Frage. „Ich habe ihr gesagt, dass du gerade verhindert bist und ihr meine Hilfe angeboten, aber sie betonte sehr verständlich, nur mit dir reden zu wollen. Meine Erklärungen, dass du gerade beschäftigt wärst, hatten sie nicht mal erreicht.“

Sehr verständlich? Sofort musste Luan an die verschiedenen Gesichter denken, die Mara ihm bisher gezeigt hatte. Welchem davon Naola wohl begegnet war? Normalerweise wirkte sie stets sehr vertrauenswürdig und war hilfsbereit genug, so dass sich ihr andere schnell öffneten, Mara schien laut ihren Worten aber eine Ausnahme zu bilden. Unsicher starrte Luan das Telefon an, das keine Ruhe geben wollte.

„Das wird Mara sein, oder?“, vermutete auch Ferris richtig.

„Mara?“, griff Naola direkt den Namen auf und wandte sich fragend an Luan. „Etwa die Frau, mit der ich dich zum Buchladen gefahren habe?“

Luan bejahte diese Frage und Naola schien von sich selbst enttäuscht zu sein, weil ihr dieser Gedanke bisher noch nicht gekommen war. Sie dürfte aufgrund des Kampfes mit dem Alptraum einfach noch zu angeschlagen sein, also war das nicht weiter verwunderlich. Vorgestellt hatte er Mara ihr noch dazu auch gar nicht, wie ihm gerade bewusst wurde. Das war in seinen Augen nicht nötig gewesen.

Ferris konnte nicht mit Ernst bei der Sache bleiben und natürlich musste er mit seinen Späßen anfangen. „Die Kleine scheint dich mehr zu mögen als mich. Fängst du etwa an, mir Konkurrenz bei den Frauen zu machen?“

„Was auch immer sie von Luan will, er sollte endlich rangehen“, drängte Naola ihn. „Entweder sind die Wände hier sehr dünn oder das Klingeln zu laut, aber man hört es bis in den Flur und noch weiter. Ich habe es sogar noch ganz deutlich in meinem eigenen Zimmer hören können und dachte erst, dass mein Telefon dort klingeln würde. Ihr habt nicht abgeschlossen, also kam ich her, um mich darum zu kümmern. Ohne Erfolg.“

So wie Luan Naola einschätzte, wollte sie auch nicht einfach das Telefon vom Strom trennen und Mara dadurch womöglich noch aufregen, dafür besaß sie ein zu fürsorgliches Wesen. Außerdem musste Mara erst am Empfang angerufen haben, sonst wäre sie wohl kaum an die Zimmernummer gekommen. Ob sie dort Terror machen würde, könnte sie hier nicht mehr durchkommen? Gäbe es noch mehr Gäste, wären garantiert längst einige Beschwerden zur Hotelführung gegangen. Naola hatte also doch richtig gehandelt.

Woher hat sie überhaupt die Nummer vom Hotel?

„Geh schon ran“, bat Naola ihn noch einmal nachdrücklich, als bräuchte sie Erlösung.

Nickend ging Luan dieser Bitte nach und nahm das Telefon in die Hand, das sich seltsam kalt anfühlte. Abrupt erstickte das klingelnde Geschrei, als er den Anruf annahm. „Ja?“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, die nur von einigen nervösen Atemgeräuschen gestört wurde. Kurze Zeit später kam eine erleichterte Reaktion. „Endlich bist du rangegangen und nicht diese Frau.“

Obwohl Luan Mara noch nicht lange genug kannte, konnte er ihre Stimme wiedererkennen. Bei dem aufdringlichen Anrufer handelte es sich also wirklich um sie, was ihn nicht gerade begeistert stimmte und das konnte man auch hören, als er daraufhin nicht nur ein einsilbiges Wort von sich gab.

„Wieso rufst du an?“, grummelte er ins Telefon.

„Wieso?“, wiederholte sie fassungslos. „Wieso ich anrufe? Wie kannst du mich das fragen?“

„Weil ich keine Ahnung habe.“

„Ich hatte dir doch gesagt, dass ich dich nicht mehr aus den Augen lassen kann!“

„Mag sein.“ Er zeigte sich weiterhin verständnislos. „Trotzdem weiß ich den Grund dafür nicht, also: Wieso rufst du an? Noch dazu um diese späte Uhrzeit?“

Wieder setzte Stille ein, begleitet von unregelmäßigen Atemgeräuschen. War Mara etwa so aufgebracht, nur weil Luan ohne ein Wort gegangen, nein, die Flucht aus dem Buchladen ergriffen hatte oder ging es ihr vielleicht nicht gut? Was, wenn er sich irrte und sie gar keine Verbündete von Bernadette war, sondern doch eher eine Art Opfer? Das war alles sehr merkwürdig.

„Ich wäre morgens zurückgekommen“, brach er die Stille, da sie nichts mehr sagte und er sich dachte, dass er sie wohl besser beruhigen sollte. „Das Buch muss ich schließlich immer noch holen und das hast du doch noch, oder?“

„Ja“, hörte er sie leise und zögerlich sagen.

„Dann komme ich es am Morgen abholen.“

„Warum kommst du nicht jetzt sofort und holst es, wenn es so wichtig ist?“

Dass Vane ihm mit seiner Schall-Prägung befohlen hatte, bis zum frühen Morgen in diesem Zimmer zu bleiben und sich auszuruhen, wollte er ihr nicht erklären. Gegen diesen Befehl konnte Luan sich nicht wehren, dafür hallte er zu ausdauernd in seinem Geist wider und erinnerte ihn permanent daran. Vanes Stimme würde erst verklingen, sobald die Sonne aufging, dann könnte er das Hotel wieder verlassen. Sich gegen diese Befehle zu wehren hätte nur unerträgliche Kopfschmerzen zur Folge.

„Es ist zu spät“, log Luan. „Wenn es morgens ist, komme ich sofort vorbei.“

„Nein, komm jetzt“, forderte Mara fast verzweifelt. „Ich verrate dir dann auch, wieso ich dich nicht aus den Augen lassen kann.“

Mühevoll unterdrückte Luan einen Seufzer. „Wir sollten besser schlafen.“

„Aber wir sind doch jetzt beide wach!“ Sie gab einfach nicht auf. „Wozu sollen wir noch bis zum Morgen warten, wenn du jetzt schon kommen könntest?“

Ein wenig überfordert warf Luan einen hilfesuchenden Blick zu Ferris und Naola, von denen er die ganze Zeit über neugierig beim Telefonieren beobachtet wurde. Hilfreich konnte er das nicht nennen und diese beiden Augenpaare machten ihn irgendwie nervös, aber es würde auch nichts bringen sich umzudrehen. Er musste die beiden weiter starren lassen, seine Konzentration sollte eher dem Gespräch mit Mara gelten.

„Ich habe dir doch schon zwei Mal gesagt, dass ich keinen Grund habe, dich anzulügen“, erinnerte er sie daran. „Ich werde bei dir sein, wenn die Sonne aufgegangen ist. Warum vertraust du mir nicht?“

Mara musste erst schlucken und ihre Stimme klang brüchig. „Weil du eben doch ein Lügner bist.“

„Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden!“, fuhr sie ihn enttäuscht an. „Du sagst zwar, du würdest nicht lügen, aber du tust es doch ständig! Lag ich wirklich bewusstlos auf der Straße, wie du behauptest hast?“

„Ist das noch wichtig?“, wehrte er die Frage ab.

Auf diese Gegenfrage ging Mara gar nicht ein. „Und warum du in dieser ... dieser unheimlichen Welt mit deiner Waffe schießen durftest, andere Arten von Gewalt aber nicht angewendet werden sollten, hast du mir auch noch nicht erklärt. Du lügst mich an und hältst deine Versprechen nicht. Wie soll ich dir da vertrauen?“

Am liebsten hätte Luan aufgelegt, aber irgendetwas hinderte ihn daran. Für ihn war Mara noch eine Fremde und grenzte nur grob an die Schwelle zur Bekannten, das sollte umgekehrt eigentlich genauso sein. Lag es an dieser Erscheinung von Estera, dass er sich diesem Gespräch immer noch aussetzte und versuchte, sie zu beruhigen? Erfolgreich war er dabei allem Anschein nach nicht. Dieses Mädchen blieb für ihn ein einziges, großes Rätsel.

„Meinetwegen erkläre ich es dir jetzt“, schlug er vor und fing gleich mit der Erklärung an. „Pistolen von Traumbrechern verschießen keine richtigen Kugeln, die physischen Schaden anrichten, sondern Energie, die aus unserem Körper abgezweigt wird und negative Ansammlungen von Gefühlen, aus denen Alpträume bestehen, vernichten kann. Deswegen konnte ich problemlos schießen, weil das keine körperliche Gewalt verursacht. Zufrieden?“

Erst schwieg sie, antwortete aber schon nach kurzer Zeit. „Ja, so stand es auch im Buch.“

Luan wollte sich gar nicht ausmalen, über wie viel Wissen Mara mittlerweile schon verfügte, sollte sie das Buch ausgiebig gelesen haben. Ändern konnte er das leider nicht mehr, dennoch durfte sie es nicht behalten. Jedenfalls war es ihr jetzt also nur noch darum gegangen, diese Erklärung nochmal von ihm zu hören, weil er ihr das versprochen hatte. Hoffentlich konnte er sie ausreichend beruhigen und sie dazu bringen, bis zum Morgen auf ihn zu warten, ohne andauernd hier anzurufen.

Schon wieder sagte sie nichts und legte auch nicht auf. Eine Sache fiel Luan noch ein, die er ihr auch erklären wollte, sie in der Welt dieses Schöpfer-Reinmahrs aber vertrösten musste. Danach wüsste er nicht mehr, wie er ihr beweisen sollte, dass sie ihm vertrauen konnte. Durch die letzten Ereignisse hatte er es eben nur vollkommen vergessen, ihr die versprochenen Erklärungen abzuliefern. Wer konnte ihm das verübeln? Auch Traumbrecher konnten nicht immer an alles denken, bei dem Chaos, das sich um Luan ausbreitete.

„Alpträume gewinnen durch negative Stimmungen wie Angst an Stärke, weil sie selbst aus diesem Stoff bestehen und deshalb wachsen, wenn man in ihrer Gegenwart so empfindet. Das ernährt sie quasi“, gab er sachlich die nächste Erklärung ab. „So, das hätte ich dir auch erklärt. Bist du jetzt beruhigt?“

„Nein.“ Nicht das, was er hören wollte, aber wenigstens reagierte sie sofort. „Warum bist du weggegangen, ohne mir Bescheid zu sagen?“

An ihr hatte es nicht gelegen, sondern an Bernadette. Noch wusste Luan nicht, wie er Mara einschätzen sollte und ob sie mit der Verräterin zusammenarbeitete oder nicht. Da er hier nicht weg konnte, bis die Befehle verklungen waren, wollte er sie nicht unnötig aufregen oder beunruhigen.

„Hör zu, ich habe auch sehr viele Fragen und bin ziemlich durcheinander“, gestand er widerwillig. „Ich bitte dich: Lass uns das alles morgens klären, dann können wir in Ruhe sprechen. Von Angesicht zu Angesicht.“

Endlich bekam er eine Antwort, die er hören wollte. „Okay, Luan. Machen wir es so, wenn du nicht anders willst.“

Seltsam, hatte sie gerade zum ersten Mal seinen Namen ausgesprochen? Luan konnte es nicht richtig beschreiben, nur schien ihre Stimme, die seinen Namen so vertraut aussprach, etwas in ihm zu wecken. Das ruhige Gespräch mit ihr würde hoffentlich all seine Fragen klären, ganz besonders die, was Mara während der Erscheinung gesehen hatte. Seit Bernadette ein Loch in seine Atemhypnose gerissen hatte, glaubte er, die Frage danach nun stellen zu können.

„Aber“, setzte Mara an und klang flehend, „komm auch. Komm auf jeden Fall.“

„Ich werde da sein.“

„Sonst rufe ich wieder an“, drohte sie kleinlaut.

Durch ein Nicken wollte er zeigen, dass er sie verstanden hatte, dabei konnte sie es gar nicht sehen. „Gute Nacht, Mara.“

Hatte er ihren Namen jetzt auch zum ersten Mal laut ausgesprochen? Auch bei ihr schien das etwas auszulösen, das konnte Luan durch das Telefon hindurch spüren. Allerdings legte Mara dann auf einmal auf, ohne sich zu verabschieden oder noch einen Ton von sich gegeben zu haben. Dafür, dass sie so hartnäckig bei dem Vorhaben gewesen war, ihn persönlich erreichen zu wollen, wirkte dieser wortkarge Abschied nun merkwürdig. An ihr war aber auch einiges merkwürdig, genau wie dieses Telefonat.

Innerlich zuckte Luan mit den Schultern und legte das stumm gewordene Telefon wieder auf dem Nachttisch ab. Anschließend wandte er sich an Ferris und Naola, von denen er immer noch neugierig angestarrt wurde. Normalerweise knüpfte Luan nie neue Kontakte und das war wohl auch der Grund, warum die beiden das so sehr in den Bann zog. So langsam durften sie gerne damit aufhören.

„Es wird ab jetzt ruhig bleiben“, verkündete Luan. „Sie ruft nicht mehr an.“

Erleichtert erhob Naola sich vom Bett. „Sehr gut, also kann ich wieder schlafen gehen und so meiner Bettruhe nachkommen, die der Doktor mir verschrieben hat. Das schlechte Gewissen hätte ich nicht länger ausgehalten.“

Nur zwei Schritte ging sie vorwärts und blieb nochmal stehen, um ihn anzuschauen. Als ihre hellblauen Augen ihn missbilligend musterten, befürchtete Luan fast, dass sie ihn jede Sekunde dafür kritisieren würde, dass er Mara am Telefon einfach Dinge über Traumbrecher und Alpträume verraten hatte, die Menschen gar nicht wissen dürften. Ihren wahren Gedanken hätte er aber nie erraten, würde sie ihn nicht direkt laut äußern.

„Wie du aussiehst. Deine Kleidung hat bei dem Kampf gegen den Schall-Alptraum auch ganz schön gelitten, so wie meine.“

Perplex blickte Luan an sich herab. „Schon, ja.“

„Kein Problem!“ Zuversichtlich klatschte sie in die Hände. „Das haben wir gleich.“

Rasch ließ sie eine Hand in die Seitentasche von ihrem Nachthemd verschwinden, in der sie vermutlich ihre Uhr aufbewahrte und berührte mit der anderen Luan an der Schulter. Ein warmer Windzug war zu spüren, der kurz den gesamten Raum erfüllte und mit jedem Blinzeln wurden mehr und mehr die Schäden an seiner Kleidung beseitigt, wie durch Zauberhand. Als Traumbrecher wusste Luan, dass Naola gerade ihre Schöpfer-Prägung benutzte, um den alten Zustand seiner Kleidung wiederherzustellen. Auch das leise Ticken der Taschenuhr war ein Zeichen dafür.

Nur einige Sekunden später war seine Kleidung wieder wie neu und sie nickte zufrieden. „Schon viel besser. Du musst doch ordentlich aussehen.“

„Das hättest du nicht tun sollen, Naola“, klagte Ferris. „Ich hatte mich schon darauf gefreut, mit Luan endlich etwas einzukaufen, was nicht schwarz ist. Jetzt wird er weiterhin in diesem Mantel rumlaufen.“

Zuerst stoppte sie die Zeit ihrer Taschenuhr, wodurch das Ticken verstummte und lächelte Ferris nur entschuldigend zu. Dankbar richtete Luan derweil seinen Mantel und da er wusste, dass solche Kleinigkeiten Naola fast gar keine Traumzeit kosteten, musste er sich darüber auch keine Sorgen machen. Für ihn war es ein großes Glück, dass er den Mantel weiterhin tragen könnte und ihn nicht wegschmeißen musste.

„Ihr beide solltet auch schlafen.“ Ihre Stimme klang fordernd, als wäre sie in dieser Sekunde bei ihrer Arbeit auf der Krankenstation und ihr Blick glitt zu Luan. „Vor allem du. Dir hat Vane doch sicher auch Bettruhe verordnet, also enttäusche ihn nicht.“

Naola wartete gar nicht erst eine Reaktion ab und wünschte ihnen beiden schon eine gute Nacht, als sie Richtung Tür ging, um zurück in ihr eigenes Zimmer zu gehen. Mit keinem einzigen Wort hatte sie danach gefragt, wieso Ferris und er eine Verbindung eingegangen waren oder warum Mara ihn so dringend hatte sprechen wollen. Entweder war es ihr wirklich verdammt wichtig, Vanes Anordnung zu erfüllen oder sie kannte Luan zu gut. Beides konnte ihm nur recht sein.

Dafür gab es aber Ferris, der interessiert nachhakte. „Mara überfordert dich ganz schön, huh?“

„Kann man wohl sagen.“ Daraus wollte Luan kein Geheimnis machen. „Sie ist so unausgeglichen.“

„Unausgeglichen?“

„Ihre Stimmungen schwanken sehr stark. Sie ist völlig unvorhersehbar“, wurde er genauer und verschränkte die Arme. „Hat das bei Frauen eigentlich was zu bedeuten?“

Was Frauen anging, hatte Ferris eindeutig den besseren Überblick und Luan hatte ihn ohnehin nach einem Rat fragen wollen, wozu er nun gekommen war. Schmunzelnd erwiderte Ferris Luans ratlosen Blick und wirkte nach wie vor überhaupt nicht mehr deprimiert, trotz Naolas Abwesenheit. An ihr allein lag es also nicht, er verstand es offenbar nur sehr gut, sich zu verstellen.

Verstellen, dachte Luan und erinnerte sich an etwas. Mara hatte mich gefragt, ob Ferris sich immer so verstellt.

Bedeutete das etwa, dass Mara ihn auf Anhieb durchschaut hatte und Luan es nie aufgefallen wäre, wie sein wahres Gesicht aussah, hätte er seine Maske heute durch den Alptraum nicht abgenommen? Das kränkte ihn. Woran hatte Mara es gemerkt? Wüsste Luan es nach dem Blick in seine Vergangenheit nicht besser, würde er Ferris jetzt wieder nichts anmerken und ihn für einen lebensfrohen Typen halten.

„Lässt sich schwer sagen, ist von Frau zu Frau nämlich unterschiedlich und es kann viele Gründe dafür geben, warum jemand wechselhafte Stimmungen hat“, antwortete Ferris auf seine Frage. „Du wirst sie besser kennenlernen müssen, um herauszufinden, ob das bei ihr was zu bedeuten hat.“

Toller Ratschlag. Genau das, was Luan eher nicht wollte. Sah so aus, als würde er das Gespräch mit Mara abwarten müssen. Bis dahin blieb ihnen genug Zeit übrig, nochmal eine Verbindung durchzuführen und dort weiterzumachen, wo sie stehengeblieben waren. Ferris zerstörte diese Planung aber mit seinen folgenden Worten.

„Wir sollten also besser wirklich schlafen, damit du halbwegs fit bist, wenn du zu ihr gehst.“

„Schlafen?“ Verständnislos beobachtete Luan, wie Ferris sich bereits richtig ins Bett legte und sich zudeckte. „Meinst du das etwa ernst?“

„Natürlich. Du solltest nicht zu müden sein.“ Lachend schob er eine Hand hinter den Kopf, ließ diesen auf das Kissen sinken und legte die andere auf seiner Brust ab. „Sonst denkt Mara noch, du bist von ihr gelangweilt. Manche Frauen können da sehr sensibel sein.“

„Ferris“, sagte er mit Nachdruck und trat direkt neben sein Bett, auf dem er es sich gemütlich gemacht hatte. „Wir waren doch noch nicht fertig.“

Erstaunt hob Ferris eine Augenbraue. „Woher willst du das wissen?“

Woher? Am Anfang hatte er doch selbst angemerkt, dass es knapp werden könnte, alles zu zeigen, bis Vane am Morgen zurückkehrte. Außerdem stand Cowen an der Stelle, bei der sie unterbrochen worden waren, wie ein guter Bruder da, was nicht möglich sein konnte. Durch die psychischen Male, die Luan erlitten hatte, wusste er genau, dass Cowen Ferris noch in einer negativen Weise geprägt haben musste. Zwischen ihnen musste noch einiges vorgefallen sein, von dem Luan nichts wusste, nur weil sie unterbrochen worden waren.

Ich will es wissen. Ich will alles wissen.

Und diese Lücken zwischendurch? Was hatte es mit denen auf sich? Waren das wirklich Stellen gewesen, an denen Theeder aus dem Gedächtnis von Ferris gestrichen worden war? Es stand noch so vieles offen, da konnte Ferris ihm nicht auf halber Strecke den Weg versperren.

„Du weißt genau, wie der Schlaf bei mir aussieht“, wich Luan aus und versuchte, ihn zu noch einer Verbindung zu überreden, um auch den Rest der Geschichte zu erfahren. „Ich schlafe ohne zu träumen und werde so oder so müde sein.“

Davon, dass er erst vor kurzem nach langer Zeit doch wieder geträumt hatte, erwähnte Luan an der Stelle nichts. Sicher war das nur eine einmalige Ausnahme gewesen, die nicht nochmal eintreten würde. Ihm blieb nur die frische Erinnerung daran.

Statt auf ihn einzugehen, entfernte Ferris sich noch mehr von ihm und seinen Plänen. „Ach, komm schon, brauchst du etwa keine Pause?“

„Nein.“

„Nicht mal eine kleine?“

„Nein.“

„Nach dem, was du gesehen hast, müsstest du genug haben.“ Langsam verlor seine Stimme an Kraft und drohte in Kummer zu versinken. „Das sollte dir reichen.“

„Das reicht mir nicht!“, rief Luan ungeduldig.

Dieser Ausbruch sorgte bei Ferris für einen verblüfften Gesichtsausdruck, der sich schnell wandelte und kurz darauf nur noch von Schmerz dominiert wurde. Verunsichert wich Luan etwas von dem Bett zurück und verlor sich in den braunen Tiefen dieser leeren Augen, die ihn traurig ansahen. Der depressive Schlund hatte sich erneut geöffnet. Was Ferris nach den letzten Worten sagte, riss Luan dann förmlich den Boden unter den Füßen weg.

„Ich habe meine Eltern getötet. Hast du das überhaupt realisiert, während du zugesehen hast?“

Die Art, wie Ferris das sagte, schnürte Luan die Luft ab. So kalt und emotionslos. Richtig, vor dieser Verbindung war er von einem ganz bestimmten Blick heimgesucht worden, dessen Aussage gelautet hatte, dass Luan hinterher ein komplett anderes Bild von Ferris bekommen könnte. Sah er sich etwa wirklich als Mörder? War Ferris deshalb insgeheim so traurig?

„Luan“, sprach nun Ferris seinen Namen aus, nur mit deutlich weniger Nachdruck. Bei ihm klang es eher erschöpft und auch das schwache Flimmern in seinen Augen verriet, dass er müde war. „Gib mir bitte eine Pause. Ich habe mich etwas überschätzt und würde mich gerne erst mal von der letzten Verbindung erholen.“

Daran, dass Ferris das alles zu viel geworden war und er sich erst mal ausruhen musste, hatte Luan gar nicht gedacht. Beschämt deutete er ein Nicken an und wandte sich schweigend ab, um zu seinem eigenen Bett zu gehen, in das er sich eilig verkroch. Er gab sich nicht mal mehr die Mühe, vorher seinen Mantel auszuziehen, nicht mal die Schuhe. Erst, als er die Decke wie ein Schild über seinen Körper schlang, fühlte er sich geschützt.

Zwischen Ferris und Luan herrschte eine unangenehme Spannung, mal wieder. Irgendwie war er ein Naturtalent darin, andere Menschen in ihren Gefühlen zu verletzen, was nicht mal aus Absicht geschah. Nur jemand, der so unsensibel war wie er, konnte darüber hinwegsehen, dass Ferris eine Pause brauchte und auch erst mal nicht länger darüber reden wollte, was sich in seiner Vergangenheit ereignet hatte. Luan ärgerte sich über sich selbst.

Kurz bevor er einschlief ertappte er sich dabei, wie er sich wünschte, wieder mit einer vollständig intakten Atemhypnose belegt zu sein. Nein, er hätte gar nicht erst auf Mara treffen dürfen. Seit er sie getroffen hatte, schien nach und nach alles schwerer zu werden. Noch länger würde er nicht zulassen, dass sie sein Leben so sehr ins Chaos stürzte.

Sie sind nicht nur eine Legende

Glücklicherweise war Ferris als erstes wieder wach geworden, nicht nur vor Luan, auch die Sonne war noch nicht aufgegangen. Bald schon würde die nächtliche Dunkelheit draußen aber von den ersten Sonnenstrahlen des Morgens verscheucht werden, die das schwarze Nichts durch einen blauen Himmel ersetzen sollten, wie es Tag für Tag geschah. In dieser Nacht waren keine Sterne zu sehen gewesen, ob der neue Tag demnach wohl auch von grauen Wolken überdacht werden würde?

In den letzten Jahren war Ferris jedenfalls schon öfters aufgefallen, dass die Sterne nachts an den Orten, wo Alpträume aktiv ihr Unwesen trieben, entweder nur rar vorhanden waren oder auch einfach komplett erloschen. Das wirkte stets wie eine Flucht vor dem Bösen, diese Theorie vertraten zumindest ein paar Traumbrecher. Einige alte Überlieferungen behaupteten, Sterne wären eng mit den Träumen verbunden und wenn das stimmte, war es nur natürlich, dass sie sich ins schwarze Nichts zurückzogen, um sich dort vor ihren Feinden zu verbergen.

Ferris mochte diese Vorstellung irgendwie, weil er als Traumbrecher derjenige sein konnte, der die Alpträume vernichtete und die Sterne dadurch zurückholte. Nach so manchen Kämpfen hatte ihn das schon mehrmals zufrieden lächeln lassen, kaum dass er nach erfolgreicher Arbeit den ersten leuchtenden Punkt bemerken konnte, der in den Nachthimmel zurückgekehrt war. Jetzt waren sie aber noch alle fort, also konnte diese Stadt nicht sicher sein. Hier trieb sich ein Alptraum herum und dafür war er zusammen mit Luan hergeschickt worden.

Viel Zeit bis zum Sonnenaufgang blieb ihm nicht mehr und sein Blick huschte vom Fenster rüber zu Luan, der noch tief und fest schlief. Sein Körper lag genau auf der richtigen Seite, so dass Ferris sein Gesicht sehen konnte. Es wirkte reichlich angespannt und seine Mimik war ein wenig verkrampft. Bei dem Anblick konnte Ferris sich gut denken, dass Luan sicher nicht gut schlief, er träumte ja auch nicht mehr, wofür er ihn nur bemitleiden konnte.

Möglichst leise rutschte Ferris auf die andere Seite seines Bettes, wo sich eine unscheinbare Tüte befand, die er von Naola bekommen hatte und die er dort vorerst versteckt hielt, damit Luan sie nicht bemerkte. Für gewöhnlich neigte er nicht dazu, sich an fremden Taschen zu vergreifen, das Risiko wollte Ferris trotzdem nicht eingehen, weil es eine Überraschung bleiben sollte. In der Tüte ruhten nämlich eine Menge Süßigkeiten, auch die hatte Naola für ihn besorgt, bevor sie für ein Gespräch zu ihm gekommen war.

Luan mochte Süßigkeiten, lieben traf es eigentlich noch viel besser. Damals, vor der Zeit, in der er eine Weile im Labor bei Vane verbringen musste, hatte er sie auf jeden Fall geliebt. Nur wenige wussten davon. Ob er sie auch heute noch liebte, konnte Ferris nicht mit Sicherheit sagen, aber er baute darauf, genau wie Naola es anscheinend tat, sonst hätte sie ihm diese Leckereien wohl nicht mitgebracht. Mit denen sollte er versuchen, seinen alten Freund aus Luan wieder herauszulocken, den Ferris so sehr vermisste.

Darüber hatte er sich auch mit Naola unterhalten und da sie die Süßigkeiten noch vor ihrem Gespräch gekauft hatte, zeigte es deutlich, wie gut sie die beiden kannte. Neben dieser Tüte hatte sie ihm auch Bier mitgebracht, wie ein wahrer Kumpel eben. Kein Wunder, dass Ferris hinterher eingeschlafen war, nachdem er am meisten davon getrunken hatte. Wer hätte auch ahnen können, als Traumbrecher ausgerechnet in dieser Nacht von einem Alptraum befallen zu werden?

Egal, jetzt hoffte er erst mal darauf, mit den Süßigkeiten etwas bei Luan bewirken zu können, doch er wollte ihm nicht gleich die ganze Tüte in die Hände drücken. Nicht nur, dass es einen etwas seltsamen Eindruck machen würde, es wäre vielleicht auch etwas zu viel auf einmal für Luan, wenn er von Ferris mit einer Tasche voller Süßigkeiten bedrängt wurde. Gut, dass sie beide erwachsen waren und Luan schon lange nicht mehr als Kind galt, sonst könnte man das auch schrecklich falsch deuten.

Vorsichtig fischte Ferris also nach und nach einzelne Süßigkeiten aus der Tüte, um sie in seinen Hosentaschen verschwinden zu lassen, wo auch seine Uhr wieder verstaut worden war. Jedes Rascheln entlockte ihm innerlich einen Fluch und er hielt dann einige Male inne, um zu horchen, ob Luan von dem Geräusch geweckt worden war, aber es tat sich nichts. Aus Erfahrung wusste Ferris, was für einen leichten Schlaf Luan haben konnte. Nicht immer, dennoch konnten ihn manchmal schon die leisesten Atemlaute aufwecken.

Gerade, als er sich dachte, dass er mit genug Süßigkeiten ausgestattet war, ertönte hinter ihm dann auf einmal doch eine Stimme, die sich sehr verschlafen anhörte. „Was machst du da?“

„Huh?“, reagierte Ferris sofort, statt erschrocken zusammenzuzucken oder gar zu erstarren, und warf einen Blick über die Schulter.

Das Rascheln musste Luan letztendlich doch noch aufgeweckt haben, denn er richtete sich gerade im Bett auf und hielt sich dabei den Kopf. Wie gewohnt sah er furchtbar übermüdet aus und in seinen Augen schien der Grauton sich einige Flächen von dem Grün erobert zu haben, da sie etwas trostloser aussahen als sonst. Traumloser Schlaf musste wirklich ein Fluch sein, also versuchte Ferris ihm wenigstens das Aufwachen schöner zu gestalten.

„Oh, du bist wach? Einen wunderschönen guten Morgen, Schlafmütze“, hieß Ferris ihn wieder in der Welt außerhalb des Schlafes willkommen und schenkte ihm ein freundschaftliches Lächeln. „Die Frage, ob du gut geschlafen hast, spare ich mir mal. Hey, wenigstens wachst du in guter Gesellschaft auf~.“

Ratlos und auch ein bisschen misstrauisch zog Luan die Augenbrauen zusammen, was ihm überhaupt nicht stand, aber Ferris hatte es längst aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen. Offenbar hatte Luan nicht erwartet von ihm so herzlich begrüßt zu werden, was auch seiner Stimme zu entnehmen war, die vorsichtig in der Richtung nachhakte. „Du bist so gut gelaunt.“

„Bin ich das nicht immer?“, erwiderte Ferris sorglos und schob unauffällig die Tüte unter sein Bett, während er über die Schulter hinweg abwinkte. „Ich gebe zu, der Ausrutscher gestern nagt ein wenig an dem Prozentsatz, aber insgesamt betrachtet bin ich doch immer gut gelaunt.“

Laut Luans Aussagen, die er sich seit seiner Veränderung so oft anhören musste, dass er sie schon fast selbst glaubte. Seltsamerweise ritt er diesmal gar nicht darauf herum und wiederholte stattdessen nochmal seine erste Frage, nun schon etwas wacher, dafür verwundert. „Was machst du da?“

„Nichts“, log Ferris und da er wusste, wie schlecht er darin war, lachte er unschuldig. „Ich dachte nur, mir wäre etwas runtergefallen.“

„Ach so.“

Musste Luan erst noch richtig wach werden oder seit wann ließ er sich so leicht von einer Lüge überzeugen, die von Ferris kam? Erst als er auffallend schnell den Blick von ihm löste und dabei wie ein scheuer, verlorener Welpe wirkte, bemerkte Ferris, dass Luan etwas beschäftigte. Ein leichtes, kaum sichtbares Flackern hatte in seinen müden Augen gelegen.

Natürlich konnte es nur mit einer Sache zusammenhängen und das war seine Vergangenheit, von der er Luan einen Teil gezeigt hatte. Dieses Ereignis musste auch für ihn eine neue Erfahrung gewesen sein, mit der er erst lernen musste richtig umzugehen. Kein Wunder also, dass er wie ein Welpe wirkte, der nicht so recht wusste, was er tun sollte, weil er noch zu unerfahren in dem Gebiet war. Vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass Luan seit kurzem allgemein ein wenig zugänglicher war als sonst.

Genau genommen seit gestern, nachdem Vane mit ihm gesprochen hatte. Leider war Ferris viel zu spät aufgewacht und wusste nicht, worüber sie geredet hatten, was ihn sehr ärgerte. Nur die letzten Sätze konnte er belauschen, mehr nicht. Was auch immer passiert war, es trieb die Hoffnung, seinen alten Freund zurückzubekommen, weit in die Höhe. Nur war es womöglich ein Fehler gewesen, mit Luan eine Verbindung durchgeführt zu haben.

Der Gedanke, dass Luan nur aus Mitleid so zugänglich geworden sein könnte, weil er von dem Alptraum einige Dinge über Ferris erfahren hatte, die er besser nicht gesehen hätte, waren wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Aus Verzweiflung heraus hatte Ferris zugestimmt, Luan seine Vergangenheit zu zeigen. Das Interesse von ihm daran war wie ein letzter Strohhalm gewesen, an den Ferris sich klammern musste. Jetzt war er unsicher, ob das eine gute Idee gewesen war oder nicht doch eher ein Fehler.

Nicht nur, dass Luan nun viel zu viel wusste, Ferris hatte von dieser Verbindung überhaupt nichts gehabt. Normalerweise hätte er Zugriff auf die Gefühlsebene von ihm bekommen müssen, so wie Luan auch seine Emotionen übermittelt wurden, was aber umgekehrt nicht eingetroffen war – der Griff nach dem Strohhalm war also umsonst. Jeglicher Zugriff auf die Stimmungen des anderen war Ferris verwehrt worden, als gäbe es in Luan ein Sicherheitsnetz, das nichts mehr rein oder raus ließ. Vermutlich konnte er froh sein, wenigstens ein paar Gedanken von Luan mitbekommen zu haben.

Solange Ferris nicht wusste, ob dieses plötzliche Interesse von Luan an ihm nur aus Mitgefühl oder ganz anderen Gründen stattfand, wollte er sich nicht umsonst Hoffnungen machen und hatte daher eine zweite Verbindung abgelehnt. Sonst würde er ihm auch den Rest zeigen, den Luan scheinbar so dringend sehen wollte, aber warum? Nein, ehe Ferris nicht genau wusste, was mit ihm los war, wollte er nicht vollständig seine Vergangenheit vor ihm entblößen. Schlimm genug, dass es schon zur Hälfte passiert war.

„He, Luan“, sprach er ihn an, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen.

Nur träge wandte er den Kopf leicht in seine Richtung. „Hm?“

„Lass uns alles, was die Verbindung angeht, vorerst vergessen, okay?“, schlug er vor und hatte sein Lächeln noch nicht verloren. „Konzentrieren wir uns auf unsere Mission, danach sehen wir weiter. Deal?“

Es war schwer einzuschätzen, was Luan über diesen Vorschlag dachte. Ein Schweigen folgte, das mit jeder Sekunde unerträglicher wurde, weil es sie voneinander trennte, noch mehr als vorher und das versetzte Ferris einen Stich in die Brust. Schließlich stimmte Luan dem aber mit einer knappen Erwiderung zu. „In Ordnung.“

Instinktiv glaubte Ferris, etwas tun zu müssen, damit klar wurde, dass er sich nicht noch mehr Abstand zu Luan wünschte. Also erhob er sich von seinem Bett und ging zu dem von Luan hinüber, um zum ersten Mal auszutesten, ob er noch auf Süßigkeiten reagierte. Dafür ließ er eine Hand in seine Hosentasche gleiten und zog ein Bonbon hervor, das in hellblaues Papier mit goldenen Punkten eingewickelt war. Mit dem tippte er Luan sacht gegen die Stirn.

„Hier, als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit“, schob er einen anderen Grund vor. „Du weißt schon, für die Rettung vor dem Alptraum.“

Noch hatte Luan nicht richtig erspähen können, womit Ferris ihm da gerade gegen die Stirn getippt hatte, weshalb er irritiert reagierte. „Du hast dich doch schon bedankt und ich sagte-“

„Ich weiß“, unterbrach er ihn. „Nimm es einfach~.“

Nach diesen Worten schnappte Ferris sich Luans Hand und gab ihm das Bonbon, das er daraufhin überrascht anstarrte. In seinem Gesicht regte sich tatsächlich genau das, was Ferris sehen wollte und er musste sich zusammenreißen, nicht vor Freude zu jubeln. Zwar mochte es nur für wenige Sekunden angehalten haben, aber es war Begeisterung, die das Grün in Luans Augen hatte leuchten lassen. Für einen kurzen Moment.

„Hm“, gab Luan danach gedämpft von sich und nahm das Geschenk an, auch wenn er es nicht sagte – dafür steckte er sich das Bonbon in eine Manteltasche, wo er es sicher aufbewahren konnte.

Damit gab Ferris sich zufrieden und wertete es als einen riesigen Erfolg, den er lieber nicht durch Scherze zerstören wollte, also kam er auf etwas anderes zu sprechen. „Ach, aber bevor wir uns anständig unserer Mission widmen können, hast du ja erst mal eine Verabredung mit Mara.“

„Es ist keine solche Verabredung, wie du glaubst“, widersprach Luan direkt ernst. „Außerdem glaube ich, dass sie vielleicht etwas mit der Mission zu tun hat.“

Nun hatte er Ferris' Neugier geweckt. „Wie kommst du denn darauf?“

„Weil seit ihrem Auftauchen langsam aber sicher ein richtiges Chaos entsteht.“ Ein schwerer Seufzer unterstrich, wie genervt Luan davon war. „So unkoordiniert haben wir noch nie gearbeitet.“

Erst wollte Ferris lachend abwehren und Luan sagen, dass er nur Gespenster sah, aber er dachte doch darüber nach. Als er sich mit Mara in diesem Zimmer alleine unterhalten hatte, war es ihr gelungen durch ein Wort seine alten Ängste zu wecken. Zufällig? Wäre es nur das, könnte man es in der Tat auf einen unglücklichen Zufall schieben, doch da hatte zu dem Zeitpunkt auch ein rötlicher Schimmer in ihren Augen gelegen, der von aggressiver Natur war. So wie bei einem Alptraum.

Traumbrecher besaßen alle eine friedliche, bläuliche Aura in unterschiedlichen Tönen, Alpträume dagegen bestanden aus einer rötlichen Energie. Allerdings war Mara viel zu menschlich, nicht nur von ihrem Aussehen her. Ein Alptraum würde seinem Instinkt, dem Ruf nach Zerstörung, folgen, statt ein ruhiges Leben in einem Buchladen zu führen. Nun, wirklich ruhig konnte man auch Maras Alltag nicht bezeichnen, wenn man sich die letzten Tage von ihr betrachtete.

„Du glaubst also, Mara verursacht Chaos?“ Ferris tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen die Schläfe, als er das fragte.

„Das glaube ich, ja“, bestätigte Luan und fügte etwas hinzu, bei dem Ferris sehr hellhörig wurde. „Ich weiß schon mal, dass sie kein richtiger Mensch ist.“

„Nicht? Was ist sie dann?“

„Keine Ahnung, aber das will ich heute herausfinden, wenn ich mit ihr rede.“

Statt weiter nachzuhaken nickte Ferris verstehend. „Und woher weißt du, dass sie kein Mensch ist?“

Plötzlich verhärteten sich Luans Gesichtszüge. „Von Bernadette Maron. Sie ist die Eigentümerin des Buchladens, zu dem mich Mara gestern geführt hat.“

„Wow, wow, wow!“, brach es aufgeregt aus Ferris heraus und er beugte sich mit dem Oberkörper ein Stück zu Luan nach unten. „Du hast Detty getroffen? Awesome! Wie geht es ihr?“

Auf diese Worte hin folgte nur ein tadelnder Blick, den Ferris sofort verstand und sich räusperte, um seine Freude in Ernst umzuwandeln. Bernadette galt in Athamos als Verräterin, was er sehr bedauerte, weil sie dort lange Zeit die gute Seele der Einrichtung gewesen war und für jeden ein offenes Ohr gehabt hatte. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie aus Böswilligkeit Verrat begangen hatte, für Luan war das aber ein sehr sensibles Thema. Ihr Verrat ging ihm äußers nahe, was Ferris verstehen konnte. Die beiden hatten damals eine Art familiäre Bindung miteinander besessen.

Besser, er konzentrierte sich mehr auf die Aussage, dass Mara kein Mensch war. Was sollte sie sonst sein? Für einen gewöhnlichen Menschen war sie aber auch viel zu vollkommen von ihrem Aussehen her. Und dann war da noch ...

„Ah, warte!“, stieß Ferris aus und eilte zu einem Mülleimer, der zwischen den beiden Betten an der Wand stand. Dort fand er auch problemlos das, wonach er suchte, da sonst noch nichts anderes weggeschmissen worden war. „Als du deine Zeit noch im Krankenwagen abgesessen hast, legte Mara sich hier ein wenig hin, um Schlaf nachzuholen und als ich mich ins Bett legte, nachdem ihr gegangen seid, habe ich das hier dort gefunden.“

Ein kleiner, roter Samen. Den hatte Ferris eine Weile betrachtet, als er ihn gefunden hatte und ihn dann weggeschmissen, weil er nichts damit anzufangen wusste. Seltsam war ihm das aber schon vorgekommen und jetzt, als er hörte, dass Mara kein Mensch sein sollte, konnte das doch etwas bedeuten. Überraschenderweise konnte Luan damit offensichtlich etwas anfangen, denn seine Augen weiteten sich, kaum dass Ferris ihm dieses geheimnisvolle Samenkorn zeigte. Zum ersten Mal sah er das nicht.

„Genau so eins habe ich auch schon gefunden“, berichtete Luan und nahm den Gegenstand ungefragt an sich, da er ihn genauer anschauen wollte. „Nach dem Kampf mit dem Schöpfer-Alptraum, der einer neuen Gattung angehört. Als ich das Herz zerstörte, blieb auch so ein Samen zurück, statt eines Menschen.“

„Ich habe mich schon ein wenig gewundert“, gab Ferris zu und hob die Schultern. „Mir war es dann aber wichtiger, dass du versorgt wirst.“

Luan machte ihm daraus keinen Vorwurf, was ihn erleichterte. „Schon gut. Im Moment läuft eh alles sehr planlos.“

„Ich glaube nicht, dass mich das trösten sollte, aber ich fühle mich mal beruhigt.“

„Ich muss dringend mit Mara sprechen“, murmelte Luan vor sich hin und begutachtete noch immer das Samenkorn, das er in seiner Hand drehte. „Sie hängt irgendwie mit allem zusammen. Vielleicht sogar mit dieser Geißel.“

Ungläubig starrte Ferris ihn an. „Geißel?“

„Ich habe eine getroffen.“ Einen Atemzug lang hielt Luan inne, als müsste er sich überlegen, wie er am besten weitersprechen sollte. „Kurz bevor ich zu dir ins Hotel zurückkam. Sie hat jedenfalls von sich behauptet, eine zu sein.“

„Eine Geißel?“, sagte Ferris nochmal und musste nun amüsiert schmunzeln. „Also jetzt klingt das schon fast nach einer Verschwörungstheorie. Geißeln sind doch nur eine Legende.“

„Irrtum“, mischte sich eine dritte Stimme in das Gespräch mit ein. „Sie sind nicht nur eine Legende.“

Die Tür zum Zimmer war geöffnet worden und Vane betrat den Raum, wie üblich mit einem Gesichtsausdruck, vor dem man sich fürchten sollte, aber Ferris begrüßte ihn gleich mit einem Lächeln. „Auch Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Doc B.“

Der Doktor erwiderte den Gruß nur mit einem wortlosen Nicken und kam mit großen Schritten näher zu ihnen. Es erstaunte Ferris jedes Mal, wie es diesem riesigen Mann gelang sich trotz seiner Körpergröße nicht schwerfällig, sondern geschmeidig und flüssig zu bewegen. Sein Klemmbrett hatte Vane anscheinend im Hauptquartier zurückgelassen, er trug nämlich keins bei sich und das war ein ungewohntes Bild bei ihm.

„Na endlich“, brummte Luan leise. Auch er stieg nun rasch aus dem Bett und stand kurz darauf aufrecht an der Seite von Ferris. „Pünktlichkeit kann man Ihnen nicht ankreiden, immerhin etwas.“

Vane schob seine Brille zurück an ihren richtigen Platz. „Ich sagte dir doch, dass ich morgens zurück sein werde. Nevin ließ sich schnell als Ersatz für mich einteilen und Bernard wird sich auch gut um die Patienten kümmern, während ich weg bin.“

„Schön zu wissen“, gab Luan in einem viel zu ernsten Ton von sich, aber Ferris konnte sich denken, dass es ironisch gemeint war und er sich in Wahrheit gar nicht für die Erfolge des Arztes interessierte. „Wie meinten Sie das gerade, dass Geißeln keine Legenden sind?“

Wie gewohnt blieb Vane ruhig und hielt dem feindseligen Blick stand, mit dem er von Luan durchbohrt wurde. „Ich meinte es genau so, wie ich es gesagt habe. Hast du noch nie davon gehört, dass in jeder Legende auch ein bisschen Wahrheit steckt?“

„Sie treiben das Spielchen also weiter?“ Angespannt atmete Luan schwer ein und aus. „Sie werden mir auch weiterhin nicht verraten, was Sie wissen?“

Zwischen den beiden herrschte eine noch größere Distanz als es bei Luan und Ferris der Fall war. Sobald sie aufeinander trafen stand die Atmosphäre förmlich unter Strom und Ferris wagte es nur selten, sich bei ihren Gesprächen einzumischen und blieb oft lieber still, lauschte dafür aber aufmerksam ihren Worten. Er hatte offenbar mehr verpasst, als ihm lieb war. Demnächst würde er sich nicht mehr so leicht von seinem Partner trennen lassen.

„Nicht, bevor ich mit Bernadette gesprochen habe“, antwortete Vane, für den das etwas Selbstverständliches zu sein schien. „Du kennst den Weg, also werden wir zusammen hingehen.“

„Wir alle drei?“, wagte Ferris nun doch, sich zwischen die beiden zu drängen. Nochmal wollte er nicht zurückbleiben.

„Natürlich“, bejahte Vane die Frage. „Ihr beide seid zu zweit für diese Mission hergeschickt worden, also gehen wir alle drei. Ich hatte Luan schon gesagt, dass ich meine Anwesenheit hier als nötig betrachte und werde euch von nun an unterstützen. Naola bleibt hier, ich war vorhin schon bei ihr und habe mit ihr gesprochen.“

Diese Aussicht passte Luan gar nicht, was er auch in seiner Mimik zeigte. „Sie meinen wohl eher, dass Sie uns rumkommandieren werden und Sie besonders mich nur im Auge behalten möchten.“

So schlecht fand Ferris es gar nicht, etwas Hilfe von Vane zu bekommen. Ihre Mission war bisher nicht gerade erfolgreich verlaufen und genau genommen kaum in die Gänge gekommen, da konnten sie eine solche Unterstützung gut brauchen. Nach Luans Sichtweise wirkte Vanes Anwesenheit aber wirklich irgendwie erdrückend, auch wenn da noch einige andere Faktoren mit einflossen, die seine Abneigung gegen den Arzt erklärten.

In Vanes dunkelbraunen Augen lag etwas verborgen, das sich nicht deuten ließ, als er Luan prüfend musterte und dabei bemerkte, dass er etwas in der Hand halten musste, die er zur Faust geballt hatte – den Samen. Er streckte seine eigene aus und sprach mit veränderter Tonlage zu Luan. „Gib mir alle Samen, die du hast.

Hatte Vane gelauscht oder wusste er, dass sie Samen besitzen mussten? Da er es mit seiner Schall-Prägung gesagt hatte und es ein Befehl war, dem Luan sich nicht widersetzen konnte, kramte er grummelnd in seinem Mantel nach einem zweiten Samen und übergab sie beide an Vane. Inzwischen war die Spannung in der Luft so stark, dass Ferris ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut zu spüren glaubte.

„Lassen Sie mich raten: Sie wissen zufällig ganz genau, was es mit den Samen auf sich hat?“, murrte Luan genervt und sah Vane fordernd an, der sich davon aber nicht beeindrucken ließ.

„Ja“, entgegnete der nur, ohne weitere Erklärungen. Zugegeben: Das machte nun auch Ferris misstrauisch. Ein bisschen.

Immerhin war Vane ehrlich, was für Luan nur ein schwacher Trost sein dürfte und Ferris war dadurch auch nicht sonderlich schlauer, nahm es dennoch wesentlich gelassener hin. Hauptsache, sie würden alle zusammen gehen, mehr war für ihn nicht wichtig. Wer bescheiden war, bekam früher oder später dafür auch etwas zurück, zumindest versuchte er sich mit dieser Einstellung entspannt zu halten.

Die beiden Samen ließ Vane in einer Seitentasche seines Kittels verschwinden und gab ihnen dann ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten. Dem gingen sie auch nach, wobei Luan einen unzufriedenen Laut von sich gab. Erst dachte Ferris daran, ihn damit zu trösten, dass er seine Verabredung mit Mara einhalten könnte, wenn Vane mit ihnen sowieso zu Bernadette wollte, nur würde das nicht viel bringen. Nicht, wenn Luan schon derart genervt von der Situation war.

Eines konnte Ferris schon jetzt sagen: Wenn jemand wie Vane sie bei einer Mission unterstützen wollte, musste sich einiges hinter ihr verbergen, von dem sie noch nichts ahnten. Und das hatte etwas mit einer Geißel, einer Legende, zu tun?
 

***
 

In Wahrheit hatte Vane Ferris vielleicht doch nur aus einem anderen, bestimmten Grund mitgenommen: Als Fahrer. Auch das nahm er aber recht gelassen hin und beschwerte sich nicht, darin war Luan schon gut genug, wie er fand. Nur war es ungewöhnlich, wie mühsam der sich mit jeglichen Kommentaren zurückhielt, die ausdrücken würden, wie hoch das Maß war, in dem ihn Vanes Anwesenheit störte. Sicher wollte Luan nur nicht riskieren von diesem Fall abgezogen zu werden, wozu der Arzt in der Lage wäre.

Direkt vor dem Buchladen konnte Ferris nicht parken, also hatte er einige Straßen weiter den Wagen abgestellt und sie mussten noch ein Stück zu ihrem Ziel laufen. Naola musste ihre schöpferischen Fähigkeiten benutzt haben, anders könnte Ferris sich nicht erklären, wieso sein Wagen wieder wie neu aussah, obwohl er wegen dem Ausweichmanöver vornüber in einem Graben gelandet war. Sie war diejenige gewesen, die sein Auto geholt hatte, also musste sie es gewesen sein. Selbst das Radio funktionierte wieder, wofür er sich beim nächsten Mal unbedingt ganz besonders bei ihr bedanken musste. Am besten bei ihrem Date.

Die Packung Kaugummi hatte Ferris sich ebenfalls endlich aus dem Wagen gesichert und wirkte äußerst zufrieden, während sie zum Buchladen gingen. Im Gegensatz zu Luan wartete er einfach ab, was als nächstes auf ihn zukommen würde und warum Vane zu Bernadette wollte, da es ihm nichts bringen würde, sich im Vorfeld den Kopf zu zerbrechen. Am Tage waren sie außerdem vor weiteren Angriffen durch Alpträume geschützt, also gab es für einige Stunden keinen Grund sich wegen Feinden verrückt zu machen.

Dachte er. Dummerweise hatte er nicht ins Auge gefasst, dass es noch dunkel war und die Morgendämmerung gerade erst einsetzte, als sie den Buchladen betraten. Schon als Ferris den ersten Schritt über die Türschwelle ins Innere des Geschäfts gesetzt hatte, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er fühlte sich unwohl, geradezu bedroht von etwas, dem er keinen Namen geben konnte, weil er nicht wusste, was genau es überhaupt war.

Unruhig ließ er den Blick durch den Verkaufsbereich schweifen und verlangsamte sein Tempo etwas, Luan und Vane dagegen liefen unbeirrt weiter, zu einer weiteren Tür in den hinteren Bereich. Alles wirkte recht normal, abgesehen davon, dass dieser Buchladen eher an einen Kramladen erinnerte, bei all den Gegenständen. Irgendwie kam es ihm persönlich sogar mehr wie eine Art Festung vor, vom Gefühl her.

Es war still, mit Ausnahme von den dumpfen Geräuschen, für die ihre eigenen Schritte verantwortlich waren. Still und dunkel. Genau, das war es. Dunkelheit.

Noch war die Sonne nicht aufgegangen und niemand hielt es für nötig den Lichtschalter zu betätigen, weil sie daran gewohnt waren, nachts zu jagen. Traumbrecher störten sich nicht an Dunkelheit, aber die Schatten, die hier den Boden samt Wänden und die Decke einnahmen, wirkten bedrohlich auf Ferris. Wie lauernde, hungernde Bestien, von denen er verschlungen werden könnte, sollte er nur eine unbedachte Bewegung tun. Diese Dunkelheit ...

Sie kommt mir bekannt vor.

Jemand tippte von hinten auf seine Schulter und flüsterte ihm unheilvoll ins Ohr. „Klopf, klopf. Einen wunderschönen guten Morgen, Ferris.“

Das konnte nicht sein. Diese Stimme klang haargenau wie seine eigene, er selbst hatte aber nichts gesagt, keinen einzigen Ton. Aus Reflex fuhr er sofort herum und spannte seinen Körper an, als er in das Gesicht einer Person blickte, die wie sein Zwilling aussah. Sein Herz setzte für einige Takte aus.

„W-Was?“, brachte er nur schwer hervor.

Sein Spiegelbild deutete ein boshaftes Grinsen an. „Owww, wie gemein von dir. Da lebten wir so lange zusammen in einem Körper und dann erkennst du mich nicht mal wieder.“

Von dem, was sein vermeintlicher Zwilling sagte, verstand Ferris kein Wort und kam auch nicht mehr dazu, etwas darauf zu erwidern. Unter ihm ruhten dunkle Schatten, sie waren überall im Einkaufsbereich des Ladens und so konnte er ihnen gar nicht entkommen. Nur flüchtig nahm Ferris noch wahr, wie sich jenseits der Schaufenster am Horizont langsam ein goldenes Licht in den Himmel erhob, leider zu spät.

Der komplette Raum drehte sich auf einmal geschwind um die eigene Achse und diese Bewegung löste einen Druck in seinen Körper aus, der sich durch sämtliche Nervenbahnen zog. Sein Gleichgewicht ging ihm verloren, er schwankte haltlos hin und her, drohte zu stürzen und doch lösten sich trotz dieser Drehung seine Füße nicht vom Boden. Vor seinen Augen verwischte sich die Umgebung zu einem verworrenen Strudel und ließ kurzzeitig Übelkeit in ihm aufsteigen. Heftig blinzelte Ferris mit den Augen, bis sein Sichtfeld jäh an Schärfe zurückgewann.

Erschrocken atmete er mehrmals tief durch und rang noch um sein Gleichgewicht, als er sich hektisch umsah. Ausnahmslos jeder hätte es erkannt: Ferris befand sich nicht mehr in der Realität. Hierbei handelte es sich um ein bizarres Gesicht des Buchladens, fast als hätte diese Drehung ihn auf die Schattenseite versetzt. So war es zweifelsohne auch und es war nicht der Raum, der sich gedreht hatte, die Schatten mussten ihn verschlungen haben. Also war diese Befürchtung wahr geworden.

Anstelle von Bücherregalen füllten nun zahlreiche hölzerne Türen den Raum, von denen jeweils mehrere ungleichmäßig aneinander gereiht standen und mit riesigen, rostigen Nägeln durchbohrt worden waren, damit sie zusammengehalten wurden, um einen Block zu bilden. Von diesen Blöcken wurden die Schränke ersetzt und sie sahen sehr demoliert aus. Überall standen die stumpfen Spitzen der Nägel hervor und an den meisten von ihnen klebte eine rote, dickflüssige Farbe, was nur Blut sein konnte. Frisches und auch getrocknetes Blut, das den Geruch von Eisen übermächtig werden ließ.

Graue, nackte Steinwände waren von tiefen Rissen durchzogen und türmten sich in eine endlos weite Höhe hinauf, da es keine Decke gab. Nur ein schwarzes Nichts, bei dem man jegliches Leuchten vergeblich suchte, ähnlich wie in einer sternenlosen Nacht. Dort oben mochte nichts zu sehen sein, aber etwas jagte Ferris einen Schauer über den Rücken. Etwas beobachtete ihn von dort oben – oder waren es die vielen Augenpaare hinter den Wänden, die ihn durch die Risse hindurch mit starren Blicken fixierten?

Unter Ferris bestand der Boden dagegen gänzlich aus Wasser und ließ durch seine Durchsichtigkeit den Blick auf das reale Ich des Buchladens zu, wo noch immer sein Zwilling stand. Ihre Füße berührten sich augenscheinlich, weil sie exakt an der gleichen Stelle standen, aber das täuschte. Weiter könnte Ferris gerade kaum von der Realität entfernt sein und das spürte er, in jeder Faser seines Körpers.

Mit einem belustigten Schmunzeln blickte sein Ebenbild in der realen Welt auf ihn hinab, genau wie Ferris es gerade tat, nur musste er übermäßig schockiert aussehen, wie ihm die folgenden Worte des anderen verrieten: „Zu schade, dass du dein Gesicht jetzt nicht sehen kannst. Du hast noch nie so köstlich ausgesehen.“

Sprachlos lenkte Ferris den Blick hilfesuchend über den Boden, in der Hoffnung Luan oder Vane entdecken zu können, sie schienen aber längst in den nächsten Raum weitergegangen zu sein. Ohne ihn.

„Keine Angst, mein lieber Ferris“, versuchte sein Zwilling ihn zu beruhigen und kniete sich auf den Boden, damit er ihm näher war. „Ich lasse dich hier nicht unwissend zurück. Wir haben so eine enge Verbindung, da halte ich es für fair, dich aufzuklären, was hier überhaupt los ist.“

Das Abbild von Ferris sprach zu ihm, ohne die Lippen dabei zu bewegen, was die Gesamtsituation noch unheimlicher machte. Ausgerechnet er war als Traumbrecher nicht sonderlich gut darin, Angst zu unterdrücken, sobald sie ihn erst mal gepackt hatte und in dem Fall war es längst passiert.

„Ich weiß nicht mal, wer du bist“, hörte er sich selbst mit kratziger, nervöser Stimme sagen.

Ein theatralisches Seufzen sollte ihm vermitteln, wie gekränkt der andere sich von dieser Aussage fühlte. „Machen wir es kurz und schmerzlos: Ich bin deine Geißel~.“

„Meine ... meine Geißel?“

„Wunderbar, du bist noch dazu in der Lage richtig zuzuhören“, lobte sein Zwilling ihn mit falschem Stolz. „Das erstaunt mich sehr. Du hast es ja nicht mal mitbekommen, wie ich mich von dir getrennt hatte.“

Unwillkürlich schlang Ferris die Arme um sich und schüttelte den Kopf, in dem seine Gedanken sich verzweifelte Gefechte lieferten, auf der Suche nach einer Antwort. Nach wie vor verstand er nicht so recht, was hier vor sich ging und wieso weder Luan noch Vane seine Abwesenheit bemerkten. Aufgrund der Angst, wegen der seine Glieder sich schwer wie Blei anfühlten, konnte er nicht mal seine Fähigkeiten als Traumbrecher nutzen.

Diese sichtbare Hilflosigkeit sprang auch seinem Spiegelbild, der Geißel auf der anderen Seite ins Auge. „Oh Mann, du bist ein genauso erbärmlicher Anblick wie Luan. Ich würde mich fragen, wie ihr bisher eure Begegnungen mit Alpträumen überleben konntet, aber ich war ja in dir ständig dabei. Luan hat wahrlich Glück, dass du ihn so sehr magst und ich dazu geneigt bin fair mit ihm zu spielen, sonst wäre das hier viel zu schnell vorbei, was langweilig wäre.“

„Ein Spiel?“ Bevor Ferris weitersprechen konnte, musste er schlucken, denn seine Kehle war trocken geworden. „Was für ein Spiel?“

„Ein schönes Spiel.“ Mehr sagte die Geißel nicht dazu und stellte sich wieder aufrecht hin. „Letztes Mal ist Luan mir abgehauen, bevor ich ihm die Spielregeln erklären konnte, wegen dir. Deshalb musste ich dich diesmal vorher aus dem Weg räumen, damit ich mir auch seiner Aufmerksamkeit sicher sein kann. Bis dahin musst du wohl oder übel dort bleiben, wo du jetzt bist.“

In der Stimme der Geißel lag ein Genuss, der Ferris den Atem raubte und er musste an Vanes Worte denken. Sie waren nicht nur eine Legende, das hier war nicht nur ein Traum. Luan hatte recht, was das Chaos anging. Wie bekämpfte man eine Legende? Hätte Ferris doch nur laut angemerkt, dass ihm etwas komisch vorgekommen war beim Betreten des Buchladens.

Länger hielt ihr Gespräch nicht an, endlich kam nämlich einer der anderen in der Realität zurück und es war Luan, der die Geißel verwundert ansah. „Was ist, wo bleibst du denn?“

Von nun an wurde Ferris von der Geißel ignoriert, die sich lächelnd an seinen Freund wandte. „Sorry, ich habe mich nur ein wenig umgesehen. Ist ein netter Laden hier~.“

Genervt stieß Luan einen Seufzer aus. „Vane als Begleitung zu haben stört mich schon genug, also hör auf mit dem Unsinn. Wir sind nicht für eine Besichtigung hergekommen.“

„Ich weiß, ich weiß~.“

„Gut, dann komm.“

„Nein!“, schrie Ferris heiser und stürzte auf die Knie. „Fall nicht auf ihn rein, Luan! Du musst doch merken, dass ich das nicht bin! Du musst das doch merken!“

Sonst konnte Luan dank der Ablagerung auf seinem Körper auch stets alle möglichen Alpträume rechtzeitig aufspüren, waren Geißeln etwa anders? Schon dass sie sein Aussehen teilte und wie ein Mensch wirkte, bildete eine Eigenschaft, die er so von Alpträumen her nicht kannte. Auf keinen Fall durfte er es zulassen, dass die Geißel mit Luan mitging.

Als er mit seinen Händen in das Wasser schlug, aus dem der Boden bestand, gingen sie nicht in der Flüssigkeit unter. Sie prallten gegen einen festen Widerstand und wurden auch nicht nass, so wie es eigentlich sein sollte. Dieses Wasser war nicht echt, nur eine Illusion. Nichts von dem, was er hier sah, war echt. Da draußen war die Realität, zu der Ferris keinen Kontakt mehr hatte und zusehen musste, wie die Geißel Luan zu der Tür in die hinteren Räume folgte.

Kurz davor betätigte sie noch mit einer geschmeidigen, völlig unauffälligen Handbewegung den Lichtschalter neben der Tür und der Raum wurde in der Realität erhellt. Gleichzeitig löste sich das Wasser unter Ferris auf und nach einem einzigen Augenschlag blieb nur ein harter, steinerner Untergrund zurück, auf dem er nun hockte. Also bildete sich diese Wasseroberfläche nur, solange auf der anderen Seite Schatten existierten.

Eine Geißel.

Fassungslos ließ Ferris sich mit dem Oberkörper so weit vornüber sinken, bis seine Stirn den kalten Boden berührte.

Meine Geißel. Hat das Hauptquartier davon gewusst?

Oder war es nur Zufall gewesen, als man ihn zusammen mit Luan zu dieser Mission hierher geschickt hatte? Zusammen. Erneut war er von seinem Partner getrennt worden, auf eine völlig unerwartete Weise. Egal, wie erfahren Luan war, gegen eine Geißel hatte er noch nie gekämpft und er besaß nicht mal mehr Traumzeit. Wie sollte er ohne Ferris gegen diesen Feind angehen? Konnte er der Geißel Glauben schenken und darauf hoffen, dass sie nur mit ihm reden wollte? Er wollte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die sogenannten Spielregeln erst mal geklärt waren.

Luan musste unbedingt vorher bemerken, dass es sich bei der Geißel nicht um Ferris handelte, aber darauf konnte er nicht bauen. In den letzten Jahren war ihm immerhin auch nie aufgefallen, wie Ferris in Wirklichkeit war. Der alte Luan hätte es bestimmt erkannt, aber der jetzige war anders. Viel zu fremd und distanziert. Er würde nicht bemerken, wen er da vor sich hatte und war ohnehin gegenwärtig nur auf seinen Groll gegen Vane konzentriert.

Vane. Ja, auf ihn könnte Ferris jetzt vielleicht noch bauen. Jemand, der etwas über Geißeln zu wissen schien, musste in dieser Lage doch helfen können. Irgendwer musste Ferris helfen. Und auch Luan. Ihm durfte nichts Schlimmes zustoßen, egal wie fremd sie sich geworden waren, für Ferris blieb er immer ein Freund. Der wichtigste von allen. Ein guter Kerl.

Ein bestialisches Grollen über ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er bemühte sich, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Konzentriert versuchte er seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, damit er sich zur Wehr setzen könnte, sollte ihn hier etwas angreifen. Diese Schattenseite des Buchladens konnte nur durch die Fähigkeiten eines Schöpfers zustande gekommen sein und ähnelte den Welten eines Reinmahrs, da sie mit der Wirklichkeit verbunden war, also musste sie sich auch zerstören lassen können.

Das mochte sein erster Kampf gegen eine Geißel sein, aber nicht gegen einen Alptraum. So leicht wollte er es der Geißel nicht machen, egal für wie erbärmlich sie ihn auch halten mochte.

Mehr, als nur ein Traum

Vane versuchte seine Gedanken unter Kontrolle zu halten, indem er ihnen den nötigen Spielraum zur Entfaltung erfolgreich verwehrte und darin war er ausgesprochen gut. Auch ohne jegliches Kopfzerbrechen war ihm klar, dass es keine einfache Lösung aus dieser schwierigen Lage geben konnte, die sich rasch in ein ernsthaftes Problem entwickeln würde, sollten sie nicht bald etwas dagegen unternehmen. Nachdenken alleine brachte ihn hierbei nicht weiter und würde nur seine Sorgen verstärken, von denen er schon mehr als genug vorweisen konnte. Mehr, als ihm lieb war.

Sie hatten es eindeutig mit einem gefährlichen Gegner zu tun, das war für ihn keine Frage. Niemand außer ihm kannte sich besser mit dieser vermeintlichen Legende aus, andernfalls hätte er sich gewiss nicht selbst zu dieser Mission eingeladen, obwohl es als Arzt in Athamos mehr als genug zu tun gab. Nicht nur die Geißel stellte eine Bedrohung dar, sondern auch andere Faktoren, deren Existenz nur wenigen bekannt waren. Genau genommen wussten bislang nur Vane und Bernadette davon, vorausgesetzt man ließ den Ursprung allen Übels gänzlich außer Acht.

Ja, er war mit der Verräterin verbündet, schon von Anfang an. Ohne die Hilfe von Vane hätte sie damals nach ihren kritischen Regelverstößen sicher nicht so leicht aus Athamos fliehen können, kurz bevor sie ihre Strafe bekommen sollte. Aus einem ihm schleierhaften Grund besaßen ausgerechnet sie beide nämlich Wissen, mit dem sie nicht ausgestattet sein dürften, und über das sie nicht mal mit jemandem reden konnten. Also stellte Bernadette seine einzige Verbündete in diesem Krieg dar, woran er sich inzwischen gewöhnen konnte.

Lange Zeit hatte es ihm mehr als missfallen, mit einem Menschen zusammenarbeiten zu müssen, aber auch er stellte letztendlich fest, dass einige von ihnen gar nicht so übel waren. Alleine würden sie es sonst auch gar nicht schaffen, diese Verantwortung zu tragen, die sie durch ihr verbotenes Wissen besaßen. Eine Sache gefiel ihm trotzdem ganz und gar nicht: Warum hatte Bernadette eigenmächtig versucht die Atemhypnose bei Luan zu lösen?

Eigentlich sollte sie wissen, dass es für die Sicherheit des Jungen überaus wichtig war, diese Gefühlssperre aufrecht zu erhalten. Davon hing vieles ab, auch das Wohl aller anderen. Eine Antwort auf diese Frage würde er sich persönlich bei ihr abholen müssen, da er von selbst auf keinen nachvollziehbaren Grund stoßen würde. Für ihn blieb ihr Handeln vollkommen unverständlich und das würde er ihr auch so zu verstehen geben.

Jetzt gerade schritt er alleine die Treppen zum ersten Stock des Buchladens empor, während Luan nochmal umgedreht war, um nach Ferris zu sehen, der es mal wieder verstand zu trödeln. Mit seiner Schall-Prägung hatte Vane ihm vorher noch den Befehl erteilt, das Haus nicht ohne ihn zu verlassen, damit er Luan nicht aus den Augen verlor. Auf die Art machte er sich zwar nur noch unbeliebter bei dem Jungen, doch das kümmerte Vane nicht weiter, schließlich tat er das nicht aus Spaß oder um ihn zu ärgern. Am liebsten wäre es ihm sogar, wenn Luan die ganze Zeit über an seiner Seite bliebe.

Bei einer Geißel als Feind musste man äußerst vorsichtig sein, denn diese Gattung brach einige Regeln, die sonst für Alpträume galten und das machte sie so gefährlich. Das folgende Gespräch mit Bernadette wollte Vane dennoch alleine führen, schon weil es nicht jeder mitbekommen durfte und Luan würde es nur noch wütender machen, von seinem Arzt wie ein Hund an der Leine geführt zu werden. Im Moment brach sein Groll gegen Vane ohnehin schon deutlich genug hervor, da sollte er nicht weiter nachhelfen. Es wäre nicht gut für Luan, sich noch mehr aufzuregen.

Darum konnte Vane nur hoffen, dass sie nicht allzu früh von der Geißel hier überrascht wurden, selbst wenn er damit ein großes Risiko einging. Eine Möglichkeit wäre nur, das Gespräch möglichst kurz zu halten, also schritt er zügig nach oben, wo ihn der Weg auf einen dunklen Flur mit vier Türen führte. Auch ohne seine Taschenuhr war es Vane möglich alles problemlos zu sehen, als wäre es bereits Tag. Die Dunkelheit war ihm angenehm vertraut, fast willkommen. Immerhin war er einst dafür geschaffen worden, in ihr zu leben.

Instinktiv steuerte er auf eine bestimmte Tür zu, an die er erst anstandshalber klopfte, bevor er sie vorsichtig öffnete. Für ihn war es der erste Besuch in Bernadettes Versteck und doch hatte er auf Anhieb die richtige Wahl getroffen, denn vor ihm offenbarte sich ihr Schlafzimmer, so wie es aussah. Bernadette saß in diesem Raum am Fenster, in einem Schaukelstuhl, wo sie gedankenverloren nach draußen blickte und anscheinend nicht mal das Klopfen gehört hatte. Leise betrat Vane das Zimmer und ließ die Tür hinter sich geräuschlos ins Schloss zurückfallen.

Draußen ging die Sonne auf, wie er an dem goldenen Licht erkennen konnte, das langsam den Himmel eroberte, und bald durch das Fenster hereinbrechen dürfte, wodurch der Raum dann viel wärmer wirken würde. Leider lag ein leichter, morgendlicher Nebel in der Luft, der das Sonnenlicht etwas abschwächte und es zogen sich auch hier noch dunkle Schatten über sämtliche Flächen, woran sich Bernadette wohl nicht störte. Womöglich wollte sie es dem Sonnenaufgang überlassen, ihr Zimmer von der Finsternis zu befreien.

Diese Frau nach all der Zeit wiederzusehen, war ein komisches Gefühl. Besonders mit diesem Trugmahr an ihrer Seite, der sie schützend umkreiste und sein melancholisches, friedvolles Lied dabei sang, als wolle er Bernadette damit beruhigen. Sogar diesen Alptraum konnte Vane sehen, ohne erst seine Taschenuhr als Hilfsmittel einsetzen zu müssen. Dunkelheit und Alpträume blieben eben für immer ein Teil von ihm, der sich nicht abschütteln ließ. Niemals.

Da Bernadette gerade so abwesend wirkte, nahm Vane sich die Zeit, um kurz den Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Das obere Stockwerk besaß einen ebenso rustikalen Charme wie das Erdgeschoss, den auch das Schlafzimmer teilte, in dem ein Doppelbett stand. Mit seinen braunroten Farben wirkte es warm, auch ganz ohne Sonnenlicht, und hier ließen sich ebenfalls viele Bücher finden, die nicht mal alle in die dafür vorgesehenen Regale passten, also waren einige zu kleinen Türmen aufgestapelt worden.

Auf einem Nachttisch stand ein Fotorahmen mit einem Bild von Edgar Maron, bei dem es sich um Bernadettes Mann handeln musste. Automatisch glitt sein Blick zurück zu dem Trugmahr. Er zählte sofort eins und eins zusammen. Kein Wunder, dass dieser Alptraum so sehr an ihr zu hängen schien.

Schließlich erinnerte Vane sich selbst daran, dass die Zeit drängte und er dieses Gespräch lieber schnell hinter sich bringen sollte, also räusperte er sich vernehmlich. „Guten Morgen, Maron.“

Sofort fügte sich Vanes Stimme harmonisch in das Lied des Trugmahrs ein, bildete einen Teil davon, als hätte sie schon immer dazu gehört und wäre endlich nach Hause zurückgekehrt. Nur leicht hob Bernadette den Kopf an und sah noch einen Augenblick lang weiter aus dem Fenster, bis sie doch endlich den Blick in seine Richtung wandte. Im Gegensatz zu Luan erwartete ihn kein Groll oder gar Abscheu, was er beides schon gewohnt war, ausnahmsweise wurde er tatsächlich mit einem Lächeln begrüßt. Eines von der mütterlich fürsorglichen Sorte, wie man es von ihr kannte.

„Ah, Vane. Guten Morgen, werter Herr Doktor Belfond“, erwiderte sie überraschend erfreut. „Ich dachte mir, dass du mich sehr bald besuchen kommen würdest, nachdem wir miteinander telefoniert hatten.“

Trotz der langen Zeit, in der er Bernadette nicht mehr gesehen hatte, erkannte er sofort, dass sie erschöpft war. Im Grunde war das bei ihr ein normaler Zustand, da sie harte Arbeit sehr schätzte und oft dazu neigte, sich zu übernehmen, aber etwas an diesem Anblick gefiel ihm nicht. Ihre jetzige Erschöpfung kam ihm besorgniserregend vor, weil ein Gefühl ihm sagte, dass sie auf eine unnatürliche Ursache zurückzuführen sein musste. Er bemühte sich darum den Drang niederzukämpfen, sie gleich untersuchen zu wollen, weil er das von seiner Arbeit her gewohnt war.

„Ich weiß nicht, worüber du dich so freust“, reagierte er ernst und in seiner tiefen Stimme wohnte ein Hauch von Kälte. Ein weiterer Teil von ihm, den er wohl niemals vollständig ablegen konnte.

„Noch nie was von Wiedersehensfreude gehört?“, versuchte sie, ihm den Grund für ihre Stimmung zu erklären und blickte ihn neugierig an. „Sind deine Krankenwagen immer noch so schön geräumig?“

Warum sie ihn das jedes Mal erneut fragen musste, blieb für ihn ein Rätsel. Was sollte sich während ihrer Abwesenheit an ihren Schöpfungen denn geändert haben? Erst recht weil sie bei ihr von dauerhafter Natur waren, empfand Vane diese Frage als überflüssig und konnte nur vermuten, dass sie stolz darauf war, ihm bei den Räumlichkeiten für den Krankentransport so gute Dienste erwiesen zu haben.

Für ihn blieb es eine Frage, auf die er nicht antworten musste und so überging er sie einfach, genau wie die Aussage mit der Wiedersehensfreude. „Du kannst dir sicher denken, warum ich dich aufgesucht habe.“

Ein Nicken von Bernadette genügte, um ihm das zu bestätigen und sie deutete zum Bett rüber. „Setz dich doch erst mal, mein Lieber. Stehen wirkt so furchtbar förmlich und distanziert. Erst recht bei einem so großen Mann wie dir.“

Wie oft er das schon von ihr zu hören bekommen hatte, konnte Vane gar nicht mehr aufzählen. Stehen empfand er für sich selbst stets als angenehmer, aber durch Bernadette hatte er es sich längst auch bei seiner Arbeit angewöhnt möglichst viel zu sitzen, damit seine Patienten sich ein wenig wohler fühlen konnten. Ob das wirklich half oder nicht, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, denn bei den Traumbrechern galt er nach wie vor als unbeliebt. Der Gedanke sorgte dafür, dass er die Augenbrauen zusammenzog und sich lieber hinsetzte, statt sich noch länger in solch unwichtige Tatsachen zu verlieren.

Kaum saß er auf dem Bett, das für seinen Geschmack viel zu weich war, blickte er fragend zu Bernadette. „Zufrieden?“

„Nicht ganz“, antwortete sie und musterte ihn eine Weile irritiert, bis ihr etwas auffiel. „Ach, du bist ohne dein Schreibzeug unterwegs. Ungewohnter Anblick bei dir, sonst hast du es doch immer dabei.“

Richtig, normalerweise war Vane ohne Klemmbrett nicht anzutreffen, weil er sich gerne zu allem Notizen machte, aber diesmal hatte er es auf der Krankenstation zurückgelassen, um sich in Ruhe auf die Lage konzentrieren zu können. Dazu gehörte auch, solche Aussagen nicht weiter zu beachten und ohne weitere Umschweife zu dem Thema zu kommen, wegen dem er hier war.

Seine Mimik wurde daher noch ernster, nahezu vorwurfsvoll. „Warum hast du versucht, die Atemhypnose bei Luan zu brechen?“

„Du kommst mal wieder gleich zum Punkt“, bemerkte sie bedauernd und schüttelte den Kopf. „Keine Frage danach, wie es mir geht oder was ich so getrieben habe?“

Für Vane war dieser Einwurf nicht nachvollziehbar. „Bei unserem letzten Telefonat warst du auch nicht gerade interessiert daran, wie es mir geht oder was ich so getrieben habe.“

„Guter Einwand“, musste sie gestehen. „Hat dich das etwa gekränkt?“

„Nein.“ Das hatte es wirklich nicht, vielmehr war es störend gewesen, sich von ihr beschimpfen zu lassen und deswegen von seiner Arbeit abgebracht worden zu sein. „Ich wollte damit nur verdeutlichen, dass solche persönlichen Einzelheiten keine Rolle spielen.“

„Verstehe, so fixiert wie eh und je.“

Was hatte sie auch anderes erwartet? Hier stand eine Menge auf dem Spiel und wenn Vane schon in all das verwickelt worden war, wollte er auch verhindern, dass noch mehr Chaos ausbrach. Sein fordernder Blick half dabei, auch Bernadette an den Ernst der Lage zu erinnern, denn ihr Lächeln erlosch. Schwerfällig lehnte sie sich mit einem Seufzen im Schaukelstuhl zurück.

„Ich wollte die Atemhypnose bei Luan brechen, weil ich sie nicht mehr als notwendig betrachte und sie eher eine Gefahr darstellt, meiner Meinung nach“, begann sie zu erklären und schloss die Augen dabei. „Wie ich dir am Telefon bereits sagte, war sie sowieso schon zerbrochen und Luans Geißel in Erscheinung getreten.“

„Eben deshalb verstehe ich dein Handeln nicht“, sagte er darauf ratlos. „Wir hatten telefonisch vereinbart, dass ich mich darum kümmere, aber ich bekam nicht mal einen Tag Zeit dafür?“

Stattdessen hatte er später am Tag einen Anruf von Luan bekommen, der ihn wegen Naola um Hilfe bat, weil sie sich im Kampf gegen einen Alptraum verletzt hatte, und da war es schon zu spät gewesen. Kurz nach dem Ende dieses Ereignisses hatte das Wachstum der Ablagerung wieder eingesetzt und seine darauf folgende Untersuchung ergeben, dass jemand zuvor versucht hatte die Atemhypnose bei ihm zu brechen.

Besorgt rieb er sich die Stirn. „Das Lied zur Aufhebung der Atemhypnose habe ich dir nicht beigebracht, damit du es ohne meine Erlaubnis anwendest. Ich habe dir vertraut.“

„Gutes Stichwort, ich habe dir nämlich auch vertraut“, konterte sie und warf ihm einen strengen Blick zu. „Du hast mir versichert, dass du Luan im Hauptquartier festhalten würdest, aber daran hast du dich auch nicht gehalten. Als behandelnder Arzt hätte das leicht für dich sein müssen und du hast mich nicht mal darüber informiert, dass unser Sorgenkind wieder in der Jagd tätig ist.“

In der Tat wäre es ein Kinderspiel für Vane, Luan in Athamos festzuhalten, wenn er wollen würde, aber irgendwann hatten mehrere Dinge dagegen gesprochen. Hinzu kam, dass Atanas, Hüter der Schatzkammer und Anführer der Traumbrecher, ihm schon länger mit der Frage im Nacken gesessen hatte, warum Luan so lange im Labor festgehalten worden war. Deswegen dachte der Junge auch, er hätte seine wieder zurückgewonnene Freiheit seinen Arbeitgebern zu verdanken, dabei hatte Vane ihn insgeheim freiwillig ziehen lassen.

Damals hatten sie den Plan mit der Atemhypnose entwickelt, weil Luan sich emotional nicht mehr zu stark entfalten durfte. Intensive Gefühlsausbrüche sorgten nur dafür, dass sich die schwarze Kruste, in der seine Geißel eingesperrt und wieder an ihn gebunden worden war, weiter ausbreitete. Sie würde Luan sonst komplett überdecken und in sich verschlingen, wodurch die Geißel doch noch die Überhand gewinnen könnte. Auf keinen Fall durften sie das zulassen.

Gefallen hatte es Vane bestimmt nicht, Luans Gefühle wegzusperren und aus ihm einen völlig anderen Menschen zu machen. Vorher war er naiv, verträumt und leicht zu begeistern gewesen, jetzt war er nur noch jemand, der keinen mehr an sich herankommen ließ und oft schlechte Laune aufwies, die aber auf seine Müdigkeit geschoben werden konnte. Aus ihm war jemand geworden, der kaum noch Interesse an etwas zeigte, was ein typischer Nebeneffekt war. Niemand würde Vane gegenwärtig glauben, mal einen guten Kontakt zu Luan besessen zu haben.

Vor dieser Mission, zu der Luan mit Ferris geschickt worden war, hatte es keinerlei Gründe gegeben, sich Sorgen machen zu müssen. Die Atemhypnose tat ihr Werk jahrelang einwandfrei, nun machte sie innerhalb weniger Tage so viel Ärger. Irgendetwas musste unterwegs passiert sein, von dem sie noch nichts wussten. Aber ...

„Hätte ich Luan weiter bei mir festgehalten, wäre unser Plan noch früher gescheitert“, begründete Vane sein Verhalten. „Trotz Atemhypnose zeigte er einen viel zu starken Willen, gegen Alpträume kämpfen zu wollen und hätte ich ihm das nicht zurückgegeben, wäre er durchgedreht. Diese Technik mag Gefühle eindämmen, macht aber noch lange keine willenlose Puppe aus dem Betroffenen.“

Seltsamerweise wirkte Bernadette mit dieser Erklärung zufrieden. „Ja, das habe ich auch gemerkt.“

Plötzlich bedrückte sie etwas schwer und Vane konnte es nur daran erkennen, wie der Trugmahr auf einmal noch enger um sie herum schwebte, auch sein Lied wurde etwas lauter. Sie hob den Kopf an und lächelte dankbar in die Luft, demnach musste sie spüren können, dass der Alptraum sie aufheitern wollte.

„Die Geißel von Luan hat bei unserem Gespräch etwas zu mir gesagt, womit sie recht hat“, fuhr sie fort und legte sich eine Hand an die Brust. „Manche Gefühle lassen sich nicht so einfach unterdrücken oder gar ausschalten, das waren seine Worte. Ich habe gespürt, wie verletzt Luan von meinem Verrat ist und davon hat er eine Narbe zurückbehalten, die sich nicht verdecken lässt. Genau wie sich sein Wille, Alpträume zu bekämpfen, nicht ausschalten lässt.“

Ihm gefiel nicht so ganz, worauf sie hinaus wollte, weshalb er vorwurfsvoll blieb. „Also wolltest du lieber riskieren, dass die Geißel wieder ungehindert weiterwachsen kann?“

„Ich befand mich in einer heiklen Lage“, entschuldigte Bernadette sich. „Das Treffen mit mir hat Luan sehr aufgewühlt und er wollte mich festnehmen. Er hat ernst gemacht, Vane. Seine Wut auf mich wäre übergeschwappt, egal was ich gemacht hätte.“

Angespannt atmete Vane tief durch und senkte verstehend den Blick. Ihrer Erzählung nach hatte sie eine Entscheidung treffen müssen und in dem Fall die Option gewählt, Luan von der Atemhypnose zu befreien. So oder so hätte es einen Gefühlsausbruch gegeben, aber Vane hielt es für den falschen Weg, ihm all seine Emotionen und die damit verbundenen Erinnerungen zurückzugeben.

Gefühle waren immer eng mit Erinnerungen verbunden, besonders für Traumbrecher. Schall-Alpträume machten sich das für ihre psychischen Male zu Nutze, was Naola und Luan kürzlich wieder am eigenen Leibe erfahren mussten. Je länger eine Atemhypnose andauerte, desto mehr Nebenwirkungen brachte sie mit sich. Das mangelnde Interesse, wegen dem Luan in der Regel nie nachfragte, was zum Beispiel Untersuchungen ergeben hatten, war eine davon. Hinzu kam, dass nach und nach einige Erinnerungen verblassen konnten, da man nicht mehr dazu in der Lage war, die dafür nötige Emotion zu empfinden.

An seine Geißel sollte Luan sich besser nicht erinnern und auch nicht den Kampf, den er sich damals schon mit ihr geliefert hatte, kurz bevor seine letzte Sekunde eingefroren war. Oder daran, was sie ihm offenbart hatte. Mit dieser Wahrheit würde man Luan wirklich keinen Gefallen tun.

„Ich weiß genau, worüber du gerade nachdenkst“, warf Bernadette ein und klang dabei seltsam gebrochen. „Findest du aber nicht auch, dass unser Plan mit der Atemhypnose vielleicht falsch war?“

„Überhaupt nicht“, verneinte Vane sofort, hielt den Blick aber gesenkt.

„Hieß es nicht, das soll nur eine Notlösung bleiben, als wir uns damals dazu entschlossen hatten?“ Sie gab einen reumütigen Laut von sich. „Es war nie geplant gewesen, Luan dem so lange auszusetzen. Willst du ihn jetzt etwa so lassen, wie er ist?“

Gute Frage. Eine andere Lösung hatten sie bisher noch nicht gefunden und es sah nicht so aus, als würde sich das ändern. Vielleicht musste Luan also so bleiben, wie er geworden war. Beeinflusst von der Atemhypnose, die sein Wesen so durcheinander gebracht hatte. Was sollten sie sonst tun? Ihr Handlungsraum, in dem sie sich bewegen konnten, war geradezu lächerlich beschränkt, so konnten sie auch keine Fortschritte erzielen.

„Bitte, breche die Atemhypnose“, fuhr sie mit fester Stimme fort.

Alles in Vane sträubte sich dagegen, das konnte er nicht tun. Mit Mühe hatte er sie halbwegs wieder in einen Zustand versetzt, der das endgültige Brechen verhinderte. Nur, weil sie schon instabil genug war, wollte er sie nicht von Luan nehmen, solange sie ihn noch ein bisschen zu schützen wusste. Wäre Bernadette dabei gewesen, als Luan in seinen Armen lag und ihn anflehte, ihm zu helfen, würde sie anders denken. Vane hatte die Angst in seinen Augen gesehen und schuld daran war der Wachstum der Ablagerung gewesen. Davor musste er Luan bewahren, mit allen Mitteln.

Abgeneigt schüttelte Vane den Kopf. „Das werde ich nicht tun. Du weißt, dass das viel zu gefährlich ist.“

„Aber-“

„Nein“, unterbrach er sie. „Es mag nicht die ideale Lösung sein, aber sie ist besser für Luan. Ich weiß das.“

Vane rechnete fest damit, dass Bernadette ihm Widerstand leisten würde, was diese Entscheidung anging. Zu seiner Überraschung verfiel sie aber in Schweigen, dabei hätte sie sicher viele Gründe parat, mit denen sie gegen seine Meinung argumentieren könnte. Sonst gab sie nicht so leicht nach, ob das etwas mit ihrer Erschöpfung zu tun hatte?

„Also mich schmerzt es, zu sehen, wie sehr Luan mich hasst“, brach Bernadette das Schweigen. „Stört dich das überhaupt nicht?“

„Wie ich schon sagte, spielen persönliche Einzelheiten keine Rolle.“

In Wahrheit hatte er sich daran gewöhnt, von Luan mit Groll überschüttet zu werden und es würde ihn auch nicht stören, wenn er dafür wüsste, dass der Junge nicht in Gefahr war. Im Moment konnte er sich aber vor lauter Sorgen kaum konzentrieren, also war er alles andere als glücklich mit dieser Situation.

Auf seine letzten Worte wollte Bernadette wohl nicht eingehen, sie stellte ihm nämlich auf einmal eine andere Frage. „Wieso hast du eigentlich nichts unternommen, als du gemerkt hast, dass Luans Geißel wieder aktiv geworden war?“

„Ich wollte“, entgegnete er und runzelte die Stirn. „Ich hätte ihn am liebsten sofort von der Mission abgezogen, aber er hat mir wieder mal gezeigt, dass er sich nicht von seinem Willen, Alpträume zu jagen, abbringen lassen würde. Dafür habe ich aber Proben von der Ablagerung genommen, nur bin ich mit den Untersuchungen noch nicht weit gekommen.“

„Und das Beruhigungsmittel?“, hakte sie weiter nach. „Luans Geißel erwähnte etwas davon.“

Durch das Telefonat mit Bernadette wusste Vane einige Details von ihrer Begegnung mit der Geißel und dass sie sogar davon gesprochen hatte, überraschte ihn nicht. „Hätte nicht geholfen, dafür war die Geißel schon wieder zu aktiv.“

Worum es sich bei diesem Beruhigungsmittel handelte, behielt er für sich. Gegenwärtig würde es nichts mehr ausrichten können, also stand es auch nicht zur Auswahl und musste somit nicht zwingend gründlicher besprochen werden. Viel wichtiger blieben andere Probleme, über die sie sich auch unterhalten sollten und wenn Bernadette sich schon von sich aus von dem Thema mit der Atemhypnose entfernte, schloss er sich dem nur zu gerne an.

„Wir haben es übrigens nicht nur mit einer Geißel zu tun“, brachte Vane ein neues Thema zur Sprache und seine Sorge verstärkte sich augenblicklich, was ihm äußerlich nicht anzusehen war. „Ich bin mir sicher, dass wir es hier auch mit Ferris’ Geißel zu tun haben, die schon erschreckend aktiv unterwegs sein muss.“

Die zwei rötlichen Samenkörner waren ein eindeutiger Beweis dafür und er war froh, sie Luan abgenommen zu haben. Er wollte nicht riskieren, dass er sie bei sich trug, sollten sie nochmal zu blühen anfangen. Jedenfalls bedeutete das, jemandem wurde ein Geißel-Ei eingepflanzt, von dem diese Samen produziert wurden, die man eigentlich Geißelsaat nannte. Also galt es, die Person mit dem Geißel-Ei zu finden, damit diese Gefahrenquelle vorerst beseitigt war.

Nur kam Vane nicht dazu, das auch anzusprechen, da Bernadette zuvor etwas einwarf: „Prima, dann haben wir jetzt mit drei Geißeln Probleme. So viel dazu, sie wären nur eine Legende.“

Drei Geißeln? Leicht irritiert hob er eine Augenbraue und fragte sich, wie sie auf diese Zahl kam. Ging sie etwa nicht nur von feindlichen Geißeln aus? Vane wusste zwar, dass er seiner wahren Herkunft nicht entfliehen konnte, nur wunderte er sich doch darüber, ebenfalls als ein Problem bezeichnet zu werden. Hatte er immer noch nicht ausreichend bewiesen, auf der Seite der Menschen zu stehen? Oder war sie doch verstimmt, weil er ihrer Bitte nicht nachkommen wollte, Luan von der Atemhypnose zu befreien?

Offenbar gelang es Bernadette irgendwie, seine Verwunderung zu bemerken und dafür genügte ihr nur ein kurzer Blick in seine Augen. „Oh, dich habe ich nicht gemeint. Inzwischen ... mag ich dich~.“

Darüber sollte Vane sich vermutlich freuen, sein Gesichtsausdruck blieb aber von einem distanzierten Ernst befallen, den er so gut wie nie ablegen konnte. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit war sie recht misstrauisch ihm gegenüber gewesen und als sie erfahren hatte, dass es sich bei ihm selbst um eine Geißel handelte, war ihre Feindseligkeit über einen langen Zeitraum hinweg groß gewesen.

„Du hast dich verändert“, meinte sie bewundernd und ihr Blick bekam diese mütterliche Note, für die sie so beliebt in Athamos gewesen war, vor ihrem Verrat. „Ich schäme mich ehrlich gesagt, dass ich nicht früher erkannt habe, wie viel mehr in euch steckt. Ihr seid mehr, als nur eine Ansammlung von negativen Gefühlen. Mehr, als nur ein Traum.“

Jetzt bezeichnete sie ihn sogar als Traum? Wovon sprach sie nur? Schweigend beobachtete er, wie sie eine Hand hob, um blind in der Luft eine leuchtende Kugel von dem Trugmahr anzutippen, der ihr Gesellschaft leistete.

„Wie kommst du dann auf drei Geißeln?“, wollte er wissen, ohne auf ihre vorherigen Worte einzugehen, zu denen er auch gar nichts zu sagen wüsste.

„Nicht so wichtig“, wehrte sie ab. „Nicht jetzt. Konzentrieren wir uns erst mal auf die Geißeln von Luan und Ferris. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass sie zusammenarbeiten.“

Ihm gefiel es nicht, dass Bernadette seine Frage abwehrte, aber sie erweckte mit ihrer letzten Aussage gekonnt sein Interesse, so dass er die Frage nach der dritten Geißel vorerst hinten anstellte. „Wie kommst du darauf?“

Das haben wir uns zu Nutze gemacht“, lautete ihre Antwort. „Luans Geißel sagte das zu mir, nachdem er meinte, es wäre doch klar, dass Luans Wut auf mich eine heftige Reaktion seiner Gefühle verursachen würde. Er hat von wir gesprochen.“

Und jetzt ging sie davon aus, dass er damit Ferris’ Geißel gemeint hatte? Weit hergeholt war der Gedanke nicht, vielleicht hatten die beiden irgendwie Kontakt zueinander aufgenommen und falls das zutraf, mussten sie umso schneller diese Legende loswerden, die in Ferris herangewachsen war. Auch ohne sie hatten sie schon genug Ärger mit Luans Geißel am Hals.

Für weitere Schritte war es dringend notwendig, Bernadette etwas mehr über Geißeln einzuweihen, wofür er sich auch gleich nach vorne lehnte und zu einer längeren Aufklärung ansetzte.
 

***
 

Weit sollte Vane aber nicht mit seinen Erklärungen kommen, denn der Feind befand sich längst mitten unter ihnen und niemand merkte etwas davon. Amüsant, wie leicht Menschen reinzulegen waren. Die Geißel von Ferris musste sich schon zurückhalten, nicht spöttisch zu lachen, während sie Luan die Treppen nach oben in den ersten Stock folgte. Sein Rücken wollte ihn förmlich dazu einladen, dieses ahnungslose Opfer von hinten zu überraschen.

Ferris war wirklich zu bemitleiden, dass nicht mal sein angeblich bester Freund erkannte, wen er in Wahrheit vor sich hatte. Wie leicht es wäre, Luan jetzt sofort an Ort und Stelle aus dem Weg zu räumen, aber er musste sich beherrschen. Sie hatten ganz andere Pläne mit ihm und wenn er erst mal endlich dazu kam, ihm die Spielregeln zu erklären, konnte der Spaß richtig beginnen.

Genieß deine großzügige Schonfrist also, solange du noch kannst, Luan.

Oben angekommen zeigte er, über was für einen schrecklich simplen Charakter Ferris verfügte und konnte ihn mühelos nachahmen. Er tat so, als wollte er Luans Date mit Mara nicht stören und sagte ihm, dass er ruhig alleine in ihr Zimmer gehen sollte. Genervt von der Behauptung, es würden romantische Gefühle hinter dem bevorstehenden Gespräch stecken, stimmte Luan ohne Widerworte zu. Wahrscheinlich dachte er sich selbst, dass es besser wäre, alleine mit Mara zu sprechen und bat ihn darum, solange hier zu warten. Zur Sicherheit, weil er Vane nicht traute, der sich gerade mit Bernadette unterhielt. Mit einer Verräterin, wie Luan noch dazu betonte.

Nachdem er Luan versichert hatte, sich um die beiden zu kümmern, sollte es nötig sein, verschwand dieser in Maras Zimmer. Schon fast lächerlich, wie ihm hier alle Fäden in die Hände fielen, ohne dass er sich ernsthaft darum bemühen musste. War es da nicht ungeheuer großzügig von ihm, ihnen eine faire Chance zu lassen? Diese Chance mochte sich am Ende zwar als böse Überraschung entpuppen, aber insgesamt betrachtet war es nett von ihm, wie behutsam er mit seinen Spielfiguren vorging.

Im Flur wurde er gänzlich von Schatten umarmt, was er nur begrüßen konnte. Locker schritt er ohne jeden Laut zu der Tür hinüber, hinter der Bernadettes Zimmer lag und lehnte sich dort mit dem Rücken dagegen. Nur leise drangen die Stimmen von zwei Personen nach außen, dank der Dunkelheit waren sie für ihn aber ganz deutlich zu hören, denn sie war ein Teil von ihm und ruhte überall. Alles, was in diesem Haus geschah, bekam er genau mit.

So konnte er gerade noch hören, wie Bernadette ansprach, dass sie eine Zusammenarbeit zwischen den Geißeln vermutete, was ihn schmunzeln ließ. „Dieses wir existiert auch~.“

Lange wartete er nicht ab, sondern drang rückwärts mit seinem Körper durch die Tür hindurch, als wäre er nur ein körperloser Geist. Höchste Zeit, auch die letzten Störenfriede aus dem Weg zu räumen, bevor er sich in Ruhe mit Luan unterhalten konnte.

Du bist nicht kaputt

Luan versuchte nicht daran zu denken, dass Vane ihn schon wieder mit Schall-Prägung an einen Ort gebunden hatte, weil er sich auf das folgende Gespräch konzentrieren wollte. Es war doch zu wichtig, als dass er sich jetzt von seinem Groll gegenüber dem Arzt ablenken lassen durfte. Dafür hatte er Ferris darum gebeten, darauf zu achten, ob Vane und Bernadette irgendetwas Verdächtiges taten.

Allmählich sprachen nämlich alle Zeichen dafür, dass Vane mit Bernadette unter einer Decke steckte und das überraschte Luan nicht mal. Jemand wie dieser fanatische Forscher passte ausgesprochen gut zu einer Verräterin. Besser, sie spielten eine Weile mit, bevor sie die beiden in Haft nahmen. Falls sie etwas planten, mussten sie das irgendwie in Erfahrung bringen. Im besten Fall vor der Umsetzung, sollte die nicht schon längst eingeläutet worden sein.

Nein, konzentriere dich jetzt auf das Gespräch mit Mara, wies er sich selbst zurecht. Du schaffst auch nur eins nach dem anderen.

Was ihn ein wenig störte. Viel lieber wollte er gleich alles auf einmal regeln können, damit wieder Ruhe einkehrte und er hoffentlich zu seiner gewohnten Routine zurückfand. Zu den Zeiten, in denen sein einst so verlässliches Wissen bezüglich Alpträume noch ausgereicht hatte und dank der die Jagd für ihn vorher stets einfach gewesen war. Jetzt öffnete er aber zuerst die Tür zu Maras Zimmer, ohne zu klopfen. Da er sich mit ihr zusammen schon einmal hier oben umgeschaut hatte, wusste er noch genau, welche Räume hinter den einzelnen Türen lagen.

Maras Zimmer entpuppte sich als der einzige Ort im Haus, in dem Luan von Licht geblendet wurde. An sich war es normal, wenn jemand früh morgens nicht gern im Dunkeln saß und deswegen die Lampe eingeschaltet hatte, nur gab sie ein so grelles Leuchten von sich, dass es doch ungewöhnlich wirkte. Oder es kam Luan nur so hell vor, weil sonst überall das Licht noch ausgeschaltet und es angenehm dunkel gewesen war. Als nachtaktiver Traumbrecher reagierte man mit der Zeit schnell allergisch auf Helligkeit, sollte man Pech haben. Der Großteil von ihnen hatte mit dem Wechsel von Dunkelheit zu Licht gar keine Probleme, Luan gehörte zu dem geringen Prozentsatz auf der anderen Seite.

Nachdem er einige Male heftig blinzeln musste und sich rasch über die leicht tränenden Augen rieb, gewöhnte er sich langsam an dieses strahlend weiße Licht, das den Raum durchflutete. Hinter ihm fiel die Tür zurück ins Schloss, was nur kurz für ein störendes Geräusch sorgte und durch das die hier herrschende Stille gebrochen wurde. Diese Ruhe und dazu die Lichtverhältnisse ließen den Raum seltsam heilig erscheinen.

Genau gegenüber der Tür stand ein Bett seitlich vor einem Fenster mit blau-weißen Vorhängen, die zugezogen worden waren und die Sicht nach draußen versperrten. So konnte man nicht sehen, wie weit die Sonne schon aufgegangen war. Auf dem Bett saß Mara, hatte beide Beine angewinkelt und umklammerte sie mit den Armen, während sie ihren Kopf in den Schoß vergrub. Sie gab ein ziemlich bedrücktes Bild ab, schon am Telefon hatte sie sich nicht gut angehört. Lag es wirklich nur daran, dass Luan ohne Abschiedsworte gegangen war? Konnte er sich gar nicht vorstellen.

Rechts im Raum stand ein Schreibtisch, der nur deswegen Luans Aufmerksamkeit erregte, weil dort ein aufgeschlagenes Buch lag, das geradezu eine magische Ausstrahlung besaß. Dabei konnte es sich nur um Diarium Fortunae handeln, eine Kopie, wie er von Bernadette wusste. Ansonsten ließen sich hier Regale mit weiteren Büchern finden und ein großer Kleiderschrank, nur besaß dieser Raum im Vergleich zum restlichen Gebäude eine modernere Note als die anderen.

Statt etwas zu sagen, zog es Luan erst Richtung Buch und der Teppich dämpfte das Geräusch seiner Schritte, als er zum Schreibtisch hinüberüberging. Eigentlich wollte er gar nicht reinschauen, sondern es nur zuklappen und an sich nehmen, denn er durfte gar nicht darin lesen. Dieser Regel wollte er als Traumbrecher auch folgen, selbst wenn es ihn ärgerte, dass gerade Mara sich schon so viel Wissen durch das Buch aneignen konnte und Bernadette hatte es einfach zugelassen.

Ich ja auch, aber damit ist jetzt Schluss, dachte er entschlossen.

Dummerweise streiften seine Augen den Titel des aktuell aufgeschlagenen Kapitels. Nur ganz kurz, aber es reichte aus, um sein Interesse zu wecken: Sakromahr.

Sein Herz schlug ein wenig schneller, weil allein der Name dieser Alptraumgattung etwas in ihm aufwühlte und er gleichzeitig wusste, dass er auf keinen Fall weiterlesen durfte, egal wie gern er gerade wollte. Sofort musste er an Theeder zurückdenken und an sein Versprechen, Ferris dazu zu bringen, ihn wieder freizulassen. Wie sollte er das anstellen, wenn Ferris Theeder komplett aus seiner Vergangenheit gestrichen hatte? Bei dem Thema Sakromahr musste Luan aber auch noch an jemand anderen denken.

Estera.

Sie war damals der Grund dafür gewesen, warum er zum Traumbrecher geworden war. Wegen Estera und allen anderen Sakromahren, die es auf der Welt gab. In diese alten Erinnerungen durfte er sich nicht verlieren, nicht jetzt. Außerdem schienen sie sowieso auf merkwürdige Weise weit entfernt zu sein, also verdrängte er sie einfach komplett, so wie er es immer mit Bildern aus der Vergangenheit tat, und klappte hastig das Buch zu, ehe er doch noch in Versuchung kommen könnte.

Hierbei hatte er die Rechnung aber ohne Mara gemacht, sie fing plötzlich an zu sprechen. „Sakromahr setzt sich zusammen aus den Worten sakrosankt und Mahr. Sie werden in den meisten Fällen aus Tagträumen geboren.“

Ein wenig angespannt drückte Luan seine Hand auf den vorderen Einband des Buches nieder und blickte über die Schulter hinweg zu Mara. Ihre Stimme klang brüchig. Ob sie geweint hatte? War ihr seine Anwesenheit doch aufgefallen oder redete sie nur vor sich hin? An ihrer Körperhaltung hatte sich nichts verändert, noch immer saß sie reglos auf dem Bett und er konnte ihr Gesicht nicht sehen.

„Ein Sakromahr gilt als etwas Besonderes, weil sie so selten sind“, fuhr Mara gedämpft fort, ohne den Kopf zu heben. „Auch sagt man ihnen nach, sie wären heilig, aber da ihr Ursprung in negativen Gefühlen liegt, die sich nur zu einem starken Wunsch nach einer positiven Veränderung wandeln, werden sie zur Gattung der Alpträume gezählt.“

„Hör auf“, warf Luan ein. Dadurch wollte er auf sich aufmerksam machen, falls sie ihn doch noch nicht bemerkt hatte und nur mit sich selbst sprach. „Das weiß ich alles und will es nicht hören.“

Sollte sie damit anfangen Dinge aus dem Buch zu zitieren, von denen er noch nichts wusste, wäre es zu riskant, Mara einfach weitersprechen zu lassen. Seine Worte zeigten nur offenbar keine Wirkung, da sie dennoch mehr von ihrem Wissen preisgab, das sie durch das Lesen gewonnen hatte: „Sie sind eine unnatürliche Erscheinung, obwohl ihre Existenz sehr real ist, sobald sie erst mal durch einen Tagtraum geboren werden. Nur ihre Erzeuger oder Traumbrecher sind dazu in der Lage, einen Sakromahr zu sehen. Andere Alpträume natürlich auch.“

„Es reicht jetzt“, versuchte Luan erneut sie zu stoppen und nahm das Buch an sich, bevor er zu ihr ans Bett trat. „Ich habe gesagt, du sollst aufhören.“

Mara machte weiter, als hätte sie ihn gar nicht gehört: „Ein Sakromahr nimmt stets die Gestalt des Wunsches an, den der Erzeuger sich im Tagtraum herbeisehnt und wirkt daher oft perfekt. Je nach Inhalt des Wunsches nehmen sie auch einen bestimmten Charakter an und von ihnen geht nur selten Gefahr aus. Man kann sie nicht als menschlich bezeichnen, auch wenn sie oftmals wie ein Individuum erscheinen mögen, denn sie folgen nur den Richtlinien des Wunsches, aus dem sie entstanden sind.“

In Luan sträubte sich alles gegen die Aussage, dass Sakromahre keine Menschen sein sollten. Auch Theeder hatte schon von sich selbst behauptet, kein eigenes Leben zu besitzen und das konnte er nicht akzeptieren. Es war falsch. Auch ein Sakromahr hatte ein Leben, sie dachten und fühlten schließlich, genau wie jeder Mensch. Diesen Glauben wollte er sich niemals zerstören lassen, selbst wenn es sogar in dem Buch stand. Diarium Fortunae beinhaltete angeblich nur Wissen, das auf Tatsachen beruhte und doch glaubte Luan etwas anderes.

„Aus solchen Träumen, einem Sakromahr, bilden sich meist Energiequellen, die in der-“

„Schluss jetzt!“, unterbrach Luan sie nun lauter und gereizt. So weit hätte er sich ihre Wiedergabe des Kapitels nicht anhören dürfen. „Nicht alles, was in Büchern steht, ist auch automatisch wahr! Also verschone mich bitte damit, mir noch mehr davon zu erzählen.“

Minimal hob sie den Kopf träge an und war verwundert über seine Reaktion. „Ich dachte nur ... dass du das gerne hören wolltest, weil du den Eindruck gemacht hast, als würden dich Sakromahre interessieren.“

Woher wusste sie das? Vermutlich musste sie zwischendurch unbemerkt zu ihm geschaut haben, sonst könnte er sich nicht erklären, woran sie das sonst gemerkt haben sollte. Jedenfalls fing das Wiedersehen mit Mara mal wieder besonders schräg an, wie gewohnt benahm sie sich seltsam und geheimnisvoll. Das hatte Luan wirklich satt.

„Wie gesagt, ich weiß auch so über sie Bescheid“, zeigte er sich abweisend. „Ich bin nicht gekommen, um mir Märchen aus dem Buch anzuhören, sondern um es abzuholen und um zu reden.“

„Ich wollte nur ...“, begann sie verunsichert. „Ich wollte es einfach hinter mich bringen.“

Wovon redete sie jetzt schon wieder? Eigentlich könnte Mara sich ruhig mal etwas dankbar zeigen, dass er pünktlich morgens zu ihr gekommen war, genau wie vereinbart. Diese Aussage schluckte er aber ausnahmsweise mal herunter und fing lieber damit an, das richtige Gespräch mit ihr in Gang zu setzen: „Da gibt es so einige Dinge, die ich dich fragen muss.“

Diesmal würde er sich davon nicht mehr abbringen oder ablenken lassen, auch nicht von sich selbst. Ihn verlangte es nach der Wahrheit, sonst würde er es bald nicht mehr länger aushalten. Als sie endlich den Kopf noch mehr anhob, war das schon mal ein gutes Zeichen dafür, dass Mara sich kooperativ zeigte, doch der Anblick ihres Gesichts versetzte ihn auf der Stelle in eine kalte Starre.

An ihren verweinten, geschwollenen Augen lag es nicht. Etwas anderes ließ auf einmal seinen Atemreflex aussetzen und er fragte sich, wieso er das nicht schon viel früher bemerkte hatte. Es war so offensichtlich und er erkannte es erst jetzt. Diese Frau, Mara, sah aus wie Estera, nur mit einer anderen Haar- und Augenfarbe. Blond war zu schwarz und grün zu blau geworden. Ihre Gesichtszüge und die Frisur waren dafür das exakte Ebenbild von Estera.

Wie war das möglich? Wieso war ihm das vorher nicht aufgefallen? Estera hatte er in dieser Erscheinung vor wenigen Tagen sofort wiedererkannt, deshalb verstand er es erst recht nicht. Irgendetwas musste sich verändert haben, seit er Mara zuletzt gesehen hatte und die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag:

Etwa auch wegen der Atemhypnose? Was war ihm wohl bisher noch alles entgangen? Hatte so eine Gefühlssperre denn wirklich einen derart hohen Einfluss auf den Betroffenen?

Fragen über Fragen schwirrten in seinem Kopf herum, schon wieder. Vor diesem Einsatz war alles in Ordnung gewesen, danach sehnte er sich zurück. Alles war gut gewesen und jetzt herrschte nur noch Chaos, wie er abermals feststellen musste. Immer noch blieb Mara der Auslöser dafür, vorher hatte ihm die Atemhypnose nie irgendwelche Probleme bereitet. Er hatte sie nicht einmal realisiert.

„Mara“, brachte er nur schwer hervor und sah sie ungläubig an, „was bist du eigentlich?“

In ihren blauen Augen stand geschrieben, dass sie sich ebenso verloren vorkam wie er und durcheinander war, doch sie gab ihm eine klare Antwort auf seine Frage. „Ein Sakromahr.“

Endlich ergab vieles einen Sinn. Zum Beispiel wieso sie keine Angst vor Dunkelheit hatte und sich Maras Stimme so perfekt in den Klang des Trugmahrs einfügt hatte. Sie waren beide Alpträume. Auch warum das Klingeln im Hotel so penetrant laut gewesen war und das Telefon sich kalt angefühlt hatte, solch seltsame Gegebenheiten konnten Sakromahre durchaus bewirken. Andere Dinge dagegen warfen neue Fragen auf, das nahm einfach kein Ende. Im Moment war er von dieser Offenbarung zu überrascht und schien seine Sprache verloren zu haben, doch das Reden übernahm auch Mara schon an seiner Stelle.

„Ich bin nichts weiter als ein Traum“, fügte sie bedrückt hinzu. „Und Träume können selbst nicht träumen.“

Ein Traum. Während er sich diese Worte durch den Kopf gingen ließ, wurde ihm nun auch bewusst, wieso Mara Ferris auf Anhieb durchschaut und deswegen gefragt hatte, ob er sich immer verstellen würde. Träume bestanden aus Gefühlen und besaßen dafür demnach ein wesentlich feineres Gespür, als Menschen oder Traumbrecher jemals haben könnten. Hätte sie dann nicht auch von Anfang an bemerken müssen, dass Luan kein gefährlicher Entführer war? Nein, das war ihr wegen der Atemhypnose vermutlich nicht möglich gewesen.

Seine Gedanken wurden von den folgenden Worten durchbrochen: „Ich will aber auch träumen können.“

„Was?“, reagierte Luan irritiert.

„Ich will auch träumen können“, wiederholte Mara und sah ihn verzweifelt an. „Deshalb habe ich versucht zu vergessen, dass ich selbst ein Traum bin, aber das hat mich nicht weitergebracht. Das war keine Lösung. Hier habe ich dann vor kurzem beim Aufräumen das Buch gefunden.“

Betroffen sackte sein Blick zu Diarium Fortunae hinunter, das sich endlich, nach einem viel zu langem hin und her, in seinen Händen befand. Also war es nicht nur reine Neugier gewesen, sondern die Hoffnung, darin eine Lösung zu finden. Ob Bernadette über Maras wahre Herkunft wirklich von Anfang an Bescheid gewusst hatte? Ihm selbst war es die ganze Zeit über nicht aufgefallen und er war ein Traumbrecher. Er hätte es eigentlich auch erkennen müssen. Wie war es Bernadette möglich gewesen?

Also, wenn sogar andere Traumbrecher es nicht erkennen, dann ist sie wirklich was Besonderes, das waren Bernadettes Worte gewesen. Etwas an Mara war anders, daran könnte es durchaus liegen. Andernfalls hätte auch Ferris bemerken müssen, was sie in Wahrheit war.

Statt weiter nachzudenken, sollte er besser etwas sagen und nicht länger schweigen. „Und? Hast du etwas gefunden?“

„Nein, auch das war keine Hilfe. Es ist sinnlos.“ Ihre Augen füllten sich mit neuen Tränen. „Ich dachte, es wäre gut, sich gegen meine Bestimmung zu wehren und zu versuchen, eigene Wege zu gehen, aber das ist schlecht. Unausgeglichen zu sein ist kein gutes Zeichen. Das zeigt nur, dass ich total kaputt bin und nicht mehr richtig funktioniere. Ich darf einfach nicht träumen.“

Luan fühlte sich mit dieser Situation überfordert. Alleine die Tatsache, einen Sakromahr vor sich zu haben, den er nicht als solchen erkannt hatte, war für ihn ein schwerer Schlag und dann sah Mara auch noch aus wie Estera. Hörte die Serie aus Verwirrung auch irgendwann mal wieder auf?

Wenigstens ließen sich nun ihre Stimmungsschwankungen erklären, die manchmal so seltsam waren. Sie besaß einen festgelegten Charakter, entsprechend ihrer Bestimmung, mit der sie erschaffen worden war und brachte sozusagen ihr gesamtes System durcheinander, sobald sie gegen die Richtlinien ihrer Existenz handelte. Unwillkürlich verkrampfte sich Luans Griff um das Buch.

„Du bist nicht kaputt“, entglitten ihm die Worte von alleine. „Du bist doch schon längst dazu fähig, zu träumen.“

Diese Aussage ließ Mara überrascht blinzeln, wodurch die Tränen befreit wurden und ihr über die Wangen liefen. „Wie meinst du das?“

„Du träumst davon zu träumen. In meinen Augen ist das schon sehr menschlich.“

An ihrer Mimik konnte Luan erkennen, dass sie dem widersprechen wollte, es aber nicht tat. Obwohl er diese Worte so meinte, wie er sie gesagt hatte, glaubte sie ihm nicht und das gab ihm ein Gefühl von Enttäuschung. Auf einmal hätte er gern einen viel besseren Draht zu ihr und das merkte Mara bestimmt, immerhin verhielt er sich ihr gegenüber gerade wesentlich offener als sonst. Leider machte sein Verhalten sie nur noch trauriger.

„Es geht dir nicht um mich“, stellte sie monoton fest und senkte den Kopf. „Es geht dir um das Buch und darum, Antworten von mir zu bekommen, aber nicht um mich. Ich bin eben doch nur ein Sakromahr.“

Dagegen konnte Luan nichts sagen, um ihre Worte zu entkräften. Das Gegenteil zu behaupten, wäre eine Lüge, also tat er es nicht. Ja, er war wegen des Buchs und Antworten hier, nicht weil ihm etwas an Mara lag. Für ihn war sie sogar eine Verdächtige, was all diese Vorkommnisse anging, seit er sie getroffen hatte. Eigentlich war das doch auch recht verständlich und nachvollziehbar, oder?

Je weiter er aber zurückdachte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass ihm auch viele andere Personen vor Mara schon egal gewesen waren. Wann war aus ihm nur so ein Einzelgänger geworden, der lieber alleine war? Seit wann genau lief er schon mit dieser Atemhypnose herum?

„Tut mir leid“, gab er nach einer Weile leise von sich und machte sich nicht die Mühe, gegen ihre vorherigen Worte anzugehen. „Mara, wer hat dich erträumt? Was ist deine Bestimmung?“

Schlagartig wechselte ihre Stimmung und sie wurde erschreckend ernst, nur die Tränenspuren mitsamt den glasigen Augen erinnerten noch an ihre Traurigkeit von zuvor. Die Art, wie sie ihn mit ihrem Blick fixierte, behagte ihm nicht. Ihr war anzumerken, dass es etwas gab, weswegen Mara ihn nicht ausstehen konnte und doch hing ein anderer Teil von ihr an Luan.

„Kannst du dir das nicht selbst denken?“, konterte sie mit einer Gegenfrage.

Doch, das konnte er. Oft genug hatte Mara gesagt, sie könnte ihn nicht aus den Augen lassen und das bedeutete, ihre Bestimmung musste mit ihm zusammenhängen. Jemand hatte sie wegen Luan erträumt, die Frage hierbei war nur: Warum? Auch das Wer blieb bestehen. Normalerweise ähnelte kein Sakromahr dem anderen und er konnte sich nicht vorstellen, dass Estera ein Ebenbild von sich geschaffen hatte. Wie sollte das möglich sein?

Estera war tot. Das wusste er, wollte sich aber nicht daran erinnern. Sie war für immer verschwunden, schon vor vielen Jahren. Nicht nur das, sie war außerdem selbst auch ein Sakromahr und Luan derjenige, der sie sich damals in seiner Kindheit erträumt hatte. Konnten Träume andere Träume erschaffen?

„Ich brauche Antworten“, bat er sie eindringlich. Anders kam er nicht weiter. „Bitte, sag es mir. Ich bin-“

Luan stockte kurz und seufzte schwer. „Wie ich dir schon am Telefon sagte, bin ich gerade sehr durcheinander und es wird nicht besser.“

Für einen kurzen Augenblick schien sie aufrichtiges Mitgefühl für ihn zu empfinden und öffnete bereits den Mund, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu sagen. Noch während des nächsten Atemzugs veränderte sich ihre Stimmung wieder und ließ sich diesmal nur schwer deuten. Da war eine Menge Anspannung und vielleicht sogar Angst, vermischt mit einer Art Unterwürfigkeit, wie sie Luan bisher noch nie gesehen hatte. Ihr Blick fixierte etwas oder jemanden, der hinter ihm stehen musste.

Sofort fuhr er herum und runzelte die Stirn, als er sah, dass er Ferris vor sich stehen hatte. Seit wann reagierte Mara so eigenartig auf ihn? Merkwürdiger war allerdings, wie leise Ferris beim Betreten des Zimmers gewesen sein musste. Für gewöhnlich machte er sonst nur zu gern auf sich aufmerksam und diesmal hatte Luan ihn überhaupt nicht bemerkt. Ein unangenehm kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Eine böse Vorahnung?

„Was machst du hier? Du solltest doch draußen warten“, verhielt Luan sich nicht gerade begeistert.

Dem begegnete Ferris mit einem charmanten Lächeln, wie immer. „Habe ich doch~. Bis gerade eben.“

„Für solche Späße bin ich jetzt echt nicht zu haben, Ferris.“

„Das bist du doch nie“, korrigierte er ihn schmunzelnd und hob einen Zeigefinger vor seinen Mund. „Würde es dich trösten, wenn ich nicht Ferris bin? Darf ich dann bleiben?“

Irritiert zog Luan die Augenbrauen zusammen. „Was redest du da?“

Ein leises Rascheln ertönte vom Bett aus und er warf einen flüchtigen Blick zu Mara, die so weit wie möglich zurückgewichen war. Ferris machte sie eindeutig nervös. Bloß eine Sekunde später begriff Luan dann auch schon von selbst, wieso es so sein könnte. Ein Sakromahr lag in der Rangfolge der Alpträume zwar weit oben, über ihnen standen aber noch die Geißeln, also hatten sie sich ihnen unterzuordnen. Bedeutete das etwa ...

„Du bist die Geißel?“, sprach er seinen Gedanken laut aus.

Es folgte ein erstauntes Pfeifen von Ferris. „Oho, begreift der werte Herr es also doch noch? Kommt reichlich spät. Vorhin ist dir gar nichts aufgefallen.“

Das konnte doch nicht sein. Was hatte der Feind hier zu suchen? Sein letztes Treffen mit der Geißel von Ferris lag ihm noch klar und deutlich vor Augen, weshalb es ihn gleich nochmal fröstelte. Auf der Stelle wurde auch Luan von Anspannung übernommen und er beobachtete die Geißel misstrauisch, um notfalls auf jede ihrer Bewegungen reagieren zu können. Genau wie letztes Mal wusste sie ihre Bosheit erschreckend gut zu verstecken und das verunsicherte ihn. War sie es wirklich?

„Owww, du bist niedlich, wenn du dir unsicher bist“, bemerkte die Geißel amüsiert und behielt Luan ebenfalls genau im Auge. „Letztes Mal hattest du einen Emotionsschub, da war es verständlich, dass du so durcheinander warst. Laut deinen eigenen Worten bist du das also jetzt immer noch? Du armer Kerl.“

Unruhig biss Luan die Zähne zusammen. Jeglicher Funken Mitleid war bei dieser Person nur gespielt und darauf konnte er auch allgemein getrost verzichten. Ärgerlich war nur, dass er zu spät die hellere Augenfarbe von Ferris bemerkte, die bereits schwach Richtung Rot tendierte. Schon bei seiner ersten Begegnung mit der Geißel war dieser Hinweis existent gewesen, darum hätte Luan ihn sofort wiedererkennen müssen. Er war nicht mal mehr dazu in der Lage, auf solche Details zu achten, zumal das letzte Treffen noch nicht lange her war. Sah er Ferris beim Sprechen überhaupt jemals bewusst in die Augen?

Bevor er sich auf ein Gespräch mit diesem Alptraum einließ, stellte er sich dichter vor das Bett und somit auch schützend vor Mara. „Wo ist Ferris?“

„Wie präzise“, urteilte der Feind milde lächelnd – bei ihm wirkte dieser Gesichtsausdruck einfach falsch. „Trifft sich aber gut mit meinen Absichten. So können wir schneller zum Punkt kommen: Er ist gerade meine Geisel.“

Über diesen schlechten Wortwitz konnte Luan gerade nicht lachen, selbst wenn er gewollt hätte. In der Nacht hatte er Ferris erst von einem Alptraum befreit und nun war er scheinbar wieder in Gefahr, wegen dieser Geißel. Seine freie Hand ballte sich zur Faust und er drückte mit der anderen das Buch fest an sich, während er versuchte seine Gedanken halbwegs zu ordnen. Wirklich leicht, sie unter Kontrolle zu halten, war es nicht. Wenigstens blieben seine Gefühle ruhig, so wie es auch vor diesem ganzen Ärger immer gewesen war.

„Der gute Doktor und seine Freundin übrigens auch“, fuhr die Geißel fort. „Um die brauchst du dir also auch keine Gedanken zu machen.“

Die machte Luan sich trotzdem. „Was hast du mit ihnen vor?“

„Nichts allzu schlimmes, das sind nur Vorsichtsmaßnahmen. Ich war bei unserem letzten Gespräch nämlich noch nicht fertig, jetzt wirst du dir aber Zeit für mich nehmen müssen. Solange ich Ferris und die anderen habe, machst du besser nicht nochmal irgendwelche Dummheiten.“

„Was willst du?“

„Du bist so schrecklich fixiert“, bedauerte sein Gegenüber. „Das warst du auch schon mit gebrochener Atemhypnose, du stellst viel zu viele Fragen.“

„Ich habe auch keine Lust, mit dir einen Kaffeeklatsch zu führen. Ich bin Traumbrecher und du ein Alptraum“, stellte Luan ungeduldig die Verhältnisse klar. „Also, was willst du?“

Beschwichtigend hob die Geißel eine Hand und tat dabei so, als gäbe es keinen Grund zur Eile. „Na, na. Immer langsam. Ein wenig mehr Ruhe ist besser für die Gesundheit.“

„Du verschwendest deine Zeit mit solchen Spielchen“, sagte Luan darauf ernst. Er mochte durcheinander sein, ja, dennoch waren seine Emotionen stabiler als letztes Mal und dass er diesen Umstand Vane zu verdanken hatte, besserte seine Laune nicht gerade. „Sag mir einfach, was du willst.“

Spielen“, griff der Doppelgänger von Ferris das Wort auf und breitete einladend die Arme aus. „Dieser Ort erscheint mir nicht würdig genug, um solch wichtige Einzelheiten zu besprechen. Deshalb lade ich dich hiermit in mein Refugium ein, wo wir uns unter vier Augen unterhalten können. Das letzte hast du ja bedauerlicherweise vernichtet.“

„Was ich jederzeit wieder tun könnte“, drohte Luan.

Vor diesem Gegner wollte er ganz sicher keine Schwäche zeigen. Selbstsicher war die Geißel schon mehr als genug und da Luan sich nicht mit dieser Alptraumgattung auskannte, konnte er nicht mal einschätzen, ob das auch berechtigt war. Sein Kontakt zur Atem-Prägung war zwar wieder gestört und nur schwer zu nutzen, doch das musste ja niemand außer Vane und Luan wissen. Ein wenig Druck in der Hinterhand zu haben war besser, als gar nichts gegen den anderen nutzen zu können.

Unbeeindruckt hob der Feind nur die Schultern. „Vielleicht gefällt dir die Optik diesmal besser.“

Das bezweifelte Luan doch stark, besonders falls das Refugium hier im Keller des Hauses gemeint war. Dort hatte es nichts außer Schwärze gegeben und er glaubte kaum, jetzt etwas anderes vorzufinden. Wann sollte die Geißel Zeit gehabt haben, ihr Versteck auszubauen? An der Optik war er aber ohnehin kein Stück interessiert.

„Woher weiß ich, dass du mich nicht in eine Falle locken willst?“, gab Luan zu bedenken.

„Was denn, vertraust du mir etwa nicht?“

„Das liegt ja wohl auf der Hand.“

„Wie gemein.“ Offensichtlich hatte die Geißel ihren Spaß an Luans Verhalten, da sie über diese Offenheit nur lachen konnte. „Reicht dir Ferris’ Sicherheit als Grund etwa noch nicht aus? Schön, wie wäre es damit: Ich werde dir außerdem ein paar wirklich gute Antworten geben, die dir helfen werden, nicht mehr so durcheinander zu sein. Klingt das gut?“

Ein paar gute Antworten klangen in der Tat nicht schlecht, aber Luan hatte allen Grund, weiterhin misstrauisch zu bleiben. Vane hatte gesagt, Geißeln waren keine Legende und langsam wäre es kindisch von Luan, weiterhin daran zu zweifeln, gerade eine vor sich zu haben. Er musste also äußerst vorsichtig sein, besonders weil er nicht viel über diese Gattung wusste. Umsonst standen sie in der Hierarchie allerdings bestimmt nicht ganz oben.

„Mir bleibt kaum eine andere Wahl“, stimmte Luan zu.

„Sehr schön, dann treffen wir uns unten. Ich bin es auch schon echt leid, hier den Ferris zu mimen“, gab die Geißel sich erfreut und blickte an Luan vorbei zu Mara, sprach aber weiter mit ihm. „Denk daran, unter vier Augen. Das wird nicht nur ein wichtiges, sondern auch ein persönliches Gespräch.“

Eine Weile hielt der Alptraum den Blickkontakt zu Mara, was Luan nicht gefiel. Etwas gab ihm das Gefühl, dass er versuchte in ihren Geist einzudringen, weshalb er einen Schritt zur Seite machte, um dem Feind endgültig die Sicht auf sie zu versperren. Das wurde von diesem aber nur mit einem Lächeln hingenommen, ehe sein Körper plötzlich absackte und im Boden zu versinken begann. Dunkle Schatten hatten sich auf diesem ausgebreitet, wie ein neuer Teppich und ihr unnatürlicher Verlauf verriet Luan, dass dieses Haus nicht mehr sicher war.

„Lass mich nicht zu lange warten, Luan. Bei Verabredungen bin ich kein Freund mehr von Ruhe.“

Als die Geißel vollständig von den Schatten auf dem Boden verschluckt worden war, wechselte Luan das Buch in die linke Hand und griff mit der anderen in seine Manteltasche, aus der er die Taschenuhr hervorholte. Zügig legte er sie sich um den Hals und seine Sicht erweiterte sich auf Aureuph, was er schnell bereute. Momentan flimmerte die hellblaue Ebene so stark, dass er heftig blinzeln musste und sich die Augen rieb.

Etwas war mit diesem Haus geschehen und es sah nicht gut aus. Sämtliche Flächen, die von dem Hellblau ausgekleidet wurden, zitterten, wodurch viele kleinere Wellenbewegungen stattfanden. So unruhig hatte Luan diese Sichtebene noch nie erlebt und da dieses Flimmern zu sehr in den Augen schmerzte, musste er die Taschenuhr wieder abnehmen. Sah fast danach aus, als hätte die Geißel es geschafft, etwas an Aureuph selbst zu verändern. Genau konnte er es nicht sagen.

„Ich muss zu ihm runter“, brach er die Stille, bevor sie sich richtig entfalten konnte, und drehte sich zu Mara. Ihre Anspannung hatte sich noch nicht gelöst. „Alles in Ordnung?“

Nervös schüttelte sie den Kopf. „Ich habe Angst. Diese Aura ... sie kam mir bekannt vor.“

Eigentlich sollte er besser sofort in den Keller runtergehen, zu dem Refugium, statt vorher noch eine Unterhaltung zu führen. So konnte er Mara aber doch nicht zurücklassen, schon alleine weil er nicht wusste, was in diesem Haus alles passieren konnte, wenn Aureuph so unruhig war. Drei Leute waren bereits verschwunden und zu Geiseln geworden, sofern an dieser Aussage etwas dran war. Am besten sollte er das Gebäude untersuchen, bevor er in den Keller ging.

„An diesem Tag“, murmelte Mara weiter vor sich hin. „Er war hier.“

„Wie meinst du das?“

„Ich erinnere mich nicht genau.“ Sie legte sich eine Hand an die Stirn und schloss die Augen. „Aber es ist irgendetwas passiert und danach ... bin ich bei dir wieder aufgewacht.“

Demnach könnte die Geißel für den Alptraum verantwortlich gewesen sein, wegen dem Mara so eine weite Strecke schlafgewandelt war. Wozu hatte sie das getan? Zumindest wäre damit auch erklärt, wieso Mara ihm bei ihrem ersten, gemeinsamen Besuch im Buchladen so vorgekommen war, als würde sie etwas Schlimmes hier erwarten.

Also besaß sie tatsächlich eine Verbindung zu dem Chaos, wie er vermutet hatte. Nur ihre genaue Rolle war ihm noch unklar, vermutlich war sie doch nichts weiter als ein Opfer.

„Warte mal“, unterbrach er seine eigenen Gedanken. „Du warst als Sakromahr von einem Alptraum besessen?“

Bernadette hatte wahrlich nicht übertrieben, Mara war in jeder Hinsicht etwas Besonderes. Darauf konnten sie jetzt aber nicht genauer eingehen und Mara machte auch nicht den Eindruck, sich dafür ausreichend konzentrieren zu können.

„Wie auch immer, du solltest besser nicht länger hier im Haus bleiben. Ich könnte jemanden anrufen, der dich abholt und ins Hotel bringt. Dort wäre es sicherer“, schlug er vor. „Sobald hier alles erledigt ist, komme ich nach und dann kommen wir hoffentlich mal dazu in Ruhe weiterzureden.“

„Nein!“, widersprach sie und rutschte auf dem Bett zurück zur Mitte, näher zur Kante hin. „Ich warte hier auf dich!“

Er hielt inne, bis er schließlich nickte. „Wie du willst.“

Wahrscheinlich lag es an ihrer Bestimmung, dass sie den Drang dazu hatte, möglichst in seiner Nähe zu bleiben. Gut wäre es nicht, einfach nachzugeben und sie hier warten zu lassen, doch Luan wollte es ihr nicht unnötig schwerer machen. Da alles so oder so schon kompliziert war, konnte es kaum noch schlimmer werden und deshalb löste er sich noch ein wenig mehr von den Vorschriften, indem er ihr das Buch reichte, das er noch nicht lange sichergestellt hatte.

„Hier, wenn du das bei dir hast, komme ich auf jeden Fall zurück.“

Mara betrachtete das Buch ungläubig und nahm es zögerlich entgegen. Vermutlich gab es nichts mehr, was es ihr bieten könnte, da sie das Kapitel über Sakromahre enttäuscht haben musste, und doch drückte sie es an sich, als wäre es immer noch einer ihrer größten Schätze. Etwas anderes gab es vielleicht nicht, an das sie sich sonst klammern könnte.

„Danke“, gab sie leise von sich.

Mehr gab es an der Stelle nicht zu sagen, zumal ihm nichts eingefallen wäre, außer nochmal danach zu fragen, wer sie erträumt hatte und das kam ihm nicht wie ein guter Zeitpunkt dafür vor. Außerdem musste er auch zu der Geißel, also wandte er sich vom Bett ab und ging Richtung Tür. Kurz bevor er sie hinter sich wieder schließen konnte, ertönte noch einmal Maras Stimme aus dem Zimmer.

„Luan?“

„Ja?“, erwiderte er knapp und blickte vom Flur aus in den Raum hinein.

In ihren Augen schimmerte Unsicherheit und sie senkte den Kopf, als sie weitersprach. „Ich bin der Sakromahr von Estera.“

In der ersten Sekunde begriff Luan gar nicht, was sie da gerade gesagt hatte. Diese Aussage kam für ihn so unerwartet, dass er einige Zeit benötigte, bis er eine erste Reaktion zeigte und die bestand daraus, Mara mit großen Augen anzustarren. Gedanklich hatte er sich schon auf das Treffen im Refugium vorbereitet und jetzt richtete sich all seine Aufmerksamkeit nur auf diese Worte.

Der Sakromahr von Estera.

„Aber wie-“, begann er, wurde aber von Mara unterbrochen.

„Wie das gehen konnte, weiß ich nicht“, antwortete sie von selbst. „Ich weiß nur, dass ich dir etwas in ihrem Namen sagen muss. Komm also auf jeden Fall wieder.“

Es war nicht leicht, ausgerechnet jetzt auf weitere Erklärungen warten zu müssen, doch ihm war selbst klar, dass er keine Zeit hatte. „Das werde ich.“

Estera hatte einen Sakromahr erschaffen. Wie ein Mantra schwirrte ihm diese Information nun im Kopf herum und brachte zum ersten Mal seit langem angenehme Gefühle mit sich. Zum Glück war die Atemhypnose brüchig, sonst wäre er sicher nicht dazu fähig gewesen, überhaupt etwas dabei zu empfinden. Maras Existenz bedeutete doch, dass Estera noch leben musste. Irgendwo.

Estera lebt noch.

Eine Erkenntnis, die ihn erst recht motivierte, sich von dieser Geißel nicht einschüchtern oder gar kleinkriegen zu lassen. Könnte es sein, dass Mara es ihm deshalb gerade jetzt so unvermittelt gesagt hatte? Die Art, wie sie das Buch an sich drückte, bestätigte seine Vermutung.

„Danke“, sagte er nun selbst ruhig. „Ich komme bald zurück.“

Nach diesen Worten schloss er die Tür, ohne eine weitere Reaktion von ihr abzuwarten und fing damit an, das Haus grob zu durchsuchen. Von Ferris, Vane und Bernadette fehlte tatsächlich jede Spur, also blieb ihm letztendlich nur der Gang in den Keller, wo das Regal noch genau so stand, wie er es zuletzt verschoben hatte. Direkt vor ihm lag der Eingang zum Refugium, aus dem Stille und Kälte nach außen drang, genau wie letztes Mal.

Hier legte Luan die Taschenuhr noch einmal um seinen Hals, weil er sie brauchte. Nicht, um ein Siegel lösen, denn das Refugium war noch frei zugänglich. Diesen Zugang noch einmal zu verschließen, hatte die Geißel wohl nicht als nötig erachtet. Umso besser, dann konnte Luan sofort das Versteck betreten und sich seinem Feind stellen. Das unangenehme Flimmern der hellblauen Ebene musste er dafür in Kauf nehmen.

Ohne zu zögern beschwor Luan seine Pistole und schnappte sie sich aus der Luft. Hierbei handelte es sich um eine Art von Alptraum, die er nicht kannte und somit wäre ein Kampf eigentlich nicht empfehlenswert. Sich deswegen einfach auf das Spiel dieser Geißel einzulassen, erschien ihm aber ebenso unklug und daher war es im Grunde egal, auf welche Weise er diese Begegnung handhaben würde.

Jemand, der sich die Mühe machte, Geiseln zu nehmen, wollte unbedingt etwas damit erreichen. Selbst wenn Luan bei dem folgenden Kampf hoffnungslos unterlegen sein würde, bräuchte er sich also keine Sorgen zu machen. Hierbei könnte er die ersten, hilfreichen Details bezüglich Geißeln sammeln, und er war entschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen. Möglicherweise beflügelte ihn auch nur der Gedanke, dass Estera noch leben könnte.

„Du willst also spielen“, hielt Luan für sich fest und verstärkte den Griff um seine Pistole. „Also spielen wir.“

Mit erhobener Waffe sprang er in den schwarzen Wirbel hinein und eröffnete drinnen sofort das Feuer.

Ich will leben!

Dunkelblaue Lichter jagten durch die Dunkelheit und zogen auf ihrem Weg feine Farblinien hinter sich her, die nach nicht mal einer Sekunde schon wieder restlos verblassten. Lediglich die leuchtenden Energiekugeln blieben bestehen und schossen geradewegs auf ihre Ziele zu, bei denen es sich jeweils um dürre, unmenschlich lange Arme handelte. Scheinbar unzählige von ihnen hatten sich ineinander zu einer einzigen Raupe verknotet, deren Füße aus den Fingern von Händen bestanden.

Zwar trafen die Energiekugeln allesamt ins Schwarze und sorgten dafür, dass sich einige Arme in weißen Traumsand auflösten, aber unter ihnen kamen nur jedes Mal weitere zum Vorschein. Es könnte tausende Schüsse benötigen, bis sich irgendwann endlich ein richtiges Loch durch diesen Körper zeigen würde. Noch dazu war dieses raupenähnliche Wesen sehr flink und sauste geschwind durch die Luft, was es schwierig machte, ein und dieselbe Stelle erneut zu erwischen.

„Scheiße“, zischte Ferris leise für sich.

Schwerelos flog er ebenfalls hoch oben über dem Boden herum, der schon längst nicht mehr zu sehen war. Unter ihm starrte nur noch ein pechschwarzer Schlund zurück und auch von den grauen Steinwänden fehlte hier jede Spur. Mit jedem Meter waren die Risse in ihnen größer geworden, bis das Gestein irgendwann einfach geendet hatte, durch einen sauberen Schnitt. Das sah beinahe so aus, als hätte Ferris einen Bereich verlassen und wäre in den nächsten Abschnitt vorgedrungen.

In diesem gab es auch mehrere Holztüren, doch anders als unten wurden sie nicht von rostigen Nägeln durchbohrt, sondern sie schwebten regungslos in unterschiedlichen Positionen an einer Stelle, umgeben von einer scheinbar endlos erscheinenden Schwärze. Dank seiner Taschenuhr war für Ferris jedoch in seiner erweiterten Sicht alles in hellblau ausgekleidet und das gleichmäßige Ticken sorgte dafür, dass die Stille ihn nicht erdrückte.

Unten hatte es für ihn keinen anderen Ausweg gegeben, zumindest sagte Ferris sich das, um sich diesem Wesen stellen zu können und seinen Mut zurückzugewinnen. Angst wäre hier fatal. Nach wie vor war er entschlossen, es seiner Geißel nicht so leicht zu machen und er dachte auch an Luan. Also ignorierte er den unangenehmen Schauer, der ihn beim Anblick dieses Feindes erfasste, und versuchte sich zu konzentrieren. Luan wäre sicher stolz auf ihn.

Er war dem bestialischen Grollen gefolgt, das von hier gekommen war und fand letztendlich diese Form aus Armen und Händen vor, die ziellos ihre Bahnen flog. Anscheinend beachtete das Wesen ihn nicht mal und flog weiter durch die Türen. Diese waren weitaus größer als gewöhnlich, vermutlich damit diese dicke, große Raupe durch sie hindurch passte. Außerdem war sie unglaublich lang und dadurch mit mehreren Türen auf einmal verbunden, wie ein Band. Nicht mal den Kopf hatte Ferris bis jetzt entdecken können, sollte es denn einen geben.

Wenn Luan doch nur hier wäre ...

Bestimmt könnte er besser analysieren, wie man diese Welt zerstörte, falls es sich hierbei überhaupt um eine richtige Schöpfer-Welt handelte, die wohl auch mit Schall verbunden sein musste. Jetzt gerade herrschte zwar Stille, aber das Grollen vor einer Weile hätte sonst nicht hier ertönen können. Irgendwie musste Ferris das Herzstück finden.

Da er Traumzeit sparen wollte, schwebte er zu einer geschlossenen Tür rüber und stellte sich auf sie – sofort verblasste die dunkelblaue fließende Aura vorerst, die zuvor seinen Körper eingehüllt hatte. Ihm war schon aufgefallen, dass hinter den Türen lauter Spiegel verborgen lagen, durch die sich die Raupe irgendwie fortbewegte. Deshalb waren von ihrem Körper auch überall Teile zu sehen, nur von einem Anfang und dem Ende fehlte jede Spur. Vorerst versuchte Ferris weiterhin, das Ding mit seinen Kugeln abzuschießen. Immerhin führten laut Luan bewegliche Formen in Welten von Alpträumen oft zum Herzstück, aufgrund irgendeiner Symbolik.

Konzentriert zielte Ferris noch einmal und feuerte ein weiteres Mal Schüsse aus seiner Pistole ab. Blitzschnell fanden sie ihr Ziel und doch blieb dieses ebenfalls zu beweglich, weswegen die Kugeln völlig andere Arme trafen, woraus er sich aber nicht viel machte. Hauptsache er traf den Körper, von dem nur wieder ein wenig weißer Traumsand herab Richtung Boden rieselte. Ohne sich davon beirren zu lassen, bewegte die Raupe sich weiter.

„Mann, beachte mich doch mal!“, seufzte Ferris genervt.

Ihm war selbst bewusst, wie das klang. Gerade weil Energiekugeln in solchen Welten keinen physischen Schaden anrichteten, wurde er nicht bemerkt und das war eigentlich gut so. Ohne Luan wusste er aber nicht, wonach genau er Ausschau halten musste. Das Denken hatte stets er für sie beide übernommen und Ferris war besser darin zuzuschlagen. Luan war der Analytiker und Ferris der Schläger. Für eine ruhige Suche nach dem Herzstück hatte er zudem gar keine Zeit.

Erbärmlich.

Plötzlich musste er an die Worte dieser Geißel denken, wie sie sich über ihn lustig gemacht hatte. Wütend umklammerte er seine Pistole fester und knirschte mit den Zähnen. Ob sie Luan inzwischen schon längst die Spielregeln erklärte?

„Ach, scheiß drauf! Ich mache es auf meine Art, so wie immer!“

An dieser Raupe stimmte etwas nicht, darum behielt er sie als sein Primärziel im Blick. Umsonst fühlte er sich in ihrer Nähe sicher nicht unwohl und da die Arme sich auch zu Traumsand wandeln ließen, könnte dieses Gebilde an sich das Herzstück sein. Ein erstaunlich großes und ungewöhnliches, aber die Chance bestand durchaus.

Ferris löste eine Hand von der Waffe und das Ticken seiner Uhr wurde schlagartig lauter, weil er Gebrauch von seiner Traumzeit machte. Im nächsten Augenblick schleuderte er bereits mit flüssigen Bewegungen eine Wasserfontäne nach der anderen auf einige der Türen, die gerade von der Raupe benutzt wurden. Dort vereisten sie auf der Stelle, nur um eine Sekunde später auch schon mit einem lauten Klirren zu zersplittern und dadurch auch das Holz in Stücke zu reißen.

Zeitgleich erwachte aus dem Nichts abermals ein bestialisches Grollen zum Leben, das nicht nur sämtliche Türen in der Umgebung erzittern ließ. Auch sein Körper fing automatisch an zu zittern und ein kalter Schauer fuhr Ferris über den Rücken. Zwischen den funkelnden Eissplittern regneten auch Glasscherben von den Spiegeln herab, womit er einigen Teilen der Raupe ihren Weg abgeschnitten hatte, so wie es geplant war.

Panisch zappelten die voneinander gelösten Körperteile hilflos vor sich hin, verharrten jedoch schwebend in der Luft. Jetzt könnte Ferris sie mit einer gebündelten Energiekugel leicht auf einen Schlag erwischen und zielte bereits auf das erste Stück, doch ein Schuss blieb aus. Die ersten Scherben fielen an ihm vorbei, wodurch er sich in ihnen spiegelte. Ein seltsamer Druck entstand in seiner Brust.

Gerade, als er sich fragen wollte, was das zu bedeuten hatte, hörte er wieder etwas. Diesmal war es eine Stimme. Sie drang direkt in seinen Kopf hinein, während sein Blick sich wie versteinert auf seine Spiegelungen in den Scherben fixierte, die nach und nach allesamt vor ihm zum Stehen kamen, statt weiter hinabzufallen.

Blaue Haare sind unnatürlich, deswegen schauen dich auch alle so komisch an. Du musst sie dir färben.

Ich helfe dir beim Lernen, damit du gute Noten bekommst. Das ist sehr wichtig, also hör auf zu spielen.

Nein, such dir einen anständigen Job. Du willst doch nicht wieder komisch angeschaut werden, oder?

Muss man dir eigentlich alles sagen? Du bist so ein hoffnungsloser Fall, Ferris. Was würdest du ohne mich tun?

Cowen. Bei dieser Stimme handelte es sich um Cowen. Es waren Erinnerungen, die Ferris übermannten und seine Gefühle in einen Abgrund stoßen wollten. So weit durfte er es nicht kommen lassen. Mühevoll riss er seinen Blick von den Spiegelungen los und wechselte mit dem Lauf sein Ziel, um stattdessen die Scherben ins Visier zu nehmen. Hastig feuerte er mehrere Energiekugeln ab, doch sie wurden einfach von dem Glas verschluckt, ohne Schaden anzurichten.

Inzwischen schwebten die Glasscherben lauernd vor ihm und schienen langsam näherzukommen, was ihn zurückweichen ließ. Auf die Raupe konnte er gar nicht mehr achten, dafür machten ihn diese zerbrochenen Spiegel zu nervös. Die einzelnen Holzsplitter der Türen waren längst unaufhaltsam zu Boden gefallen.

„Dann eben anders“, murmelte er angespannt.

Genau wie vorhin wollte er die Scherben nochmal mit Wasser zu Eis erstarren und in noch kleinere Teile zersplittern lassen. Bevor er aber dazu kam, stieß ihn plötzlich etwas grob von der Tür hinunter, die er als Plattform genutzt hatte. Erst war er zu erschrocken, konnte sich aber nach wenigen Metern ausreichend fangen, um dank seiner Schöpfer-Prägung und Traumzeit wieder problemlos gegen die Schwerkraft anzukämpfen.

Über ihm hatten sich die verknoteten Arme von den Teilen, die er mit der Zerstörung der Türen aus ihrem Gesamtbild getrennt hatte, aus ihrer Formation als Raupe gelöst und huschten einzeln wild hin und her. Offenbar war er von diesen gerade heruntergestoßen worden. Aus einiger Entfernung betrachtet sah es aus wie lauter Bindfäden, die erst ziellos herumflogen, bis sie sich daran zu entsinnen schienen, was sie wollten: Die Scherben von den Spiegeln.

Zügig schnappten die Hände sich eine nach der anderen jeweils ein Bruchstück und fingen an, die Spiegel wieder zusammenzusetzen. Nicht mit Ferris. Auch er flog ihnen eilig entgegen und schoss dabei neue Energiekugeln ab, mit denen er die Arme vernichten wollte. Nur ließen die sich nicht mehr so leicht treffen und wehrten sich, indem sie jede Kugel mit einer simplen Handbewegung einfach von sich stießen. Danach sammelten sie weiter Scherben ein, als wäre nichts gewesen.

Irritiert hielt Ferris inne. „Was? Das soll wohl ein Scherz sein?“

Er wollte nicht glauben, dass seine Energiekugeln auf einmal nichts mehr bewirken konnten und setzte für einen weiteren Schuss an, sammelte all seine Konzentration zusammen. Schließlich feuerte er eine einzige, große Kugel ab, deren Licht die gesamte Umgebung in ein angenehm kühles Dunkelblau tauchte. Mit ihrem Ausmaß müsste sie mehrere Arme auf einmal erwischen – dachte er.

Anscheinend erkannten die Arme die Gefahr, flogen jedoch als Schwarm geradewegs auf das Geschoss zu und tauchten furchtlos in dieses ein. Bloß einen Atemzug später zerplatzte die Energiekugel auch schon geräuschlos und das dunkelblaue Leuchten verlor seinen Atem, somit kehrte Dunkelheit zurück. Fassungslos musste Ferris mit ansehen, wie die Arme ihn daraufhin weiter ignorierten und lieber ihrer Arbeit folgten.

Bald war der erste Spiegel aus den Einzelteilen zusammengesetzt und die Risse wuchsen wie durch Zauberei zusammen, um wie zuvor eine Einheit zu bilden. Aus der Schwärze unter ihm rasten einige Holzsplitter empor, die ihren alten Platz um dieses Glas herum wieder einnehmen wollten. Typisch Schöpfer-Welt: Hier ließ sich nichts so leicht zerstören, solange das Herzstück noch lebte und das konnte nur diese Raupe sein.

Wie sollte er sie nur komplett zerstören, wenn seine Energie nicht ausreichte? In der Ferne zogen andere Teile des ellenlangen Körpers noch seelenruhig ihre Bahnen durch die restlichen Türen, zwischendurch tauchten hier und da nur mal ein paar Lücken auf. Bestimmt könnte es ein Kinderspiel sein, wäre seine Energie einfach nur wirkungsvoller. Lief das hier letztendlich genauso ab, wie bei dem anderen Alptraum im Wald? Dort hatte erst Luans Energiekugel etwas bewirkt.

Vielleicht hing es von der Intensität der Helligkeit ab, wie stark oder schwach ein Traumbrecher war. Könnte doch möglich sein, so genau wusste es ja niemand. War das Blau hell, besaß die Energie womöglich eine größere Wirkung als ein dunkler Farbton, so wie bei ihm. Dunkelblau kennzeichnete ihn garantiert als Schwächling aus.

Vielleicht bin ich wirklich nur erbärmlich ...

Wie auf Stichwort drang ein weiteres Mal Cowens Stimme in seinen Kopf ein und sagte ihm, dass er alleine völlig unfähig war. Nutzlos und hoffnungslos. In seinem alten Leben kam er nicht ohne Cowen zurecht und jetzt war es Luan, den er brauchte, wenn er erfolgreich sein wollte. Kopfschüttelnd versuchte Ferris diese Stimme loszuwerden, was natürlich nichts brachte.

Um ihn herum hatten sich Glasscherben versammelt, die noch nicht von den Händen eingesammelt worden waren und kreisten ihn ein. Lauernd, wie gerade eben. Seine Spiegelungen starrten ihn von allen Seiten her verzweifelt an, egal wie klein oder verzerrt sie aufgrund von Rissen auch aussahen. Was wollten diese verdammten Spiegel nur von ihm?

„Verschwindet!“, stieß Ferris laut aus und wollte zurückweichen, aber das war zwecklos.

Allmählich fing Cowens Stimme an einzelne Sätze zu wiederholen und sich zu überlagern, wodurch der Eindruck entstand, ein ganzer Chor redete auf ihn ein. Mitten unter ihnen kristallisierte sich allerdings eine andere heraus. Eine Stimme, deren Besitzer Ferris selbst war und ihn an einen Zeitpunkt aus seinem Leben erinnerte, kurz bevor ...

Ohne dich hat es keinen Sinn“, hörte er sich selbst leblos sagen. „Ich hasse dich, aber ohne dich komme ich nicht zurecht. Wie soll ich ohne dich leben?

„Nein.“

Ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll.

„Nein ...“

Oder was ich jetzt noch erreichen soll.

„Das ist ...“

Wozu bin ich überhaupt noch da?

Lange her. Das war lange her und spielte keine Rolle mehr. Wieso schmerzte es dann so sehr in der Brust? Ein kaltes Gefühl breitete sich dort aus und das Ticken seiner Uhr verlor ihren gleichmäßigen Klang, wurde kraftlos und hörte sich kränklich an. Selbst als die Hände sich nach einer Weile auch die Scherben holten, von denen Ferris bedrängt wurde, legte seine bedrückte Stimmung sich nicht. Was, wenn doch alles sinnlos war?

Unaufhaltsam tickte seine Uhr weiter und weiter, obwohl sie sich längst selbst abschalten sollte, so schlecht wie er sich fühlte. Allerdings lebte in ihm auch gerade keine Angst. Nein, es fühlte sich so wie damals an, am Ende seines Lebens. Bevor er starb und als Traumbrecher zurückkam.

In seiner Abwesenheit bemerkte er nicht, wie letztendlich einige der Hände auch nach ihm griffen und sie ihn mit sich zogen, gefährlich nahe zu den anderen, die sich zu einem neuen Körperteil der Raupe zusammenknoteten. Wollten sie ihn etwa mit einflechten? Irgendwie war ihm das ziemlich egal, was sollte er schon dagegen tun? Erschöpft schloss er die Augen.

Es hat keinen Sinn. Luan hat nicht mal gemerkt, dass ich weg bin.

Die ersten Arme schlangen sich schon um seinen Körper, als er in der Nähe eine Stimme hörte, deren Ursprung weder bei Cowen lag noch bei ihm selbst. Sie hatte einen unschuldigen, naiven Klang. Das war ...

„Luan?“

Träge öffnete er die Augen und fand sich mitten in dem Geflecht aus Armen wieder, das sich noch richtig zusammenschließen musste. Vor ihm, einige Meter entfernt, schwebte eine Tür von normaler Größe, eingehüllt von einem schwachen, hellblauen Leuchten. Sie wirkte zwischen den anderen fehl am Platze, dabei gehörte sie von der Art her doch dazu. Von dort drang immer noch Luans Stimme leise zu ihm, aus einer Zeit, als er noch anders war.

„Luan.“

Ferris wollte zu der Tür, aber die Hände hielten ihn fest und die ersten Arme nahmen ihm die Sicht, weil sie sich über ihn legten. Erst das machte ihm bewusst, was hier geschah. In seinem Inneren breitete sich der Wunsch aus, Luans Stimme zu folgen und dafür musste er hier raus. In seiner Hand hielt er noch die Pistole fest umklammert, also hatte er doch noch nicht aufgegeben.

„Lasst mich hier aus!“

Noch hörte sich das Ticken seiner Uhr kränklich an, aber sie half ihm dennoch dabei, einen Schild um sich herum zu schaffen, mit dem er diese aufdringlichen Körperteile wegdrückte. Auch die, die ihn noch festhielten, mussten irgendwann loslassen, als der Druck zu mächtig wurde. Schließlich weitete sich der Schild dann explosionsartig aus und sorgte dafür, dass dieses Gebilde aus Armen auseinander gerissen wurde, ehe sie sich vollständig zusammenschließen konnten.

Mit seiner wiedererlangten Freiheit flog Ferris sofort zielgerichtet auf die Tür zu und wagte nicht mal zu blinzeln, damit sie auch ja nicht verschwand. Dort angekommen, drückte er hastig die Klinke nach unten und riss die Tür auf. Dahinter lag noch ein Spiegel, durch den er nicht sich selbst sehen konnte, dafür aber Luan und die Geißel – sie sah nun etwas anders aus. Die beiden standen sich gegenüber und waren in ein Gespräch vertieft, doch es drangen nur Stimmen aus der Vergangenheit in ihn ein.

Du musst dich nicht verstellen, um mein Freund zu sein. Ich mag dich so, wie du bist.

Ansprüche? Warum sollte ich Ansprüche haben, damit du mir gefällst?

Fang doch einfach ein neues Leben an, dann brauchst du die alten Ketten nicht mehr.

Zögerlich legte Ferris eine Hand auf das Glas. In diesem Moment zuckte Luan kurz zusammen und blickte sich um. Ob er ihn gespürt hatte? Kaum hatte er sich in Gedanken diese Frage gestellt, zog Luan das Bonbon aus seiner Manteltasche, das er von Ferris im Hotel bekommen hatte. Also dachte er auch jetzt noch an ihn.

Hinter Ferris bauten sich die Arme, von denen er sich befreit hatte, derweil zu einer bedrohlichen Wand auf und streckten die Hände nach ihm aus. Dem schenkte Ferris keine Beachtung, trotz der Tatsache, dass sie in ihm nach wie vor einen unangenehmen Schauer auslösten, den er nun wenigstens verstehen konnte. Er fing an, die Symbolik hinter ihnen zu verstehen.

„Ich halte noch immer an Cowen fest und bin an ihn gekettet“, sagte er für sich und hielt den Blick auf den Spiegel gerichtet, in dem er Luan sehen konnte. „Es ist okay, wenn ich nicht versuche daran zu denken, aber sobald ich mich wehre, merke ich, dass ich einfach nicht von ihm loskomme.“

Vorsichtig lehnte Ferris seine Stirn gegen das Glas vor sich, das eine wohltuende Kälte verströmte – anders als die in seiner Brust. Wenn das dort draußen seine Geißel war, saß er hier vielleicht auch in seinem Alptraum fest. Oder zumindest in einer Welt, wo man mit sich selbst konfrontiert wurde. Demnach bestand noch die Möglichkeit, dieses Spiel zu gewinnen.

Entschlossen fuhr er herum und starrte die Arme finster an. „Ich glaube, nein, ich weiß, dass ich dich nicht mehr brauche!“

Ein wenig unsicher wichen die Arme minimal zurück, als er sie so direkt ansprach. Eigentlich richtete er diese Worte mehr an Cowen, aber im Grunde auch zu sich selbst und dafür stand er dem richtigen Gesprächspartner gegenüber, der dem nichts entgegensetzen konnte. Immerhin konnten sie nur über die Spiegel sprechen und darin lag die Vergangenheit verschlossen.

„Ich brauche deine Kontrolle und Vorschriften nicht mehr!“, fuhr er fort. „Ich laufe nicht mehr weg! All den Schmerz und den Kummer brauche ich nicht mehr. Ich bin jetzt anders als früher. Ich will leben!“

Tatsächlich wichen die Arme respektvoll ein weiteres Stück zurück, noch waren sie aber nicht bereit, sich gänzlich abzuwenden. Kein Wunder, denn Ferris wehrte sich gerade gegen sie und das konnten sie wohl kaum auf sich sitzen lassen. Instinktiv streckte er die Pistole nach oben und sie zersplitterte in seiner Hand zu vielen, dunkelblau glühenden Teilen, die sich hinter seinem Rücken kreisförmig anordneten. Dort schlossen sie sich zu einer neuen Gestalt zusammen: Eine Art Zahnrad, das sich an seiner Körpergröße anpasste und sich zu drehen begann.

„Ich muss nicht perfekt sein“, stellte er klar und atmete kurz durch. „Ich kann selbst bestimmen, was ich sein will.“

Ferris brauchte keinen König mehr, der über ihn bestimmte und ihn leitete. Solange es Luan gab, konnte er frei sein und war nicht alleine. Das waren keine Ketten mehr.

Aus dem Ticken seiner Uhr war ein lautes Orchester geworden, um das Zahnrad in seinem Rücken anzutreiben und ihn stärker zu machen. Ab jetzt konnte er seine Schöpfer-Prägung wesentlich effektiver nutzen als vorher, weil sie direkt mit seiner Energie verbunden war. Dieser Zustand kostete eine Menge Zeit und wurde in der Regel nur im Notfall eingesetzt oder aus Verzweiflung. Das hier war genau der passende Moment dafür.

Es benötigte nur eine lockere Handbewegung und auf einen Schlag zersprang jede einzelne Tür mit einem lauten Knall, aus denen jeweils bläulich schillernde Eiskristalle aufgeblüht waren. Somit war die Kriegserklärung offiziell und die einzelnen Teile der Raupe lösten sich restlos auf. Sie alle verströmten nun eine so spürbare Aggression, dass sich ein rötlicher Schimmer in der Atmosphäre bildete. Wütend stürzten sich hunderte, wahrscheinlich tausende Hände mitsamt ihren langen Armen auf ihn.

„Ihr wollt spielen? Könnt ihr haben, aber ich hab nicht ewig Zeit.“

Genau genommen hatte er gar keine, daher sollte das hier auch nur ein kurzes Spiel werden. Kurz, aber wirkungsvoll. Bloß eine weitere Handbewegung genügte und die Eiskristalle, deren abruptes Wachstum die Türen zerstört hatte, lösten sich rasch in feinen Staub auf. Dieser mischte sich zwischen den rötlichen Schimmer in der Atmosphäre und ließ sie binnen weniger Sekunden gefrieren. Auch alles, was sich in ihr aufhielt.

Mitten in ihren Bewegungen erstarrten die Arme nun selbst zu Eis, einer nach dem anderen, während Ferris sich von seiner eigenen Aura aus dunkelblauer Energie schützen ließ, mit der er auch die Tür hinter sich einschloss. Still lag das Gemälde eines kalten, schönen Schlafes vor ihm und wirkte derart zerbrechlich, dass schon der leiseste Laut es in sich zusammenfallen lassen könnte. Also schnippte Ferris mit den Fingern und löste genau die Zerstörung aus, die er sehen wollte.

Nahezu synchron zersprangen die vor Kälte erstarrten Feinde und zurück blieb nur weißer Traumsand, reichlich davon. Wie ein heiliger Regen fiel er hinab in die Schwärze und ließ auch hier oben nichts weiter als eine weite Dunkelheit zurück, selbst der rötliche Schimmer verschwand. Wirklich alles hatte Ferris mit diesem Angriff erwischt, so großflächig konnte die Wirkung seiner Prägung sein. Einzig er selbst und die Tür, über die er Luan sehen konnte, waren noch übrig.

Zufrieden stemmte Ferris die Hände in die Hüften. „Tja, ich habe wohl gewonnen~.“

Lange hielt die Freude nicht an, denn ihm wurde schlagartig schwindelig und Schwäche überrumpelte seinen Körper. Deutlicher konnte er nicht daran erinnert werden, dass er soeben neben Zeit auch viel zu viel Energie verbraucht hatte. Sicher wäre Luan nun doch nicht stolz und eher wütend auf ihn, doch das war es Ferris wert gewesen. Dummerweise blieb diese Welt weiterhin existent, dafür hatte er einen wichtigen Kampf gewonnen. Oder?

Das Orchester aus seiner Uhr verstummte, als er den Sprungdeckel schloss und somit auch das Zahnrad wie üblich in einem grellen Lichtblitz verschwand. Am besten wagte Ferris erst mal keinen Blick auf die Zeit, die er verbraucht hatte, um sich nicht zu erschrecken. Wichtiger war immer noch, einen Ausgang zu finden – und nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Um noch schweben zu können, musste er die Zeit vorerst weiterlaufen lassen, aber es war nur noch ein leises, schwaches Ticken zu hören. Ferris drehte sich zurück zu der Tür, weil er Luan sehen wollte und hoffte, auf die Art Kraft tanken zu können. In seinem Inneren zog sich aber nur alles zusammen, kaum dass er sah, wie sein Freund soeben die Hand von der Geißel schüttelte. Was hatte das zu bedeuten? Zweifel überkamen ihn.

Du weißt doch, dass ich das nicht bin? Luan, weißt du es?

Aus den Tiefen der Dunkelheit war ein kaum vernehmbares Klirren zu hören. Metall. Es waren Ketten. Ein Echo, das ihn nur unterschwellig erreichte, sich aber langsam in seinen Geist fraß und die Zweifel nährte. Nein, Ferris hatte gewonnen. Jetzt sollte doch alles gut sein. Wäre da nur nicht dieses Bild von Luan und der Geißel ...

Auf einmal war ein Knacken zu hören. Nicht mal einen Herzschlag danach tauchten wie aus dem Nichts Risse in dem Spiegel auf, die sich wie ein kompliziertes Netz quer über das gesamte Glas zogen und keine Sicht mehr auf das Geschehen dahinter zuließen. Mitten in diesem Wirrwarr bildeten die kleinen Abgründe ein paar Worte, von denen Ferris förmlich angestarrt wurde. Vielmehr schienen sie direkt in ihn hinein zu flüstern:

Narr! Die Ketten sind noch da.

Aus einem Instinkt heraus wollte Ferris sich abwenden und abhauen, kam aber nur noch dazu, diesen Gedanken halbwegs zu spinnen. Splitter flogen ihm um die Ohren, als der Spiegel vor seinen Augen zerbrach und neue Hände kamen ihm entgegen. Sie packten sich seinen geschwächten Körper und rissen ihn mit sich durch die Tür, die sich selbstständig mit einem stummen Knall wieder schloss.

Das Ticken der Taschenuhr war nicht mehr zu hören.

Ich spiele mit

Hellblaue Energiekugeln, in die sich ein paar weiße Flecken gemischt hatten, sausten geschwind auf den Feind zu: Ferris’ Geißel.

Luan hatte bereits den Abzug seiner Pistole betätigt, noch bevor er mit dem ersten Fuß den Boden im Inneren des Refugiums betrat. Der Knall von jedem einzelnen Schuss dröhnte lauter als gewöhnlich in seinen Ohren und half ihm dabei, konzentriert seinen Plan im Vordergrund zu halten, statt sich von den Veränderungen ablenken zu lassen, die sich ihm boten. Irgendwie war es der Geißel tatsächlich gelungen, etwas an der Optik ihres Verstecks zu verbessern.

Für Luan gab es jetzt aber nur ein Ziel, das er fest mit den Augen fixierte und dafür vorerst alles andere außer Acht ließ. Auch ihr eigenes Aussehen hatte die Geißel innerhalb der kurzen Wartezeit geändert, vermutlich weil sie es wirklich leid war, so zu tun, als wäre sie Ferris. Daher trug sie die Haare wieder offen und die Augen glühten nun rot, womit sie die zuvor unterdrückte Bosheit unterstrichen, von der dieser Alptraum eigentlich in Massen erfüllt war. Anscheinend gab es für diesen gerade keinen Grund mehr, sie weiterhin zu verstecken. Davon ließ Luan sich diesmal nicht mehr so leicht beeindrucken.

Zielsicher flogen seine Energiekugeln auf den falschen Ferris zu, der für diese Angriffswelle nur ein amüsiertes Grinsen übrig hatte und mit einem simplen, schnellen Schritt zur Seite auswich. Es sah beinahe wie eine Teleportation aus, vielleicht war es auch eine. Immerhin bildete dieses Refugium einen Teil von seinem Schöpfer und dieser konnte hier drin alles tun, wonach ihm der Sinn stand. Auch davon wollte Luan sich nicht aufhalten lassen und feuerte noch mehr Schüsse ab, während er sich immer tiefer in diesen Ort wagte, der scheinbar von der Fläche her viel größer ausfiel als letztes Mal.

„Ach, Luan“, gab sein Gegenspieler gelangweilt von sich, ohne sein Grinsen abzulegen. Gleichzeitig wich er auch den neuen Kugeln mühelos mit schnellen Schritten aus, die für das menschliche Auge kaum erfasst werden konnten. „Bist du etwa auch schon so wild darauf mit mir zu spielen? Dabei müssen wir doch erst mal in Ruhe die Spielregeln klären, also warum entspannst du dich nicht und zeigst etwas mehr Klasse, Howler?“

Howler. Das galt für Traumbrecher als Beleidigung, besonders wenn es von Alpträumen kam, deshalb zog Luan missbilligend die Augenbrauen zusammen, sagte jedoch nichts dazu und suchte instinktiv Schutz hinter einer freistehenden Wand mitten im Raum, als der andere mit einem eigenen Angriff in Form einer dunklen Energiekugel konterte. Sie war um einiges größer als seine Schüsse, Luans gesamter Körper könnte von ihr verschluckt werden.

Seine schwarze Ablagerung kribbelte unruhig auf der Haut und er folgte der feindlichen Energiekugel kurz mit den Augen, nachdem sie neben der Wand an ihm vorbeirauschte. Einige Meter weiter zersprang sie mit einem unheilvollen Knistern und war verschwunden. Angespannt wagte Luan sich kurz darauf wieder aus seiner Deckung hervor, für weitere Schüsse, denen die Geißel wie gehabt auswich und hinterher erneut mit einem eigenen Angriff darauf reagierte. Noch eine dunkle Energiekugel, die direkt aus ihren Handflächen kam.

Rasch zog Luan sich hinter die Wand zurück und drückte sich mit dem Rücken dagegen. Knisternd flog auch diese Kugel seitlich an ihm vorbei, ohne zu treffen. Nachdenklich runzelte Luan die Stirn. Bestimmt könnte die Geißel seine Schüsse mit dieser konzentrierten Menge an negativer Energie ganz leicht verschlucken, solange er selbst nur kleinere Mengen abfeuerte, dennoch tat sie es nicht.

Könnte darauf hindeuten, dass sein Feind es zu vermeiden versuchte, mit der Energie eines Traumbrechers in Berührung zu kommen, weil sie ihm mindestens nicht behagte. Oder er interpretierte zu viel hinein, immerhin nahm die Geißel ihn nicht sonderlich ernst. Noch war Luan allerdings nicht fertig, er hatte erst angefangen.

„Ich meine es ernst“, warnte der andere und klang schon deutlich weniger amüsiert. „Auch meiner Geduld sind Grenzen gesetzt. Möchtest du etwa, dass ich euch alle doch schon hier und jetzt vernichte?“

Darauf fiel Luan nicht herein. Dieser Typ wollte etwas von ihm, sonst würde er sich gewiss nicht die Mühe machen, ihn zu einem ruhigen Gespräch zu bringen. Mit Geißeln mochte er sich zwar noch nicht auskennen, doch deswegen war er auch nicht blind. Also machte Luan sich keine Sorgen darum, mit der Geduld seines Gegners zu spielen. Sollte es zu riskant werden, merkte er das schon früh genug.

Flüchtig warf er einen Blick auf seinen rechten Arm, wo noch das leichte Gewicht der Klingen zu spüren war. Nach wie vor blieb der Kontakt zu ihnen gestört, so konnte er sie nicht richtig nutzen, aber vielleicht reichte ihre Anwesenheit schon aus, um etwas anderes zu versuchen. Entschlossen nickte er sich selbst zu und sprang aus der Deckung hervor, nur um zuerst nochmal neue Schüsse abzugeben.

Dafür hielt er die Pistole nun in der linken und hob die andere Hand Richtung Laufbahn der Kugeln, spürte dabei das leichte Ziehen von unsichtbaren Fäden an seinen Fingern, dank denen er die Geschosse in der Luft stoppen konnte, ehe sie bei ihrem Ziel ankamen oder wirkungslos ins Nichts verpuffen konnten. Zufrieden deutete Luan ein Lächeln an, da es zu funktionieren schien.

Durch die Atem-Prägung konnte er seine Energie führen, sobald sie mit der Waffe zu Kugeln geformt und nach draußen gelangt war. Nicht viel, dafür ungemein praktisch. Alle Energiekugeln rotierten abwartend in der Luft und verbanden sich binnen weniger Sekunden über feine Fäden zu einem großflächigen Netz, als Luan ihnen gedanklich den Befehl dazu gab.

Einzig eine Handbewegung genügte als Geste und das Fangnetz aus reiner Energie fiel von oben herab, konnte seine Beute jedoch nicht erwischen. Genau vor ihm erschien innerhalb eines Wimpernschlags via Teleportion die Geißel, packte fest die Hand, in der Luan seine Pistole hielt und versetzte ihm synchron einen kräftigen Schlag gegen die Taschenuhr, damit sie sich schloss.

Sofort lösten Waffe und Fangnetz sich in einem grellen Lichtblitz auf. Keuchend rang Luan nach Luft, da der Schlag sein Herz erwischt hatte und somit einen stechenden Schmerz in der Brust zur Folge hatte. Dieser Zustand stimmte den Täter spürbar zufrieden, was man auch der Tonlage seiner folgenden Worte entnehmen konnte.

„Selbst schuld. Ich sagte dir doch schon, dass ich keine Taschenuhren mag, und wie dumm muss man sein, um eine Geißel in ihrem eigenen Reich herauszufordern?“ Ein theatralisches Seufzen war zu hören. „Außerdem bin ich nicht so ahnungslos wie manch andere Alpträume. Ich weiß, wo eure Schwächen liegen. Da muss ich mich gleich wieder fragen, wie du und Ferris so lange in dieser Branche überleben konnten.“

Abrupt hielt Luan den Atem an und sein rechter Arm schnellte nach oben, zielte mit geballter Faust auf die Geißel vor sich, die sehr nahe war. „Nimm seinen Namen nicht in den Mund, Alptraum, sonst reiße ich dein Refugium in Stücke und dann sehen wir mal, wie deine Chancen gegen mich wirklich so stehen.“

Außerhalb ihres Verstecks nahmen die Kräfte von Alpträumen ab, weil sich die Realität nicht so leicht beeinflussen ließ. Sicher, für mächtige Alpträume, insbesondere Reinmahre, war das trotzdem kein Hindernis und doch blieb es eine Tatsache. Und die Reaktion der Geißel ließ darauf schließen, dass es auch bei ihr so sein könnte oder sie allgemein Respekt vor Atem-Prägungen hatte, denn sie löste sich sofort von Luan, um ein Stück zurückzuweichen.

Genervt hob sein Gegenüber die Hände. „Pass auf, Howler, entweder du benimmst dich jetzt langsam mal oder ich komme meiner Drohung nach.“

„Für einen Alptraum redest du ganz schön viel“, bemerkte Luan.

„Wir können auch meinetwegen die Zeit weiter mit kämpfen verschwenden und sparen uns das Gerede“, bot die Geißel an und zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Du weißt aber, dass du gegen mich aktuell noch keine Chance hast und während du hier so ein Theater machst, könnte Ferris’ Zeit ablaufen.“

Eine Weile musterte Luan noch aufmerksam seinen Feind, jede kleinste Regung von ihm, die Haltung und das bedrohliche Flackern in dessen roten Augen, in denen er erkennen konnte, was er wissen wollte. Deswegen gab es ab hier erst mal keinen Grund mehr, einen Kampf zu provozieren und zu riskieren, dass Ferris doch etwas geschah. Langsam ließ er den rechten Arm wieder sinken und griff nach der Taschenuhr, um sie vorsichtshalber unter dem Mantel verschwinden zu lassen, wo sie etwas sicherer sein sollte.

„Verstanden“, gab Luan nach. „Reden wir.“

„Geht doch. Warum nicht gleich so?“

Nickend drehte der andere ihm den Rücken zu, womit er vermutlich zur Schau stellen wollte, dass er keinen Funken Angst vor ihm hatte – und damit auch etwas anderes von sich preisgab, was Luan sich ebenfalls genau merken würde. Mit leichtfüßigen Schritten schwebte die Geißel förmlich zurück zum Mittelpunkt des Refugiums, wo sie auf ihren Besucher gewartet hatte, und winkte diesen dabei über die Schulter mit sich.

Widerwillig ging Luan dem nach und folgte dem Alptraum, wobei er seine Aufmerksamkeit nun auch auf die Umgebung lenkte. Schwärze war immer noch eine Menge vorhanden und kreiste sie von fast allen Seiten her ein, nur gab es aber einige Neuheiten zu entdecken. Zum Beispiel bestand der Boden hier jetzt gänzlich aus einer roten Flüssigkeit, wahrscheinlich sollte sie an Blut erinnern, was Luan als ziemlich geschmacklos empfand. Obwohl ihre Füße ein Stück über dieser Oberfläche schwebten, verursachte jeder Schritt von ihnen die üblichen Wellenbewegungen.

Von der Decke hingen dagegen massenhaft metallische Ketten wie Vorhänge herunter und sollten wohl die Dekoration darstellen, den eigentlichen Blickfang gaben jedoch die vielen menschengroßen Spiegel ab. Hinter einen von diesen hatte er sich vorhin Deckung gesucht. Kreisförmig schwebten sie um sie herum, verkleidet in einem edlen, dunklen Holzrahmen. Da sich weder Luan noch die Geißel in ihnen spiegelten, war anzunehmen, dass auch sie nur die Gegend ausschmücken sollten oder eine andere Funktion besaßen.

Im Zentrum des Refugiums blieb die Geißel stehen und wandte sich wieder Luan zu. „Also, was sagst du?“

„Wozu?“, wollte dieser wissen und blieb einige Schritte von ihr entfernt stehen.

„Zu der Optik meines Refugiums natürlich.“

„Nicht mein Stil.“

Ehrlich gesagt überraschte es Luan ein wenig, nicht wesentlich mehr unnötigen Schnickschnack hier vorzufinden. In Athamos sah das Zimmer von Ferris wie ein explodierter Lagerraum aus, so viele Dinge ließen sich dort finden. Das hier war angenehm überschaubar, aber eben nicht Luans Geschmack, wie er sich auch schon vorher gedacht hatte.

„Etwa zu simpel für dich?“, vermutete der Eigentümer des Refugiums.

„Nein, einfach nicht mein Stil.“

Seufzend griff die Geißel sich an die Stirn. „Hach, das enttäuscht mich. Das hatte ich nicht erwartet.“

Diesmal zuckte Luan gleichgültig mit den Schultern. „Wenn du Lob für deine Einrichtungskünste hören willst, musst du andere Menschen einladen.“

Menschen, hm?“

Aus irgendeinem Grund fand sein Gesprächspartner diese Aussage sichtlich amüsant, dabei war daran nichts falsch. Auch als Traumbrecher zählte Luan noch zu den Menschen, aber einige sahen das oft anders, selbst unter ihresgleichen. Egal, darum ging es hier nicht.

„Kommen wir endlich zum Thema“, forderte Luan ernst. „Wo sind Ferris, Vane und Bernadette?“

„Auf einmal also wieder so direkt und fixiert, ja? Aber gut, wir haben in der Tat genug Zeit verschwendet.“

Bevor der andere weitersprach, ließ er die Hand unter den schwarzen Anzug gleiten, den er trug. Falls das ein Versuch sein sollte, seriös zu wirken, versagte er dabei vollkommen. Bisher hatte Luan nicht mal auf seine Kleidung geachtet, weil seine boshafte Ausstrahlung viel mehr Aufmerksamkeit auf sich zog und diese Aufmachung zudem überhaupt nicht zu seinem Träger passte. Erst recht nicht in Verbindung mit der Zigarette, die Ferris’ Doppelgänger hervorholte.

„Erlaube mir, mich dir erst mal anständig vorzustellen“, begann die Geißel daraufhin und deutete halbherzig eine Verbeugung an. „Mein Name ist Verrell, hauptberuflich Geißel von Ferris und dein zukünftiger Spielpartner.“

„Du hast einen Namen?“, reagierte Luan verwundert.

Normalerweise besaßen Alpträume keine Namen. Sie bestanden ja auch nur aus einer Ansammlung von negativen Gefühlen mit Zerstörungsdrang, mehr nicht. Andererseits schienen Geißeln nicht umsonst menschliche Gestalt anzunehmen, so wie Verrell. Womöglich konnten Alpträume sich zu solchen Individuen entwickeln, sofern man sie ließ.

„Wie du soeben gehört hast, ja“, bestätigte ihm Verrell und nahm die Zigarette in den Mund, die sich ohne die Hilfe einer Feuerquelle von alleine entzündete.

Wenigstens waren sie hier nicht in einem engen Raum eingesperrt, wo der Rauch Luan wieder verrückt machen könnte, so wie letztes Mal. Mit Distanz war es auszuhalten, weshalb er auch gar nicht weiter darauf achtete, zumal Verrell seine Abneigung auch jetzt sicher völlig egal wäre und er trotz jeder Bitte seelenruhig weiterzurauchen plante.

„Na schön, Verrell“, sagte Luan verächtlich. „Beantworte meine Frage. Wo sind die anderen?“

„Sie sind ganz nah und doch weit entfernt.“

Solch eine Antwort stellte Luan alles andere als zufrieden. „Gehört das schon mit zu deinem Spiel, dass du dich nicht genauer ausdrückst?“

Verrell nahm einen langen Zug von der Zigarette und lächelte anschließend gespielt unschuldig. „Vielleicht~. Keine Bange, ich zeige dir schon noch, wo deine Freunde sind. Besprechen wir zuerst etwas anderes.“

Vane und Bernadette zählten nicht zu seinen Freunden, doch Luan sparte es sich, ihn darauf hinzuweisen. „Na schön, du sagtest, du wolltest spielen, richtig?“

„Richtig, vorher gebe ich dir aber erst wie versprochen ein paar Antworten, also Informationen, die dir helfen werden, alles etwas besser zu verstehen.“ Genüsslich zog Verrell erneut an der Zigarette und ließ den Blick dabei über die einzelnen Spiegel gleiten, von denen sie eingekreist wurden. „Wie ich dir schon bei unserer ersten Begegnung sagte, wurdet ihr meinetwegen hergeschickt. Was glaubst du, woher euer Hauptquartier davon wusste, wenn Geißeln angeblich nur eine Legende sein sollen?“

Gute Frage. Entweder wurden Traumbrecher ohne ein bestimmtes Ziel in Gebieten, in denen schon öfters Alpträume tätig waren, auf Streife geschickt oder bekamen gleich den Standort mitgeteilt, wo sich eines dieser Wesen aufhielt. Atanas war derjenige, der ihnen diese Anweisungen gab, und als Anführer ihrer Gruppe besaß er allein Zugriff auf eine einzigartige Prägung, mit der sich Alptraumaktivitäten aufspüren ließen.

Ob Atanas in dem Fall schon vorher gewusst hatte, dass sie es mit einer Geißel zu tun bekämen oder nur erahnen konnte, wie groß die Gefahr war? Warum sollte er es den Traumbrechern verschweigen, falls er darüber Bescheid wusste, wie viel Wahrheit hinter den Legenden steckte?

„Ich bin sicher, du denkst gerade genau das, worauf ich dir die Antwort geben kann“, fuhr Verrell fort. „Euer ach-so-geschätzter Anführer verschweigt euch bewusst eine wichtige Kleinigkeit: Ihr tragt alle eine Geißel in euch. Jeder einzelne.“

Automatisch griff Luan sich mit einer Hand an die Brust und spürte die harte Schicht der Ablagerung unter seiner Kleidung. In dieser einen Erinnerung von Ferris hatte Theeder auch schon davon gesprochen, dass er ebenfalls eine Geißel hätte. Irgendwie konnte Luan das noch nicht so recht glauben, denn ...

„Warum sollte unser Anführer uns das verschweigen?“

„Ganz einfach.“ Aufmerksam beobachtete Verrell Luans Reaktionen auf seine Worte, als wartete er nur darauf, ihn verzweifeln zu sehen. „Um sich selbst zu schützen. Es ist nämlich Atanas höchstpersönlich, der euch Geißeln einpflanzt.“

Zweifelnd schüttelte Luan den Kopf. „Gib dir keine Mühe, ich vertraue ihm. Du kannst mich nicht gegen ihn aufhetzen.“

„Oh, das habe ich gar nicht vor“, versicherte Verrell schmunzelnd. „Ich kann mich schon gut alleine gegen ihn auflehnen. Mir liegt nur etwas daran, dir die Wahrheit zu sagen.“

„Warum? Was hättest du denn davon?“

Der Zigarettenrauch, den Verrell auspustete, formte sich zu kleinen Ringen und sie weiteten sich aus, je höher sie stiegen. „So vergesslich, mein Guter? Ich wiederhole mich auch hier nochmal: Mein Wirt mag dich ... und ich finde es langweilig, wenn einem alles so leicht in den Schoß fällt.“

Statt nachzugeben, blieb Luan hartnäckig. „Du könntest mir viel erzählen. Was sollte es für einen Sinn haben, uns mit Geißeln zu bepflanzen?“

„Komm, ein bisschen mitdenken musst du schon“, bat Verrell, in einem spöttischen Ton. „Zum einen, damit Traumbrecher bei der Arbeit nicht mehr von anderen Alpträumen befallen werden können, so sind sie schon besetzt. Zum anderen sollen wir in euch heranwachsen.“

Leider klang der erste Teil doch nachvollziehbarer, als Luan sich gewünscht hätte. Ihm gefiel diese ganze Geschichte dennoch nicht und er sollte auch gar nicht erst in Erwägung ziehen, zu glauben, was Verrell sagte. Ein Alptraum würde mit Sicherheit alles tun, um Traumbrecher gegeneinander auszuspielen.

Unbeirrt sprach Verrell weiter, sichtlich zufrieden damit, schleichend einen inneren Konflikt bei Luan auszulösen. „Und wenn wir ausgewachsen sind, ist es unser Ziel, den Wirt zu brechen. Deshalb nennt man uns Geißel, wie quälen unser Opfer so lange, bis wir sie seelisch zerstört haben. Nicht wahr, Kian?“

Wie auf Stichwort reagierte die schwarze Schicht auf seiner Haut auf den Namen und erhitzte sich, begleitet von einem starken, unangenehmen Kribbeln. Unter seiner Handfläche war ein leichtes Stoßen zu spüren, weshalb Luan sie von seiner Brust nahm und unruhig durchatmete. War Kian der Name der Geißel, die in ihm lebte?

„Atanas würde nie absichtlich etwas tun, um uns zu schaden“, lenkte er sich selbst von diesem Kian ab und hielt an seiner Überzeugung fest.

„Bist du sicher? Es hat schon seinen Grund, warum er will, dass ihr gebrochen werdet.“

Abermals wollte Luan widersprechen, doch ihm blieben die Worte im Hals stecken, als der Hass schlagartig zunahm, der in Verrells Augen brannte. Es war für ihn eindeutig persönlich und nicht nur so daher gesagt, wie Luan es sich einreden wollte. All die Abscheu gegenüber Traumbrechern hatte bei Verrell einen Grund, den er am eigenen Leib erfahren haben musste und der ihn aufwühlte.

Darauf reagierte auch das Refugium, in dem die Kälte schwand und es wärmer wurde. In der Ferne war das Knistern von Feuer zu hören, das dem Ruf von Verrells Stimmung folgte.

„Finde diesen Grund heraus“, sprach dieser weiter. „Ich werde es dir nicht selbst sagen, das ist nämlich schon mal ein Punkt von den Spielregeln, die ich für dich vorbereitet habe.“

Für Luan war es nicht gerade das, was er sich unter gute Antworten vorstellte. Sehr viel klarer war er immer noch nicht und etwas in ihm wollte auch gar nicht mehr wissen. Sollte sich herausstellen, dass es der Wahrheit entsprach und Traumbrecher wirklich Geißeln in sich trugen, nur um von ihnen gebrochen zu werden, wollte er das nicht verstehen. Welcher Grund könnte es rechtfertigen derart mit den Seelen von Menschen umzugehen?

Atanas, bitte lass das nicht wahr sein.

Es nützte sicher nichts, Verrell auszufragen, solange dieser die Überhand besaß. Außerdem hatte Luan für sich schon längst eine Entscheidung getroffen, die es überflüssig werden ließ, sich länger als nötig mit erfolglosen Wortwechseln auseinanderzusetzen.

„Wozu dieses Getue mit dem Spiel?“, ging er stattdessen darauf ein. „Traumbrecher spielen keine solchen Spielchen, das ist ein ernster Job, und bei dir gibt es doch auch einen tieferen Hintergedanken, oder nicht?“

Unaufhaltsam rieselte die Asche von der Zigarette hinab in den roten See. Einen Moment lang starrten sie beide sich schweigend an. Das Gefühl von Hass brannte noch immer unaufhörlich in Verrells Augen, bis dieses Feuer von einem belustigten Funken ein wenig erstickt wurde.

„Mag sein, dass ich nicht nur spielen will, und mit der Zuneigung von meinem Wirt hat das auch nicht zwingend etwas zu tun. Da habe ich vielleicht etwas gelogen, aber wen kümmert das schon?“

Nach diesen Worten schnippte Verrell einmal mit der freien Hand, wodurch etwas in den einzelnen Spiegeln sichtbar wurde. Bilder von einem Ort, der wie eine bizarre Schattenseite dieses Buchladens wirkte. Kaum entdeckte Luan die erste bekannte Person in einem der Spiegel, trat er sofort näher an diesen heran und warf einen genaueren Blick hinein.

Dort waren Vane und Bernadette zu sehen, die sich gemeinsam durch diese Alptraumwelt bewegten und sich dabei unterhielten. Andere Spiegel zeigten noch einige verschiedene Blickwinkel von dieser Szene und Luan konnte nicht sagen, ob sie real waren oder Verrell ihm nur eine Illusion vorspielte. Beide machten aber den Eindruck, als wären sie nicht verletzt, nur Bernadette wirkte erschöpft.

„Ferris!“, entglitt es Luan und er hechtete zu einem anderen Spiegel hinüber, in dem sein Partner zu sehen war.

Im Gegensatz zu Vane und Bernadette kämpfte Ferris gerade gegen etwas, das wie eine Raupe aussah, an einem Ort mit zahlreichen schwebenden Türen. Dunkelblaue Kugeln wurden aus der Pistole abgefeuert, die er in den Händen hielt, und er arbeitete mit seiner Prägung gegen die Schwerkraft. Ferris verbrauchte offenbar mit jeder Sekunde Energie und Traumzeit, was Luan Sorgen bereitete. Zu allem Überfluss sah es auch noch so aus, als erreichte er mit seinen Angriffen nichts und er wusste, wie schnell Ferris zu frustrieren war.

Seltsamerweise zeigte ein weiterer Spiegel Ferris aber in einer gänzlich anderen Lage: Dort sah es so aus, als würden rostige, durch ihn geschlagene Nägel ihn an einem Block aus Holztüren halten, doch das täuschte. Sie lagen nur jeweils dicht an seinem Körper, der reglos und schlaff in dieser Position verharrte. Vor ihm waren in der Dunkelheit schwach die Bewegungen von Schatten auszumachen, die ihn beobachteten und nach ihm griffen.

„Ich habe mir erlaubt, schon mal mit meiner Arbeit als Geißel anzufangen und versuche Ferris zu brechen“, erklärte Verrell locker, da es für ihn nur nebensächlich zu sein schien – oder es verlangte ihn danach, Luan auf die Art noch mehr unter Druck zu setzen. „Du hast doch sicher nichts dagegen, oder?“

Luan fuhr herum und ging wieder auf Verrell zu. „Wo hast du sie hingebracht?“

Er sagte das mit so viel Nachdruck in der Stimme, dass der Befragte ein beeindrucktes Pfeifen hören ließ. „Du bekommst die Antwort am Ende, wenn ich dir die Bedingungen für unseren Kampf erklärt habe.“

„Du meinst deine Spielregeln?“, brummte er.

„Ganz recht~. Als Traumbrecher willst du mich doch vernichten, korrekt? Bevor du aber nicht meine Regeln befolgst, bist du mir nicht würdig genug dafür.“

„Dann lass hören“, drängte Luan ihn ungeduldig.

„Du solltest im Duden dringend mal das Wort Ruhe nachschlagen“, riet Verrell ihm und räusperte sich, um seinen folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Gut, also pass auf, hier sind die Regeln: Ich mische mich ab jetzt nicht mehr persönlich aktiv ein, solange du versuchst, alle Bedingungen zu erfüllen, die ich dir stelle. Es wird aber durchaus Hindernisse geben, die dir deine Arbeit erschweren werden.“

Damit hätte Luan ohnehin gerechnet, selbst wenn dieser Hinweis nicht genannt worden wäre, daher nickte er und blickte ihn fest an. „Weiter.“

„Meine Bedingungen sind leicht zu erfüllen, du musst nur einige Dinge herausfinden. Der eine Punkt wäre, wie gesagt, der Grund, warum Atanas will, dass ihr gebrochen werdet, und der andere, dass du in Erfahrung bringst, wie du mich vernichten kannst.“

Diese Aussage weckte Luans Misstrauen und er hob auch irritiert eine Augenbraue. „Bitte?“

„Ich bin viel mächtiger als du, und das ist, wie ich übrigens auch schon sagte, langweilig, wenn alles so leicht von der Hand geht.“ Nach diesen Worten tätschelte Verrell Luans Kopf, wie bei einem Kleinkind. „Etwas Gedächtnistraining könnte dir auch nicht schaden.“

Grob stieß er die Hand zur Seite. „Es wird mir ein Vergnügen sein, dich zu vernichten.“

Dank der kleinen Auseinandersetzung am Anfang hatte Luan auch schon eine gute Vorstellung davon, wie er das anstellen könnte. Seine Mundwinkel zuckten leicht bei diesem Gedanken, aber er riss sich zusammen und starrte Verrell nur weiterhin abwartend an, damit er fortfuhr. Ab und an schielte Luan hinüber zu den Spiegeln, die Ferris zeigten, in der Hoffnung, dass er noch wohlauf war, so weit es seine aktuelle Situation zuließ.

„Ich bin gerührt“, kommentierte Verrell seine letzten Worte grinsend. „Jedenfalls hast du ein Zeitlimit. Ich gebe dir höchstens drei Tage, um alles in Erfahrung zu bringen. Mehr benötigst du dafür auch nicht.“

„Sagt der, der mir andauernd etwas von Ruhe predigt?“

„Das ist mehr als genug Zeit“, betonte er nochmal. „Ich werde hier auf deine Rückkehr warten. Solltest du es nicht rechtzeitig schaffen, breche ich Ferris. Glaub mir, für mich ist das ein Kinderspiel, so schwach wie er ist.“

Ein Gefühl sickerte durch die instabile Atemhypnose durch, wegen dem Luan ohne nachzudenken erneut den rechten Arm hob und Verrell mit seiner Prägung bedrohte. Die Klingen flimmerten sogar hellblau auf und lösten sich ein wenig aus ihrer Ruhephase.

„Ich warne dich“, knurrte Luan ungehalten. „Solltest du Ferris weiter quälen, sind deine lächerlichen Spielregeln für mich hinfällig.“

Statt zurückzuweichen, so wie vorhin, blieb Verrell regungslos stehen und erwiderte seinen Blick kalt. „Sei mir lieber dankbar, dass ich dir die Chance gebe, deinen Freund zu retten. Du kannst mir jetzt nichts anhaben, sonst hättest du es längst getan.“

Das entsprach leider der Wahrheit. Luan blieb keine andere Wahl, als mitzuspielen, zumindest für den Anfang. Ganz sicher ließ er nicht zu, dass er Ferris verlor, nachdem er dank Mara daran glauben konnte, dass Estera vielleicht noch irgendwo lebte. Anscheinend hatte Vane gut dafür gesorgt, dass die Atemhypnose nicht so bald ein zweites Mal brach. Der kurzzeitig zurückgewonnene Kontakt zu seiner Atem-Prägung erlosch wieder und er senkte den Arm.

„Brav.“ Ein selbstgefälliges Lächeln breitete sich auf Verrells Gesicht aus. „Das wären auch so ziemlich alle Spielregeln. Schaffst du es innerhalb von drei Tagen zu mir zurück, mit den gewünschten Informationen, darfst du nochmal gegen mich kämpfen und versuchen, Ferris zu befreien. Na, einverstanden?“

Es passte Luan nicht, eine Abmachung mit einem Alptraum zu treffen. Im Grunde hatte er aber keine andere Wahl, es ging hierbei nicht nur um eine ihm aufgetragene Mission, sondern vor allem um Ferris. Ein angenehmer Schauer fuhr ihm über den Rücken und ließ ihn leicht zusammenzucken. Irgendwie fühlte Luan sich auf einmal beobachtet. Suchend blickte er sich um, doch er bemerkte nur, dass die Bilder in den Spiegel mittlerweile wieder verblasst waren und er darin nichts mehr sehen konnte.

Wie von selbst verschwand eine seiner Hände in den Mantel, um etwas hervorzuholen: Ein Bonbon.

Ferris ...

Sollte ihm etwas zustoßen, wäre das seine Schuld. Momentan war Ferris sicher noch angeschlagen wegen dem Rückblick in seine Vergangenheit, nach dem Luan verlangt hatte, und dadurch erst recht seelisch angreifbar. Das war nicht fair. Ferris war stets gut zu ihm gewesen, ein wahrer Freund, und er hatte sich ihm gegenüber in letzter Zeit nur abweisend verhalten. Er musste ihm helfen, auch wenn er dafür auf diese Großzügigkeit einer Geißel angewiesen war.

Hinzu kam auch die Behauptung, Traumbrecher sollten von Geißeln gebrochen werden. Darüber musste er mehr erfahren.

„Nur noch eine Frage“, warf Luan schließlich ein. „Was ist mit den anderen beiden?“

Ein leises Seufzen entglitt Verrell. „Vane und Bernadette? Was kümmern sie dich? Du magst sie doch nicht.“

„Darum geht es nicht. Ich werde sie dir nicht überlassen.“

„Oho, verstehe~“, meinte er angetan und warf den Zigarettenstummel über die Schulter. Zum Schluss war sie einfach nur abgebrannt, ohne dass Verrell weitere Züge zu sich genommen hatte. „Meinetwegen bin ich so nett und komme dir noch einen Schritt entgegen: Du darfst einen von den beiden wählen, den du schon mal mitnehmen kannst. Nur einen, die Entscheidung liegt bei dir.“

Schade, dass Ferris nicht dazu zählte, sonst wäre seine Wahl von der Sympathie her sofort auf ihn gefallen. Selbst wenn er auch ihn aussuchen könnte, gäbe es jedoch nur einen von den dreien, den Luan jetzt brauchte, obwohl ihm das überhaupt nicht gefiel. An das Gefühl war er langsam schon gewöhnt.

Erwartungsvoll streckte Verrell ihm eine Hand entgegen. „Wie sieht es aus? Spielst du mit?“

„Nur, wenn du in den nächsten drei Tagen auch die Hände stillhältst und weder Ferris brichst noch irgendetwas anderes anstellst.“

Vertrauen konnte er Verrell zwar nicht, aber es war ihm wichtig, das mal anzusprechen und hoffen zu dürfen, sich in den nächsten Stunden weniger Sorgen machen zu müssen. Glücklicherweise wies der Spielleiter diese an ihn gestellte Bedingung nicht ab, was noch ein Zeichen dafür war, dass Verrell vermutlich ein höheres Ziel verfolgte.

„Du bist ein hartnäckiger Typ. Schön, ich werde mich bemühen.“

„Gut.“ Ohne zu zögern, schlug Luan ein. „Ich spiele mit.“

Spielen blieb für ihn der falsche Begriff. Auf jeden Fall plante er seine Arbeit ernsthaft und anständig durchzuführen, aber er diskutierte mit der Geißel nicht mehr über diese Ausdrucksweise. Jetzt kam es Luan ironisch vor, dass er in Gegenwart von Mara mal gedacht hatte, er würde lieber gegen die mächtigste Form der Alpträume kämpfen, statt sich mit Frauen auseinandersetzen zu müssen.

Dieser Wunsch hatte sich hiermit wohl erfüllt.

Ich bin kein Mensch mehr

„Das hier gehört alles zu einem Refugium, oder?“

Vane sah Bernadette nicht an, sondern ließ den Blick wachsam über die Umgebung schweifen, um mögliche Gefahren frühzeitig erkennen und darauf reagieren zu können. Als Geißel besaß er den Luxus, auch hier problemlos jeden kleinsten Winkel ausmachen zu können, der für das menschliche Auge von schwarzen Schatten verschluckt wurde und ohne Taschenuhr selbst für Traumbrecher nur schwer einsehbar sein musste.

Dummerweise hatte er dafür nicht rechtzeitig erkannt, in eine Falle von Ferris’ Geißel gelaufen zu sein. Vermutlich hatte sie seinen Platz eingenommen, kurz nachdem die drei in den Buchladen gekommen waren, denn der letzte Blickkontakt von Vane zu Ferris war noch davor gewesen. Andernfalls hätte er ihn gleich enttarnt, Alpträume erkannten andere Alpträume sofort, im Regelfall. Hoffentlich war Luan in Ordnung und kam zurecht.

„Richtig“, antwortete Vane nickend auf ihre Frage, auch wenn es mehr nach einer Feststellung ihrerseits geklungen hatte.

Er glaubte aber, mit seiner Stimme Ruhe in diesen Ort bringen zu können und sie beide somit eventuell vor Angreifern zu schützen. Deshalb sprach er auch direkt weiter, statt das Thema nur mit einem einzigen Wort zu beenden und zu schweigen, wie es für ihn üblich wäre.

„Es verfügt über ein Ausmaß, wie ich es bislang noch nie erlebt habe. Das gesamte Haus ist betroffen. Von einem solch weitläufigen Refugium habe ich bisher nicht einmal Gerüchte gehört.“

Was vielleicht auch größtenteils daran lag, dass normalerweise schnell in der Realität unerklärliche Schäden entstanden, je mehr so ein Riss sich ausweitete und damit Traumbrecher anlockte, die sich anschließend um das Problem kümmerten. Aus dem Grund gelang es den meisten Alpträumen gar nicht erst, ihr Reich überhaupt so groß werden zu lassen, dabei könnten sie sich ewig in einem Refugium versteckt halten, solange sie auf das Ausbauen verzichteten. Ohne deutliche Hinweise konnte man diese Verstecke nämlich kaum finden, eigentlich war es beinahe unmöglich, es sei denn, man besaß ein gewisses Gespür dafür.

Warum bekamen Alpträume einfach niemals genug davon, etwas zu zerstören, und mussten immerzu weitermachen? Ihm war es doch auch gelungen, diesen Drang gänzlich abzuschütteln.

„An diesem Ort krümmt sich die Realität sehr stark“, riss Bernadette ihn aus seinen Gedanken.

Innerlich schüttelte Vane sie vollkommen ab und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Woher weißt du das?“

„Weil ich damals selbst einen Platz brauchte, an dem ich mein Haus abstellen kann.“

„Dein Haus?“, reagierte er leicht irritiert, doch an seinem ernsten Gesichtsausdruck änderte sich nichts, so wie immer.

Im Augenwinkel nahm er wahr, wie sie mit ihren Händen gestikulierte. „Als ich damals aus dem Hauptquartier geflohen bin, brauchte ich ein neues Zuhause. Dafür kehrte ich zuerst zu meinem alten Haus zurück, in dem ich damals mit Edge gelebt hatte, aber es stand natürlich leer und der Zustand war leider ziemlich schlecht.“

Sofort musste Vane sich fragen, warum das Haus natürlich leergestanden hatte, weil es sich so anhörte, als wäre Bernadette fest davon ausgegangen. Sie sprach aber schon weiter, ehe er in der Richtung nachhaken konnte, weshalb er das einfach mal so hinnahm und ihr zuhörte, während sie weitergingen.

„Ich wusste, früher oder später könnte Atanas auf die Idee kommen, mich dort zu suchen, also musste ich woanders hin.“ Ein schwermütiges Seufzen von ihr durchbrach die Dunkelheit um sie herum. „Nachdem ich durch meinen Verrat alles verloren hatte, was mir noch am Herzen lag, hatte ich nur noch dieses alte Haus hier. Also habe ich meine Prägung genutzt, um es etwas aufzupolieren, nur ein bisschen, damit ich den natürlichen Charme nicht komplett zerstörte, und dann versetzte ich es an einen anderen Ort.“

„Dir ist es gelungen, das gesamte Haus an einen anderen Ort zu teleportieren?“, hielt Vane fest, da es ihn erstaunte.

„Ja, hierher. Ich wusste, dass es in Limbten genügend Krümmungen gab.“

Auch Traumbrecher mit Schöpfer-Prägungen konnten das empfindliche Gerüst der Realität zusammenbrechen lassen, wenn sie zu viel mit ihren Fähigkeiten dort veränderten. Allerdings existierten in der Tat einige Orte und Stellen in der Welt, wo sich die Wirklichkeit ohnehin schon krümmte und selbst Risse wie ein Refugium existieren konnten, ohne ernsthaften Schaden anzurichten.

Mit dem Krankenwagen herumzufahren, den Bernadette für ihn geschaffen hatte, war demnach auch nicht ganz ungefährlich, doch sie hatte darauf geachtet, dass diese Art der Störung zu klein war, um in der Realität ernsthaften Schaden anrichten zu können. Man bewegte sich damit quasi durch Löcher im Gerüst vorwärts, die gerade auf den Straßen groß genug waren.

„Woher?“, wollte Vane nach wie vor wissen, blieb dabei aber geduldig mit ihr.

Limbten besaß tatsächlich viele Krümmungen, wie er wusste. Vor vielen Jahren hatte er sich hier vor seinem Wirt versteckt, in einem eigenen Refugium. An der vertrauten Kälte hatte er sofort erkannt, sich auch jetzt in einem zu befinden. Jedenfalls wunderte er sich, wieso auch Bernadette wusste, dass sich in dieser Stadt die Realität an mehreren Stellen krümmte.

„Von meinem Mann“, antwortete Bernadette sehnsuchtsvoll. „Er war kein Traumbrecher, aber Edge hatte schon immer ein sehr feines Gespür für Anomalien und erkannte sofort, um was für einen zerklüfteten Ort es sich bei Limbten handelte, als er mal geschäftlich hier war.“

Wahrscheinlich hätte ihr Mann, Edgar Maron, einen äußerst guten Schöpfer als Traumbrecher abgegeben, wenn er einer gewesen wäre. Nur selten gab es welche, die dazu in der Lage waren, Risse zu spüren. Selbst Alpträume fanden sie oft nur durch einen glücklichen Zufall, so wie er damals. Daran wollte er lieber nicht zurückdenken.

„Es schmerzt, meinen einzigen Rückzugsort nun so zu sehen“, fuhr sie fort.

„Das hier ist doch nur ein falsches Bild.“

Diese Aussage tröstete Bernadette aber sicher nicht, wie er sich denken konnte. Menschliche Gefühle waren sehr sensibel und kompliziert, noch heute versuchte er aus ihnen schlau zu werden, indem er haufenweise Bücher las. Der Erfolg hielt sich dabei bedauerlicherweise in Grenzen, ein paar Erkenntnisse zwischendurch hatte es jedoch durchaus gegeben.

„Trotzdem macht es mich unglücklich“, betonte sie. „Dieses Haus ist alles, was mir geblieben ist. Ein Teil von mir. Diese Schattenseite fühlt sich für mich wie ein Stich ins Herz an. Es ist einfach absolut falsch.“

Weiterhin behielt Vane die Umgebung im Auge. Sämtliche Räume des Hauses hatten sich in eine dunkle Schattenseite verwandelt und ihr Aussehen verändert. Von den Positionen der Räume her schien noch alles gleich zu sein, nur die Gestalt glich nicht mehr dem Original. Während das Schlafzimmer von Bernadette im Refugium wie eine Art Vogelkäfig mit rostigen Gittern aussah, in dem lauter zerfetzte Buchseiten durch die Luft schwebten, hatte der Gang hinter der Tür sich zu einem unebenen, gewundenen Pfad gewandelt.

Wie eine Linie in einem abstrakten Kunstwerk schlängelte er sich kreuz und quer durch das Bild. Einige Stellen auf dem Boden und an den Wänden wölbten sich in verschiedenen Formen hervor, sahen wie Buckel aus, die ihnen den Weg versperren oder sie stolpern lassen wollten. Vorsichtig mussten sie über allerhand kleine Hügel klettern und sich manchmal durch einen engen Spalt zwängen, wenn sich an einer Stelle das graue, kalte Gestein wie Hindernisse in den Weg zu stellen versuchte.

Gefährlich wurde es dann, wenn die Wölbungen bereits Stacheln ähnelten und sie daran vorbeikommen mussten. Irgendwie wartete Vane nur darauf, dass sich die Umgebung zu bewegen anfing und sie zerquetschen oder aufspießen wollte. Noch dazu war der Flur durch seine neue Form, die lauter Kurven beinhaltete, viel länger als in der Realität, darum waren sie schon eine Weile unterwegs und arbeiteten sich in eine Richtung vorwärts.

Sobald sie mal auf eine Tür stießen, ignorierten sie diese, weil sie hauptsächlich die Treppe nach unten suchten, wo auch der Ausgang liegen sollte. Zumindest in der Welt, aus der sie kamen. Anders als eine Schöpfer-Welt ließ sich ein Refugium nur zerstören, wenn man dessen Erbauer tötete, nach einem Herzstück zu suchen wäre also sinnlos. Höchstens eine Sache wäre noch möglich, auf die sie momentan jedoch auch keinen Zugriff besaßen.

„Trotzdem bleibt das hier nur ein Trugbild“, versuchte Vane weiter, sie zu beruhigen, indem er hartnäckig bei seiner Meinung blieb. „Sobald wir hier herauskommen, bist du zurück in deinen vertrauten vier Wänden, wo alles noch so ist, wie es sein soll.“

Leider schien Bernadette sich nicht beruhigen lassen zu wollen. „Im Moment ist das hier aber meine Realität, denn ich bin hier ... so wie es für Luan Realität ist, dass er sein altes Ich verloren hat und unglücklich ist.“

„Fängst du schon wieder damit an?“, seufzte Vane tief. „Darüber hatten wir schon gesprochen.“

„Ich weiß ...“

Sie klang erschöpft und sah auch immer noch so aus, ihr Zustand schien sich stetig zu verschlechtern. Womöglich wegen der Atmosphäre im Refugium, die auf menschliche Wesen kräftezehrend wirkte, doch da musste auch etwas anderes sein. Länger konnte und wollte Vane das als Arzt nicht ignorieren.

„Hast du Schmerzen?“, erkundigte er sich direkt und löste den Blick von der Umgebung, damit er sie prüfend mustern konnte.

Bernadette war blass, aber lächelte die ganze Zeit. Selbst als sie plötzlich kraftlos in die Knie sackte und ihm damit ungewollt ohne Worte signalisierte, dass in der Tat etwas mit ihr nicht stimmte. Sofort hielt auch er an und hockte sich neben sie, wo er ihr half, sich mit dem Rücken an eine gerade Stelle bei der Wand anzulehnen, bevor er anfing sie zu untersuchen.

Relativ schnell erkannte er einige Symptome, die ihm Sorgen bereiteten. Grau hatte sich in ihre Augen geschlichen und war dabei, das Blau langsam gänzlich zu überdecken. Zudem fühlte sie sich kalt an, ohne jegliche Anzeichen dafür zu zeigen, dass sie wirklich fror. Er hätte sie schon viel früher untersuchen sollen.

„Hast du Schmerzen in der Brust?“

Die Antwort war ein schwaches Nicken.

„Ein Stechen?“

Wieder ein Nicken.

„Ich verstehe.“

Jetzt machten ihre Worte endlich Sinn, denn sie hatte bei ihrer Unterhaltung vor dem Auftauchen von Ferris’ Geißel davon gesprochen, es gäbe nun drei von ihnen, die Probleme machten. Zügig holte Vane seine Taschenuhr aus dem Kittel hervor und ließ den Deckel aufspringen, bevor er die Zeit aktivierte und somit von einer Energie eingehüllt wurde, wie es bei jedem Traumbrecher geschah, nur war seine violett.

Eine Mischung aus Blau und Rot, was sehr unüblich war, deswegen ließ er sie normalerweise auch vor niemandem sichtbar werden. Seine jetzige Patientin wusste allerdings, dass er selbst eine Geißel war, daher konnte er das problemlos zeigen.

„Wie ist das passiert? Hat deine Geißel dich schon versucht zu brechen?“

Diesmal schüttelte sie den Kopf, was eine furchtbare Vorahnung bei Vane weckte und er konnte nur dafür beten, damit vollkommen falsch zu liegen. Mit aktivierter Traumzeit fing er sanft an zu singen, in der Sprache der Alpträume, die außer ihm in der Regel niemand verstehen konnte. Schall-Traumbrecher verwendeten grundsätzlich ihre Muttersprache für Lieder, ausgenommen bei Befehlen.

Der Klang seiner Stimme breitete sich aus, was durch seine violette Energie zu verfolgen war. Gleichmäßig verteilte sie sich in der Umgebung und ließ bei jeder Berührung mit einem Hindernis feine Töne entstehen, als wäre die Welt an sich ein einziges Musikinstrument. Je länger er sang, desto mehr erhellte sich der Farbton um einige Nuancen und legte sich wie eine sanfte Decke über Bernadette, drang in sie hinein, wollte Wärme und Trost spenden.

Zwar atmete sie wesentlich ruhiger, doch Vanes Gesang konnte leider nicht die Wirkung erzielen, die er im Sinn hatte.

Dank seiner Energie in ihr wurden für ihn die Risse in Bernadettes Brust, in ihrem Geist, sichtbar, wie bei einem Röntgengerät. Für einige Sekunden glühten sie auf und waren dadurch noch besser zu sehen. Ein Netz aus hauchdünnen Linien, in dessen Zentrum ein Einschussloch zu sehen war. Durch die vielen Risse war ihr Geist derart zerbrechlich geworden, dass nur ein leichter Hauch ihn zusammenstürzen lassen könnte.

„Luan hat auf mich geschossen“, brachte sie leise hervor und sprach damit in sein Lied hinein, doch er sang unbeirrt fort. „So einfach würde ich mich nicht brechen lassen. Menschen sind sehr leicht zu beeinflussen, aber mir kann das nicht mehr passieren.“

Der Pistolenschuss eines Traumbrechers war für ihresgleichen äußerst gefährlich, zumindest wenn sie einen Alptraum in sich trugen, was leider bei allen der Fall war. Eine Geißel verband sich mit dem Geist ihres Wirts, sobald sie in ihn eingepflanzt wurde und wuchs in ihm heran. Zwang man sie vorher durch eine Energiekugel nach draußen, gefährdete man gleichzeitig den Zusammenfall der Seele, mit der sie verbunden war und einen Teil des Ganzen bildete.

Risse, die durch seelische Schmerzen verursacht wurden, könnte Vane noch gut mit seinem beruhigenden Gesang wieder heilen, nur war das eine Form von physischen Schäden, für die er Materialien bräuchte, die es nur in Athamos gab. Obwohl er das genau wusste, sang er einfach weiter. Er wollte nicht wahrhaben, nichts für Bernadette tun zu können.

„Ich bin kein Mensch mehr“, redete sie weiter, den Blick abwesend auf seine Energie gerichtet, von der sie umgeben waren. „Ich habe meine Menschlichkeit aufgegeben, als ich euch alle verraten habe.“

Zu gern wäre Vane darauf eingegangen, war aber damit beschäftigt, stur weiterzusingen – bis Bernadette eine Hand nach ihm ausstreckte und versuchte, den Deckel seiner Uhr zu schließen.

„Ist schon gut, hör ruhig auf. Ich weiß deine Mühe zu schätzen, wirklich, aber du kannst nichts für mich tun.“

Widerwillig stoppte Vane seinen Gesang abrupt und sah sie verständnislos an. „Das ist nicht sehr feinfühlig von einer Person, die einst die Mutterfigur für sämtliche Traumbrecher darstellte.“

Leise verhallte der Klang seiner Stimme im Hintergrund und seine violette Energie verblasste, kaum dass er die Uhr selbstständig deaktivierte und Deckel wieder schloss. Nicht mal er als Geißel mochte es, wenn jemand ohne seine Erlaubnis sein Herz berührte, dafür waren sie bei Traumbrechern zu empfindlich. Das Tor zu ihrer Seele.

„Wie kannst du außerdem behaupten, kein Mensch mehr zu sein, mit dem Wissen, wer Luan wirklich ist?“

Entschuldigend lächelte sie ihn an. „Weil gerade Luan viel menschlicher ist als ich.“

„Wieso seid ihr alle in letzter Zeit so redselig?“, stellte Vane fest. „Du solltest deine Kräfte sparen.“

„Er hat sich so sehr gefreut, als er nach langem wieder mal für kurze Zeit etwas träumen konnte“, erzählte sie weiter und beachtete seinen Rat gar nicht. „In diesem Moment hat er so glücklich gewirkt.“

Vane erinnerte sich. Bei dem Telefonat hatte sie erwähnt, dass Luan angeblich dazu in der Lage gewesen sein sollte, zu träumen, während seine Geißel den Körper übernommen hatte. Im Grunde nicht weiter verwunderlich, denn die Atemhypnose war zu dem Zeitpunkt schon instabil und in dieser Art von Schlaf, in den Luan versetzt worden war, womöglich nicht mal richtig wirksam.

„Er war schon mit einem einzigen, kleinen Traum so zu zufrieden. Mir dagegen hat die Vorstellung, nie mehr träumen zu können, wenn meine sechs Stunden erst mal abgelaufen waren, furchtbare Angst eingejagt. Obwohl ich noch träumen konnte, habe ich es nicht genossen, sondern wollte mehr ...“

„Ich kann mir denken, worauf du hinaus willst“, warf er ein und steckte seine Uhr zurück in den Kittel, wo sie sicher war. „Für dein Handeln damals hattest du aber einen guten Grund.“

„Vielleicht“, ging sie zweifelnd darauf ein und schloss die Augen. „Vielleicht war ich aber auch in Wahrheit nur egoistisch, als ich mit meiner Prägung meine Traumzeit erhöht habe, indem ich sie von den anderen stahl ... und dann auch noch Luan dazu gebracht habe, mir mit der Atem-Prägung dabei zu helfen, während er keine Ahnung hatte, was ich eigentlich plante.“

Ein wenig fing ihre Stimme an zu zittern, sie schien ein Schluchzen zu unterdrücken. „Es tut mir so leid, dass ich ihn reingelegt habe und den anderen ihre Zeit gestohlen habe. Ich habe sie alle so sehr gemocht.“

„Maron“, sagte er ruhig und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir wissen beide nicht, ob es damals einen besseren Weg gegeben hätte, aber in dem Moment hast du getan, was getan werden musste, um das Schlimmste zu verhindern. Du hast Luan schützen wollen, uns alle, und das erfolgreich.“

Er legte eine kurze Pause ein. „Deine Schuldgefühle wirken auf mich sehr menschlich.“

„Das ist lieb von dir.“ Mit seiner Aussage ließ er ihr Lächeln wieder etwas stärker werden. „Ich fühle mich aber nicht menschlich, so wie dieses Refugium gerade die Realität für uns ist. Darum habe ich eine Entscheidung getroffen.“

In einem Buch hatte Vane mal gelesen, dass Menschen kurz vor ihrem Ableben meistens nochmal eine Menge redeten, so ähnlich wie Bernadette jetzt. Ganz bestimmt ließ er nicht so einfach zu, dass sie schlappmachte. Immerhin musste sie auch an Luan denken. Sollte sie es nicht schaffen und er herausfinden, warum, könnte er sich wie ein Mörder vorkommen.

Vorsichtig zog er ihren Arm um seine Schultern und brachte sie mit seiner Hilfe dazu, vom Boden aufzustehen. „Komm, gehen wir weiter. Die Treppe müsste ganz nah sein.“

„Ich will meiner Geißel diesen Körper überlassen.“

Auf der Stelle erstarrte Vane, noch bevor er mit ihr den ersten Schritt tun konnte. Hatte er das richtig gehört? Diese Worte weckten etwas in ihm, das er kaum beschreiben konnte. Möglicherweise waren es sogar Gefühle, die in Vane hochkamen, denn exakt diesen Satz hatte er schon einmal gehört. Vor langer Zeit.

Sprachlos blickte er sie an, was sie weiterhin lächelnd erwiderte. „Ich habe mir das gut überlegt. Wenn aus dir so ein guter Mann werden konnte, setze ich Hoffnungen in meine Geißel, dass ihr das auch gelingt. Sie soll mein Leben haben, damit sie eine Chance bekommt und ich bezahle damit gleichzeitig für meinen Verrat.“

„Das kannst du nicht tun“, gewann Vane seine Sprache wieder. „Wie kommst du überhaupt darauf? Du hast mich immer gehasst und jetzt sagst du so etwas?“

„Weil ich dachte, Wesen wie ihr bringen nur Zerstörung über die Welt. Wirklich dumm von mir, wo doch mein eigener Mann jetzt ein friedlicher Trugmahr ist.“ Erschöpft ließ sie ihren Körper wieder ein wenig fallen, wurde aber von Vane gestützt und auf den Beinen gehalten. „Dabei habe ich in einem von euch gefunden, wonach ich gesucht habe. Vielleicht habe ich die ganze Zeit nur nach diesem einen, kleinen Traum gesucht, der mich glücklich macht, so wie Luan.“

„Bernadette ...“

Auf einmal entglitt ihr ein entzückter Laut. „Oh, du nennst mich beim Vornamen? Dann magst du mich also jetzt endlich auch.“

Es stimmte, dass Vane nur Personen beim Vornamen nannte, die er mochte oder mit denen er zumindest etwas anfangen konnte, in irgendeiner persönlichen Art und Weise. Zwischen ihnen hatte aber lange Kriegsstimmung geherrscht, erst die letzten Ereignisse schienen geholfen zu haben, diese Kluft zu überwinden.

„Wir hätten eine Menge Spaß haben können, wären wir früher Freunde geworden, denkst du nicht?“

Schweigend setzte Vane sich mit ihr langsam in Bewegung, statt etwas dazu zu sagen. Für diese Situation fehlten ihm allmählich ohnehin die richtigen Worte, also ließ er sie weiter reden und hörte ihr aufmerksam zu, um zu zeigen, dass er bei ihr war.

„Es ist Mara“, hörte er sie mütterlich sagen. „Die Kleine liegt mir sehr am Herzen, weißt du? Sag, hast du auch nicht erkannt, dass sie ein Sakromahr ist?“

Verwundert schwenkte er kurz den Blick zu ihr, womit er ihr ein Schmunzeln entlockte. „Nicht mal du, hm? Ich wünsche mir für sie, dass sie ihren Weg findet und sich ihre Träume erfüllen. Sie muss nur daran glauben. Deine Menschlichkeit, mit der du mich am Telefon zu beruhigen versucht hattest, hat mich davon überzeugt, dass es nicht darauf ankommt, was man ist, sondern was in einem steckt. Mit dem Vertrauen in meine Geißel, werde ich Mara zeigen, dass das auch für sie gilt.“

„Glaubst du wirklich, du tust ihr damit einen Gefallen?“, bezweifelte Vane offen.

„Ich kenne Mara eben. So wie du Luan kennst. Ich weiß, was sie braucht.“

Endlich kamen sie an einer offenen Tür an, hinter dem sich die Treppe finden ließ, nach der sie gesucht hatten. Behutsam führte Vane sie weiter vorwärts, die einzelnen Stufen hinunter. Ähnlich wie der Gang im ersten Stock verlief auch die Treppe im Zickzack nach unten und bestand scheinbar aus einzelnen, übereinander liegenden Büchern. Dadurch fühlte sich der Untergrund an manchen Stellen seltsam weich und unsicher an.

„Du solltest es Luan sagen“, riet Bernadette ihm. „Sag ihm, dass du ihn magst und er dir wichtig ist.“

„Das würde er mir nicht glauben“, lehnte Vane ab.

„Weil er gerade nicht der Luan sein kann, der er in Wahrheit ist.“ Von seinem erneuten Seufzen ließ sie sich nicht davon abhalten, das Thema beizubehalten. „Ich bin sicher, er wäre glücklicher mit der Wahrheit, und wenn du bei ihm bleibst und ihm Vertrauen schenkst, übersteht er schon die dunklen Seiten daran.“

„Ich werde darüber nachdenken.“

Eigentlich bedeutete das nur, dass er nicht länger darüber reden wollte, für Bernadette war das anscheinend dennoch genug, so erleichtert wie sie klang. „Danke dir, Vane. Könntest du mir eventuell noch einen kleinen Gefallen tun?“

„Noch mehr?“, tat er so, als hätte sie schon mehr als genug von ihm verlangt – was auch nicht weit hergeholt wäre.

„Sollte mal der geeignete Zeitpunkt dafür kommen und ich nicht mehr da sein, könntest du Mara dann etwas für mich ausrichten?“

Nahm sie dieses Vorhaben, der Geißel ihren Körper zu überlassen, wirklich derart ernst? Noch verstand er nicht, wie Mara das helfen sollte. Schadete ihr das nicht mehr? Außerdem war nicht mal sicher, ob die Geißel noch lebte. Sollte sie noch nicht vollständig ausgewachsen gewesen sein, könnte sie schnell verkümmern und sterben. Bei all der Traumzeit, die Bernadette einst geklaut und sich damit zur Verräterin gemacht hatte, ließ sich diese Option aber wohl eher ausschließen.

In Bernadette musste die Geißel mit der gewaltigen Ansammlung an Energie ordentlich gewachsen sein, also schlich sie jetzt irgendwo da draußen herum, oder auch hier drinnen, im Refugium. Vermutlich lebte sie auch nur noch dank dieser erhöhten Menge an Traumzeit, wodurch ein verstärkter Atemfluss geschaffen wurde, der ihren Geist zusammenhielt.

„Was denn?“

„Sag ihr bitte-“

Ein lauter Schmerzensschrei aus dem unteren Stockwerk unterbrach sie mitten im Satz: Ferris.

Natürlich war er auch hier, bestimmt versuchte seine Geißel ihn an diesem Ort zu brechen. Sie mussten sofort zu ihm und dem Jungen helfen. Auch Bernadette ging dieser Gedanke offenbar durch den Kopf, denn ihr Körper gewann einen Schub neuer Energie durch diese Entschlossenheit und sie konnten die Treppenstufen schneller hinter sich lassen.

Zielstrebig eilten sie nach unten, bis Vane plötzlich ein Gefühl packte, das ihn erst vor kurzem überhaupt hierher gebracht hatte. Der gesamte Ort drehte sich geschwind auf den Kopf, ohne dass sich seine Füße dabei vom Boden lösten, und die Schatten verschluckten ihn. Einen Wimpernschlag später fand er sich zwar am Fuße der Treppe wieder, aber er war zurück in der Realität. Sonnenlicht drang durch das kleine Fenster in diesen Zwischenraum hinein, der von hier weiter in die Küche führte.

Außer ihm war niemand hier. Bernadette musste allein zurückgeblieben sein.

Wir gehen nach Athamos

Vane war verschwunden, verschluckt von den Schatten, aus denen dieser Ort gänzlich bestand – in einem Riss zwischen den Welten, weit entfernt von jeder Realität. Es geschah so schnell, dass sie nicht mal mit einer Vorahnung etwas dagegen hätte tun können. Ohne Vane gab es nun auch keine Stütze mehr für Bernadette und so drohte ihr erschöpfter Körper sofort wieder kraftlos zusammenzusacken.

Irgendwie gelang es ihr aber, sich so gegen die Wand zu lehnen, dass sie wenigstens vorerst ein wenig Halt hatte und zog geistesgegenwärtig ihre Taschenuhr hervor. Kaum um den Hals gelegt, aktivierte Bernadette sie, woraufhin auch ihre Aura sichtbar wurde. Eine Energie aus verschiedenen Blautönen, die unruhig um sie herum zuckte, und es wirkte fast so, als wollte sie vor ihr fliehen, konnte sich jedoch nicht von ihr lösen.

Rasch erschuf sie sich ein Paar durchsichtiger Flügel, dank denen sich ihr Körper leichter anfühlte, da sie mit ihnen der Schwerkraft trotzte, wofür sie nicht mal den Kontakt zum Boden aufgeben musste. Ein Lächeln wollte sich auf ihre Lippen schleichen. Ohne groß darüber nachzudenken, hatte sie ausgerechnet so eine Form gewählt, obwohl sie nicht zwingend nötig gewesen wäre. Im Kindesalter, als kleines Mädchen, wollte sie schon immer mal Flügel haben, so wie ein Engel.

„Dabei habe ich sie mir gar nicht verdient“, flüsterte sie sich selbst zu. „Verzeih mir, Vane. Du weißt gar nicht, wie egoistisch ich in Wahrheit bin.“

Erneut hallte ein lauter Schrei von unten herauf und verscheuchte diesen Gedanken spielend, denn für Selbstmitleid und Reue war jetzt keine Zeit. Im Erdgeschoss wartete jemand auf sie, der eindeutig Hilfe brauchte, und sie wollte Ferris nicht im Stich lassen, egal wie geschwächt ihr Zustand derzeitig aussah. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort und stieg weiter die gewundene, abstrakte Treppe hinab, während sie dafür betete, dass man Vane nur zurück in die Realität geholt hatte und es ihm dort gut ging.

Trotz der Flügel, mit denen sie sich den Abstieg leichter machte, war es furchtbar anstrengend. Noch nie hatte sie sich so ausgelaugt gefühlt, nicht mal nach einem wochenlangen Hausputz. Deutlich konnte sie spüren, wie ihr Geist nur noch auf wackeligen Beinen stand, die jederzeit wie hauchdünne Streichhölzer zusammenbrechen könnten. So weit durfte es nicht kommen, noch nicht, zuerst wollte sie Ferris’ Sicherheit gewährleisten.

Jede Treppenstufe, die sie hinter sich ließ, sorgte dafür, dass seine Schreie intensiver zu hören waren. Ihr versetzte es einen zusätzlichen Stich in der Brust, mitbekommen zu müssen, wie der sonst lebhafte und immerzu gut gelaunte Ferris vor Schmerzen schrie. Auch noch in einem solch verzweifelten Ton, wegen dem ihr Innerstes erst recht noch mehr an Gleichgewicht verlor und gefährlich zu wanken begann.

Nach einer viel zu langen Zeit erreichte sie schließlich die letzte Treppenstufe und eilte geradewegs durch die Tür in den Zwischenraum, der weiter zur Küche führte, um von dort als nächstes in den Eingangsbereich zu kommen. Dabei ignorierte sie die Veränderungen um sich herum, die ihr allesamt nur verdeutlichten, in einer falschen Welt gelandet zu sein. Sie konnte und wollte sich nicht ansehen, wie ihr geliebtes Heim verunstaltet worden war, also konzentrierte sie sich nur auf Ferris. Und darauf, vorwärts zu kommen.

Für ihre Zielstrebigkeit erntete sie glücklicherweise auch eine Belohnung, schon wenig später konnte sie nämlich problemlos durch die Küchentür den Eingangsbereich betreten, den sie kaum wiedererkannte. Weit und breit keine Bücherregale, nur Blöcke, bestehend aus Holztüren, die durch unnatürlich gewaltige Nägel zusammengehalten wurden. Wie sehr sie solcherlei alptraumhafte Welten schon damals gehasst hatte.

An einem der Blöcke entdeckte sie Ferris. Er lehnte mit dem Rücken dagegen, umgeben von lauter Nägeln, die sich dicht an seinem Körper ins Holz bohrten. Seine Arme hingen quer über das rostige Metall und er schien nur flach zu atmen, was Bernadette verwunderte. Eigentlich müsste er schwer Luft holen, so viel wie sie ihn zuvor schreien gehört hatte. Kurz nach diesem Gedanken ertönte abermals ein Schrei, wie auf Bestellung, doch Ferris’ Körper regte sich dabei kein Stück.

Stattdessen brach dunkelblaue Energie aus ihm hervor und zitterte über ihn hinweg, im Einklang mit dem Schrei. Vermutlich träumte er gerade. In einem Refugium bestand durchaus die Möglichkeit, dass Erlebnisse und Gefühle aus dem Schlaf auf diese Weise nach außen dringen konnten. Gesund hörte sich das nicht an.

Auslöser für diese schlechten Träume, die Ferris durchleben musste, waren mit Sicherheit die körperlosen Schattengestalten vor ihm. Einige von ihnen griffen nach dem Jungen und ihre Berührungen ließen ihn bloß Sekunden später derart aufschreien.

„Weg von ihm!“, forderte Bernadette lautstark und stürmte auf Ferris zu.

Gleichzeitig sorgte sie mit einer Handbewegung dafür, dass unter den Schatten eine Lichtsäule aus dem Boden hervorbrach, woraufhin sie kreischend die Flucht ergriffen und in andere Winkel des Raumes huschten, wo es noch genug Dunkelheit gab. Normalerweise sollte man Alpträume nicht unnötig auf sich aufmerksam machen, bevor man den genauen Schwachpunkt ermittelt hatte, laut Luan, doch sie durfte keinen Augenblick länger zusehen, wie Ferris offensichtlich gequält wurde.

Die Lichtsäule verblasste wieder, als sie bei ihm ankam und neben ihm in die Knie sank. Behutsam strich sie ihm einige der langen Haarsträhnen aus der Stirn und prüfte seine Temperatur. Erst fühlte er sich heiß an, aber auch kalt. Beides wechselte sich im Sekundentakt miteinander ab. Ein Gefühl, das Bernadette kaum beschreiben könnte, würde man sie danach fragen. Anhand seines Gesichtsausdrucks war zusätzlich zu sehen, wie schlecht es ihm ging.

„Ferris, wach auf!“, rief sie und versuchte, ihn vorsichtig zu schütteln. „Bitte, wach auf. Es ist alles gut, hörst du? Du musst nur aufwachen.“

Leider zeigte er keinerlei Reaktion, sein Geist stieß nur hin und wieder erneut Schreie aus, doch das dunkelblaue Flackern seiner Energie kam nicht gegen die Finsternis an. Gerade, als Bernadette ihn von der Tür lösen und woanders hinlegen wollte, hörte sie wütendes Geflüster, das von allen Seiten her kam und sie aufblicken ließ. Anscheinend waren die Schattengestalten nicht erfreut darüber, bei ihrem Spiel von ihr gestört worden zu sein. Ihre Feindseligkeit lag förmlich in der Luft.

„Es ist vorbei, ich lasse euch nicht mehr an ihn ran“, verkündete sie drohend. „Versucht es also besser gar nicht erst.“

Mühsam zog Bernadette sich an einem der Nägel wieder auf die Beine und hob beide Hände in Richtung Dunkelheit, in der sich haufenweise Schatten tummelten, wie ein Ameisenhaufen. Das Ticken ihrer aktivierten Taschenuhr wurde lauter und überall im Raum erstrahlten neue Lichtsäulen, die sich von unten nach oben durch die Decke bohrten. Sämtliche Schatten stießen im Chor nochmal ein Kreischen aus und rauschten panisch hin und her, völlig orientierungslos.

Plötzlich unterbrach ein besorgniserregendes Knacken das Ticken ihrer Uhr und ihr stockte der Atem. In ihrer Brust weitete sich noch ein anderer Schmerz aus, wegen dem sie zurück auf den Boden fiel und einige Sekunden lang erfolglos nach Luft schnappte. Noch während sie versuchte zu atmen, griff sie nach ihrer Taschenuhr und betrachtete sie genauer. Der Anblick wollte ihr gar nicht gefallen.

Auf dem Ziffernblatt, hinter dem Schutzglas, war ein Riss zu sehen. Den Zeigern gelang es nur mit einem Ruckeln, ihn zu überwinden.

„Das ist nicht gut“, musste sie sich eingestehen und bekam langsam wieder Luft. „Also, wenn ich Probleme habe, dann aber auch nur richtig, wie mir scheint.“

Wahrscheinlich lag es an Kian, Luans Geißel, der mit ihrer Taschenuhr nicht gerade zimperlich umgegangen war. Bestimmt hatte er sie einmal zu fest in seiner Hand gedrückt und damit diesen Schaden hinterlassen, der sich erst jetzt bemerkbar machte, weil sie ihre Traumzeit nutzte. Momentan hatte sie kein Glück, vielleicht rächte sich auch nur das Karma. Irgendwann musste sie auch die Quittung dafür kassieren, sich so viel Traumzeit zusammengestohlen zu haben, egal zu welchem Zweck.

Dummerweise sorgte diese Wunde in ihrem Herzen auch dafür, dass ihre Schöpfungen schwächer wurden und die Säulen verloren bereits an Leuchtkraft, wodurch die Schattengestalten sich wieder näher an sie heranwagten. Notfalls müsste sie auf ihre Pistole zurückgreifen und versuchen damit etwas zu bewirken. Leicht wollte sie es diesen Kreaturen nicht machen, nochmal an Ferris heranzukommen.

Meine Energie hält aber auch nicht ewig ...

„Du bist am Ende“, hörte sie auf einmal jemanden sagen, deren Stimme ihrer eigenen verdächtig ähnlich klang.

Durch die Menge der Schattengestalten zog sich ein respektvolles Raunen und sie wichen vor der Person zurück, die durch eine Wand hindurch den Raum betrat. Keinen Zweifel, Bernadette wusste auf den ersten Blick, um wen es sich dabei handelte. Hierbei musste doch eindeutig das Schicksal seine Finger im Spiel haben, es sollte wohl so kommen.

„So schnell bin ich nicht am Ende, glaub mir“, entgegnete Bernadette und richtete sich etwas auf, eine Hand gegen die Brust gepresst. „Gut, dass du da bist.“

Zweifelnd hob die andere Person eine Augenbraue. „... Wie bitte?“

„Ich wollte sowieso mit dir reden. Hör zu, ich mache dir einen Vorschlag ...“
 

***
 

Zu schade, dass ein Refugium keine Tür besaß. Wie gern hätte Luan Verrells Reich mit einem ohrenbetäubenden Knall verlassen, nur um diesem zu zeigen, was er von ihm und seinen Spielchen hielt. Geißeln zählten wahrhaftig zu den arrogantesten Wesen überhaupt. Leider gab es aber keine Tür und somit nichts, woran er seine Wut auslassen könnte, die, trotz notdürftig geflickter Atemhypnose, in ihm überzukochen drohte.

Verrell sollte es sich besser nicht wagen, Ferris zu brechen, bevor Luan zurückkam, sonst könnte er endgültig die Nerven verlieren. Ein Leben als Traumbrecher ohne ihn wollte er sich nicht mal vorstellen, geschweige denn was mit Seelen geschah, die zersplitterten. Möglicherweise verloren sie sich einfach im Nichts und bekamen nicht mal die Chance wiedergeboren zu werden.

Was das Brechen von Seelen anging, gab es zwar einige Theorien und sogar Aufzeichnungen darüber, absolut sicher konnte sich aber niemand sein, was dann geschah. Wie auch? Bisher war noch kein Gebrochener jemals zurückgekehrt, Ferris durfte das nicht passieren.

Niemals.

Luan hatte kaum das Refugium verlassen, da holte er auch schon tief Luft, um Vanes Namen zu rufen, der angeblich irgendwo zurück im Haus sein sollte, laut Verrell. Ihm kam aber kein einziger Laut über die Lippen, beim Anblick des Trugmahrs, dessen funkelnde Lichter den gesamten Keller erfüllten. Dank Luans Taschenuhr, die er noch um den Hals trug, konnte er ihn sehen, auch wenn die hellblaue Ebene nach wie vor wie verrückt flimmerte und ihn heftig blinzeln ließ.

Unruhig schwebte der Trugmahr vor dem Eingang zu Verrells Reich hin und her, wartend. Zwischen den Klängen seines Glockenspiels mischte sich das Gefühl der Hoffnung. Hielt sich Bernadette etwa im Refugium auf? Am Ende hatte Verrell ihm natürlich doch verschwiegen, wo genau er seine Geiseln festhielt, doch das würde Sinn machen. Mit Sicherheit wartete der Trugmahr sehnsüchtig auf Bernadette.

Auf magische Weise gelang es diesem Wesen mit seinem Lied, die Wut in ihm ein bisschen abzukühlen, womit allerdings auch Schuldgefühle in Luan geweckt wurden. Mit bedachten Schritten bewegte er sich ein Stück vorwärts und fand sich schnell inmitten der vielen Lichter wieder. Er kniff die Augen zusammen, um sie etwas vor dem Flimmern zu schonen, das ihm die Sicht auf den Trugmahr erschwerte.

„Du bist doch Edge, hab ich recht?“, sprach Luan ihn mit ruhiger Stimme an. „Tut mir leid, sie ist noch in seiner Gewalt.“

Bedrückt sackten die einzelnen Lichtkugeln ab, Richtung Boden, berührten diesen jedoch nicht und blieben wenige Zentimeter davor in der Luft hängen.

„Ich weiß, du machst dir Sorgen.“ Er schwieg kurz und dachte nach. „Du hast mitbekommen, dass ich nicht so gut auf sie zu sprechen bin. Trotzdem lasse ich nicht zu, dass sie seine Gefangene bleibt. Ich hole sie da schon raus.“

Immerhin sollte Bernadette fair bestraft werden, von den Führungskräften in Athamos. Ihren Verrat konnte er niemals vergessen, doch auch sie hatte das hier nicht verdient. Außerdem gab es vielleicht noch die eine oder andere Frage, die er ihr stellen wollte. Zum Beispiel warum sie damals allen aktiven Traumbrechern ihre Zeit gestohlen und ihn dafür auch noch missbraucht hatte. Den genauen Grund dafür kannte er bis heute nicht.

Weil ich ihr nie zuhören wollte ...

„Verlass dich auf mich“, fuhr er fort. „In spätestens drei Tagen komme ich zurück. Hab für mich solange den Eingang im Auge, ja? Pass aber auf, dass dir nichts passiert.“

Es wäre furchtbar, wenn ein reiner Trugmahr wie Edgar vernichtet wurde. In Athamos sollte Luan bei Gelegenheit den Fängern Bescheid geben, damit sie ihn von hier wegbrachten. Oder er wartete damit, bis er Bernadette befreit hatte, sonst tat er dem Trugmahr sicher keinen Gefallen. Mehr Sorgen als jetzt wollte er ihm nicht bereiten.

Wenigstens schöpfte Edgar scheinbar noch mehr Hoffnung aus seinen Worten, denn die Kugeln gewannen wieder an Höhe und leuchteten etwas kräftiger. Zufrieden nickte Luan ihm zu und nahm seine Taschenuhr ab, ehe seine Augen noch zu tränen anfingen, und steckte sie zurück in seinen Mantel.

„Bis dann, Edge.“

Zügig setzte er seinen Weg fort und rannte die Treppen nach oben, weil er nicht mehr Zeit als nötig verlieren wollte. Zuerst musste er Vane finden und ihn dazu bringen, zu tun, was er sagte, was der schwierigste Teil dieser Mission werden dürfte. Sobald der Arzt erst mal sah, wie ernst es Luan meinte, gab er sich möglicherweise ohne langatmige Diskussionen geschlagen. Darauf baute er.

Oben angekommen, rief Luan ohne Zurückhaltung nach ihm. „Vane!“

„Ja?“, erhielt er direkt eine Antwort, gesprochen in einer völlig normalen Tonlage.

Nur ein Blick zur Seite genügte und Luan hatte sofort Vane im Blick, der ebenfalls im Raum stand. Beinahe wirkte er etwas verloren, aber davon ließ Luan sich gar nicht erst irritieren und setzte ein selbstbewusstes Gesicht auf, um zu zeigen, dass er sich diesmal nichts mehr von ihm sagen lassen würde, im Gegenteil.

„Nur, damit Sie es wissen“, begann er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben es allein mir zu verdanken, dass Sie zurück sind.“

Minimal hob Vane die Augenbrauen, scheinbar überrascht. „Wirklich? Was ist denn genau passiert?“

„Ferris’ Geißel, Verrell, hat euch alle gefangengenommen, um mich zu erpressen.“

Etwas flackerte in Vanes Augen auf, doch für Luan blieb es unmöglich, darin zu lesen und die Stimmung dahinter zu erkennen – einerseits deswegen, weil er das auch nicht wollte. Statt einer Entschuldigung, die mehr als angebracht wäre, bekam er von ihm dann auch noch eine Frage gestellt.

„Geht es dir gut?“

„Um mich geht es hier nicht“, lenkte Luan in einem barschen Ton ab. „Sie wissen doch etwas über Geißeln, zumindest haben Sie vor unserem Aufbruch hierher noch so getan. Wissen Sie auch, was sie mit ihrem Wirt anstellen? Dieser Verrell hat vor, Ferris zu brechen, also fragen Sie nicht nach mir, sondern machen Sie sich lieber Gedanken um ihn. Wir werden ihm helfen.“

Wie in Zeitlupe hob Vane einen Arm und legte seine rechte Hand nachdenklich an sein Kinn. „Das klingt verdächtig danach, als hättest du einen Plan?“

„So in etwa. Verrell hat Spielregeln aufgestellt.“

„Spielregeln?“

„Ich durfte übrigens nur einen von euch zurückholen lassen“, betonte er vorwurfsvoll. Anschließend verringerte er das letzte bisschen Distanz zwischen ihnen, indem er einige Schritte auf ihn zukam, bis er genau vor ihm stand. „Und eins sage ich Ihnen, meine Wahl fiel sicher nicht aufgrund von Sympathie auf Sie. Sie haben mich mit Ihrer Prägung an diesen Ort gebunden, ohne Sie hätte ich den Buchladen gar nicht verlassen können.“

Nach diesen Worten fixierte Luan ihn mit einem glühenden Blick, den Vane offenbar richtig zu deuten wusste, seinen zusammengezogenen Augenbrauen nach zu urteilen. Nur die folgende Berührung empfand er als reichlich überflüssig. Vanes Hand löste sich von seinem Kinn und legte sich nun auf Luans Schulter, die er sacht drückte.

Befehl negieren“, sagte er mit seiner Schall-Prägung, womit er die unsichtbaren Fesseln von Luan löste.

„Besten Dank“, entgegnete dieser ironisch und wischte Vanes Hand von seiner Schulter. „Gut, gehen wir. Wir müssen nur noch Mara holen.“

„Gehen?“, wiederholte Vane aufmerksam. „Wohin?“

„Zurück nach Hause.“ Bevor er darauf reagieren konnte, sprach Luan bereits weiter. „Ich muss dort etwas erledigen und Sie auch. Sie müssen nämlich die Atemhypnose von mir lösen, auch dafür habe ich Sie zurückgeholt.“

Augenblicklich stieß Vane ein leises Seufzen aus, weil ihm das natürlich nicht in den Kram passte, aber ab jetzt ließ Luan sich nicht mehr von ihm bevormunden oder gar unterdrücken. Nicht, wenn das Wohl von Ferris hier auf dem Spiel stand.

„Sie werden es tun, andernfalls riskieren Sie nicht nur Ferris’ Leben, sondern auch, dass ich Sie noch mehr zu hassen lerne. Und ich soll mich doch nicht aufregen.“

„Richtig“, bestätigte Vane, ließ sich aber nicht von seiner Entschlossenheit beeindrucken. „Was hat deine Atemhypnose mit Ferris’ Leben zu tun?“

„Das kann ich Ihnen hier nicht erklären, die Wände könnten Ohren haben.“

In diesem Augenblick könnte Verrell sie belauschen oder sogar beobachten, demnach hatte Luan im Grunde schon viel zu viel verraten. Sie sollten auf der Stelle von hier verschwinden und alles weitere später besprechen, mit einem sicheren Abstand zum Buchladen. Nein, besser erst, wenn sie komplett aus der Stadt heraus waren, also später in Athamos. Noch immer hegte Luan den Verdacht, dass Verrell sich bereits mehrere Refugien geschaffen haben könnte, mit denen er sich durch Limbten bewegte.

Deshalb drehte er sich Richtung Treppe, die nach oben in den ersten Stock führte, und ließ ohne weitere Worte die ersten Stufen hinter sich, damit er Maras Zimmer aufsuchen konnte. Unaufgefordert folgte Vane ihm, sicher eher widerwillig und nur, um ihn nicht aus den Augen zu lassen.

„Warte, Luan. Bernadette ist noch hier und auch in Gefahr.“

„Schon klar, aber auch ihr können wir jetzt noch nicht helfen.“

„Luan.“ Von hinten griff Vane nach seinem rechten Arm und hinderte ihn so daran weiterzulaufen. „Ich kann das nicht tun.“

Angespannt blickte Luan über die Schulter und musste sich sehr zurückhalten, Vane nicht wütend anzufauchen. In dessen Augen hatte sich etwas verändert, wegen dem Luan den Drang dazu aber sowieso schlagartig verlor. Da war wieder dieser traurige Glanz zu sehen, den Vane ihm schon mal gezeigt hatte, gestern erst. Sorge strömte aus den dunkelbraunen Tiefen seiner Augen hervor und versuchte, ihn in eine Umarmung einzuschließen.

Was sollte das? Woher kam diese Seite an Vane? Irgendwie fühlte sie sich seltsam vertraut an. So sehr, dass sich ein schlechtes Gewissen in Luan anbahnen wollte, weil er sich so abweisend ihm gegenüber verhielt. Dabei war Vane doch selbst Schuld, wenn er all diese Dinge tat, ohne ihm etwas zu erklären.

„Lassen Sie mich los“, murmelte Luan unwohl. „Ich hasse Körperkontakt.“

„Entschuldige.“ Endlich hatte Vane es mal gesagt. „Ich weiß.“

Er ließ seinen Arm los und fuhr sich nervös durch die Haare. Anscheinend konnte er nicht so kühl und unnahbar wirken, solange er nichts hatte, womit er seine Hände beschäftigen konnte. Oder ihn beunruhige diese gesamte Situation tatsächlich mehr, als Luan glauben wollte. Inzwischen war er nicht mehr sicher, was er überhaupt von Vane denken sollte.

Schweigend ging Luan weiter die Treppe hinauf und Vane tat es ihm gleich, ebenso still. So waren sie es voneinander gewohnt, nur erdrückte ihn diese Ruhe gerade mehr, als dass sie ihn entspannte, weshalb er doch etwas sagte.

„Wenn Sie es nicht tun, wende ich mich eben an Atanas“, warf er ein. „Er wird mir auf jeden Fall helfen, jemanden zu finden, der die Atemhypnose von mir löst.“

Hinter ihm schien für kurze Zeit ein Knistern in der Luft zu liegen, gefolgt von Vanes Stimme, deren Kälte sich zurück in den Vordergrund drängte. „Nein, das ist nicht nötig. Ich mache es.“

Glück gehabt. Aus irgendeinem Grund war Vane auf Atanas nicht gut zu sprechen, vermutlich weil der Anführer ihn fristlos kündigen würde, sobald der erfuhr, was er als Arzt alles heimlich für Forschungen betrieb. Jedenfalls war Luan erleichtert darüber, ihm so eine Antwort entlockt zu haben.

Unbedingt um Hilfe fragen wollte er Atanas nicht, obwohl er mit ihm sprechen musste, was für ihn schon heikel genug war. Der Gedanke, von der Mission abgezogen werden zu können, spukte noch in seinem Kopf herum.

„Geht doch“, kam es zufrieden von Luan – innerlich feierte er seinen Triumph ein wenig.

Oben angekommen suchten sie Mara in ihrem Zimmer auf. Auch ihr musste er dort im Anschluss nochmal deutlich sagen, dass er körperliche Nähe nicht mochte, weil sie vor lauter Erleichterung förmlich in seine Arme gesprungen war. Ein überraschend menschlicher Zug, was er aber nicht laut erwähnte. Mara entschuldigte ihr Verhalten daraufhin mit der Erklärung, dass sie die ganze Zeit über Angst gehabt hatte, er könnte nochmal einfach abhauen, so wie letztes Mal.

Diesmal hatte Luan sie nicht enttäuscht.

Schließlich brachte er sie erfolgreich dazu, mit ihnen den Buchladen, in dem es nicht mehr sicher war und sie beobachtet werden könnten, zu verlassen. Verstehend schloss Mara sich ihnen an und verzichtete vorerst auf weitere Fragen, was er sehr begrüßte. Somit fanden sie sich alle drei eine Weile später draußen wieder und folgten blind einer Richtung, hautsächlich um sich erst mal so weit wie möglich von Verrell zu entfernen.

„Wo gehen wir jetzt hin?“, erkundigte Mara sich, nachdem sie schon eine gewisse Strecke zurückgelegt und bisher geschwiegen hatten.

Luan schielte zur ihr hinüber. „In unser Hauptquartier.“

„Wirklich?“ Ihre Augen wurden größer. „Ich darf dahin mitkommen?“

„Das halte ich eigentlich für keine gute Idee“, mischte Vane sich in die Unterhaltung ein.

Sein Blick wanderte von Mara zu ihm. „Sie finden nie etwas von dem gut, was ich mache.“

„Außenstehende dürfen nicht mit ins Hauptquartier gebracht werden“, erinnerte Vane ihn, wobei er beide Hände in die Seitentaschen seines Kittels vergrub. „Nicht ohne Erlaubnis.“

„Sie ist aber nicht irgendeine Außenstehende, sondern ein Sakromahr.“

Damit erzählte er Vane allem Anschein nach nichts Neues, denn der sprach einfach weiter, ohne jegliche Anzeichen von Überraschung oder gar Verwirrung zu zeigen – Bernadette musste es ihm schon verraten haben. „Ein Grund mehr, sie nicht mitzunehmen.“

Ehrlich gesagt verwirrte er mit dieser Aussage nun eher Luan, der auch gleich die Stirn runzelte. Sakromahre mochten unter Traumbrechern zu den Alpträumen zählen, galten aber als heilig. In Athamos käme niemand auf die Idee, Mara etwas anzutun, zumal sie auch absolut harmlos war.

„Nimmst du mich nur deswegen mit?“, hauchte sie leise.

Da sie stehengeblieben war, hielt auch Luan inne, genau wie Vane. Beide warfen sie den Blick fragend zu Mara, völlig ratlos darüber, wieso sie sich daran störte.

„Hättest du mich auch mitgenommen, wenn ich nicht ihr Sakromahr wäre?“, fügte sie hinzu.

Jetzt huschte Vanes Blick zu Luan, was ihm nicht gefiel. Gerade er sollte nicht erfahren, wer Mara genau war und was sie für ihn bedeutete. Zumindest nicht solange er ihm noch misstraute, egal wie oft Vane ihm gegenüber auch Gefühle zeigen mochte. Alleine das entlastete ihn noch lange nicht, daher musste er ihn mit etwas ablenken.

„Vane, rufen Sie Naola an.“ Fordernd erwiderte Luan kurz dessen Blick. „Sie sollte wissen, was los ist und die Stadt für uns im Auge behalten.“

„Mache ich“, gab Vane erstaunlich schnell nach. "Es heißt übrigens immer noch Doktor Belfond."

Während er sein Handy hervorholte und Naolas Nummer wählte, trat Luan näher zu Mara. Dort senkte er etwas seine Stimme, um möglichst ungestört mit ihr reden zu können. Dummerweise wusste er, wie gut Vanes Ohren waren, doch er hoffte darauf, dass ihn ein Telefongespräch ausreichend beschäftigen könnte und ihm die Konzentration dafür nahm, nebenbei auch noch zu lauschen.

„Ich dachte, wir wollten noch unser Gespräch fortführen?“

„Ja, schon ...“ Mara drückte das Buch enger an sich, das sie noch bei sich trug und weiterhin wie einen Schatz hütete. „Ich habe nur etwas Angst.“

„Wovor? Hör nicht auf Vane, ich passe schon auf dich auf. Bei uns bist du sicherer aufgehoben als hier.“ Darauf reagierte sie nicht, also lag es an ihm, das zu übernehmen und weiterzusprechen. „Du musst mir doch auch noch etwas von Estera ausrichten, hast du gesagt.“

Und das wollte er unbedingt hören. Der Gedanke, dass Estera womöglich noch irgendwo lebte oder auf andere Weise existierte, war für ihn momentan der einzige Lichtblick in diesem ganzen Chaos, auf den er nicht verzichten konnte. Das musste Mara doch verstehen, besonders als Sakromahr von Estera, sicher trug sie ein paar ihrer Gefühle und Erinnerungen in sich.

„Verstehe“, brachte sie mühevoll hervor und ihr Griff um das Buch lockerte sich ein wenig. „Du hast recht. Ich muss tun, wofür ich hier bin.“

„So wie ich ...“, unterstützte Luan diese Aussage.

Automatisch glitt sein Blick prüfend zu Vane. Noch brauchte er ihn, aber Luan war davon überzeugt, dass er mit Bernadette zusammenarbeitete und ihr damals vielleicht auch zur Flucht verholfen hatte. Nachdem er endlich diese Atemhypnose endgültig los war, musste er das Atanas melden, damit der sich um Vane kümmerte und weiteres Unheil verhindert wurde. Das war seine Pflicht.

Eigentlich würde Luan vorher allerdings viel lieber in Erfahrung bringen, was genau Vane und Bernadette planten, wenn sie unter einer Decke steckten. Am besten überlegte er sich in Athamos genauer, wie er vorgehen sollte.

„Was ist mit Bernadette?“, riss Maras Frage ihn aus seinen Gedanken.

„Sie wird gerade noch von diesem Typen gefangengehalten, zusammen mit Ferris.“

Besorgt wanderte Maras Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Lag ihr wirklich etwas an Bernadette? Zugegeben, ihre mütterliche Ader hatte auch Luan einst vollkommen eingenommen, bis zu ihrem Verrat. Besser, er ließ Mara in dem Glauben, es mit einer guten Person zu tun zu haben, um sie nicht noch mehr zu belasten.

„Wir werden sie beide befreien“, versprach Luan ihr.

Zögernd sah sie ihn wieder an. „Das hoffe ich ...“

Nickend unterstrich er nochmal, wie ernst er es meinte, und wartete darauf, bis Vane sein Gespräch mit Naola beendet hatte. Es dauerte nicht lange und er berichtete, dass sie sich sofort melden würde, sobald sich etwas in Limbten tat. Also konnten sie diese Stadt beruhigt hinter sich lassen, für die nächsten drei Tage, doch Luan plante noch vor Ablauf dieser Zeit zurückzukehren.

Einige Schritte weiter entdeckten sie zwischen den Häusern eine weitläufige Gasse, in der sie unbeobachtet von hier verschwinden konnten. Dort angekommen, holte Luan seine Taschenuhr erneut hervor und legte sie sich um, woran Vane sich ein Beispiel nahm. Zu seiner Erleichterung flimmerte die hellblaue Sichtebene an diesem Ort nicht mehr, wofür seine Augen überaus dankbar waren. Sensibel auf grelle Lichtspiele zu reagieren konnte nervig sein.

„Mara, du musst mir jetzt vertrauen, so wie in der einen Welt“, bat Luan sie. „Dir wird nichts passieren. Gib mir deine Hand.“

Misstrauisch hatte Mara sich in der Gasse umgesehen und fragte sich bestimmt, wie man von hier aus zum Hauptquartier der Traumbrecher gelangen sollte. Dennoch reichte sie Luan ihre Hand, so dass er diese zu seiner Uhr führen könnte, um eine Verbindung zu ihr herzustellen. Für den folgenden Schritt war das zwingend notwendig.

Eine der Schutzvorrichtungen hinderten Außenstehende ohne eine eigene Taschenuhr sonst daran, nach Athamos zu gelangen. In Begleitung eines Traumbrechers, der mit so einer Person verbunden war, machte das System aber eine Ausnahme. Atanas erfuhr auf die Weise nur sofort, dass er eine Fremde mit nach Hause brachte.

„Lass sie nicht los, bis ich dir das Okay dazu gebe.“

„Bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst, Luan?“, hakte Vane ein letztes Mal nach, dem das alles nach wie vor nicht gefiel.

Luan musste ihn enttäuschen. „Ja. Wir gehen nach Athamos.“

Dadurch, dass er den Namen laut ausgesprochen hatte, regte sich etwas in der Atmosphäre. Vor ihnen tanzten scheinbar aus dem Nichts violette Blitze in der Luft herum und verzerrten an der Stelle das Bild der Realität. Kreisförmig zogen Farben und Formen sich zusammen, bis die Spannung zu stark wurde und an der Stelle die Wirklichkeit plötzlich mit einem hellen Klang zersplitterte. Farblose, leere Splitter regneten zu Boden und gaben den Blick auf den Eingang nach Athamos frei:

Eine gewöhnliche Bogentür aus dunklem, massivem Holz, verziert mit allerlei kunstvollen Ornamenten. Der Rahmen bestand aus einem weißen, durchsichtigen Gestein, das leicht schimmerte, und an dessen oberen Ende ein großer Rubin zierte. Ein Auge, um genau zu sein, das sich bewegte und sie sogleich prüfend musterte. Kurz darauf öffnete sich die Tür selbstständig nach innen und lud sie dazu ein hereinzukommen.

Auf der anderen Seite war von ihrem Standpunkt aus nur ein weißes, strahlendes Licht zu sehen. Anders als sonst blendete es Luan aber nicht, es war vielmehr angenehm. Man verlor sich leicht darin.

„Los, gehen wir.“

Gemeinsam mit Mara trat er durch die offene Tür und achtete darauf, dass sie die Hand auch fest um seine Taschenuhr geschlungen hielt. Dicht hinter ihnen folgte Vane.

Als alle drei verschwunden waren, fingen die heruntergefallenen Splitter auf dem Boden an zu schwebten und kehrten zurück in die Luft. Stück für Stück, genau wie bei einem Puzzle, setzten sie sich dort zusammen, bis das Bild der Realität unverfälscht wiederhergestellt war. Nichts deutete mehr auf etwas Ungewöhnliches hin.

Luan, Vane und Mara hatten Limbten verlassen.

Ich bin gerade erst angekommen

Sie tauchten gänzlich in dem strahlend weißen Licht, das sie auf der anderen Seite der Tür empfing, ein, und fielen. Für einen kurzen, beunruhigenden Moment lang wirkte die Schwerkraft auf sie und zerrte ihre Körper hinab ins endlos anmutende Nichts. Panisch klammerte sich Mara bei diesem unerwarteten Sturz sofort hilfesuchend an Luan fest und kniff aus Reflex die Augen zusammen.

Diese Körpernähe behagte ihm zwar nicht, aber er legte dennoch verständnisvoll einen Arm um ihre Hüfte und hielt sie so fest, mit der Absicht, ihr dadurch etwas Sicherheit zu schenken, obwohl sie noch fielen. Negative Gefühle erweckten hier im Sicherheitsnetz sonst nur zu viel Misstrauen, doch er wusste, wie beängstigend es sein konnte, wenn man das erste Mal durch ein Tor nach Athamos schritt. Ihm ging es damals nicht anders, ohne jegliches Vorwissen siegten stets die schlimmsten Vorstellungen.

Für Mara mussten sich die Sekunden, in denen sie unaufhaltsam nach unten stürzten, wesentlich länger und intensiver anfühlen. In Wahrheit dauerte es aber nicht lange, bis die Schwerkraft nachließ und sie allmählich zu schweben anfingen, getragen von dem angenehm warmen Licht, das sich wie eine zweite Haut über sie gelegt hatte, sie wirklich zu berühren schien. Gemächlich glitten sie weiter hinab, wie schwerelose, leichte Federn.

Als Mara diese Veränderung bemerkte, öffnete sie wieder zögerlich die Augen und blickte sich nervös um. Noch gab es jedoch nichts anderes als dieses Weiß zu sehen, von dem sie getragen wurden. Erst als ihr Flug schließlich endete und unter ihren Füßen auf einmal ein unsichtbarer Widerstand zu spüren war, der sie hielt, änderte sich etwas an der Umgebung, was sich kaum wahrnehmen ließ. Luan machte sich nicht die Mühe, Mara darauf hinzuweisen.

„Fast geschafft“, sagte er ruhig und zog sie behutsam mit sich. „Du musst keine Angst haben.“

„Ich habe keine Angst“, behauptete sie leise und ging mit kleinen Schritten vorwärts. „Mich hat das nur etwas erschreckt.“

Vane, der schon aufgrund seiner Körpergröße zu weitaus längeren Schritten fähig war als sie beide, ging schweigend an ihnen vorbei, in einem zügigen, strammen Tempo. Seine Gestalt wurde nach und nach von dem Licht verschluckt, je weiter er sich von ihnen entfernte, bis er nicht mehr zu sehen war. Wenige Augenblicke später konnte man nur noch anhand eines Quietschens, das sich ungewöhnlich wohlklingend anhörte, erahnen, dass er soeben durch eine weitere Tür gegangen sein musste.

Auch für sie wurde nach einer Weile im Licht die nächste Tür sichtbar, abermals aus Holz, aber diesmal ohne irgendwelche nennenswerten Details. Völlig einsam stand sie ohne Rahmen mitten an diesem Ort herum, geduldig darauf wartend, als Durchgang für jemanden dienen zu dürfen. Ohne zu zögern griff Luan nach der Klinke, öffnete die Tür und führte Mara mit sich hindurch, hinaus aus dieser Ebene, die den Verbindungsweg darstellte.

Dadurch lösten sich die kaum sichtbaren Fäden von ihnen, dank denen ihr Sturz vorhin in ein schwereloses Segeln übergegangen war, und blieben im Licht zurück, aus dem sie selbst bestanden. Kaum hatte Luan die Tür hinter ihnen geschlossen, kehrte Normalität zurück, was das Körpergefühl anging. Kein Fallen. Kein Schweben. Alles war normal.

Mara sah das offenbar anders, denn sie blickte sich mit großen Augen um, nun mehr fasziniert als nervös. „Wo sind wir hier?“

„In Athamos“, beantwortete Luan ihre Frage – hier durfte man den Namen ruhig offen aussprechen. „Das ist unser Portalraum.“

Ihre Faszination konnte er gut nachvollziehen, denn selbst heute empfand er diesen Ort selbst noch als magisch und beeindruckend, schon weil der Raum sehr weitläufig war.

Im Zentrum ragten kreisförmig steinerne Wände in die Höhe, wie ein großer, breiter Turm. In ihm ließen sich noch mehr Türen finden, die tiefer ins Hauptquartier hineinführten. Golden schimmernder Efeu schlängelte sich außen an dem Gestein empor und verschwand mitsamt der Wand in einen dunklen Nachthimmel, an dem unzählige Sterne funkelten.

Schmale Wege aus Stein führten schwebend von etlichen Türen aus, die allesamt völlig willkürlich im Raum verteilt herumstanden, zum Turm in der Mitte, genau wie jeder einzelne Zweig eines Baumes stets zurück zum Stamm führte – Luan stellte sich darum gern vor, der Nachthimmel bildete eine Art Wiese mit Glühwürmchen und alles stände auf dem Kopf, denn der Grund könnte farblich perfekt nach oben passen.

Nur ein Meter unter ihnen ruhte nämlich ein tiefer See, aus dem der Efeu hervorkam und sich an einigen Stellen auch um die brückenartigen Pfade über der Wasseroberfläche klammerte. Davon ließen sich die Traumbrecher, von denen hier immerzu irgendwo welche herumliefen, aber nicht stören. Solange man sich hier vorsichtig bewegte, konnte man eigentlich nicht einfach vom Weg herunterfallen. Ferris hatte es trotzdem einmal geschafft ...

Ferris, dachte Luan besorgt.

„Das Wasser“, hörte er Mara sagen, „sieht so schön aus.“

Der See bestand aus allerhand verschiedenen Blautönen, die harmonisch ineinander übergingen. Aus den Tiefen des Wassers heraus erfüllte ein beruhigendes Glühen den Portalraum gedämpft mit Licht, weshalb es über ihnen dunkel war, doch selbst die Sterne spendeten ein wenig Helligkeit. Durch den Efeu glitzerte der See leicht golden.

„Komm, gehen wir“, drängte Luan und löste seinen Arm von ihr, da sie jetzt keine Angst mehr zu haben schien. „Hier herrscht ständig Betrieb, also sollten wir besser nicht zu lange im Weg herumstehen. Oh, und du kannst meine Uhr jetzt loslassen.“

Diese letzten Worte betonte er mit etwas Nachdruck, weil sie sich daran erinnern sollte, dass er Nähe nicht mochte. Glücklicherweise vertraute sie ihm wohl genug, um ohne Misstrauen seiner Bitte mit einem knappen Nicken nachzukommen. Nachdem sie sich von seiner Taschenuhr getrennt hatte, nahm er sie sofort ab und steckte sie zurück in seinen Mantel, bevor er Mara mit einer raschen Handbewegung zu verstehen gab, dass sie vorgehen sollte.

Auch dieser Geste folgte sie ohne Widerworte und bewegte sich langsam über den schmalen, gewundenen Pfad, der sich ab und zu mit anderen kreuzte, Richtung Turm. Sogar für sie musste es offensichtlich sein, dass dort der Ausgang lag, auch wegen den anderen Traumbrechern, die stetig ein und aus gingen. Von Vane war aber auch hier weit und breit nichts mehr zu sehen, bestimmt war er schon ohne sie weitergegangen.

Wenn er dachte, er könnte sich davor drücken, sich um Luans Atemhypnose kümmern zu müssen, indem er vor ihm weglief, irrte der Arzt sich gewaltig.

Denk daran, Vane, du hast schon zugestimmt.

„Ist der Himmel echt?“, fragte Mara unterwegs und warf zwischendurch immer wieder mal einen Blick nach oben, konzentrierte sich jedoch lieber mehr auf den Weg.

Auch Luan sah nun kurz hinauf. „Nein, jedenfalls handelt es sich dabei nicht um denselben Himmel wie draußen, in der Realität.“

„Also ist er künstlich?“, vermutete sie.

„Richtig.“

Auf einmal wirkte sie ein wenig bedrückt. „Verstehe ...“

„Aber er ist durchaus echt“, stellte Luan richtig. „Wir können ihn sehen, die Sterne spenden uns ein bisschen Licht und der Anblick löst etwas in uns aus, sei es Begeisterung oder Gleichgültigkeit. Das macht ihn doch auf eine besondere Art lebendig.“

Mara gab nur einen nachdenklichen Ton von sich, statt noch etwas darauf zu sagen, woran er sich keineswegs störte, vielmehr hieß er diese Ruhe willkommen. Reden lag ihm eigentlich nicht so wirklich, es sei denn, ein Thema interessierte ihn. Träume zum Beispiel, darüber könnte er eine Menge sagen, doch selbst dafür war jetzt nicht die richtige Zeit.

Je näher sie dem Turm kamen, desto öfter trafen sie mit anderen Traumbrechern zusammen, die aber überwiegend nur aus Höflichkeit einen knappen Gruß aussprachen und sich nicht von Maras Anwesenheit irritieren ließen. Immerhin könnte sie einfach nur ein neues Mitglied sein, was nicht weiter verwunderlich wäre. Manchmal schlugen regelrecht Wellen von Neulingen auf Athamos nieder und oft kam man nicht mal dazu, jede Person richtig kennenzulernen.

Am Ziel angekommen, übernahm Luan wieder die Führung und öffnete eine bestimmte Tür, durch die sie in eine runde Halle kamen, dem Vorraum, der im Keller von Athamos lag. Auch hier zeichneten etliche Türen in den Wänden den Ort aus, nur war es nicht mehr so magisch wie vorher. Alles war aus altem, grauem Gestein und es gab keinerlei Lichtquellen, woran man sich als Traumbrecher natürlich nicht störte, wenn man an die Dunkelheit gewöhnt war.

Der einzige Blickfang, neben den Türen, bildete eine Wendeltreppe, die sich um eine stabile, weiße, Säule herumschlängelte, und zu sämtlichen Stockwerken sowie Bereichen in Athamos führte. In unregelmäßigen Abständen huschten Traumbrecher zwischen den Türen und der Haupttreppe hin und her und umgekehrt. Niemals herrschte hier Ruhe, es war immer etwas los. Schade, denn es gab Zeiten, in denen Luan zu gern den Portalraum betreten wollte, nur um sich einfach von der Magie des Ortes beruhigen zu lassen.

„Ich nehme an, du willst das sofort erledigen?“, lenkte eine Stimme seine Aufmerksamkeit auf sich und ließ diesen Gedanken zurück in den Hintergrund rücken.

Vane hatte offenbar hier auf sie gewartet und stand mit verschränkten Armen nahe der Treppe, den Blick fest auf Luan gerichtet, so ernst wie eh und je. Jeder Traumbrecher, der an dem Arzt vorbeigehen musste, wirkte sichtlich angespannt und eilte schnell durch den Raum, als wäre er auf der Flucht. Außer Naola gab es eben sonst keine andere Person, die mit Vane auskam. Höchstens Bernard, doch der war auch kein Mensch.

„Wenn Sie die Atemhypnose meinen, dann ja“, bestätigte Luan und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. „Ist das für Sie ein Problem?“

Diese Frage musste sich provokanter anhören, als er es beabsichtigte, denn Vane hatte schon oft genug gezeigt, dass er ein Problem damit hatte. Er wollte auch eher wissen, ob es zeitlich gerade nicht sofort möglich wäre, weil es verdächtig danach klang, als käme jetzt eine Erklärung, warum er sich noch in Geduld üben müsste.

Genau diese Befürchtung machte Vane auch sogleich wahr: „In der Tat, es benötigt einige Vorbereitungen. Es soll diesmal doch anständig gemacht werden, oder nicht?“

„Natürlich“, brummte Luan leise, dem es nicht gefiel, noch länger warten zu müssen. „Egal, ich muss sowieso zu Atanas und Bericht erstatten, dann mache ich das zuerst. Wie viel Zeit brauchen Sie?“

„Mindestens einen Tag.“

„Was? Einen ganzen Tag?“

„So sieht es aus.“

Seufzend löste Luan die Arme wieder voneinander. „Dieser Verrell hat mir drei Tage gegeben, deshalb gebe ich Ihnen wirklich nur einen Tag Zeit. Mehr nicht.“

Am liebsten wäre er heute schon zurück zum Buchladen gegangen, um Ferris und Bernadette zu befreien, und vor allem diese Geißel zu vernichten, aber seit den letzten Tagen legten sich ihm ja scheinbar gern Steine in den Weg. Wenigstens diskutierte Vane nicht mit ihm, sondern nickte verstehend und wandte sich bereits der Treppe zu.

„Das reicht vollkommen. Komm morgen um diese Zeit zur Krankenstation.“

„Ich werde da sein“, versicherte Luan ihm.

Aufmerksam verfolgte er mit den Augen anschließend jeden Schritt von Vane, wie er die einzelnen Treppenstufen aus milchigem Glas emporstieg, bis er aus seinem Sichtfeld verschwand. Statt ihm gleich zu folgen und selbst mit Mara nach oben zu gehen, blieb er noch kurz unten mit ihr stehen, damit er sicher sein konnte, den Arzt für heute nicht mehr sehen zu müssen.

Plötzlich ertönte in der dunklen Halle dann ein lauter Knall und hallte wie ein wütender Fluch von den Wänden wider. Vor Schreck war Mara zusammengezuckt und direkt näher zu ihm gerückt. Noch bevor Luan den Kopf zur Seite drehte, wusste er jedoch schon, wer für diesen Lärm verantwortlich sein musste, und seine Vermutung fand Bestätigung, kaum dass er einen Traumbrecher ins Auge fasste, den er gut kannte.

„So ein Scheiß!“, stieß dieser genervt hervor, ohne jemand bestimmten anzusprechen – er war ganz alleine durch eine Tür aus dem Portalraum gekommen. „Dieser Job wird immer langweiliger. Es gibt echt keine Herausforderungen mehr, diese Alpträume scheinen von Tag zu Tag schwächer zu werden.“

Rowan Durante, so hieß derjenige, der sich gerade lautstark beklagte und dabei von den anderen ignoriert wurde. Ähnlich wie bei Vane huschten sie zügig an ihm vorbei, nahezu panisch, als hätten sie Angst, sonst in sein Visier geraten zu können. Für Luan war es unglaublich, dass jemand wirklich als noch unbeliebter galt. Seiner Meinung nach blieb Vane um einiges anstrengender, aber ihm konnte es egal sein, was die restlichen Traumbrecher dachten.

Hinter Rowan hatte die Tür, die er mit zu viel Gewalt zugeknallt haben musste, einen langen, tiefen Riss im Holz, wofür er mit Sicherheit Ärger bekäme, wie so oft. In der Regel genügte jedoch ein Schöpfer, um solche Schäden rückgängig machen, andernfalls käme er mit diesem Vandalismus sicherlich nicht so leicht davon.

Erst als Rowan Richtung Treppe ging, entdeckte er auch Luan, und der zornige Funke in seinen giftgrünen Augen verblasste gleich etwas. „Hey, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Kommst du oder gehst du gerade?“

„Ich bin gerade erst angekommen“, antwortete Luan und nickte ihm zur Begrüßung zu.

„War deine Mission auch so langweilig wie meine?“

„Kann ich nicht behaupten ...“

Ausführlicher wollte er nicht unbedingt werden, deshalb hoffte er, Rowan hakte nicht weiter nach. Das blieb Luans Mission, auch wenn Rowan bestimmt keine Probleme damit hätte, eine Geißel mit nur einem Schlag seines riesigen Hammers zu zermalmen. Zu seiner Erleichterung schnaubte Rowan aber nur unzufrieden und funkelte ihn neidisch an.

„Meine Fortuna muss mich hassen.“

Es wirkte jedes Mal merkwürdig, sobald jemand wie Rowan etwas von Glück abhängig machte. Zwar trug er eine Brille, war jedoch alles andere als gebildet und wortgewandt, dafür besaß er einen muskulösen, kräftigen Körperbau, was ein typisches Merkmal für Traumbrecher mit einer Koloss-Prägung war. Einzig sein rosa-farbenes Haar zerstörte das Bild von einem gnadenlosen Kämpfer und darunter litt er auch ziemlich, wie Luan wusste.

Neben Naola war Rowan noch eine der Personen mit außergewöhnlichen Haarfarben, die er kannte. Im Nacken hatte er sie sich zu einem kleinen Zopf zusammengebunden und vernachlässigte ihre Pflege ansonsten deutlich, vermutlich um dem Rosa irgendwie entgegen zu wirken. Sie standen scheinbar ohne jede Hilfe von Haargel oder etwas in der Art nach oben ab.

Das größte Merkmal an Rowan blieb allerdings dessen Blick, dem man nachsagte, er könnte töten, ließ man sich nur zu lange auf diesen ein. Das immerzu dunkle Knurren in seiner Stimme unterstrich diesen Eindruck zusätzlich. Damals hatte Luan einige Probleme und sogar Streit mit ihm gehabt, heute verstanden sie sich dagegen äußerst gut. Irgendwie erinnerte er sich nicht mehr so recht daran, wann sich das derart geändert haben könnte.

„Wer is’n das da?“, wollte Rowan wissen und starrte dabei zu Mara.

Wie die anderen jagte sein Blick auch ihr Angst ein, weshalb sie nur noch mehr Luans Nähe suchte und sich ein Stück hinter ihn stellte, womit sie Rowans Augen entkommen wollte. Beinahe zeitgleich mussten sie über dieses Verhalten seufzen, aus unterschiedlichen Gründen.

„Ihr Name ist Mara“, erklärte Luan ihm. „Sie ist mein Gast.“

„Kein Alptraum, also?“

„Kein Alptraum.“

„Schade, ich habe noch einiges an Energie übrig, die ich heute nicht nutzen konnte.“

„Alpträume kämen hier doch gar nicht rein“, erinnerte er Rowan, ohne belehrend dabei klingen zu wollen. „Wegen dem Sicherheitsnetz.“

Dennoch wirkte er gekränkt, seine Stirn bildete tiefe Krater. „Ja ja, hoffen darf man wohl noch.“

Mit diesen Worten schob er sich an ihnen vorbei und stieg die Treppen nach oben, woran Luan sich diesmal ein Beispiel nahm. An Rowans Seite konnte er sicher sein, von niemandem über Mara ausgefragt zu werden. Gerade weil Luan normalerweise ziemlich genau auf die Regeln achtete, gab es den einen oder anderen, der ihm das noch nachtragen und jede Chance nutzen könnte, einen Fehler bei ihm zu finden. Davor fürchtete er sich doch mehr, als er bisher dachte.

Unruhig warf er einen Blick zu seinem Gast, den er bei Atanas noch anmelden musste. Jede Berührung mit einer Stufe der Treppe ließ diese schwach aufleuchten, wovon Mara sich sofort in den Bann ziehen ließ und jeden einzelnen ihrer eigenen Schritte beobachtete. Ihr Verhalten weckten in ihm noch mehr Erinnerungen an damals, an die Zeit, als er neu hier war und genauso fasziniert auf diese ganzen Dinge reagiert hatte.

„Was hast du jetzt vor?“, erkundigte er sich unterwegs bei Rowan, Mara blieb nach wie vor dicht hinter ihm.

„Ich verzieh mich in eine Trainingshalle und tobe mich noch etwas aus.“

„Könntest du mir vorher vielleicht einen Gefallen tun?“

Abrupt blieb Rowan stehen und blickte misstrauisch über die Schulter. „Seit wann bittest du jemanden um etwas? Sonst willst du auch alles alleine machen.“

Es stimmte, dass es Luan äußerst wichtig war, möglichst viele Aufgaben selbstständig zu bewältigen, was Rowan am besten verstehen sollte. Der besaß nicht mal einen Partner, mit dem er bei besonders schwierigen Fällen zusammenarbeiten könnte, aber für ihn schien es auch nichts zu geben, das ihn wirklich ausreichend zu fordern wusste. Jedenfalls war er ein absoluter Einzelgänger.

„Ich bitte auch nicht irgendjemanden, sondern dich“, entgegnete Luan ernst und trat einen Schritt zur Seite, so dass er Mara besser sehen konnte. „Würdest du sie für mich in mein Zimmer bringen? Ich muss dringend zu Atanas, dorthin kann ich sie nicht mitnehmen, und dir traue ich.“

Prüfend wanderte Rowans Blick erneut zu Mara. „Du kannst mir versichern, dass sie keine Gefahr darstellt?“

„Absolut.“

Darüber musste Luan gar nicht erst nachdenken, Sakromahre waren gutartig, selbst wenn man sie auch mit negativen Wünschen erträumte. Nicht umsonst galten sie als heilig, sie bestanden aus reiner Energie, daher konnte er das so sicher sagen, ohne Mara gut genug zu kennen. Kaum zu glauben, dass erst ein paar Tage vergangen waren.

„Meinetwegen“, knurrte Rowan zustimmend und setzte seinen Weg fort. „Sie soll mir einfach folgen.“

Genau das mochte Luan an ihm, er stellte nicht zu viele Fragen und nahm die Dinge schnell so hin, wie sie waren. Bei manchen Alpträumen war so eine Einstellung eher gefährlich, aber was solche zwischenmenschliche Situationen anging, empfand er es als angenehm. Möglicherweise stimmte Rowan aber auch nur zu, weil er Luan noch etwas schuldete, was mehr zutreffen sollte.

„Hast du gehört?“, wandte Luan sich an Mara und ging dabei auch weiter. „Folge ihm, er wird dich zu meinem Zimmer bringen. Sobald ich mit Atanas gesprochen habe, komme ich zu dir, also warte dort auf mich und geistere nicht hier herum.“

Ihr Mund öffnete sich erst, schloss sich aber wieder, ohne dass ein Wort über ihre Lippen gekommen war, und machte einem simplen Nicken Platz. Noch konnte er nicht so recht einschätzen, ob sie sich nicht traute, etwas zu sagen oder sie nur begriffen hatte, dass ihm so eine Art lieber war.

„Ist der Alte eigentlich auch zurück?“, zog Rowan mit dieser Frage die Aufmerksamkeit zurück zu sich.

„Vane?“, ging Luan darauf ein. „Ja.“

„Endlich. Er nutzt immer die Gutmütigkeit von Nevin aus und lässt ihn an seiner Stelle in der Krankenstation schuften, wenn er mal länger weg muss.“

Nevin Durante war der jüngere Bruder von Rowan und stand demnach unter dessen Schutz. Kein Wunder, dass er sich daran störte, zu sehen, wie Nevin für Arbeiten missbraucht wurde, die gar nicht in seiner Verantwortung lagen, dabei half der sicher gern aus. Zumindest konnte Luan sich das gut vorstellen, Rowans Bruder war für seine Hilfsbereitschaft und seinen netten Charakter bekannt und bei jedem beliebt.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich aufrichtig, da es seine Schuld war, dass Nevin den Ersatz spielen musste. „Mir wäre es auch lieber, Vane würde nicht jedes Mal angerannt kommen, sobald es um mich geht.“

„Dafür bist du echt zu bemitleiden.“

„Ich weiß.“

Als sie das Stockwerk erreichten, in dem sich auch die privaten Quartiere der Traumbrecher befanden, verließ Rowan die Treppe und blickte anschließend fordernd zu Mara. „Dann komm, ist nicht weit.“

„Gib mir aber vorher noch das Buch“, bat Luan und streckte dabei die Hand aus. „Ich muss es jetzt dorthin zurückbringen, wo es hingehört.“

Die ganze Zeit über hatte Mara es festgehalten, dicht an ihren Körper gedrückt, wie einen wichtigen Teil von ihr. Langsam löste sie es von sich und hob es etwas an, um es ein letztes Mal genau anzusehen, doch ihr Gesichtsausdruck wirkte seltsam unentschlossen. Im Grunde nützte es ihr nichts mehr, denn sie hatte darin keine Lösung für ihr Problem finden können. Ein Gefühl in ihr hing anscheinend dennoch an dem Buch, das ihr für kurze Zeit Hoffnung geschenkt hatte.

Luan kam sich schrecklich vor. Sein Pflichtgefühl befahl ihm, es ihr wegzunehmen, aber gleichzeitig wollte er Mara nichts entreißen, das ihr als einziges etwas bedeutete.

„Hallo?!“, machte Rowan ungeduldig Druck und interessierte sich gar nicht dafür, um was für ein Buch es überhaupt ging. „Ich hab auch nicht ewig Zeit.“

Kopfschüttelnd kehrte Mara aus ihrer Abwesenheit zurück und legte es in Luans Hand. „Danke, dass ich es so lange haben durfte.“

„Schon gut.“ Vorsichtig drehte Luan das Buch in seinen Händen. „Wir sehen uns später.“

„Wirklich?“ Ehe er darauf reagierten konnte, schüttelte sie bereits nochmal mit dem Kopf. „Entschuldige, ich meine, ja, bis später.“

„Stellt euch nicht so an, Luan muss nur ein paar Stockwerke höher, nicht ans Ende der Welt“, kommentierte Rowan diese Szene verständnislos und hob leicht die Hand zum Abschied. „Man sieht sich.“

Damit machte er sich zusammen mit Mara, die ihm nur ungern folgte, auf dem Weg zu Luans Zimmer, der ihnen noch eine Weile hinterher sah, dann aber auch weiterging. Sein nächstes Ziel lag ganz oben in Athamos, quasi auf dem Dach, wo die Schatzkammer zu finden war und Atanas lebte. Bisher hatte er noch niemals ernsthafte Probleme oder Ärger mit ihrem Anführer gehabt, warum war er also diesmal so nervös wegen dem folgenden Gespräch?

Ich habe die Mission noch nicht abschließen können ...

Nach einigen Schritten hielt Luan an und musste tief durchatmen. Bis morgen müsste er sowieso warten, also nahm er sich einen Moment lang Zeit, die Augen zu schließen und den Kopf in den Nacken zu legen, um zu lauschen. Wenige Sekunden später konnte er es hören, einen sanften, gleichmäßigen Herzschlag in der Ferne und den warmen Atem, von dem das gesamte Gemäuer von Athamos erfüllt wurde. Beides weckte ein vertrautes Gefühl in Luan, durch das er sich automatisch besser fühlte. Und doch ...

Ich habe Angst.

Seit er es kürzlich wieder so intensiv erleben musste, hatte dieses Gefühl ihn nicht mehr vollständig verlassen. Könnte es weiter zunehmen, sobald Vane die Atemhypnose vollständig löste? Wovor hatte Luan Angst? Dass Atanas ihn von der Mission abziehen könnte? In dem Fall müsste er sich nutzlos fühlen und verlor den Grund, der es ihm erlaubte, hier zu leben. Athamos war das einzige Zuhause, das er jemals besessen hatte.

Bedeutete das, er tat das alles am Ende doch nur für sich selbst?

Der Herzschlag wurde auf einmal lauter, als versuchte er, mit ihm Kontakt aufzunehmen und ihm Mut zuzusprechen, begleitet von einem sehnsuchtsvollen Hauch, den Luan noch nie ergründen konnte, seit er hier lebte. Er wusste nur, dass es sich richtig anfühlte, in Athamos zu sein, schon von Anfang an. Darum wollte er auch alles tun, um bleiben zu können und folgte gehorsam den Regeln.

„Ich werde keine Fehler machen“, sagte Luan zu sich selbst und verdrängte dabei, schon längst welche begangen zu haben.

Als er weiter die Treppen emporstieg, wurde sein Griff um das Buch stärker und er war nun derjenige, der sich hoffnungsvoll daran klammerte.

Willkommen zu Hause

Athamos war etwas Besonderes, viel mehr als nur ein Ort.

Es existierte zwischen der Realität und Aureuph, schwebte neben diesen beiden Ebenen in der Mitte, wie eine völlig eigene Welt. Alles hier konnte als ein einziger, großer und lebendiger Traum bezeichnet werden, wodurch dieses Hauptquartier für Außenstehende nicht so leicht ausfindig zu machen war. Erst recht nicht für gewöhnliche Menschen.

Ähnlich wie die Alpträume besaß auch Athamos ein eigenes Wesen, vielleicht sogar eine Seele. Deshalb fuhr stets ein sanfter Wind durch die Gänge und Räumlichkeiten, der warme Atem eines Lebewesens. Wer genau hinhörte, so wie Luan es gern tat, dem war es sogar möglich, einen gleichmäßigen Herzschlag wahrzunehmen. Ihm zu lauschen wirkte unbeschreiblich beruhigend.

Nahezu ständig war Athamos in Bewegung und blieb somit niemals lange an einem Fleck stehen, deswegen konnten nicht mal Dämonenjäger, zu denen Traumbrecher kaum bis gar keinen Kontakt hatten, den Aufenthaltsort bestimmen. Zusätzlich gab es auch noch obendrein das Sicherheitsnetz, sozusagen das natürliche Abwehrsystem von Athamos, dank dem sich jeder im Inneren dieses Traumes absolut sicher fühlen konnte.

Angeblich entstand Athamos einst kurz nach der Geburt dieser Welt und war seitdem über die Jahre hinweg derart herangewachsen, bis es irgendwann seine gegenwärtige Größe erreicht hatte. Logisch nachvollziehbare Anordnungen und Ausmaße der Räume sowie einen Bauplan suchte man hier vergeblich, vieles könnte draußen, in der Realität, nicht möglich sein. Selbst Luan hatte lange Zeit gebraucht, bis er das wirklich verstehen konnte und heute gehörte es für ihn mit zu seiner Normalität.

Am Ende der Wendeltreppe lag ein Dachboden, der höchste Punkt. Da es in ganz Athamos keine Fenster und nur wenige Lichtquellen gab, war es hier oben ebenso düster wie in den restlichen Bereichen. Ferris behauptete daher oft, viele Räume im Hauptquartier sähen wie Schauplätze für einen Horrorfilm aus, an denen jederzeit etwas Unheimliches geschehen könnte. Allerdings handelte es sich nicht um eine bedrückende Dunkelheit, was vielleicht daran liegen mochte, dass Luan und die anderen Traumbrecher damit längst vertraut waren und sich hier auskannten.

Als er über den dunklen Holzboden weiter vorwärts schritt, ertönte ein klares, helles Geräusch, das ganz und gar nicht zum Erscheinungsbild dieses alten Dachbodens passen wollte, der seine besten Jahre längst hinter sich hatte. Nach nur wenigen Metern drang ein leises Klingeln an seine Ohren und ein mattes Licht erhellte daraufhin plötzlich den Raum, ohne dass es eine ersichtliche Quelle dafür gab. Nun konnte man den feinen Staubfilm sehen, der hier in der Luft lag, wie ein geheimnisvoller Schleier.

Selbst in Athamos schien der Dachboden nur als eine Art Lager zu fungieren, in dem allerhand Gegenstände untergebracht wurden, deren Existenz längst in Vergessenheit geraten waren. Einst hatte Luan viel Zeit damit verbracht, alles unter die Lupe zu nehmen und bei manchen Utensilien zu ergründen, was sie überhaupt darstellen sollten. Noch dazu war dieser Raum nicht gerade klein, sondern erstreckte sich weit in alle Richtungen, wodurch es hier eine Menge zu erkunden und zu bestaunen gab, so dass sich einiges an Zeit totschlagen ließ.

Damals hatte Luan sich gefragt, warum Atanas die Traumbrecher ausgerechnet von solch einem Platz aus anführte – inzwischen wusste er, dass dieser Dachboden nur äußerlicher Schein war, um die wahre Schatzkammer vor neugierigen Augen verborgen zu halten. Niemand außer dem Anführer und diejenigen, denen er die Erlaubnis dazu erteilte, durften von hier aus tiefer in Athamos vordringen.

Etwa in der Mitte stand einsam und verlassen eine altmodische Holztür herum, genau wie im Portalraum unten im Keller. Davor kam Luan erst noch an einem Schreibtisch vorbei, an dem er kurz anhielt und eine Hand auf die leere Oberfläche legte. In der Vergangenheit saß hier immer die rechte Hand von Atanas, der unter anderem Termine für diesen geplant und darauf geachtet hatte, dass hier niemand nur zum Spaß herumlungerte. Heute leider nicht mehr.

Sein Name war Viorel gewesen. Viorel Xylon. Jemand, mit dem Luan sich gut verstanden hatte und der ihm auch die Bedeutung einiger Gegenstände erklären konnte, die es hier gab. Schon seit einiger Zeit war er nun fort und Luan erinnerte sich nicht so recht daran, wohin er verschwunden sein könnte oder was mit ihm passiert war. Auf die Frage wollte Atanas ihm auch keine Antwort geben, weshalb er es, schweren Herzens, irgendwann aufgeben musste, nach ihm zu suchen. Vergessen konnte er Viorel allerdings nicht und anscheinend ging es Atanas ähnlich, sonst hätte er diesen Posten längst mit einer neuen Person besetzt.

Nach einer Weile ging Luan weiter zur Tür und ließ sich von dem Klang des Herzschlages in Athamos nochmal Mut zusprechen, ehe er sacht klopfte. Anschließend wartete er geduldig, bis sich etwas tat. Selbstständig glitt die Tür nach innen auf und lud ihn somit in einen anderen, geschlossenen Raum ein, in ein Büro, das sich ihm dahinter offenbarte – gleichzeitig handelte es sich hierbei nur um ein weiteres Trugbild, von dem die Schatzkammer überdeckt wurde.

Kaum hatte Luan die Tür durchschritten, schloss sie sich hinter ihm auch bereits wieder lautlos. Dieses Büro zählte, wie der gesamte Dachboden, zu den Räumen in Athamos, mit denen er sich äußerst vertraut fühlte, weil er dort anfangs viel Zeit verbringen musste.

Anders als außerhalb dieses Büros gab es hier nichts Außergewöhnliches zu entdecken, alles wirkte überraschend normal, gepflegt und besonders ordentlich. Vom Stil her herrschte eine antike Ausstrahlung vor, die Luan sowohl als gemütlich als auch als unangenehm empfand. Manchmal fühlte er sich hier ins Waisenhaus zurückversetzt.

Links und rechts reihten sich hohe Bücherregale an den Wänden entlang, allesamt befüllt mit Märchenbüchern, nicht etwa mit schwerer, komplexer Lektüre, was einem auf den ersten Blick jedoch nicht auffiel. Vor einem großen, hölzernen Schreibtisch, der dem von Viorel verdächtig ähnlich sah, stand ein rot gepolsterter Stuhl, auf dem Luan sofort Platz nahm.

Zwar war außer ihm noch niemand anderes zu sehen, doch er kannte das schon. Vermutlich hielt Atanas sich im Moment noch in der Schatzkammer auf und war mit etwas beschäftigt. Normalerweise empfing er in dem Fall keine Schüler, machte bei Luan aber in der Regel eine Ausnahme, was die meisten mittlerweile nicht mehr sonderlich störte. Damals hatte er sich dafür viele Beschwerden anhören und Eifersucht einstecken müssen.

Schweigend saß Luan kerzengerade da, während er auf Atanas wartete, und versuchte sich im Kopf zurechtzulegen, was er genau sagen sollte. Umringt von einer bedrückenden Stille. Viel Zeit bekam er nicht, denn bald darauf tauchte sein Anführer bereits ebenfalls im Büro auf, indem er wie ein Geist durch eines der Bücherregale hindurch erschien. Augenblicklich spannte Luan sich noch mehr an.

„Guten Tag, Atanas“, sagte er direkt höflich. „Tut mir leid, dass ich störe.“

Das helle, stechend blaue Augenpaar von Atanas musterte ihn gründlich, seine Mimik blieb dabei ausdruckslos und verhärtet. Ein Anblick, an den Luan sich noch nicht gewöhnen konnte, weil er ihn als immerzu lächelnden, offenherzigen Mann kennengelernt hatte. Seit einiger Zeit schien Atanas Stück für Stück kälter zu werden, was seine Unsicherheit ihm gegenüber stärker werden ließ, doch sein Glaube an ihn blieb bestehen.

Weißes, schulterlanges Haar rahmte wellenförmig das markante Gesicht von Atanas ein, wodurch die Bräune seiner Haut gut zur Geltung kam. Sein Kleidungsstil erinnerte stets an die eines Priesters, die Mischung aus Blau und Weiß wirkte irgendwie besänftigend. Insgesamt machte Atanas einen erhabenen Eindruck, was von seiner unerwartet hellen Stimme, die Reinheit auszustrahlen schien, nur zusätzliche Betonung fand.

„Willkommen zu Hause“, erwiderte er Luans Gruß, bevor er sich selbst in einer fließenden Bewegung auf seinen eigenen Stuhl setzte. „Wie fühlst du dich?“

Trotz seiner Ausdruckslosigkeit im Gesicht schwang ehrliches Interesse im Tonfall seiner Stimme mit, als er diese Frage stellte. Er wollte das jedes Mal von Luan wissen, der darauf nur noch eine Antwort geben konnte, die sich zu einem Standard entwickelt hatte.

„Müde.“

„Und sonst?“

„Ein wenig durcheinander“, gab Luan zu, wenn auch nur ungern.

Nachdenklich lehnte Atanas sich zurück und tippte dabei mit dem Finger gegen seine Schläfe. „Weswegen denn?“

Irgendwie wusste er nicht, wie er darauf antworten sollte, obwohl es genug Gründe gab, die er ihm hätte aufzählen können. Trotzdem wollte er nichts Falsches sagen oder Atanas gar mit Nichtigkeiten belästigen, immerhin hatte er als Anführer mehr als genug zu tun. Verunsichert senkte Luan den Kopf, um dem Blick des anderen auszuweichen und so ohne Druck besser eine passende, gute Antwort finden zu können.

„Hm“, gab Atanas von sich. „Interessant.“

Irritiert hob Luan den Blick wieder an. „Entschuldigung?“

„Ah, ich habe nur laut gedacht“, erklärte er und winkte locker ab. Auf seinen Lippen schien sich nun tatsächlich doch ein Lächeln zu bilden. „Ich konnte gerade ein Verhalten an dir beobachten, das ich so schon länger nicht mehr gesehen habe.“

„Ja?“ Ratlos sah er Atanas an. „Was für ein Verhalten?“

Ein Kopfschütteln folgte. „Vergiss es ruhig. Wie gesagt, ich habe nur laut gedacht.“

Eigentlich hätte Luan gern erfahren, wovon er sprach. Etwas an seinem Verhalten war wieder so wie früher? Verstand er das richtig? Garantiert hatte das etwas mit der Atemhypnose zu tun, die nicht mehr richtig stabil war. Ja, es war eindeutig unheimlich, wie viel sie offenbar beeinflussen konnte, dabei sollte sie nur dazu da sein, Angst einzudämmen.

„Du bist doch sicherlich hier, um Bericht zu erstatten“, fuhr Atanas fort und sein Blick blieb weiterhin erwartungsvoll auf ihn fixiert. „Wie ist eure Mission verlaufen?“

„Das wissen Sie doch bestimmt schon.“

Auf einmal klang Atanas deutlich strenger. „Luan ...“

Du“, korrigierte er sich rasch selbst. „Das weißt du doch bestimmt schon.“

„Gut.“ Ein Nicken zeigte, dass er zufrieden war. „In der Tat, ich kann sehen, dass der Alptraum, wegen dem ich euch losgeschickt habe, noch nicht vernichtet wurde. Dennoch kann auch ich nicht alle Details verfolgen, wie du weißt.“

Wie genau Atanas dazu in der Lage war, Alpträume ausfindig zu machen und deren Standort bestimmen zu können, wusste niemand. Nur, dass eine einzigartige Prägung dahinter steckte, mehr hinterfragte auch keiner, solange es seinen Zweck erfüllte. Laut Verrell wollte ihr Anführer sie alle absichtlich in ihr Verderben rennen lassen und verschwieg ihnen deshalb wichtige Details, was Luan sich nach wie vor nicht vorstellen konnte und es kam ihm absurd vor, diese Aussage als Grund dafür zu wählen, warum die Einzelheiten über diese seherischen Fähigkeiten ein Geheimnis blieben.

Die Erklärung könnte auch einfach nur zu kompliziert sein.

„Nun, ich bin in der Tat wegen der Mission hier, auch wenn sie noch gar nicht abgeschlossen ist“, bestätigte Luan. „Ich will garantiert nicht deine Zeit stehlen, nur ...“

Es fiel ihm schwer, einen Anfang für dieses Thema zu finden. Erneut spürte er dieses negative Gefühl in der Brust, das nicht mal der Klang des Herzschlages zu beruhigen wusste, weil er seltsamerweise nicht mehr bis in dieses Büro vordringen konnte – oder wollte. Etwas sagte Luan, die Seele von Athamos wollte nicht bis hierher wirken. Wieso auch immer.

„Nur was?“, hakte Atanas nach, ohne ungeduldig zu klingen. „Luan, kann es sein, dass du Angst hast?“

Sofort wollte er widersprechen und versichern, dass bei ihm alles absolut in Ordnung sei. Für Angst gab es bei ihm keinen Platz, jedenfalls war das bis vor kurzem noch so. Jetzt ...

„Ja, habe ich.“ Er versuchte, all seine Überzeugung in die folgenden Worte zu legen. „Aber nicht vor den Alpträumen.“

Aufmerksam lehnte Atanas sich nach vorne, wobei der samtige Stoff seiner Kleidung sich wie fließendes Wasser seinen Bewegungen anpasste. „Wovor dann?“

„Davor, dass du mich von dieser Mission abziehst“, sprach Luan es einfach aus. „Ich will und kann das schaffen, es dauert diesmal nur etwas länger.“

„Wie kommst du denn darauf, dass ich dich von der Mission abziehen wollen könnte?“, hinterfragte Atanas diese Befürchtung.

Luan konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. „Vane hat angedroht, dafür zu sorgen, weil er noch immer der Meinung ist, ich sollte gar nicht mehr jagen gehen.“

„Du kennst ihn doch.“ Damit verbannte Atanas Vane auch sogleich wieder aus ihrem Gespräch, was er jedes Mal tat, sobald dessen Name fiel. „Außerdem habe ich die Befehlsgewalt und ich vertraue dir. Wäre dem nicht so, hätte ich dich längst zurückgerufen, als mir zugetragen wurde, dass es wegen einem Kampf nötig gewesen war, in einem bestimmten Bereich sämtliche Menschen einschlafen zu lassen, damit sie nichts von den außergewöhnlichen Aktivitäten bemerken.“

Meinte Atanas den Kampf vor dem Hotel Tesha, in Limbten? Dort hatte Vane mit Hilfe seiner Schall-Prägung diesen Effekt erwirkt. Normalerweise kamen solcherlei Kämpfe in der Öffentlichkeit nicht vor, sondern fanden in Schöpfer-Welten von Reinmahren, in Refugien oder eben den Träumen der Opfer statt, wo keine Außenstehenden etwas davon bemerken konnten.

Sicher dürfte dieser Vorfall bei den Menschen trotzdem für gewisse Schlagzeilen gesorgt haben, denn auch wenn keiner im Nachhinein etwas über die Alpträume wusste, kam es nicht oft vor, dass mehrere Personen auf einmal gleichzeitig an einem Ort einschliefen. Irgendjemand brachte solche unerklärlichen Phänomene immer an die Presse. Alleine dafür hätte Atanas einen Grund, Luan zu bestrafen und ihm diesen Auftrag wieder zu entreißen, zumindest in seinen Augen.

„Ich hätte besser aufpassen müssen“, entschuldigte Luan sich. „Sonst wäre es nicht so weit gekommen.“

„Als ich dich mit Ferris zu dieser Mission schickte, war mir bewusst, dass ein starker Feind auf euch wartet, was ich dir auch vor deiner Abreise mitgeteilt habe“, wandte Atanas ein. Er faltete die Hände und legte sie auf seinem Schoß ab. „Deshalb war ich mir auch im Klaren darüber, dass ihr diesen Fall nicht innerhalb eines Tages geregelt bekommt und es womöglich zu solchen Ausschreitungen kommen könnte. Du musst dich also für nichts entschuldigen. Ich bin mir sicher, du hast bisher gute Arbeit geleistet und konntest herausfinden, womit wir es zu tun haben.“

Plötzlich kam es Luan albern vor, sich vorher solche Gedanken gemacht zu haben. Natürlich vertraute Atanas ihm, sonst hätte er niemals einen Traumbrecher, dessen Zeit eingefroren war, losgeschickt, um einen gefährlichen Gegner eliminieren zu lassen. Es sei denn, Verrell hatte die Wahrheit gesagt und es wurde ein falsches Spiel mit ihnen getrieben.

Nein, das kann ich nicht glauben.

Wie brachte er diesen Punkt nun am besten zur Sprache, ohne dass Atanas glaubte, er würde an ihm zweifeln? Er war ihm treu und würde sich nicht gegen ihn aufhetzen lassen.

„Bei diesem Alptraum handelt es sich um eine Geißel“, begann er nickend. „Sein Name ist Verrell und er ist die Geißel von Ferris.“

Die Augenbrauen von Atanas zogen sich dicht zusammen. „Verstehe. Ferris ist also deswegen nicht bei dir, aber er muss am Leben sein. Seine Uhr existiert noch.“

„Bist du gar nicht überrascht?“

„Weswegen sollte ich?“

„Weil eine Geißel aufgetaucht ist.“ Das geschah nicht gerade oft. „Bei ihnen soll es sich doch nur um eine Legende handeln.“

„Wären sie wirklich nur eine Legende, gäbe es kein Aufzeichnungen über sie“, belehrte er ihn. „Unsere wenigen Informationen mögen uns fast nichts über Geißeln verraten, doch umsonst gibt es sie nicht.“

„Das stimmt schon ...“

Es gab also endgültig keinen Platz mehr für Zweifel: Geißeln existierten. Und niemand, außer Vane, was schon verdächtig genug war, wusste etwas über sie.

„Warum hast du uns nie davor gewarnt, dass es mal so weit kommen könnte?“, wollte Luan wissen.

„Bislang war das nicht nötig, weil es so gut wie nie dazu kommt, dass Geißeln geboren werden. Bevor Alpträume sich so weit entwickeln können, bemerke ich ihre Energie vorher und schicke Traumbrecher dorthin, die sich rechtzeitig um diese Gefahren kümmern. Sogar Trugmahre werden eingesammelt, ehe aus ihnen so etwas hervorgehen kann.“

Auf der Stelle wurde Luan hellhörig. Aus Trugmahren konnten Geißeln werden, solche hasserfüllten Wesen wie Verrell? Alles in Luan sträubte sich gegen diese Vorstellung, denn für ihn waren sie die reinsten Lebensformen, die es auf der Welt gab. Warum sollten sie sich derart verändern und wie?

Atanas, der wohl bemerkte, dass er das nicht glauben konnte, setzte zu einer Erklärung an. „Trugmahre können unter bestimmten Umständen schnell verderben und mehrere Entwicklungsstufen überspringen. Frage Nevin mal danach, er kennt sich als Fänger in dem Bereich besser aus.“

„Sogar besser als du?“, wunderte er sich.

„Sicher, du weißt doch, ich bin immer in Athamos.“ Langsam schloss Atanas die Augen, als müsste er an den Grund dafür denken – den niemand kannte. „Sogar von der Schatzkammer hier entferne ich mich nur selten. Man könnte meinen, ich müsste über alles genauestens Bescheid wissen, aber die Wahrheit ist, dass mir die Erfahrung fehlt. Ihr dagegen habt direkten Kontakt mit Alpträumen und könnt sie wesentlich besser analysieren als ich. Ich bin dazu da, um euch die Kraft für diese Kämpfe zu geben und so gut zu leiten, wie ich kann. Sich über die Feinde schlauzumachen und sich Taktiken zurechtzulegen, das ist eure Aufgabe.“

Einerseits klang das durchaus plausibel, aber andererseits gab es zu viele Rätsel an Atanas, an denen sich niemand störte. Nicht mal er hatte darüber nachgedacht, bevor Verrell aufgetaucht war. Könnte er es wagen, einfach direkt zu fragen? Oder riskierte er damit die Vertrauensbasis zwischen ihnen zu zerstören? War sie überhaupt standhaft genug, wenn Luan nur so wenig über Atanas wusste?

„Die viel wichtigere Frage ist jetzt: Wo ist Ferris?“, lenkte Atanas das Gespräch zurück zu diesem Punkt.

Dem konnte Luan nur zustimmen, darüber sollten sie zuerst sprechen. „Verrell hält ihn gefangen, als Druckmittel dafür, dass ich seinem Spiel folge.“

„Einem Spiel?“

„Ja, er hat Regeln aufgestellt, die er jedenfalls so bezeichnet.“ Er musste mit den Schultern zucken, als er an die Unterhaltung mit Verrell zurückdachte. „Selbst wird er sich nicht einmischen, bis ich seine Bedingungen erfüllt habe, aber es wird Hindernisse geben.“

Auf die war er schon gespannt. Was könnte er ihnen denn anderes in den Weg stellen, wenn er nicht persönlich angreifen wollte? Ihm fielen da nur diese roten Samen ein, die Vane ihm abgenommen hatte.

„Wie lauten die Bedingungen?“

„Ich soll herausfinden, wie man ihn vernichten kann“, antwortete Luan und runzelte die Stirn. „Ihm muss ziemlich langweilig sein.“

„Klingt ganz danach“, stimmte Atanas zu, der nun sehr ernst wirkte. „Und was noch?“

Jetzt war der andere Moment gekommen, vor dem er sich gefürchtet hatte. Er müsste nach dem Grund dafür fragen, warum ihr Anführer ihnen, angeblich, Geißeln einpflanzte. Ihm blieben sämtliche Worte im Hals stecken und er konnte Atanas’ Blick nur stumm erwidern. War das Blau seiner Augen heller geworden und ging ins Weiße über oder bildete er sich das nur ein?

Nicht ablenken lassen, das hilft dir auch nicht weiter.

Genauso wenig wie weglaufen oder den Punkt komplett zu verschweigen, es ging hier um Ferris’ Leben. Das durfte und wollte er nicht gefährden, bloß weil er insgeheim doch befürchtete, Verrells Behauptungen könnten sich als wahr herausstellen.

„Er hat einige Dinge über dich gesagt“, begann Luan stockend und fühlte sich plötzlich wieder wie ein kleines Kind. „Ich soll auch herausfinden, warum du uns Traumbrechern Geißeln einpflanzt.“

Am liebsten hätte er den Blickkontakt abgebrochen, doch er hielt ihn aufrecht und wartete Atanas’ Reaktion darauf ab. Zu seinem Leidwesen tat sich in den ersten Sekunden bei ihm überhaupt nichts und er saß einfach nur da, während die Stille um sie herum übermächtig wurde und Luan das Gefühl gab, gerade etwas wirklich Böses gesagt zu haben, das er besser für sich behalten hätte.

Irgendwann erhob Atanas sich dann, ging um seinen Schreibtisch herum und kam an seine Seite, wo er ihm eine Hand auf die Schulter legte, begleitet von der Frage „Traust du mir das zu, Luan?“

Bei jedem anderen hätte er den Körperkontakt sofort beendet und darauf hingewiesen, dass er das nicht mochte, bei diesem Mann wagte er sich das nicht. Eine Form von Wärme drang in ihn ein, mit der er vertraut war und doch störte ihn etwas daran, rasch löste sich dieses Misstrauen jedoch wie durch Zauberei in Luft auf. Der prüfende Blick, mit dem Atanas ihn nun ansah, weckte obendrein ein schlechtes Gewissen in Luan.

Dank ihm hatte sein Leben damals nicht einfach nur ein tragisches Ende genommen, sondern er holte ihn nach Athamos und gab ihm dadurch eine richtige Heimat.

Niemand konnte erahnen, wie wichtig es für Luan war, ein Zuhause zu haben.

Dieses Gefühl kam mit der Berührung in ihm hoch und ließ die schwarze Ablagerung auf seiner Haut kribbeln. Er wollte das nicht verlieren, seine Heimat, und die Möglichkeit Alpträume zu jagen. Das alles war zu wichtig für ihn.

„Nein, das traue ich dir nicht zu“, lautete seine Antwort dementsprechend.

Abermals schlich sich ein Lächeln auf Atanas’ Gesicht und seine Ausstrahlung wurde angenehm sanft. „Diese Geißel will nur versuchen, dich psychisch durcheinander zu bringen, darauf darfst du nicht hereinfallen. Wie ich sehe, tust du das auch nicht, also gibt es für mich keinen Grund, dich von dieser Mission abzuziehen. Ich bin stolz auf dich.“

Erleichterung überkam Luan, als er versichert bekam, dass er weitermachen durfte. Diese Seite an Atanas war es, wegen der ihm die Traumbrecher so gern folgten. Sie war also nicht einfach verschwunden. Sobald es ihm erst mal gelang, Verrell zu schlagen, könnte er Ferris retten und wäre gegen jeden Alptraum gewappnet. Alles konnte wieder gut werden.

Vermutlich musste Atanas die nächste Frage wohl dennoch aus Pflichtgefühl stellen. „Bist du dir denn sicher, dass du es schaffst, dich um diese Geißel zu kümmern?“

„Das bin ich“, entgegnete Luan überzeugt. „Ich denke, dass ich auch schon seine Schwäche kenne und ihn besiegen kann.“

„So kenne ich dich“, meinte er, tatsächlich mit einem Hauch von Stolz in der Stimme, und klopfte ihm auf die Schulter. „Es war die beste Entscheidung, dich hinzuschicken.“

Bevor Luan darauf etwas erwidern konnte, löste Atanas die Hand von ihm und griff stattdessen nach dem Buch, das er bei sich hatte. Die ganze Zeit über hatte er sich unbewusst daran festgeklammert, ähnlich wie Mara. Nachdem Atanas es ihm abnahm, fühlte es sich so an, als hätte er ein Teil von ihm verloren, dabei gehörte es ihm gar nicht.

Ausgiebig überprüfte der Anführer das Buch von allen Seiten. „Dieses Exemplar wurde mir vor langer Zeit aus der Schatzkammer gestohlen. Wo hast du es her?“

An der Stelle müsste Luan ihm von Bernadette erzählen und der Befürchtung, dass Vane ein Komplize von ihr sein könnte und die beiden etwas planten. Da es jetzt aber um das Buch ging, beschränkte er sich auch lieber darauf, zumal er zuerst noch in Ruhe Bernadette und auch Vane ausfragen wollte, um konkrete Informationen liefern zu können.

„Aus einem Buchladen“, berichtete Luan wahrheitsgemäß. „Der Sakromahr, mit dem ich hierher gekommen bin, hat mich dorthin geführt.“

„Sakromahr“, fing Atanas das Wort auf und schritt mit dem Buch zurück hinter den Schreibtisch. „Darüber muss ich auch noch mit dir sprechen. Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich nicht erfreut bin, wenn du ohne meine Erlaubnis Alpträume mit nach Athamos bringst?“

Er wollte Atanas nicht unbedingt erklären, was es für eine spezielle Verbindung zwischen ihnen gab und warum er sie mitgenommen hatte. Den Ärger darüber konnte er natürlich nachvollziehen, dennoch versuchte er, sich zu rechtfertigen.

„Sie ist harmlos. Bitte, erlaube mir, dass sie bleiben darf, solange ich hier noch etwas erledigen muss.“

„Du hast Glück“, beruhigte Atanas ihn und setzte sich wieder. „Weil du mir dieses wertvolle Buch zurückgebracht hast, drücke ich ausnahmsweise mal ein Auge zu. Lass das aber nicht noch einmal vorkommen, hörst du?“

„Ja, verstanden.“

„Sakromahre werden nicht umsonst zu den Alpträumen gezählt.“ Aus irgendeinem Grund betonte Atanas das nochmal, um es ihm ins Gedächtnis zu rufen. „Das vergisst du manchmal.“

Mit vergessen hatte das nichts zu tun. Was das Thema anging, bildete Luan sich ein, es einfach besser zu wissen. Sich gegen die Worte von Atanas auszusprechen, wäre jedoch nicht klug, also musste er widerwillig zustimmen, obwohl sein Herz etwas anderes sagte.

„Nein, das weiß ich, aber ich kann Alpträume gut einschätzen.“

Atanas schmunzelte tonlos. „Das ist wahr, nur deshalb dulde ich sie als Gast hier.“

„Und ich weiß das sehr zu schätzen.“

„Das hoffe ich. Nun, verrate mir aber mal, was genau du hier noch zu erledigen hast?“, erkundigte Atanas sich und legte das Buch in eine der Schubladen seines Schreibtischs hinein. „Du sagtest doch, dass du wüsstest, wie du die Geißel vernichten könntest.“

„Schon, aber davor brauche ich noch Vanes Hilfe.“

Die Erwähnung des Namens sorgte dafür, dass Atanas nicht weiter nachhakte und das so zur Kenntnis nahm. „Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste?“

„Nein, vorerst nicht.“

„Benötigst du noch etwas von mir?“

„Nein, danke, das auch nicht.“

Im Grunde hatte er alles bekommen, was er wollte. Eine Erlaubnis dafür, Mara hier behalten zu dürfen und ihm wurde versichert, dass er sich weiterhin um Verrell kümmern konnte. Damit sollten seine Ängste vorläufig beseitigt sein, was diese beiden Punkte anging. So konnte er wesentlich ruhiger weiterarbeiten.

Ohne Aufforderung erhob Luan sich von seinem Platz. „Ich ziehe mich dann wieder zurück.“

„Und ich werde meine Arbeit fortsetzen“, schloss sich Atanas an, blieb jedoch noch sitzen. „Weiterhin viel Erfolg bei der Mission. Ich baue darauf, dass du Ferris befreist und dich um diese Gefahr kümmerst. Gib mir Bescheid, solltest du doch Hilfe benötigen.“

„Ich werde daran denken“, versprach Luan und verbeugte sich leicht, ehe er sich abwandte.

Kurz vor der Tür musste er aber innehalten. Eine Sache gab es noch, die ihm nicht ganz schlüssig war und bevor er richtig darüber nachdenken konnte, entglitten ihm die Worte bereits von selbst, als verlangten sie förmlich nach einer Antwort: „Atanas? Wenn du es nicht bist, der uns Geißeln einpflanzt, wie konnte Ferris dann von einem solchen Alptraum befallen werden? Wir sind doch immun dagegen, oder?“

Für den Bruchteil einer Sekunde kam ihm der Blick seines Anführers wie ein Speer vor, von dem er durchbohrt wurde. Er bildete sich sogar ein, einen schmerzvollen Stich in der Brust zu spüren, weshalb er sich wünschte, er hätte nicht gefragt. Seine Augen waren eindeutig heller geworden, fast weiß. Was hatte das zu bedeuten?

„Ferris war von Anfang an eine sehr instabile Persönlichkeit.“ Atanas’ Stimme klirrte unruhig durch den Raum. „Ich nehme an, bei ihm war diese Abwehr quasi nicht vorhanden.“

„Verstehe ...“

„Luan“, hielt Atanas ihn nun von sich aus weiter auf. „Wegen dem Sakromahr: Bring ihn zu mir, bevor du mit ihm wieder gehst. Ich muss ihn noch registrieren.“

Dazu sagte er nichts mehr, sondern nickte lediglich, um anschließend das Büro zu verlassen. Ausgerechnet am Ende des Gesprächs musste die Stimmung solch eine Wendung nehmen. Diese Registrierung fühlte sich wie eine Strafe dafür an, dass er doch noch Atanas’ Glaubwürdigkeit in Frage gestellt hatte. So wäre Mara nämlich nicht mehr frei.

Alles ist so durcheinander ...

Draußen wurde er direkt wieder von dem Herzschlag empfangen, nahm sich jedoch keine Zeit, den Klang diesmal in sich aufzunehmen. Zügig ließ er die Tür zum Büro und damit auch den Dachboden hinter sich, betrat die Wendeltreppe und stieg zurück nach unten. Momentan verspürte er einfach nur noch den Drang danach zu schlafen, egal ob traumlos oder nicht. Er fühlte sich komplett ausgelaugt. Da kam es ihm doch sehr gelegen, dass Vane noch etwas Zeit benötigte.

Diesmal führte sein Weg ihn in das Stockwerk zurück, wo er sich von Rowan und Mara getrennt hatte. Dort lagen die privaten Quartiere der Traumbrecher. Über die Wendeltreppe gelangte man in eine große, runde Halle, von der aus mehrere Tunnel zu den Gängen führten, in denen sich die Einzelzimmer befanden. Jeder besaß ein eigenes, nur auf Wunsch bekam man Doppelzimmer zugeschrieben – wozu Ferris ihn andauernd zu drängen versuchte.

Abwesend schritt Luan durch einen der Tunnel auf der linken Seite und starrte dabei zu Boden. Neonblaues Licht aus der gläsernen, gewölbten Decke durchflutete diesen Bereich. Nur schwach konnte Luan sich an einen Ferris entsinnen, der vor langer Zeit oft in diesen Tunneln herumgestanden und dabei sehr einsam gewirkt hatte. Schon seltsam, wie viel er an ihn denken musste, seit er nicht mehr da war. Seine Anwesenheit war so selbstverständlich gewesen.

Nach dem Tunnel folgte ein gewöhnlicher Gang, in dem sich links und rechts Türen aneinander reihten, wie eine Armee. Seine Zimmertür lag ganz am Ende der Schlange, so dass erst noch ein paar Schritte nötig waren, bis er an seinem Ziel ankam. Ohne anzuklopfen – immerhin war es sein eigener Lebensraum – ging er hinein und entdeckte sogleich Mara, die dort auf seinem Bett saß. Rowan hatte seinen Auftrag also erfolgreich ausgeführt.

„Hallo“, begrüßte sie ihn sofort erleichtert.

Nickend schloss er die Tür hinter sich. „Mhm.“

„Du bist wirklich zurückgekommen.“

„Wo sollte ich sonst hin?“ Er breitete kurz die Arme aus. „Das hier ist mein Zimmer.“

„Ich hatte trotzdem Sorge, dass du einfach verschwindest“, warf sie ein. Sie sah ihn mit geneigtem Kopf an. „Geht es dir nicht gut?“

Für jemanden, der sich nur als Traum sah, war sie überraschend empathisch. Dummerweise fühlte er sich gerade nicht danach, sich dagegen zu wehren, weshalb ihm schon wieder Worte über die Lippen kamen, die er nicht laut sagen wollte.

„Auch Atanas hat vor mir gemerkt, dass Ferris Probleme hat, dabei bin ich sein Freund.“

Ihrem Blick nach zu urteilen, konnte sie erst nicht verstehen, was ihn daran mitnehmen könnte. Oder sie fragte sich, wer dieser Atanas überhaupt war. Obwohl er auf seine Worte nichts erwartete und schon versuchen wollte an etwas anderes zu denken, stand sie wenig später auf. Ihre Schritte lenkten sie anschließend verdächtig nahe in seine Richtung, darum hob er frühzeitig die Arme und hielt sie so von einer Umarmung ab.

„Nicht. Du müsstest doch langsam begriffen haben, dass ich das nicht mag.“

„Wegen dem harten Zeug an deinem Körper?“, vermutete sie, statt es auf sich beruhen zu lassen. „Ist es nicht schwer, sich damit zu bewegen?“

„Nein.“ Nur zögerlich nahm er seinen Mantel ab und hing ihn an einen Haken neben der Tür. „Diese Schicht ist sehr biegsam und passt sich meinen Bewegungen problemlos an.“

„Was ist das denn für eine Schicht?“

„Keine Ahnung, das weiß niemand.“

Seine schwarze Ablagerung war das letzte, worüber er sich jetzt Gedanken machen wollte. Schlimm genug, dass sie ihm schon oft nah genug gekommen war, um sie spüren zu können. Über dieses Problem konnte er sich kümmern, sobald alle anderen Baustellen erledigt waren.

„Du kannst das Bett haben“, verkündete Luan und legte sich dabei seitlich auf den Boden, mit dem Rücken zu Mara.

Bei ihr löste dieses Verhalten offenbar Verwirrung aus. „Was machst du da?“

„Schlafen.“

„Einfach so?“

„Beschäftige dich solange, wenn du nicht müde bist“, bat er sie. „Lass uns später reden.“

„Beschäftigen? Womit denn?“

Gute Frage. In seinem Zimmer gab es nicht viel, mit dem man sich die Zeit vertreiben könnte. Auf persönliche Gegenstände hatte Luan schon immer verzichtet, deshalb sah der Raum leer und unbewohnt aus. Abgesehen von dem Bett, einem Schreibtisch samt Stuhl, einem Kleiderschrank und einigen Regalen an den Wänden, gab es sonst nichts anderes. Dadurch herrschte bei ihm aber auch Ordnung, ohne dass er sich großartig darum bemühen musste.

„... Weißt du“, hörte er sie nach einer Pause sagen, „ich mache mir Sorgen um dich.“

Schweigen. Anhand der Geräusche im Hintergrund konnte Luan erahnen, dass Mara sich zurück auf das Bett setzte und sich ebenfalls hinlegte. Ihm fiel nicht wirklich ein, was er sagen sollte, also schwieg er weiter, bis sie noch etwas hinzufügte.

„Ich weiß nur nicht, ob das meine Sorgen sind oder die von Estera.“

„Ich weiß es auch nicht“, murmelte er müde und schloss die Augen. „Ich weiß gar nichts.“

Ich wollte dich nicht aufhalten

Ein leises, sachtes Klopfen ertönte. Obwohl es kaum zu hören war, genügte es vollkommen, um Luan aufzuwecken, aber als er die Augen öffnete, stellte er sofort fest, dass er doch noch schlief. Nicht nur sein Gespür sagte ihm das, auch die Umgebung ließ darauf schließen.

Langsam richtete er sich auf und blickte sich um. Er saß, ganz allein, mitten auf einem Fußgängerweg, der in beide Richtungen nur in eine weiße Endlosigkeit führte. Weit und breit keine Menschenseele, nur eine unheimlich künstliche Stille, als dürfte nichts und niemand diese Szene stören, die wie aufgemalt wirkte.

Hier war er vor kurzem schon einmal gewesen, in einem Traum. Vorsichtig stand er auf und drehte sich zu dem Schaufenster des Süßigkeitenladens herum, an dem sich nichts verändert hatte. Genau wie beim letzten Mal tummelten sich all die lebhaften, bunten Farben hinter dem Glas, das keinerlei Risse mehr besaß und wie neu aussah. Eine unüberwindbare Mauer, von der Luan ausgesperrt wurde.

Diesmal konnte er sich nicht so recht an dem Anblick erfreuen, es weckte vielmehr ein trauriges Gefühl in ihm. Natürlich erinnerte er sich noch zu gut daran, was zuletzt hier geschehen war, und das raubte ihm sämtliches Glück, das ihm die farbenfrohen Süßigkeiten sonst zu schenken vermochten. Erst recht weil er auf der anderen Seite stand.

Estera, dachte er sehnsuchtsvoll und trat näher an das Schaufenster heran. Bist du noch da?

Bestimmt war dieses Klopfen vorhin von drinnen gekommen. Handelte es sich nur wieder um einen Traum? Als er die Hände auf das Glas legte, erschien gleichzeitig im Laden die geisterhafte Gestalt von Estera, die genau die gleiche Pose einnahm wie er. Für einen kurzen Augenblick fürchtete Luan, er bildete sich das nur ein, aber sie verschwand nicht mehr, sondern blieb bei ihm. Sie war so nah und doch unerreichbar, dabei wurden sie nur von einer einfachen Glasscheibe getrennt. Da er nicht riskieren wollte, mit ihrer Zerstörung erneut den Zusammenbruch dieses Traumes zu beschwören, verwarf er diese Option.

„Du bist noch da“, stellte er beruhigt fest.

Lächelnd nickte Estera ihm zu, dennoch machte auch sie einen traurigen Eindruck. Trotz der durchsichtigen Trennwand zwischen ihnen, glaubte er zu spüren, wie ihre fürsorgliche Wärme zu ihm strömte. Dieses Gefühl war ebenso vertraut wie der Herzschlag in Athamos, angenehm und geborgen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er es auch einst bei Bernadette schon gespürt.

„Ich vermisse dich“, sagte Luan flüsternd. „Bist du noch am Leben?“

Irgendwie musste es möglich sein, wenn es Estera gelungen war Mara zu erschaffen. Womöglich war das hier nur ein Trugbild, produziert durch seine Sehnsucht, die der Traum auf diese Weise zu verarbeiten versuchte, aber gerade in so einer Welt war alles möglich. Sollte auch nur die winzigste Chance bestehen, dass er hier wirklich mit Estera Kontakt aufnehmen konnte, wollte er daran nicht zweifeln, sondern offen dafür sein.

„Kannst du mich hören?“, fragte er, als sie diesmal erst keine Reaktion zeigte.

Abermals nickte sie und hauchte gegen die Glasscheibe, wodurch ein weißer Film darauf entstand, der ihm ein wenig die Sicht versperrte. Rasch löste sie eine Hand von dem Hindernis und schrieb etwas auf. Gespannt beobachtete Luan sie dabei und versuchte zu erkennen, wie die einzelnen Worte genau lauteten. Spiegelverkehrte Buchstaben zu lesen war gar nicht so einfach, doch es gelang ihm schneller als erwartet.

Du musst fliehen“, las er laut vor und sah sie ratlos an. „Was soll das heißen? Wovor?“

Anscheinend wollte sie erst dazu ansetzen, einen Namen zu schreiben, wich jedoch auf einmal verängstigt zurück und verschwand in den Schatten des Ladens, in denen er sie nicht mehr sehen konnte. Leicht panisch drückte Luan sich noch dichter an das Glas und versuchte sie mit den Augen in der Dunkelheit doch ausfindig zu machen, leider vergeblich. Warum war sie jetzt so schnell wieder verschwunden?

„Estera?! Komm zurück!“

„Du kannst einem ja fast leidtun“, hörte er jemanden hinter sich spöttisch sagen, „Luan.“

Sofort fuhr er herum und erstarrte auf der Stelle, als er sich selbst sah, nur wenige Meter entfernt. Was hatte das zu bedeuten? Auf den zweiten Blick erkannte man allerdings schnell die deutlichen Unterschiede. Nur vom Aussehen her waren sie sich ähnlich, abgesehen von den roten Augen des anderen. Ansonsten wirkte dessen Ausstrahlung nämlich reichlich hasserfüllt und boshaft, genau wie bei Verrell.

Bedeutete das etwa ...

Angespannt behielt Luan seinen Doppelgänger im Auge. „Bist du Kian?“

„Uh, da hat sich jemand was gemerkt.“ Halbherzig klatschte sein Gegenüber in die Hände. „Hätte ich Kekse dabei, würde ich dir jetzt glatt einen geben.“

Unsicher wich er mit dem Rücken an das Schaufenster zurück. Gab es diesen Kian also tatsächlich? Auch in ihm hauste eine Geißel? Falls dem so sein sollte, könnten die sich dann einfach so in die Träume ihrer Wirte einschleichen? Womöglich irrte Luan sich auch und das hier war real oder, genau wie Estera, ein Teil seiner Gedanken und Gefühlswelt, der verarbeitet werden wollte. Er wusste es nicht.

„Eins sag ich dir, du billiges Gefäß“, riss Kian ihn aus seinen Gedanken. „Ich gönne dir diesen Traum nicht!“

Das nächste Klatschen war um ein vielfaches lauter als die anderen zuvor und grollte unheilvoll über diese Szene weg, brachte das Glas des Schaufensters zum Vibrieren. Auf keinen Fall durfte es nochmal brechen. Bevor Luan Kian aber darauf hinweisen konnte, klatschte dieser noch ein weiteres Mal in die Hände und erzeugte dadurch einen pechschwarzen Blitz, der so flink auf ihn zuschoss, dass er nicht rechtzeitig darauf reagieren konnte.

Wie ein Schwert bohrte er sich in seine Brust und schleuderte ihn nach hinten, zu kräftig für das Glas. Lautes Splittern verjagte die Stille und ließ das Bild in sich zusammenbrechen, während Luan haltlos durch das Schaufenster hindurch in die Schwärze fiel.
 

***
 

Luan riss die Augen auf und schreckte hoch, eine Hand gegen die Brust gepresst. Nervös atmete er schnell ein und aus, mit dem Kopf noch halb in den dunklen Schatten verloren. Sein Blick huschte hin und her. Jetzt war er zurück in seinem Zimmer in Athamos, wo er auf dem Boden saß, also hatte er nur einen Traum durchlebt. Schon das zweite Mal so kurz hintereinander, trotz seiner eingefrorenen Zeit.

Darüber konnte er sich gerade nur nicht freuen, weil etwas anderes all seine Aufmerksamkeit auf sich zog: Die schwarze Schicht auf seiner Haut kribbelte unruhig und fühlte sich heiß an.

Nein ... nein!

Sofort kroch Panik in ihm hoch, schlüpfte geschickt durch die instabile Atemhypnose und nahm ihn in Beschlag. Noch bevor er richtig wach war und anständig denken konnte, hatte er Angst davor, dass diese Ablagerung schon wieder zu wachsen anfing. Deshalb sprang er förmlich vom Boden hoch und hechtete Richtung Tür, um instinktiv die Krankenstation aufzusuchen.

Grob riss er dabei den Mantel im Sprint vom Haken, warf ihn sich über und kontrollierte mit einem knappen Blick über die Schulter, ob Mara noch da war – anscheinend schlief sie. Anschließend verließ er sein Zimmer und rannte los, ohne auf seine Umgebung zu achten. Seine Sinne waren vollkommen auf die Hitze und das Kribbeln konzentriert und er achtete ganz genau darauf, ob sie sich ausbreitete oder nicht, begleitet von einem Stoßgebet dafür, dass es nicht passierte.

Ironischerweise stieß er nach einigen Metern plötzlich mit jemandem zusammen, der sich keinen Zentimeter dadurch aus dem Gleichgewicht bringen ließ, während Luan dagegen durch die Wucht des Zusammenpralls zurückgeworfen wurde und nach hinten stolperte. Als er dann sogar zu stürzen drohte, packte ihn die Person vorher rechtzeitig am Arm und hielt ihn fest, damit er auf den Füßen stehenblieb.

„Und da sagt man zu mir immer, ich wäre unaufmerksam“, brummte derjenige verständnislos. „Was ist denn los? Gibt’s ein Problem?“

Vor seinen Augen tanzten zwar noch ein paar Sterne, aber Luan erkannte Rowan auch schon bereits an seiner Stimme. Statt zu antworten, riss er sich von seiner Hand los, aus Sorge, die Regungen seiner Schicht könnten bemerkt werden. Ausgerechnet vor Rowan wollte er nicht derart Schwäche zeigen und atmete tief durch, um etwas ruhiger zu werden.

„Nein“, log er gefasst.

„Nein?“ Zweifelnd hob Rowan eine Augenbraue. „Und wo soll’s dann so schnell hingehen? Gibt es irgendwo was umsonst?“

Sicher wollte er nichts von Vane hören, was Luan gut verstehen konnte, doch genau da wollte er hin, um das Wachstum behandeln zu lassen. Nur: Es wuchs gar nichts.

Jetzt, als er zwangsweise ein wenig zur Ruhe kam, bemerkte er, dass die schwarze Schicht nicht mehr kribbelte und sich auch abgekühlt hatte. Auf einmal musste er sich fragen, ob diese Symptome überhaupt real gewesen waren. Offenbar hatte er zu vorschnell gehandelt und sich gleich in Panik verloren. Das war ihm sehr unangenehm.

Mit mir geht es echt nur noch bergab.

Da Rowan ihn immer noch fordernd anstarrte, hob er entschuldigend die Hand. „Tut mir leid, ich bin wohl nur etwas überarbeitet.“

„Überarbeitet?“, wiederholte der andere ungläubig. „Wovon denn? Die Alpträume in letzter Zeit sind die reinste Lachnummer.“

„Schön, bei dir vielleicht!“ Ungewollt wurde seine Stimme lauter. „Du kannst ja auch all deine Kräfte einsetzen, anständig ausschlafen und leidest nicht ständig an Energiemangel, weil das die einzige Waffe ist, die dir noch bleibt.“

Rowans sonst so ernstes Gesicht wandelte sich in Erstaunen, vermutlich weil er Luan noch nie so erlebt hatte. Erst als Luan das dank dieser Mimik selbst auffiel, bereute er es gleich, diese Worte gesagt zu haben. Jeder wusste, wie schnell Rowan alles persönlich nahm und über die harmlosesten Aussagen wütend werden konnte. Außerdem wollte er nicht noch schwächer wirken, als er schon war.

„Vergiss es bitte“, schob Luan daher hinterher und schüttelte den Kopf. „Ich wollte dich nicht aufhalten.“

Damit wollte er das Gespräch beenden und an ihm vorbeigehen, doch Rowan hob den Arm, um ihm den Weg zu versperren – und an diesen Muskeln kam niemand so leicht vorbei, wie er auch direkt selbst nochmal sagte.

„Mich hält nichts auf.“ Mit einem Schnauben unterstrich er diese Tatsache. „Ich bin zwar dumm, aber verarschen lasse ich mich trotzdem nicht. Was ist los mit dir?“

Selbst wenn Luan darüber reden wollen würde, wüsste er gar nicht, wie er das erklären sollte, denn er hatte selbst kaum eine Ahnung. Also antwortete er nur mit einem schweren Seufzen und der stummen Bitte, in Ruhe gelassen zu werden, was bei Rowan leider nicht anzukommen schien. Der senkte den Arm wieder und drehte sich in die gleiche Richtung wie Luan.

„Komm, ich gehe ein Stück mit dir.“

Fragend hob Luan den Blick. „Was? Wohin?“

„Was weiß ich, wohin auch immer du willst.“ Schulterzuckend erwiderte Rowan den Blick. „Wenn einem zu viele Gedanken im Kopf herumschwirren, kann etwas Bewegung Wunder bewirken. Und jetzt komm.“

Stramm setzte Rowan sich in Bewegung und gab das Tempo vor, aber Luan folgte ihm nicht sofort, sondern blieb irritiert zurück. Seit wann bemühte sich dieses Muskelpaket in dieser Form um jemanden? Könnte auch nur Neugier sein, was jedoch nicht zu Rowan passen würde. Sie mochten sich gut verstehen und so etwas wie Freunde sein, dennoch war dieses Verhalten höchst unüblich für Rowan.

Sonst hatte er auch meistens etwas Besseres zu tun und wenn er sich nur mit seinem Training beschäftigte. Vielleicht war er damit auch schon durch, denn seine Haare sahen nass aus, demnach hatte er geduscht. Brauchte dieser Kerl niemals Pause? Luans Lust auf Bewegung hielt sich eigentlich stark in Grenzen, aber er wollte Rowan nicht unnötig reizen, weshalb er ihm schließlich lieber doch noch folgte.

Wenigstens blieb Rowan kein besonders williger Redner, darum liefen sie eine Weile nur schweigend nebeneinander und streiften dabei ziellos durch Athamos. Manchmal hätte Luan nur gern darum gebeten, etwas langsamer zu laufen, ließ es aber bleiben und passte sich so gut wie möglich Rowans Schritttempo an.

Anfangs war die Bewegung noch hilfreich dabei gewesen, nicht zu grübeln, doch irgendwann fingen die Gedanken von ganz alleine zu arbeiten an. Wie lange hatte er wohl geschlafen? War schon der nächste Tag angebrochen? Steckte Kian gerade in diesem Moment in ihm und beobachtete alles? Trug auch Rowan eine Geißel in sich?

Flüchtig schielte Luan zu diesem hinüber, der darauf gleich reagierte. „Gibt’s was?“

„Nein, nichts“, wich er aus.

Sobald Rowan davon hörte, dass der Verdacht im Raum stand, jeder von ihnen diente als Wirt für eine Geißel, würde er komplett ausrasten. Egal, ob diese Aussage bestätigt war oder nicht, bei solchen Themen handelte er stets äußerst impulsiv. Deswegen kam auch für gewöhnlich niemand mit ihm aus.

„Ich frage mich nur, ob du nie müde wirst.“

„Wieso?“, hakte Rowan nach.

„Du hast doch sicher die ganze Zeit trainiert und warst gerade auf dem Weg ins Zimmer, als ich in dich hineingerannt bin, oder?“

„Ja, und?“

„Sich auszuruhen halte ich für besser, als seine Zeit damit zu verschwenden, mit mir spazieren zu gehen.“

„Wir gehen nicht spazieren“, korrigierte Rowan ihn. „Wir bewegen uns, um deinen Kopf freizubekommen.“

Ihm war danach, einfach stehenzubleiben und nicht mehr weiterzugehen. „Das könnte ich auch alleine tun. Was interessiert dich das?“

„Ganz ehrlich?“, begann der Befragte ungewohnt ruhig. „Anfangs fand ich deine kühle, ernste Seite ja noch sehr sympathisch, aber inzwischen frage selbst ich mich, was eigentlich mit dir los ist.“

„Ich verstehe nicht ...“

Was die Veränderung anging, die Rowan hier eindeutig ansprach, das verstand er durchaus. Woran das lag, wusste er mittlerweile auch, ohne dass es ihm selbst vorher bewusst gewesen war, sich anders verhalten zu haben. Nur blieb ihm schleierhaft, warum Rowan sich auf einmal fürsorglich zeigte und solche Gespräche mit ihm anfing.

Genervt stemmte dieser beide Hände in die Hüfte und wandte sich ihm zu. „Ob du es glaubst oder nicht, mir bedeuten manche Leute etwas, mit denen ich mich gut verstehe.“

Jetzt konnte Luan gar nicht mehr anders, als stehenzubleiben und Rowan sprachlos anzusehen. Dessen grüne Augen schienen nach wie vor Gift zu versprühen, doch etwas an seiner Ausstrahlung zeigte sich besorgt. Ähnlich wie bei Vane. Schätzte Luan beide so falsch ein? Geschah das hier in dieser Sekunde wirklich oder steckte er immer noch in einem Traum fest? Er konnte nicht verstehen, warum man sich um ihn sorgen sollte, außer man betrachtete ihn als zu schwach. Nicht als würdig, hier sein zu dürfen.

Überfordert legte Luan sich eine Hand an die Stirn. „Weißt du, ich ... es klingt irgendwie blöd, aber ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll. Ich habe das Gefühl, nicht mal mehr mich selbst zu kennen. Es fühlt sich so an, als würde sich mir ständig etwas in den Weg stellen.“

Sei es damals, im Waisenhaus, wo ihn niemand adoptieren wollte.

Sei es in dem Moment, als er Estera verlor und er nichts dagegen tun konnte.

Sei es in Athamos, wo seine Traumzeit einfror und ihn das fast unbrauchbar gemacht hätte.

Sei es in der aktuellen Mission, in der bisher alles nur schiefgelaufen war.

Die ganze Zeit über hatte er sich nur etwas vorgemacht, in Wahrheit kam er mit gar nichts klar. Für solche trüben Gedanken hatte er aber im Grunde keine Zeit, immerhin war Ferris es, der von einer Geißel gefangengehalten wurde und leiden musste. Allerdings musste Luan sich doch einfach fragen, ob etwas oder jemand ihn leidenschaftlich hasste oder er wirklich nur zu unfähig war.

„Dagegen lässt sich doch leicht etwas tun“, warf Rowan überzeugt ein. „Wenn dir etwas im Weg steht, dann zerstöre es, so einfach ist das.“

Luan horchte auf. „Zerstören?“

An sich klang es nur wie eine dieser leicht dahergesagten Floskeln, mit denen man verzweifelten Menschen Mut zu machen versuchte. Zum einen war Rowan allerdings nicht der Typ für so etwas und meinte daher seine Worte auch garantiert so, zum anderen löste diese Aussage etwas in ihm aus, das tief in ihm verborgen lag. Wie auf Stichwort setzte auch das Kribbeln seiner Ablagerung wieder ein und der Herzschlag von Athamos griff nach ihm.

Versuchte noch jemand, außer Estera, ihm etwas mitzuteilen? Oder war sie hier irgendwo?

Dieses Gedankenspiel konnte er nicht weiter ausführen. Aus der Richtung, in der die privaten Quartiere lagen, war plötzlich Lärm zu hören. Schüsse, begleitet von einer Mischung aus menschlichen und bestialischen Schreien, die sowohl Luan als auch Rowan in Alarmbereitschaft versetzten. Nur kurz warfen sie sich gegenseitig einen Blick zu, ehe sie wortlos den Weg zurück stürmten, den sie gegangen waren.

Unterwegs griff Rowan dabei bereits über seine Schulter hinweg in die Luft, woraufhin ein riesiger Hammer sichtbar wurde, den er stets auf dem Rücken mit sich trug. Allein die Größe des Kopfes ließ nur erahnen, wie schwer er sein musste. Jeder Koloss-Traumbrecher besaß eine solche, individuelle Waffe, mit der sie massiven physischen Schaden anrichten konnten. Oft zerstörerischer als so mancher Alptraum, wie Luan anmerken musste.

Schon ohne Traumzeit konnte Rowan mit dem Hammer einiges ausrichten, seine wahre Stärke entfaltete die Waffe jedoch erst mit aktivierter Taschenuhr. So weit musste es hoffentlich nicht kommen, denn in Athamos war es bislang immer sicher gewesen. Alpträume konnten hier kaum eingefallen sein, möglicherweise hatte irgendjemand die Nerven verloren, was nicht das erste Mal wäre. Manche kamen mit dem Kampf gegen Monster psychisch nicht so gut zurecht.

Nein, diese bestialischen Laute können nicht von Traumbrechern stammen ...

Also doch Alpträume. War es etwa von Anfang an das gewesen, worauf seine Ablagerung reagiert hatte? Möglich wäre es.

Je näher sie der Lärmquelle kamen, desto lauter wurden die Kampfgeräusche. Schon in der Halle, von der aus die Tunnel zu den Gängen mit den Zimmern führten, flogen zahlreiche Energiekugeln in verschiedenen Blautönen durch die Gegend, jede einzelne verbunden mit einem lauten Knall. Noch nie war dieser Ort derart hell erleuchtet gewesen wie in diesem Moment.

Bald strömten auch die ersten Traumbrecher aus den Tunneln heraus in die Halle und feuerten dabei unermüdlich mit den Pistolen auf etwas, wobei sie versuchten Fragen und Hilferufe miteinander auszutauschen. Wogegen wurde gekämpft? Luan fiel nur die Möglichkeit ein, dass noch mehr Geißeln aufgetaucht sein könnten, aber dann wäre die Behauptung wahr, dass jeder hier eine in sich trug. Diese Vorstellung wäre furchtbar.

„Was geht hier vor sich?!“, brüllte Rowan in das Chaos hinein, auf eine Antwort hoffend.

Kampfbereit schwang er seinen Hammer nach vorne und zog die Taschenuhr, die er so gut wie niemals abnahm und immer um den Hals trug, unter seinem schwarzen Oberteil hervor. Mit ihrer Aktivierung glühte der Kopf seiner Waffe sofort blassblau auf und wurde von Energie durchtränkt. Luan nahm sich an ihm ein Beispiel und legte sich ebenfalls seine Uhr um, damit er helfen konnte, auch wenn sie noch keine Ahnung hatten, was hier los war. Leider schienen ihre Kollegen, die längst mit kämpfen beschäftigt waren, auch nicht viel schlauer zu sein.

„Durante?!“, reagierte einer von ihnen auf Rowans Frage. „Hilf uns! Da sind plötzlich haufenweise merkwürdige Alpträume aufgetaucht!“

„Was heißt hier merkwürdig?!“, wollte Rowan wissen und eilte zu den anderen vor die Tunnel.

Luan konnte kaum mit ihm mithalten, nahm aber wenig später ebenso eine Position an der vordersten Front ein. Durch den Chor aus Schüssen wurden sämtliche Stimmen fast verschluckt, so dass man einander nicht richtig verstehen konnte und sich einige Sätze selbst zusammenreimen musste. So ging es Luan auch mit der nächsten Antwort, die Rowan erhielt.

„Die sehen anders aus als alle anderen! Und unsere Schüsse machen denen gar nichts aus, wir Schöpfer können nichts gegen sie ausrichten!“

Dummerweise kamen Schöpfer-Prägungen am häufigsten vor, womit sie ein Problem hätten. Gerade wollte sich in Luan eine böse Vorahnung anbahnen, als aus dem Tunnel direkt vor ihnen drei von den besagten Alpträumen hervorgeschossen kamen und geschwind durch die Luft flogen. Ihre Form sah Luan nicht zum ersten Mal: Gesichtslose, menschliche Körper aus weißem Traumsand. Es handelte sich um diese unbekannte Gattung, die bei ihrer Vernichtung rote Samen zurückließen.

Unmöglich, wie konnten die hier unbemerkt hereinkommen?!

Zielsicher schossen die Traumbrecher auf die Alpträume, erzielten jedoch in der Tat keinerlei Effekt mit ihren Energiekugeln. Stattdessen schlugen die Feinde zurück und griffen an, einer mit Schall-Fähigkeiten, der im Flug psychische Male in die Körper seiner Angreifer jagte und die zwei anderen indem sie Stacheln aus ihrem Körper feuerten. Sie waren so flink, dass die ersten bloß ein paar Sekunden später vor Schmerzen aufschrien, als sich die spitzen Projektile in ihr Fleisch bohrten.

Wütend sprang Rowan den drei Eindringlingen knurrend entgegen und fing einen von ihnen mitten im Flug mit einem kräftigen Schlag seines Hammers ab. Mit Wucht flog dieser gegen die nächste Wand und zerbröselte dort erst zum Teil zu Sand, festigte seine Gestalt jedoch erschreckend schnell wieder, als sei nichts gewesen. Natürlich fachten sie damit nur Rowans Kampfgeist an.

„Glaubt ja nicht, dass ihr mir entkommen könnt!“

„Da sind noch mehr!“, schrie einer der anderen Traumbrecher.

Beinahe synchron rasten daraufhin weitere dieser Alpträume aus einem anderen Tunnel in die Halle, einige davon mit Koloss-Eigenschaften. Sie schlugen wie Kanonenkugeln in die Wände und die Haupttreppe ein, woraufhin sich Risse bildeten und mit den herunterfallenden Gebäudeteilen spürte Luan auch einen Stich in der Brust. Für ihn fühlte es sich wie ein Angriff gegen seinen eigenen Körper an.

Mein Zuhause ...

Nicht nur das, auch die Hilflosigkeit der Traumbrecher zu sehen, war verletzend. Die meisten feuerten tapfer weiter Schüsse ab, obwohl es sinnlos war, aber andere kauerten sich zusammen und vergaßen, dass sie noch mehr Fähigkeiten als ihre Pistolen hatten. Nur Rowan attackierte die Alpträume mit seinem Hammer, bewirkte damit jedoch auch nicht viel. Zwar gelang es ihm problemlos, die feindlichen Körper zu zerlegen, aber was nützte es, wenn sie sich stets wieder zusammensetzten?

Auch Koloss-Waffen arbeiteten mit der Energie des Traumbrechers und da diese hier nichts auszurichten schien, war selbst seine Mühe vergeblich. Und doch riefen andauernd die anderen nach seiner Hilfe, weil sie wussten, dass er unter ihnen mit einer der stärksten war – in solch einer Situationen stand es eben nicht mehr an erster Stelle, ob man jemanden leiden konnte oder nicht. Die anderen Koloss-Traumbrecher mussten sich noch in den Tunneln aufhalten und dort kämpfen, da sie sich nicht so leicht zurückschlagen ließen.

„Luaaaaaan~!“, stieß einer der Alpträume jäh hervor und hielt auf ihn zu.

Auch dieser Feind kannte seinen Namen? Schon der Alptraum in Limbten vor dem Hotel hatte ihn so angesprochen, dabei dürften sie doch gar nichts über ihn wissen. Darüber konnte er aber jetzt nicht nachdenken, er musste sich verteidigen. Sich, die anderen und Athamos. So gut es ihm möglich war. Den Alptraum im Wald, gegen den Ferris gekämpft hatte, konnte er immerhin vernichten, wenn auch nur mit einer Menge Energie.

Er ließ den Deckel seiner Uhr aufspringen und aus dem gleißenden Licht erschien seine Pistole, die er sich aus der Luft schnappte.

„Komm nur! Ich sehe nicht tatenlos zu, wie ihr hier alles zerstört!“, entgegnete er entschlossen und zielte mit der Mündung auf den Alptraum, der sich auf ihn stürzen wollte. „Ich habe schon mal einen von euch erledigt. Das schaffe ich nochmal!“

Das sind also die Hindernisse

Am Anfang spürte ein Traumbrecher zunächst nichts davon, dass jeder einzelne Schuss aus seiner eigenen Energie bestand – genau das konnte vielen oft zum Verhängnis werden. Es verleitete die meisten schnell dazu, die Pistole gedankenlos wie wild zu benutzen, um gegen den Feind anzukommen. Erst am Ende brachen dann die Konsequenzen über den Nutzer herein, wenn es im Grunde schon zu spät war.

Luan vergaß dagegen niemals die Gefahr der Erschöpfung, sobald er diese Handfeuerwaffe beschwor, dafür hatte er sie schon zu häufig durchlebt. Manchmal sah er sich dennoch dazu gezwungen, sie exzessiv zum Einsatz zu bringen. Erst recht in einer solchen Lage, in der Leben und auch seine Heimat bedroht wurden. Deshalb zögerte er gar nicht, den Abzug zu betätigen und dem auf ihn zuhaltenden Alptraum somit eine gewaltige Energiekugel entgegen zu schleudern.

Inzwischen war er geübt genug darin, Schüsse mit solchen Ausmaßen abzugeben, dass er sich nicht mehr zwingend vorher darauf konzentrieren musste und sie sofort erschaffen konnte, ratsam war das jedoch nicht. Der heftige Rückstoß ließ ihn zähneknirschend nach hinten stolpern, als die große Kugel aus der Mündung hervorbrach und die Halle noch mehr in gleißendem Licht ertränkte. Die weißen Flecken, von der die Energie durchzogen war, glühten dabei stärker als das Hellblau, das die meiste Fläche für sich beanspruchte.

Der Alptraum stieß ein panisches Kreischen aus und versuchte abzubremsen, was diesem im Sturzflug aber nicht mehr rechtzeitig gelang. Rasch verschlang ihn Luans Energiekugel förmlich an einem Stück und färbte sich durch diese Verschmelzung leicht rötlich, ehe sie schließlich verblasste und sich wieder auflöste. Von dem Alptraum war danach nichts mehr zu sehen, nicht mal weiße Sandkörner. Seine Existenz war von der reinen Energie vollständig zersetzt worden, wie es sein sollte.

Einzig ein roter Samen fiel zu Boden und verschwand in dem Chaos zwischen den Personen sofort aus Luans Sichtfeld. Jetzt danach zu suchen, wäre vergebliche Mühe. Stattdessen gab er sich lieber der Erleichterung darüber hin, dass es ihm tatsächlich gelungen war, erneut solch einen Alptraum zu vernichten. Einzig mit seiner Energie, während die anderen Traumbrecher weiterhin nichts damit bewirken konnten.

Warum funktioniert es ausgerechnet bei mir?, dachte Luan und starrte dabei fragend auf seine Pistole, doch sie gab ihm natürlich keine Antwort darauf. Was ist so anders an meiner Energie?

Oder lag es nur an der Menge? Auch Ferris hatte seinen Gegner von dieser Art mit lauter normalen Schüssen bearbeitet, genau wie der Rest um Luan herum es gerade tat. Derart große Energiekugeln zu bilden war zudem nicht leicht, vor allem wenn man kaum Zeit für die nötige Konzentration fand.

Panisch huschten die Traumbrecher hin und her, manche sogar orientierungslos, und schossen dabei, solange sie konnten. Bald dürften die ersten zusammenbrechen, wenn das so weiterging. Zeit zum Nachdenken blieb also nicht, Luan sollte froh darüber sein, helfen zu können. Daher beschloss er, nicht noch länger als nötig nur ratlos herumzustehen und lief in die Mitte der Halle, wobei er einigen Traumbrechern ausweichen musste.

„Rowan!“, rief er laut, ohne zu wissen, wo der sich gerade genau befand. „Treibe sie mir auf einen Haufen zusammen!“

Nur Sekunden später erhielt er aus einer anderen Ecke des Raumes eine Antwort. „Geht klar!“

Sobald es um den Kampf ging, zeichnete sich Rowan durch seine erstaunliche Auffassungsgabe aus. Bestimmt hatte er, trotz seiner eigenen Kämpfe, nebenbei realisiert, dass es Luan gelungen war, einen der Alpträume unschädlich zu machen und hinterfragte das vorerst nicht, sondern erkannte darin die Chance auf einen Sieg. Auf die Eifersuchtsphase konnte Luan sich aber sicherlich hinterher gefasst machen, denn Rowan mochte es eigentlich überhaupt nicht, von anderen in seinem Spezialgebiet überholt zu werden. Zum Glück blieb er im laufenden Gefecht allerdings auf die wichtigen Dinge fokussiert.

Da er das Zusammentreiben beruhigt Rowan überlassen konnte, bemühte Luan sich darum, so schnell wie möglich ins Zentrum der Halle zu gelangen, damit er von dort möglichst viele Alpträume auf einmal aus dem Weg räumen konnte. Schon der Schuss vorhin hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen, sein Körper bewegte sich schwerfälliger als vorher und er spürte einen leichten Druck im Kopf. Noch war das gut auszuhalten.

Kurz bevor er sein Ziel erreichte, warf er den Blick nach oben. Als Koloss-Traumbrecher war Rowan nicht dazu fähig zu schweben, aber durch seine kraftvollen Sprünge sah es trotzdem jedes Mal so aus, als würde er problemlos durch die Luft fliegen, so wie die Alpträume. Mit Hilfe von gezielten Schlägen seines Hammers lenkte er sie und sammelte sie so nach und nach zu einem Haufen zusammen, den er bestmöglich unter Kontrolle hielt.

Tatenlos ließen die Alpträume sich das nicht gefallen und schlugen mit ihren üblichen Fähigkeiten zurück, wählten dafür jedoch nicht immer Rowan, der momentan ihr größtes Problem sein müsste. Wahllos griffen sie noch mehr Traumbrecher aus der Ferne an, fast wie besessen. Einige der Feinde, die durch Hammerschläge etwas zerbröselt waren, ließen außerdem zusätzlich aus ihrem Inneren Feuerfontänen hervorquellen, genau wie Ferris es schon erlebt hatte.

Dadurch drohte sich eine kräftezehrende Hitze auszubreiten, aber wenigstens dagegen konnten die Schöpfer-Traumbrecher etwas ausrichten, indem sie die Flammen dank kleiner, schwarzer Löcher einsaugten und durch einen künstlichen Regen die Atmosphäre wieder etwas abkühlten. Ein paar schienen also doch noch dazu imstande zu sein mitzudenken und nicht nur blind zu schießen.

Kaum in der Mitte angekommen, hob Luan mit beiden Händen die Pistole über seinen Kopf und umklammerte sie fest, als er den nächsten Schuss auslöste, der die zusammengetriebenen Alpträume auf einen Schlag beseitigen sollte. Abermals fuhr der Rückstoß dabei durch seine Arme und eine neue, große Energiekugel rauschte nach oben, wo sie erfolgreich sämtliche Zielobjekte in sich aufnahm, die dank Rowans Bemühungen in der Schussbahn gehalten wurden.

Diesmal war ein Chor aus erstickten Schreien zu hören, für deren Laute es keinen passenden Vergleich gab. Unmenschliche, verzerrte Stimmen von Bestien aus einer anderen Welt, die sich in dem Schmerz ihrer Vernichtung wanden. Wie zuvor dauerte es nicht lange und auch diese Energiekugel löste sich mitsamt den Alpträumen auf, nachdem sie ihr Werk vollbracht hatte. Rote Samen mischten sich zwischen die Tropfen des künstlichen Regenschauers, in einem verzweifelten Versuch, sich zu tarnen und nicht weiter aufzufallen, während sie haltlos nach unten rieselten.

Auch Luan ließ die Arme erschöpft sinken und atmete kontrolliert durch. Für den Augenblick kehrte die Ruhe etwas zurück, sie wurde nur durch das nervöse Getuschel und Keuchen der Traumbrecher getrübt. Niemand wollte sich zu früh freuen, alle blieben angespannt und behielten wachsam alles im Blick. Im Moment waren in der Halle keine weiteren Alpträume mehr zu sehen, doch dieser Zustand hielt leider nicht lange an.

„Nein!“, stieß schließlich jemand überfordert hervor, womit die Anspannung nur weiter zunahm.

Gleichzeitig mit dem Schrei stürmten neue, gesichtslose Menschenkörper aus weißem Traumsand die Halle, allesamt kamen aus den Tunneln. Dort musste irgendwo die Quelle liegen und etwas in Luan weckte eine böse Vorahnung, weshalb er dem gleich nachgehen musste. Er rannte der neuen Flut aus Feinden furchtlos entgegen und versuchte dabei, sie nur mit leichten Schüssen zu treffen, um zu sehen, ob das auch schon etwas bewirkte.

Zu ihrem Glück zeigten die Alpträume darauf wirklich eine Reaktion und verloren im Flug das Gleichgewicht. Kreischend stürzten sie ab, sobald Luan sie mit einem Schuss traf, und verloren sich daraufhin in schmerzvoll aussehende Krämpfe, lösten sich aber nicht auf. In dem Zustand schienen sie allerdings schon weniger gefährlich zu sein, was sie zu ihrem Vorteil nutzen konnten.

„Hört zu!“, verschaffte Luan sich Gehör, der seinen Weg Richtung Tunnel fortsetzte. „Gebt nicht so schnell auf! Nur, weil ihr sie nicht vernichten könnt, seid ihr nicht wehrlos! Schöpfer, tut euch zusammen und sperrt sie in Käfigen ein, damit sie uns nicht mehr angreifen können!“

Einige warfen sich unsichere Blicke zu, andere nickten verstehend und begannen nach dieser Aufforderung gleich damit, spezielle Risse zu bilden, die als Käfige für die Alpträume dienen sollten. Über den Handflächen der Schöpfer entstanden aus dem Nichts violette Gitterkugeln, in denen ein dunkler Nebel schwebte, der unruhig hin und her waberte. Dieser quellte plötzlich zwischen den einzelnen Löchern der Gitter hervor, umhüllte einen der geschwächten Alpträume und sog diesen mit sich in die Kugel zurück.

Nachdem auf diese Weise die ersten Unruhestifter in Gewahrsam genommen werden konnten, rauften sich langsam auch die restlichen Schöpfer zusammen und folgten dem Beispiel der anderen. Die wenigen Schall-Traumbrecher dazwischen sorgten derweil mit ihrem wohltuendem Gesang dafür, dass ihre Kollegen etwas zur Ruhe fanden und nahmen auch den Verletzten einen Teil der Schmerzen, so dass die Konzentration allgemein wieder zunahm. Auch Luan blieb fleißig, schoss so viele Alpträume ab wie möglich und wandte sich kurz vor dem Tunnel nochmal mit seiner Stimme an Rowan.

„Kümmere du dich um die, die ich nicht erwische und schütze die anderen!“

„Das musst du mir nicht erst sagen!“, entgegnete dieser schnaubend und hielt seinen Hammer kampfbereit erhoben. „Was hast du vor?!“

„Ich suche die Quelle!“, antwortete Luan knapp.

Danach verschwand er bereits in einem Tunnel, der zu den einzelnen Zimmern der Traumbrecher führte. Sein Verdacht gab ihm eine genaue Richtung vor, also musste er ihr nur folgen. Er befürchtete, dass vielleicht er für diesen ganzen Ärger verantwortlich war und konnte nur hoffen, mit dieser Vermutung nicht recht zu haben.

Je näher er den Zimmern kam, desto mehr Koloss-Traumbrechern begegnete er unterwegs, die mit aller Kraft versuchten, diese Armee von Alpträumen aufzuhalten. Für ihre hohe Ausdauer waren sie wahrlich zu bewundern, wie Luan fand. Dummerweise besaß jeder dieser Kolosse für sich einen furchtbar wilden Kampfstil, ähnlich wie Rowan, weswegen es für Luan nicht so einfach war, unbeschadet vorwärts zu kommen. Noch dazu bei den mangelnden Platzverhältnissen in dem Tunnel.

„Pass auf!“, warnte ihn jemand mit scharfer Stimme. Nur knapp konnte Luan soeben dem Schlag einer Waffe, eine gigantische Axt, ausweichen, als ein Traumbrecher versuchte einen Alptraum mit Schwung in zwei Hälften zu spalten. „Was willst du denn hier?! Du bist uns im Weg! Geh zu den anderen!“

Luan sparte sich jedes Wort und nahm mit der Pistole den Feind ins Visier, gegen den der Angriff mit der Axt gerichtet gewesen war. Dieses Exemplar zuckte hin und her, sah mehr aus wie ein Nadelkissen als eine menschliche Gestalt. Bevor der Traumbrecher ihn darauf aufmerksam machen konnte, dass Energiekugeln nichts bewirkten, hatte Luan längst geschossen und den Alptraum zwar nur ganz knapp am Arm erwischt, doch das genügte schon vollkommen, um ihn ebenfalls kreischend zu Boden zu zwingen.

„Macht mir Platz!“, forderte Luan ungeduldig und eilte direkt weiter, an dem verblüfften Kollegen vorbei, der damit nicht gerechnet hatte.

Auch die nächsten Alpträume brachte er zügig zum Schweigen, um die Kämpfe im Tunnel zu unterbinden und besser voranzukommen, womit er weitere Koloss-Traumbrecher mit Erstaunen zurückließ. Nach einem gefühlten Marathon erreichte Luan anschließend endlich den Gang, auf dem all die Zimmer lagen.

Durch den hohen Energieverbrauch war ihm inzwischen furchtbar schwindelig und schlecht, aber er musste auf den Beinen bleiben. Er steuerte die letzte Tür am Ende an, hinter der sich sein eigener Wohnbereich befand. Schon von weitem erkannte er, dass seine Befürchtungen offenbar zutrafen.

Risse zogen sich wie ein unheilvolles Spinnennetz durch eine Wandseite, ausgehend vom Zugang zu Luans Zimmer. Schwarze Dornenranken hatten sich durch den Rahmen der Tür gebohrt und ihn dabei regelrecht auseinander genommen, so dass sie nun das neue Gerüst bildeten. Ruhig bewegten diese augenscheinlichen Pflanzen sich schlangenartig auf und ab, nur mit der Taschenuhr konnte Luan die rote Aura sehen, die wie Rauch von ihnen ausging und sich oben an der Decke sammelte.

Etliche dunkle Knospen blühten an den einzelnen Ranken und er wusste sofort, dass jeder Alptraum von hier stammen musste. Einige knackten leise, wie ein Ei, aus dem bald ein neues Wesen schlüpfen könnte. Vorsichtshalber verlangsamte Luan seine Schritte, als er sich der Tür näherte, die nur noch von einem dicken Geflecht aus Dornenranken an ihrer alten Position gehalten wurde. Leicht schwankend blieb er mit ein bisschen Abstand davor stehen und starrte dieses Bild einfach nur ernst an.

„Das sind also die Hindernisse“, vermutete Luan und betrachtete nervös eine der Knospen, aus der weißer Traumsand rieselte, während sie knackend zu blühen anfing.

Wie viele Alpträume könnten diese Pflanzen wohl noch hervorbringen? Was war das überhaupt? So etwas hatte selbst Luan bisher noch niemals zuvor gesehen und das gefiel ihm nicht, auch wenn seine Energie wirksam gegen diese Gattung war. Seine Ablagerung auf der Haut kribbelte auch längst wieder, dem konnte er durch die momentane Lage nur noch kaum Beachtung schenken.

Mara ...

Sie war noch immer dort drin, jedenfalls glaubte er nicht, dass sie weggegangen war. Schlimmstenfalls schlief sie sogar noch und musste nun als Opfer für diese Alpträume herhalten. Hätte er das verhindern können, wäre er nach dem Aufwachen nicht direkt panisch abgehauen? Abgesehen von den Regungen der schwarzen Kruste hatte es aber zuvor keinerlei andere Anzeichen für eine Gefahr gegeben.

Er biss die Zähne zusammen und zielte mit der Pistole auf eine der Ranken. Eigentlich sollte er nicht mehr schießen, sein Körper war erschöpft, aber er musste versuchen Mara dort herauszuholen. Also dachte er nicht erst darüber nach und feuerte eine Kugel ab, die sich in die Pflanze hinein fraß. Auch hier schien seine Energie Wirkung zu zeigen, nur wollte ihm das in diesem Fall nicht gefallen, denn der Schmerzensschrei, der nach diesem Schuss ertönte, gehörte eindeutig Mara.

Sämtliche Knospen an der Ranke verdorrten auf der Stelle und die Ranke rollte sich kläglich zusammen, im Hintergrund hielt der Schrei an. Obwohl er nur dumpf von der anderen Seite der Tür zu hören war, sorgte er dafür, dass sich Luans Inneres ebenfalls schmerzhaft zusammenzog. Ihre Stimme klang der von Estera so ähnlich ...

„Nein!“, ermahnte er sich selbst und schüttelte den Kopf. „Mara! Hörst du mich?!“

Wenn diese Ranken in irgendeiner Form mit ihr verbunden waren, konnte er nichts tun. Auf keinen Fall wollte er ihr unnötig Schmerzen zufügen müssen, zumal er nicht wusste, was er damit alles bei ihr anrichten könnte. Darum hasste er solche unbekannten Feinde, sie raubten ihm jegliche Handlungsmöglichkeit, es sei denn, er riskierte Fehler – und das wollte er nicht.

Da er keine Antwort bekam, wagte er es, näher an die Tür heranzutreten und griff nach der Klinke. Natürlich war sie fest verschlossen und regte sich kein Stück, egal wie sehr er daran rüttelte. Selbst wenn er nicht erschöpft wäre, hätte er auch nicht genug körperliche Kraft gehabt, sie mit Gewalt zu öffnen. Unbekümmert – trotz eines Verlustes – ließen die Ranken ihn machen und beachteten ihn scheinbar gar nicht, was nur für noch mehr Frust sorgte.

„Verdammt!“, fluchte Luan.

„Ich weiß, das haben wir auch schon versucht“, sagte eine Männerstimme in der Nähe darauf ebenso erzürnt. „Was geht denn da bitte in deinem Zimmer ab, Mann?“

Ein Blick zur Seite verriet ihm, dass zwei der Koloss-Traumbrecher ihm gefolgt waren und ihn fragend ansahen, während die anderen vermutlich lieber die Umgebung sicherten. Klar, sie erwarteten eine Antwort von ihm. Dieses Chaos hatte er zu verantworten, nur verstand er noch nicht, wieso. Woher kamen diese Alpträume nur? In Athamos durfte es so etwas nicht geben, hier war es immer sicher gewesen. Hatte er diesen heiligen Ort entweiht?

„Ich weiß es nicht“, erwiderte er wahrheitsgemäß.

Misstrauisch musterten sie ihn, was er gut nachvollziehen konnte. „Warum ist nur deine Energie wirksam gegen diese Dinger?“

Ja, er musste deswegen in der Tat sehr verdächtig auf sie wirken. Bestimmt gehörte das alles zu Verrells Plan, zu seinem Spiel, wie auch immer er das anstellen konnte. Solange Luan nichts gegen diese Ranken tun konnte, wenn er Mara nicht verletzen wollte, bestand die Gefahr, dass stetig neue Alpträume erschienen und alle angriffen. Gleichzeitig verlor er hier durch die Kämpfe eine Menge Zeit, während Verrell in aller Seelenruhe Ferris brach.

Ich Idiot, mit so einem hinterhältigen Plan hätte ich rechnen müssen.

Luan könnte sich selbst verfluchen, vielmehr entwickelte er aber nur Hass gegenüber Verrell. Selbst Vanes Mühe, seine Atemhypnose so gut wie möglich zu flicken, konnte nichts dagegen tun. Als seine Ablagerung aber bedrohlich heiß wurde, riss Luan sich zusammen und zwang sich innerlich zur Ruhe. Gefühlschaos brachte ihn hier nicht weiter, er musste eine Lösung finden. Ganz sicher gab es eine.

„Verdammte Geißel!“, zischte einer der Traumbrecher plötzlich und hob seine Waffe. „Da kommen wieder neue!“

Sofort wich Luan von der Tür zurück, noch bevor er sah, dass wirklich aus zwei Knospen Unmengen weißer Traumsand zu Boden floss, der sich zu menschlichen Gestalten zusammenformte. Mit jedem Sandkorn löste die Blüte sich Stück für Stück auf und hinterließ eine neue, winzige Knospe, deren rasches Wachstum man mit bloßem Auge verfolgen konnte. Wie es aussah, kehrte hier nicht so bald Ruhe ein. Es sei denn, er zerstörte alle Ranken.

„Hey, Howe, tu was!“, verlangte der andere Mann gereizt. „Wir haben gesehen, dass du dieses Zeug vernichten kannst! Worauf wartest du denn?!“

„Ich kann nicht“, widersprach Luan. Nicht, solange Mara dort drin war. „Ich habe keine Energie mehr.“

Was nicht mal vollkommen gelogen war, jeder weitere Schuss könnte ihn auf der Stelle bewusstlos werden lassen. Noch war aber nichts verloren, er hatte eine Idee. Eine Person gab es, die ihm helfen könnte. Er ließ die anderen nur ungern hier zurück, doch es ging nicht anders. Sie mussten jetzt beweisen, dass sie richtige Traumbrecher waren. Hastig huschte er an den beiden Koloss-Traumbrechern vorbei, um sein neues Ziel in Angriff zu nehmen.

Die reagierten verständlicherweise fassungslos. „Wo willst du hin?!“

„Haltet hier weiter so viele von denen auf wie möglich!“, riet er ihnen und blickte dabei über die Schulter. „Und sagt den Schall-Traumbrechern, sie sollen versuchen, die Alpträume mit Gesang zu besänftigen, damit die Schöpfer sie leichter einfangen können.“

Eine Reaktion auf seine Worte wartete Luan nicht mehr ab und sah wieder nach vorne, um den anderen Personen und nur noch wenigen Alpträumen auszuweichen. Zwischendurch verlor er aufgrund der Erschöpfung das Gleichgewicht und musste sich an den Wänden abstützen, dennoch kam er irgendwie voran. Zur Vorsicht behielt er die Pistole noch in der Hand, vermied es jedoch lieber, sie weiter zu benutzen, weil er nicht umfallen wollte.

In der Halle schien sich die Lage inzwischen einigermaßen beruhigt zu haben, zumindest den Umständen entsprechend. Haufenweise Gitterkäfige schwebten nun statt Alpträume in der Luft herum und die Stimmung war am Tiefpunkt. Durch die kurze Verschnaufpause konnten die meisten erst realisieren, wie schlimm einige von ihnen verletzt worden waren. Psychische Male waren schon nicht angenehm, aber manche hatten üble Verbrennungen davongetragen oder waren von Stacheln durchlöchert worden. Wenn man das so sah, konnte Luan von Glück reden, selbst keinen Angriff abbekommen zu haben.

Anhand der blauen Auren, von denen die Traumbrecher umgeben waren, konnte man erkennen, dass einige ihre Taschenuhr noch aktiviert ließen, nur um sicherzugehen. Die Nervosität hatte sich trotz der willkommenen Ruhephase momentan eben doch nicht gänzlich gelegt. Zu gern hätte Luan sie darauf hingewiesen, was für eine Verschwendung ihrer wertvollen sechs Stunden sie damit zuließen.

Am besten sollte er aber möglichst unbemerkt zur Haupttreppe gelangen, er durfte keine Zeit verlieren und sich mit Fragen aufhalten lassen, deren Antworten er sowieso nicht mal selbst kannte. Leider gab es immer noch Rowan, der nur auf ihn gewartet zu haben schien, so schnell wie der auf einmal vor ihm stand und nicht gerade erfreut über diese Ereignisse wirkte. Seine Körperhaltung verriet, wie wütend er war.

„Du!“, sprach er ihn lauthals an und rang sichtbar nach den richtigen Worten. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Kannst du mir mal verraten, was das zu bedeuten hat?!“

„Nicht jetzt, Rowan. Da werden gleich noch mehr kommen.“

„Nicht dein Ernst?!“

„Doch, tut mir leid.“ Er senkte reumütig den Kopf. „Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber ich regle das.“

„Das behauptest du immer!“, brummte Rowan.

„Und habe ich denn jemals gelogen?“

Darauf wusste er nichts zu erwidern und schnaubte nur schwer. Es war jedes Mal das gleiche mit Rowan, erst wünschte er sich Aufregung und wenn sie da war, zeigte er sich empört darüber. Daran war Luan aber schon gewöhnt und er hatte auch gerade ganz andere Sorgen.

Damit Rowan ihn ernst nahm, hob er den Kopf wieder und stellte sich seinem tödlichen Blick. „Bitte, unterstütze hier die anderen, so lange es geht.“

„Und dann?!“

„Nichts, um den Rest kümmere ich mich schon.“

Durfte Luan das denn? Womöglich riskierte er statt Maras Leben das von allen anderen, wie ihm bewusst wurde. Statt ihnen zu helfen, dachte er mehr an eine einzige Person. Selbst Rowan könnte sicher nicht ewig kämpfen und sich verteidigen, auch wenn er das Gegenteil behaupten würde. Warum musste sich ausgerechnet sein einziges Zuhause in ein solches Krisengebiet verwandeln?

„Worum kümmerst du dich? Dass wir hier nicht mehr von Alpträumen überrannt werden?“ Ungehalten ließ Rowan den Kopf des Hammers mit einem lauten Knall zu Boden fallen. „Ich bin auch ein Einzelgänger, aber denkst du nicht, dass Ego-Trips gerade unangebracht sind?!“

„Ich will jemanden retten“, gab Luan entschuldigend zu, leugnen hätte keinen Zweck. „Und ich will ... das alleine machen.“

Überraschenderweise fuhr Rowan ihn nach dieser Erklärung nicht noch wütender an, nein, er blieb seltsam ruhig und das giftige Funkeln in seinen Augen würde schwächer. „Jemanden retten? Wen? Dieses eine Mädel?“

Luan nickte nur stockend.

„Ist sie dir so wichtig?“, hakte Rowan weiter nach.

Erst wollte er nochmal nicken, aber er fand, diese Antwort hatte doch richtige Worte verdient. „Irgendwie schon.“

Rowan mochte nicht derjenige sein, der gern Predigten hielt, jedoch rechnete Luan genau damit. Gesagt zu bekommen, wie egoistisch er sich verhielt und dass er mehr Teamgeist zeigen sollte. Schlimmstenfalls sogar zu hören zu bekommen, dass Mara eh nur ein Sakromahr sei, eine Träumerei, bei der einzig deren reine Energie als wertvoll galt und echte Menschenleben ihr vorgezogen werden mussten. Alleine den Gedanken konnte er kaum ertragen.

„Na schön“, kam es monoton von Rowan und er schulterte den Hammer wieder. „Dann mach mal und kümmere dich schnell.“

Sprachlos sah Luan ihn an. Diese Worte sollten ihn beruhigen, aber er verstand es nicht. Wo blieben die erwarteten Belehrungen? Vorhin hatte seine Befürchtung bezüglich Mara noch Bestätigung gefunden und nun so etwas. Wurde hier gerade das Gleichgewicht zwischen gut und schlecht wiederhergestellt? Wäre Ferris hier, könnte er sich anhören, dass er einfach nur zu negativ eingestellt war.

„Ich würde an deiner Stelle das gleiche tun“, erklärte Rowan, als er diese Fragezeichen in seinem Gesichtsausdruck bemerkte. „Jemanden beschützen zu wollen, der einem wichtig ist, ist immer der richtige Weg.“

„Durante!“, unterbrach eine andere Stimme ihr Gespräch. „Da kommen noch mehr!“

„Zeit für meinen Auftritt.“ Sofort wandte Rowan sich von ihm ab und trat dem nächsten Gefecht entgegen. „Los jetzt, hau ab und beeil dich gefälligst.“

Ihm fehlten immer noch ein wenig die Worte, also fasste er sich kurz. „In Ordnung.“

Damit wandte auch er sich wieder seinem Ziel zu und eilte, so weit es sein Körper zuließ, zur Haupttreppe. Luan musste dort hin, wo ihn seine Panik nach dem Aufwachen bereits hinführen wollte, zu Vane, auf die Krankenstation. Der Arzt wusste etwas über die roten Samen, also könnte er ihm sicher einen Weg nennen, Mara zu retten. Er musste einen kennen.

Hör auf dein wahres Ich (Teil 1)

Die Krankenstation war, dank gewöhnlicher Leuchtstoffröhren, stets angenehm hell erleuchtet, anders als in den restlichen Bereichen von Athamos, und machte dadurch auf den ersten Blick einen einladenden Eindruck. Sie zählte außerdem zu einem der wenigen Orte innerhalb des Hauptquartiers, an denen die Umgebung überwiegend natürlich und normal wirkte, nicht etwa wie der Unterschlupf von Jägern mit übernatürlichen Fähigkeiten.

Angeblich hatte die damalige Ärztin darauf einen besonders großen Wert gelegt, weil das für den Heilungsprozess der Patienten förderlicher sei, und seitdem wurde daran nichts mehr geändert, selbst nach ihrem Wechsel des Arbeitsplatzes nicht. Wäre Vane gegenwärtig nicht der behandelte Arzt, könnte Luan sich hier wahrscheinlich sogar wohlfühlen, aufgrund der Ordnung und Sauberkeit – auch wegen dem unerwarteten Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit, die diese Räumlichkeiten ausstrahlten.

Dabei sollte ich diesen Ort abgrundtief hassen, musste Luan jedes Mal denken.

Durch die Eingangstür gelangte man zuerst in einen geräumigen Empfangsbereich, wo es gerade ungewohnt still und leer war. Direkt auf der linken Seite ruhte der geschwungene, weiße Tresen mit einigen blauen Elementen und direkt gegenüber, von Luans Sicht aus rechts, lag der offene Warteraum. Lediglich ein paar Trennwände mit milchigen Fenstern sorgten für ein wenig Privatsphäre auf beiden Seiten. Statt Stühlen gab es hinter dieser Abschirmung eine große Couch und einige dazugehörige Sessel, auf denen Patienten Platz nehmen konnten. In der Mitte dieser Sitzmöglichkeiten stand zwar ein Glastisch, aber dieser war oft leer.

Einige gut platzierte Zierpflanzen brachten dafür etwas Grün in die sterile Atmosphäre und wie Luan sofort nebenbei bemerkte, hatte Naola scheinbar auch neue Gemälde besorgt, um den Raum mit noch mehr Farbe zu beleben. Auf die achtete er jetzt aber nicht genauer und ging zügig, soweit es die Erschöpfung zuließ, an dem Tresen vorbei, weil den gerade niemand besetzte. Müsste Nevin nicht eigentlich da sein? Immerhin war er die Vertretung für Naola, die normalerweise den Job als Assistentin ausfüllte.

Ob schon einige Verletzte reingekommen sind?

Auf seinem Weg hierher war er jedenfalls keinen Traumbrechern begegnet, doch es könnte möglich sein, dass die Opfer von Schöpfern durch Teleportation zur Krankenstation gebracht wurden. Oder sie waren allesamt noch zu beschäftigt mit den Angriffen der Alpträume, was Luan sich eher vorstellen könnte. Vane bekäme heute auf jeden Fall noch eine Menge zu tun, so wie er es gewohnt sein sollte, wenn auch nicht wegen einem Überraschungsangriff in Athamos selbst.

Zum Glück beschränkte dieser sich offenbar nur auf den Bereich, wo die Quartiere lagen und sich auch der Ursprung der Alpträume befand, zumindest noch. Solange die Traumbrecher die Gefahr wenigstens noch eine Weile einzudämmen wussten, blieb ihnen etwas Zeit, vermutlich nur nicht allzu viel.

Deshalb betrat Luan gezielt einen der Gänge, der zu den einzelnen Zimmern der Krankenstation führte und knirschte mit den Zähnen bei dem Gedanken, dass es wieder eine Tortur werden dürfte, Vane hier schnell ausfindig zu machen, da er überall sein könnte. Für einen Arzt alleine fiel diese Krankenstation eigentlich viel zu groß aus, noch dazu mit nur einem Assistenten und der dazugehörigen Laborabteilung. Er sollte dringend über weitere Mitarbeiter nachdenken, erst recht bei der hohen Zahl an Patienten, die er hier ständig zu verpflegen hatte.

Zu seiner Erleichterung öffnete sich auf dem Gang kurz vor ihm dann plötzlich eine der Türen, gefolgt von einer ihm vertrauten Stimme: „Ruh dich jetzt schön weiter aus, okay? Und ruf mich einfach nochmal, solltest du etwas brauchen. Ich komme dann sofort.“

Es war Nevin, der drei Jahre jüngere Bruder von Rowan und das genaue Gegenteil von diesem. Schon seine Stimme glich einer warmherzigen Umarmung, so sanft klang sie. Bei Schall-Traumbrechern musste Luan sich oft fragen, ob sie vorher bereits beim Reden solche Wirkungen auf andere gehabt hatten. Neben Nevins Stimme war auch sein Aussehen recht auffällig, denn seine fliederfarbenen Augen waren nicht nur faszinierend anzusehen, sie betonten seinen gütigen Charakter auch nochmal zusätzlich. Hinzu kam sein langes, schneeweißes Haar, das er immer zu einem Zopf geflochten trug.

„Ah, Luan“, sagte Nevin erfreut, kaum dass er ihn bemerkte. „Wo kommst du denn plötzlich her? Lange nicht gesehen~.“

Wahre Worte, ihr letztes Treffen war eine Weile her. An Nevin hatte sich seitdem nichts verändert, weder an seiner Art, noch an seinem äußeren Erscheinungsbild. Sogar bei seiner Arbeit als vorläufiger Ersatz für Naola trug er diese schwarze Mütze, die überhaupt nicht zu ihm passte, aber er legte sie so gut wie nie ab. Als Bruder von Rowan hing er scheinbar sehr an solchen Geschenken von ihm.

Erwartungsvoll lächelte Nevin ihn an und schloss dabei sacht die Tür zu dem Zimmer, aus dem er gekommen war. „Wie geht es dir denn? Irgendwie siehst du nicht so gut aus.“

„Tut mir leid“, warf Luan ein. „Ich habe jetzt keine Zeit, um mit dir zu sprechen. Kannst du mir sagen, wo ich Vane finde?“

Zwar sah es nicht so aus, als würde Nevin diese Abweisung persönlich nehmen, doch bei jemandem wie ihm fühlte Luan sich trotzdem schlecht, so reagieren zu müssen. Die momentane Lage zwang ihn aber leider dazu.

„Du suchst freiwillig nach Doktor Belfond?“, stellte Nevin verwundert fest und musterte ihn gleich besorgt. „Dann muss es ernst sein. Ist etwas passiert?“

„Kann man wohl sagen“, erwiderte Luan angespannt und verschwieg die Tatsachen gar nicht erst. „In Athamos sind Alpträume aufgetaucht, die uns angreifen.“

Schockiert sog Nevin die Luft ein und sah ihn mit großen Augen an. „Was? Hier? Das ist doch gar nicht möglich.“

„Ich weiß, es ist schwer vorstellbar, aber in diesem Augenblick wird bei unseren Quartieren gekämpft.“ Automatisch warf Luan einen Blick über die Schulter, nur um sicherzugehen, dass die Alpträume nicht doch schon hier waren. „Sie sind nur schwierig zu vernichten, bis auf meine Energie zeigt bislang sonst nichts anderes eine effektive Wirkung. Die anderen sind deswegen etwas überfordert, mit Rowan sollten sie es jedoch vorerst schaffen.“

„Ro kämpft also schon?“, fing Nevin auf. Niemand außer ihm durfte seinen Bruder bei diesem Spitznamen nennen. „Oh je.“

„Stell dich schon mal auf eine Menge Arbeit ein“, riet Luan ihm und blickte wieder nach vorne. „Jedenfalls brauche ich jetzt Vane, damit er meine Energie auffüllt. Also, wo ist er?“

An Nevins nervösen Gesichtszügen war deutlich zu sehen, dass er am liebsten nach Details gefragt hätte und kaum etwas verstand, was Luan gut nachvollziehen konnte. Statt dass Nevin ihn aber mit weiteren Fragen aufhielt, wie es viele andere sicher getan hätten, besann er sich schnell auf das Wesentliche und wurde ebenfalls ernst, was man nur höchst selten an ihm beobachten konnte.

„Doktor Belfond wollte etwas im Labor überprüfen“, erinnerte Nevin sich. „Dort ist er schon seit seiner Rückkehr. Komm, ich bring dich hin.“

„Nicht nötig“, lehnte Luan ab und hob dabei gleich abwehrend die Hände. „Ich komme schon alleine zurecht.“

„Sicher? Du siehst wirklich nicht gerade gut aus und wenn du Energie brauchst, ist das auch kein Wunder.“

„Ich bin daran gewöhnt, kümmere du dich besser weiter um die Patienten und triff schon mal Vorkehrungen für die Verletzten, die bald eintreffen werden.“

„Wie du willst ...“, gab Nevin nur sichtlich ungern nach. „Du weißt den Weg noch?“

Luan nickte knapp. „Viel zu gut, ja. Danke, Nevin.“

Könnte Vane im Labor mit den Vorbereitungen für das Brechen der Atemhypnose beschäftigt sein? Besser wäre es für ihn.

„Pass auf dich auf, Luan.“

„Du auch auf dich.“

Mit einer weiteren Entschuldigung an Nevin machte Luan sofort kehrt und eilte zu einem anderen Gang, an dessen Ende sich eine Tür befand, auf der ein Schild mit der Aufschrift „Zutritt für Unbefugte verboten“ befestigt war. Nirgendwo gab es auch nur den kleinsten Hinweis darauf, was sich dahinter verbarg, denn niemand hatte, laut Vane, hier herumzuschnüffeln, erst recht nicht als Patient, der im Bett bleiben und sich erholen sollte.

Hastig durchsuchte Luan die Taschen seines Mantels, bis er schließlich einen einzelnen Schlüssel hervorzog. Damals hatte er ihn nur widerwillig entgegen genommen, aber jetzt kam ihm dieser Vorteil zugute. Er besaß somit als einer der wenigen Zugang zu dem Laborbereich der Krankenstation, warum auch immer Vane das so wichtig gewesen war.

Vor dieser Mission hätte ich noch gesagt, weil er darauf hofft, dass sein Forschungsobjekt freiwillig zurückkommt ...

Durch die beiden Male, in denen Vane ihm gegenüber so etwas wie eine fürsorgliche Seite gezeigt hatte, war er nicht mehr so sicher. Darum ging es aber auch nicht. Also verdrängte er den Gedanken, schloss auf und stemmte sich gegen die schwere Tür, um das Labor zu betreten.

Zuerst gelangte er in einen kleinen Vorraum, wo sich ein Waschbecken und Desinfektionsmittel befand, mit dem Luan sich auch gleich die Hände wusch, weil Vane zumindest darauf eine Menge Wert legte. Wie sehr er diesen beißenden Geruch hasste. Dafür ignorierte Luan die weißen Kittel, die hier an Kleiderhaken bereitgestellt wurden. Gerade, als die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Laut zurück ins Schloss fiel, ging er weiter durch die nächste in den ersten Hauptbereich.

Wie genau ein Labor auszusehen hatte, um es als ebenso gewöhnlich bezeichnen zu können wie den Rest der Krankenstation, wusste Luan nicht, aber seinem Empfinden nach passte dieses durchaus ganz gut in diese Kategorie hinein. Auch hier sorgten Leuchtstoffröhren für genügend Licht, nur in etwas abgeschwächter Form, dennoch konnte der gesamte Raum problemlos überblickt werden.

Hier standen mehrere Werkbänke in geordneten Reihen, ausgestattet mit allerhand Geräten und Werkzeugen, deren Namen Luan nicht im Ansatz erahnen konnte. Einige von diesen dürften nicht mal unter den normalen Forschern außerhalb von Athamos bekannt sein. In den Regalen an den Wänden wurden etliche Glasbehälter in sämtlichen Formen und Farben gelagert, manche davon auch gefüllt mit irgendwelchen Substanzen in Kühlgeräten.

Jeweils drei Türen führten auf zwei Wandseiten in weitere Bereiche, nur eine war mit einer großen Glasfront ausgestattet, die dazu dienen sollte, den Versuchsraum dahinter auch von diesem Platz aus überwachen zu können, doch wegen des heruntergelassenen Sichtschutzes war derzeit nur eine weiße Leinwand zu sehen, worüber Luan ganz froh war. Er hatte nur schlechte Erinnerungen an diesen Ort. Insgesamt fühlte sich die Atmosphäre im Labor bedrohlich an, obwohl es direkt mit der Krankenstation verbunden war, in der eine ganz andere Ausstrahlung herrschte.

Luan ignorierte daher den Großteil der Einrichtung, denn sein Blick galt sowieso eher Vane, den er an einer der Werkbänke entdeckte, wo er gerade an einer Art Mikroskop saß. Dieses war weitaus größer als normale Modelle, sah aus wie eine klobige, antike Maschine mit unzähligen Hebeln, Knöpfen und Rädern, mit denen man etwas einstellen konnte. Das Mikroskop nahm fast die Hälfte des Tisches in Beschlag, weshalb es auch nicht mehr von dort wegbewegt wurde. Regungslos starrte Vane in eines von mehreren Okularen und bewegte dabei gelegentlich minimal verschiedene Räder an der Seite des Geräts.

Bevor Luan auf sich aufmerksam machen konnte, beendete Vane bereits von selbst den Blick durch das Okular und lehnte sich im Stuhl zurück, um ihn besser sehen zu können. Sofort glühte ein kühler Funke der Unzufriedenheit in seinen Augen auf und seine Mimik gewann eine strenge Note, mit der er Luan zu durchbohren schien. In dieser Umgebung fiel Vane offenbar in sein altes Verhaltensmuster zurück, auf das er allergisch reagierte.

„Sagte ich dir nicht schon oft genug, dass du es mit dem Energieverbrauch nicht übertreiben sollst?“

„Sie haben keine Ahnung, was in Athamos los ist“, verteidigte Luan sich genervt. „Es ging nicht anders, ich-“

„Ich weiß sehr wohl, was vor sich geht“, unterbrach Vane ihn, was durch seine Ruhe in der Stimme nur noch provokanter wirkte, ob gewollt oder nicht.

Auf eine Diskussion konnte Luan getrost verzichten, darum versuchte er, darauf gar nicht erst genauer einzugehen. „Schön, dann können wir uns jedes weitere Wort ja sparen und direkt zu den dringenden Dingen übergehen: Ich brauche neue Energie.“

„Du wirst dich noch ein bisschen gedulden müssen.“ Viel zu entspannt notierte Vane sich nebenbei mit einem Kugelschreiber etwas auf den Papieren, beides lag neben dem Mikroskop auf der Werkbank. „Ich habe schon vor einer Weile eine Bestellung bei den Fortunae aufgegeben, die neuen Tanks müssten also bald eintreffen.“

Die Energie, die den Traumbrechern bei einem Mangel als Ersatz zugeführt wurde, stammte aus der Schicksalsmaschine. Bisher hatte Luan nur davon gehört, denn sie wurde noch sicherer unter Verschluss gehalten als Atanas’ Schatzkammer. Eine Fortuna schmiedete aus den Träumen Glück, angeblich mit Hilfe dieser besagten Maschine. An Reinheit war diese besondere Energie kaum zu übertreffen, selbst die der Traumbrecher reichte nicht an sie heran.

Womöglich lag es daran, dass Luan mit seinen Schüssen etwas gegen die Alpträume ausrichten konnte, so oft wie er schon eine Transfusion benötigt hatte. Jedenfalls war Energie aus der Schicksalsmaschine leider sehr flüchtig, weshalb Vane davon nichts im Labor lagern konnte, sondern bei den Fortunae stets bei Bedarf etwas davon anfordern musste. Für gewöhnlich dauerte die Lieferung auch nicht allzu lange, trotzdem ...

„Können Sie das nicht beschleunigen?“, drängte Luan und deutete hinter sich zur Tür. „Die anderen kämpfen gerade und sind in Bedrängnis, weil ihre Energie nichts gegen den Feind bewirkt. In jeder Sekunde könnten mehr und mehr verletzt werden.“

„Mir gefällt das genauso wenig wie dir, glaub mir“, versicherte Vane und legte langsam den Kugelschreiber wieder ab. „Ich kann aber auch nicht mehr tun, als zu warten. Die Fortunae müssen beim Transport der Energie sehr vorsichtig vorgehen.“

Es hatte keinen Sinn, noch mehr Druck zu machen, schon weil Luan selbst genau wusste, dass es nicht anders ging. Selbst bei Notfällen ließen sich die Fortunae die Zeit, die nötig war, um die gewünschte Energie sicher zu den Traumbrechern schaffen zu können. Kleinste Fehler konnten schlimme Schäden mit sich ziehen.

Seufzend fuhr Luan sich durch die Haare und legte dabei den Kopf in den Nacken. „Das darf doch nicht wahr sein ...“

Womit hatte er all diese Hindernisse nur verdient? Eigentlich gab es nichts, was man ihm wirklich ankreiden könnte. Gewissenhaft vernichtete er jeden Alptraum, der ihm über den Weg lief – und nun schlugen sie derart zurück.

Schweigend erhob Vane sich, in einer viel flüssigeren Bewegung, als man bei seiner Größe erwartete, und holte aus einer Ecke des Raumes einen zweiten Stuhl, den er zu dem Mikroskop neben den anderen stellte. Während er sich wieder auf seinem Sitzplatz niederließ, deutete er zu dem neuen an seiner Seite und sah Luan fordernd an.

„Setz dich, solange wir warten müssen und versuche, dich zu beruhigen. Du solltest dich schonen, bis du wieder über genug Energie verfügst.“

Eigentlich wollte er ablehnen und anmerken, dass Stehen nicht so anstrengend war, aber Luan ergab sich in dem Punkt, noch bevor er sich überhaupt dagegen auflehnte. Im Grunde wäre er ganz froh, die restliche Kraft nicht weiterhin in seine Beine legen zu müssen, also ging er zu dem freien Stuhl und setzte sich dort hin, was Vane mit einem zufriedenen Nicken registrierte.

Nur bei einer Sache musste Luan ihn doch enttäuschen. „Ich verstehe wirklich nicht, wie Sie immer so ruhig bleiben können.“

„Weil es niemandem etwas nützen würde, wenn ich ihn Unruhe gerate. Das lässt einen unaufmerksam werden und fördert Fehler.“

Unrecht hatte Vane damit nicht. Beim Gedanken daran, dass Mara in Gefahr war und die anderen verzweifelt weiterkämpfen mussten, konnte er aber nur unruhig bleiben. Hoffentlich brachten seine Ratschläge ihnen etwas. Vielleicht sollte Luan diese Wartezeit dann wenigstens doch noch sinnvoll nutzen, immerhin musste er Vane sowieso über etwas Bestimmtes ausfragen, bevor er zum Kampfplatz zurückkehrte.

„Erklären Sie mir mal, woher Sie über das, was hier gerade passiert, Bescheid wissen wollen“, leitete Luan das Gespräch ein. „Nevin sagte, dass Sie seit unserer Rückkehr die Zeit im Labor verbracht haben. Wie wollen Sie also etwas mitbekommen haben?“

Von dieser Initiative war Vane wohl überrascht, was sich nur durch ein leichtes Heben einer Augenbraue zeigte. „Ich ahnte schon, dass es so weit kommen wird, bevor wir nach Athamos gegangen sind.“

„Und woher, bitte?“

Vane hatte nur eine Schall-Prägung, keine hellseherischen Fähigkeiten. In Luan bahnte sich aber eine Vermutung an, die sein Misstrauen wieder neu entfachte und hohe Flammen schlagen ließ. Was, wenn dieser Angriff doch nicht zwingend etwas mit Verrell zu tun hatte, sondern zu einem Plan von Bernadette gehörte, Athamos anzugreifen? Sie blieb eine Verräterin und Vane offensichtlich ein Verbündeter von ihr, wie die letzten Ereignisse zeigten.

„Deine Gedanken schlagen eine völlig falsche Richtung ein“, wies Vane Anschuldigungen von sich, die nicht mal laut ausgesprochen wurden. Hatte er Luan diese Überlegung so deutlich ansehen können? „Als ich die roten Samen sah, die du bei dir hattest, wusste ich sofort, dass jemandem ein Geißel-Ei eingepflanzt wurde.“

Davon hörte Luan zum ersten Mal, daher runzelte er irritiert die Stirn. „Geißel-Ei? Was soll das sein?“

Zu seiner Erleichterung setzte Vane tatsächlich ohne Umschweife zu einer Erklärung an. „Eine Geißel kann einem beliebigen Opfer ein Ei einpflanzen, das in dieser Person im Schlaf durch deren Träume heranreift und auf diese Weise Geißelsaat bildet, eine Alptraumgattung, die in der Rangfolge knapp über den Sakromahren steht.“

Geißelsaat. Sollte das bedeuten, es gab neben den sechs bekannten Arten wirklich noch eine siebte – oder gar noch mehr? Also waren diese Alpträume, gegen die Luan im Wald und vor dem Hotel gekämpft hatte, in der Tat keine Reinmahre gewesen. Dennoch blieb er verwirrt.

Unaufgefordert fuhr Vane fort. „Geißelsaat dient der Geißel normalerweise dazu, die Welt schneller einzunehmen, mit Dunkelheit zu verseuchen und effektiver zerstören zu können, was jedoch schon der letzte Schritt in ihrem, von Instinkten geleiteten, Handlungsablauf ist. Zuerst konzentrieren sie sich für gewöhnlich darauf, ihren Wirt zu brechen, um überhaupt erst an einen richtigen, eigenen Körper gelangen zu können, wodurch dann auch ihre Kräfte zunehmen.“

Ratlos schüttelte Luan den Kopf. „Woher wissen Sie so viel darüber? Über Geißel-Eier und Geißelsaat habe ich bisher nicht mal etwas in Legenden gehört ...“

Lag es daran, weil Vane, neben Atanas, am längsten in Athamos tätig war? Nein, das konnte nicht sein. Genau wie Atanas war Vane kein Jäger und verbrachte die meiste Zeit im Hauptquartier, also konnte er sich dieses Wissen nirgendwo angeeignet haben, wenn nicht mal ihr Anführer genauere Details wusste. Unter den Jägern blieb also Luan derjenige, der die meiste Erfahrung in diesem Beruf besaß und er hatte, noch bis vor kurzem, keine Ahnung von Geißeln.

„Das kann ich dir nicht sagen“, wich Vane aus und beendete dabei auch den Blickkontakt zu Luan, indem er vor sich auf das Mikroskop starrte.

Beinahe hätte Luan empört darauf hingewiesen, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, dieses Spielchen derart auszureizen und ihm immer noch Informationen zu verschweigen, aber der Drang löste sich von selbst auf. So wie Vane in dieser Sekunde dasaß, bekam er auf einmal eher Mitleid mit ihm. Sogar sitzend war er eigentlich um einiges größer als Luan, machte jedoch momentan einen sehr kleinen Eindruck auf ihn. Er wirkte von innen heraus verloren und unsicher, so hatte er Vane noch nie erlebt. Fast glaubte Luan, noch dazu einen winzigen Hauch von Angst wahrzunehmen. Wovor könnte dieser Mann sich schon fürchten?

Etwa davor, aus Athamos ausgeschlossen zu werden? In dem Fall wären sie sich ausnahmsweise mal ähnlich.

Vane ... kann es sein, dass ich Sie gar nicht wirklich kenne?

Oder dass Luan vergessen hatte, wie Vane wirklich war? Er spielte ihm diese Seiten garantiert nicht vor, so gut konnte er nicht sein. Aber was war mit Luans Misstrauen? Mit der Zeit, in der Vane ihn hier im Labor festgehalten und fast zum Wahnsinn getrieben hatte? Was davon war noch bedeutsam und woran konnte er glauben?

„Vane“, sage er schließlich, statt weiter nachzudenken. „Wenn Sie, du, mir das jetzt noch nicht sagen willst, ist das in Ordnung.“

Natürlich musste Vane über dieses Verständnis verwundert sein, das war auch seinem Blick zu entnehmen, den er Luan daraufhin zuwarf. Dieser sprach aber weiter, um dem Arzt gar keine Gelegenheit zu geben, ihn unterbrechen zu können.

„Du musst mir nicht sagen, woher du das alles weißt, aber ich bitte dich, teile dein Wissen mit mir.“ Er sah Vane entschlossen an. „Mara und alle anderen sind in Gefahr, was vielleicht meine Schuld ist. Ich möchte ihnen helfen, das ist jetzt viel wichtiger. Also teile mir bitte alles mit, was du weißt. So, dass ich es auch verstehe, in einer verständlichen Reihenfolge, solange wir auf die neuen Tanks warten.“

Vane ehrlich um etwas zu bitten, war gar nicht so schwer, wie Luan immer angenommen hatte. Es fühlte sich vielmehr unerwartet vertraut an, wie er feststellen musste. Bisher hatte er sich niemals wirklich auf Vane einlassen wollen, nicht so wie in diesem Augenblick.

Erst schien Vane noch zu sprachlos, um etwas darauf sagen zu können, doch er stimmte letztendlich nickend zu und teilte weitere Informationen mit ihm. „Lassen wir das Thema Geißel an sich vorerst außen vor und konzentrieren uns auf das momentane Hauptproblem: Das Geißel-Ei. Die Geißelsaat, die daraus schlüpft, ist anfangs nur schwer als solche zu erkennen oder zu entdecken, zumindest solange man sie nicht in ihre feste Form zwingt. Sie stehen von der Entwicklung her zunächst auf der Stufe der einfachen Nachtmahre, wachsen jedoch sehr schnell, auch ihre Fähigkeiten. Sollten sie in ihrem Wachstum nicht aufgehalten werden, können sie am Ende sogar menschliche Form annehmen, sobald sie die Stufe eines Reinmahrs überschritten haben.“

Aufmerksam lauschte Luan den Erklärungen und versuchte dabei, einige fehlende Puzzleteile für sich zusammenzusetzen. Seine schwarze Ablagerung regte sich im Normalfall immer, wenn ein Alptraum in der Nähe war, was sie aber nicht bei der Geißelsaat im Wald getan hatte, von der er überrascht worden war. Entwickelten sie sich zu schnell und konnten deshalb nicht richtig von der Kruste, die ihm sonst stets wirksam als Radar diente, erfasst werden?

Sie könnten auch einfach zu speziell sein.

Nein, den Nachtmahr in Mara, den Luan vernichtet hatte, konnte er noch spüren, die anderen nicht mehr. Geißelsaat musste sich tatsächlich unheimlich schnell entwickeln, denn Reinmahre waren selbst für ihn schwer aufzuspüren.

„Solange das Geißel-Ei in Mara bleibt, wird es immer neue Geißelsaat produzieren“, setzte Vane seinen unüblichen Redeschwall fort. „Als Sakromahr bietet sie natürlich eine besonders fruchtbare Energiequelle für die Geißelsaat, anders als Menschen. Da Verrell die Mutter dieser Alpträume ist, suchen sie instinktiv die Nähe des Opfers, das gebrochen werden muss, um dabei behilflich zu sein. Sie sind von Natur aus immun gegen die Energiekugeln des Wirts, weil die Geißel selbst in diesem herangewachsen und mit ihr vertraut ist. Ferris’ Energie wirkt daher nicht schädlich für Geißel oder Geißelsaat.“

Womit geklärt wäre, warum Ferris im Wald nichts gegen den Alptraum ausrichten konnte und wieso ausgerechnet Feuer aus diesem hervorgebrochen war. Über Verrell kannte die Geißelsaat seine Schwächen.

„Aber wieso wirkt die Energie der anderen Traumbrecher auch nicht?“, wandte Luan ein. „Und warum greift die Geißelsaat wahllos alle an, wenn sie doch nur auf Ferris fixiert sein sollten?“

„Sie legen wahrlich ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag“, musste auch Vane zugeben, ging aber nicht auf die erste Frage ein, und tippte nachdenklich mit dem Finger gegen eines der Okulare vor sich. „Ich bin sicher, sie handeln nicht wahllos. Verrell muss irgendein persönliches Ziel durch diesen Angriff verfolgen.“

„Persönlich?“, griff Luan auf. „Folgen Alpträume nicht sonst nur ihren Instinkten, die vom Hass gelenkt sind?“

„Es gibt immer Ausnahmen.“ Seine Stimme klang plötzlich ziemlich eindringlich, noch mehr als sonst. „Für dich sind Sakromahre doch auch anders und nicht nur eine Form von Alpträumen, oder nicht?“

Der Blick, mit dem Vane ihn nun betrachtete, sah seltsam erwartungsvoll aus. Worauf wollte er hinaus? Im Gegensatz zu Geißeln waren Sakromahre schon von ihrer Bestimmung her völlig anders, sie entstanden aus einem intensiven Wunsch. Ihre gesamte Beschaffenheit war rein und nicht derart bösartig wie bei Verrell. Könnte es unter Geißeln wirklich Ausnahmen geben?

Auf eine Antwort wartete Vane nicht lange und sprach weiter. „Es gibt nur drei Wege, ein Geißel-Ei zu entfernen.“

Jetzt wurde es interessant. „Und die wären?“

„Verrell müsste es eigenhändig wieder entfernen, um jeglichen Schaden zu vermeiden.“

„Das kommt dann schon mal nicht in Frage“, seufzte Luan.

„Der andere Weg wäre, es mit einer Atem-Prägung herauszuziehen, was einen geübten Nutzer erfordert.“

Sofort richtete Luan sich ein Stück auf. „Kannst du die Atemhypnose denn schon vollständig brechen?“

Leider schüttelte Vane den Kopf. „Die Vorbereitung läuft noch, in frühestens fünf Stunden könnten wir anfangen.“

So lange wollte Luan nicht warten müssen. Rowan traute er es bedenkenlos zu, Stunden am Stück ohne Pause zu kämpfen, aber nicht den anderen Traumbrechern. Die meisten brachen vorher unter Garantie zusammen und für einen alleine wäre diese Flut unmöglich länger aufzuhalten.

Den gleichen Gedanken hatte Vane auch schon. „Die dritte Möglichkeit wäre, Verrell zu vernichten, damit sich auch das Geißel-Ei mitsamt seiner Existenz auflöst.“

Auch nicht besser, dafür war ebenfalls keine Zeit. „Sind das wirklich alle Möglichkeiten?“

„Soweit ich weiß schon.“

Das konnte doch nicht sein. In Luan kam der Verdacht auf, Vane wollte ihm nur nicht alle Möglichkeiten nennen, wieder aus irgendwelchen Gründen, die nur er selbst verstand. Deshalb beobachtete Luan ihn genau, mit zusammengezogenen Augenbrauen, und wartete auf jeden kleinsten Hinweis, der ihm das bestätigte.

„Du bist doch Arzt“, versuchte er zusätzlich, an Vanes Ehre zu appellieren, denn seinen Beruf führte er immerhin stets pflichtbewusst aus. „Als solcher willst du doch auch, dass es nicht unnötig Verletzte geben muss. Gibt es wirklich nicht noch mehr Möglichkeiten?“

„Alles andere käme ohnehin auch nicht in Frage“, gab Vane nach und nahm den Kugelschreiber wieder in die Hand, um diesen zu drehen. „Ich bezweifle, dass du Mara töten möchtest, um die Produktion neuer Geißelsaat zu stoppen.“

Erschrocken lehnte Luan sich zurück. „Auf keinen Fall!“

„Dachte ich mir.“ Eine kurze Pause folgte. „Du möchtest sie unbedingt retten?“

„Etwas anderes kommt für mich nicht in Frage“, bestätigte Luan.

„Ist sie dir so wichtig?“

Stellte Vane ihm hier nun ernsthaft die gleiche Frage wie Rowan zuvor? War es denn so verwunderlich, dass Luan Mara retten und nicht opfern wollte? Hing das mit seinem Willen zusammen, mit dem er sonst jeden Alptraum zu vernichten versuchte, statt kleine Fische entkommen zu lassen?

Bestimmt ließe sich Vane nicht so leicht mit der Antwort zufriedenstellen, die er Rowan gegeben hatte, also musste er ein wenig genauer werden. „Ja, sie ist mir wichtig. Jeder Traum ist mir wichtig. Ich möchte alle Träume beschützen, nur darum bin ich überhaupt nach Athamos gekommen.“

„Du betrachtest Sakromahre als Träume?“, wiederholte Vane. Wachsam suchte er in Luans Augen nach etwas. „Dir bedeuten Träume sehr viel, oder?“

„Mehr als alles andere auf der Welt.“

Luan spürte, wie er allein durch diese Worte noch mehr Entschlossenheit in sich weckte und ballte die Hände zu Fäusten. Derweil schloss Vane die Augen und drehte weiter gleichmäßig den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern, während er sich tief in seine Gedanken verlor, so wie es aussah. Ein lauter, heller Signalton aus einem Lautsprecher, der unscheinbar in einer Ecke des Raumes hing, weckte Vane schließlich wieder aus dieser Phase.

„Die Tanks sind da“, sagte er ruhig und stand sogleich auf. „Beeilen wir uns und geben dir neue Energie.“

Das ließ Luan sich nicht zwei Mal sagen und folgte Vanes Beispiel, indem er sich ebenfalls von seinem Platz erhob. Er bemühte sich darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie schwindelig ihm dabei wurde. Wahrscheinlich fiel es Vane trotzdem auf, doch er sagte nicht viel dazu, was Luan ihm dankte.

„Geht es noch?“

„Ein paar Schritte überstehe ich schon noch, ja.“

Nickend ging Vane daraufhin voraus, auf eine der Türen zu, die in Behandlungsbereiche führte. „Ich werde dir bei der Transfusion erklären, wie du Mara retten könntest.“

Damit hatte Luan nicht mehr gerechnet. „Es gibt also noch einen Weg?“

„Ja, aber der ist sehr riskant“, warnte Vane ihn. „Außer dir würde ich es auch sonst niemandem zutrauen.“

Derart viel Zuspruch war Luan gar nicht von ihm gewohnt. Sonst versuchte Vane immer alles, um ihn von der Jagd nach Alpträumen abzuhalten. Besser, er hinterfragte diesen Sinneswandel nicht, zumal er sich insgeheim auch ein bisschen darüber freute, gesagt zu bekommen, dass nur er es schaffen könnte.

„In Ordnung, Vane, du hast meine volle Aufmerksamkeit.“
 

***
 

„Hast du alles verstanden?“, fragte Vane nochmal nach, als er zusammen mit Luan das Labor etwa eine halbe Stunde später verließ und auf die Krankenstation zurückkehrte.

Er blickte zu ihm auf, noch genauso entschlossen wie zuvor und dank der erfolgreichen Transfusion wieder wesentlich fitter. „Keine Sorge, das habe ich.“

„Ich wollte nur sichergehen.“

„Dachte ich mir.“

„Glaubst du wirklich, ihr helfen zu können?“, blieb Vane zweifelnd.

Davon ließ Luan sich aber nicht entmutigen und blieb zuversichtlich. „Ich bin mir absolut sicher. Sie entstand durch jemanden, der mir viel bedeutet, und deshalb habe ich sie schon einmal beruhigen können.“

Vor wenigen Tagen, im Wald, als sie solche Angst gehabt hatte. Ohne weiteres konnte sie Luan dort einfach vertrauen, obwohl sie einander gar nicht kannten. Inzwischen war er davon überzeugt, dass es daran lag, weil Mara Erinnerungen und eventuell sogar Gefühle von Estera in sich trug, dank denen sie Luan so schnell glauben konnte. Alleine darauf baute er nicht, doch es sollte ihm hilfreich bei seinem Vorhaben sein.

„Jemand, der dir viel bedeutet?“, hörte er Vane interessiert sagen.

„Hm? Ah, vergiss das.“

Warum sagte Luan so etwas unbedacht vor ihm? Gerade Vane gegenüber wollte er nicht darüber sprechen, dachte er bisher jedenfalls.

„Na schön.“ Zum Glück bohrte Vane nicht weiter nach. „Behalte du selbst auf jeden Fall auch Ruhe. Denk daran, alles andere wäre nur fatal.“

„Das habe ich inzwischen schon verstanden.“

„Ja? Dann könnten wir auch doch darauf warten, bis ich deine Atem-Prägung brechen kann“, machte Vane ihn erneut auf die, in seinen Augen, bessere Option aufmerksam.

„So lange kann ich nicht warten. Außerdem kam ich bisher auch lange ohne meine Prägung aus und die Geißelsaat reagiert sowieso empfindlich auf meine Schüsse.“

Es war zu hören, wie Vane schwer ein- und ausatmete. „Übertreib es aber nicht.“

„Schon klar. Sag mal“, nahm Luan sich doch kurz noch die Zeit, eine letzte Frage zu stellen, „kannst du dir erklären, wieso ausgerechnet meine Energie so wirksam ist? Darauf hast du noch gar nichts gesagt.“

„Weil ich keine Ahnung habe.“

Irgendwie kam diese Antwort etwas zu schnell. „Ist das wahr?“

„Warum sollte ich lügen?“

„Das sage ich zu den Menschen, die ich vor Alpträumen rette, auch immer.“

Deswegen musste Luan fast schmunzeln. Wer hätte gedacht, dass Vane und er sich doch einige Gemeinsamkeiten teilten? Erstaunlich, wohin sich die Dinge entwickelten, innerhalb so kurzer Zeit. Diese Entwicklung war zur Abwechslung mal recht angenehm, anstelle des Grolls, den er bei Vane zuvor dauernd empfunden hatte.

Ohne diesen hätten sie das Chaos durch die Geißelsaat so einfach verhindern können. Vane hatte, nach einiger Überlegung, in Limbten nämlich schon relativ schnell eingrenzen können, wer das Geißel-Ei in sich trug, deswegen war er auch dagegen gewesen, Mara mit nach Athamos zu nehmen. Da er aber wusste, dass Luan ihm niemals geglaubt hätte, sparte er sich zu dem Zeitpunkt jede Erklärung. Und er musste zugeben: Ja, Luan hätte es nur als Lüge angesehen, um einen Grund zu haben, Mara zurücklassen zu müssen.

„Ich hoffe, du wirst mir auch das irgendwann beantworten. Du hast noch so lange Zeit, wie meine Mission andauert.“

Nach einigen Schritten blieben sie gleichzeitig stehen und warfen sich gegenseitig einen ernsten Blick zu. Erst wollte Luan sich bei Vane für seine Hilfe bedanken, aber so weit war er dann doch noch nicht. Da sich auf einmal auch Nevin meldete, der laut nach dem Arzt rief, weil die ersten Verletzten es hierher geschafft hatten, blieb dafür ohnehin keine Zeit mehr. Also trennten sie sich ohne weitere Worte, indem jeder für sich seine Arbeit wieder aufnahm.

Mit neuer Energie verließ Luan die Krankenstation und rannte zurück zu den Quartieren. Der Weg erschien einem viel kürzer, wenn man ihn schnell zurücklegen konnte. Nur wenig später fand er sich nämlich bereits in der Halle wieder, wo noch gekämpft wurde, aber die Lage sah etwas ruhiger aus als vorher. Sicher hatten deswegen einige Traumbrecher auch die Gelegenheit dazu genutzt, endlich die Verletzten zu Vane zu bringen.

Mittlerweile schwebten noch mehr violette Gitterkugeln wie Lampions in der Luft herum, gefüllt mit Geißelsaat. Der dunkle Nebel, in dem sie eingehüllt waren, rüttelte wild an den Stangen, konnte jedoch nicht entkommen.

Rowan war vollkommen in seine Gefechte vertieft und wirkte noch ziemlich fit, weshalb Luan einfach weiterlief, ohne ihn abzulenken. Geradewegs in den Gang hinein, an dessen Ende sein Zimmer auf ihn wartete. Unterwegs kam er nur noch an wenigen Alpträumen, die er nun als Geißelsaat bezeichnen konnte, vorbei. Sie riefen wie zuvor seinen Namen, was ihn nicht mehr so sehr verwunderte.

Verrell war quasi in Ferris aufgewachsen und seine Kinder mussten eng mit ihm verbunden sein, also kannten sie auch Luans Namen. Hätten sie das alles vielleicht von Anfang an vermeiden können, wäre ihnen aufgefallen, dass in Ferris eine Geißel tätig wurde? Verdrängung schien zu den Spezialitäten seines Freundes zu gehören, andernfalls hätte ihm doch auffallen müssen, dass sich etwas von ihm gelöst hatte.

Auch Theeder hat Ferris einfach komplett aus seinem Gedächtnis verdrängt.

Er rettete sie alle, ganz bestimmt. Mara, die Traumbrecher und dann endlich Ferris. Nichts war unmöglich, er durfte nur nicht aufgeben und musste Ruhe bewahren. Nur auf die Art hatte er ohne Traumzeit so lange als Jäger weiterarbeiten können – und durch eine Menge Transfusionen.

Vor der Tür zu seinem Zimmer angekommen, hielt Luan wieder an und betrachtete die schwarzen Dornenranken feindselig. Sie bewegten sich noch immer wie Schlangen und ließen sich von seiner Anwesenheit nicht stören. Dieses Geißelwerk nahm ihn nicht ernst, was ein großer Fehler war.

Ohne zu zögern streckte Luan eine Hand Richtung Ranken aus und öffnete die geballte Faust, in der die roten Samen zum Vorschein kamen, die Vane ihm im Hotel Tesha abgenommen und an denen er am Mikroskop geforscht hatte. Laut ihm war das der Schlüssel, um ins Zimmer zu gelangen, und tatsächlich versuchte bald schon die erste Ranke ihm durch einen Peitschenhieb diese Saat zu entreißen. Reaktionsschnell zog Luan die Hand allerdings zurück, bevor sie ihn verletzen konnte.

„Willst du sie zurück haben?“, sagte er gefasst und baute sich standhaft vor der Tür auf. „Dann lass mich rein, Mara.“

Drohend bauten die Ranken sich nun allesamt ebenfalls vor ihm auf. Nur noch ein aggressives Zischen hätte gefehlt und sie wären wirklich wie Schlangen, die sich nicht so leicht von jemandem einschüchtern ließen, der größer war als sie. Unbeeindruckt blieb Luan stehen und wartete darauf, dass sich etwas tat, mit Erfolg:

Die Tür wurde plötzlich ruckartig mit Gewalt nach innen gerissen und dabei wie ein Blatt Papier zusammengeknüllt. Der schwarze Schlund eines hungrigen Tieres lag nun offen vor ihm und Luan zeigte keine Furcht, als er diesen gefährlichen Ort alleine betrat.

Hör auf dein wahres Ich (Teil 2)

In Luans Zimmer herrschte eine tropische Hitze, passend zu dem unerwartet exotischen Dschungel, der diesen Raum regelrecht für sich beanspruchte. Solch ein Anblick war selbst ihm neu. Als Traumbrecher war Luan eher eine kalte Atmosphäre gewöhnt, deshalb bildete sich schnell Schweiß auf seiner Stirn, und auch das Atmen schien in dieser Umgebung deutlich schwerer zu fallen. Die Luft war furchtbar drückend.

Wirklich sehr speziell, diese Geißelsaat ...

An der Größe des Zimmers hatte sich nichts verändert, dafür wucherten jedoch überall Pflanzen, es gab kaum noch eine freie Fläche. Das rötliche Gras auf dem Boden verursachte knisternde, beinahe klagende Geräusche, bei jedem seiner Schritte, und die einzelnen langen Halme schienen nach ihm greifen und ihn festhalten zu wollen, wofür ihnen die nötige Kraft fehlte. Sämtliche Dornenranken, die eng miteinander verflochten die Wände verdeckten und an denen ebenfalls viel zu viele Knospen mit Traumsand wuchsen, ignorierten ihn dagegen vollkommen. Immer noch – umso besser für Luan.

Wie kam nur diese Hitze zustande? Lag es an dem schnellen Wachstum der Geißelsaat, wodurch in kurzer Zeit eine Menge neuer Energie produziert wurde? Spontan wäre das die einzige Erklärung, die ihm einfiel. Möglicherweise brach deswegen auch Feuer aus ihnen hervor, sobald ihre Körper beschädigt wurden, und es hatte nicht zwingend etwas mit Ferris’ Angst davor zu tun.

Egal, seine eigenen Gedanken wollten ihn schon wieder mit Details aufhalten, die er für sein Vorhaben nicht benötigte. Vorsichtig bewegte er sich vorwärts, Richtung Bett, auf dem Mara tatsächlich noch lag.

Feine, dünne Äderchen drangen wie ein dichtes Geflecht aus dem hohen Gras hervor und umrankten das Möbelstück komplett, fesselten den Körper von Mara dicht ans Bett, damit sie nicht entkommen, sich nicht mal regen konnte, und sie allein ihnen gehörte. Dabei schnitten sie ihr teilweise sogar ins Fleisch.

Am liebsten hätte Luan diese Äderchen gepackt und von ihr losgerissen, aber er musste Ruhe bewahren. Das war allgemein bei Alpträumen wichtig, wie er wusste, und bei Geißelsaat ganz besonders, was Vane mehrmals betont hatte. Also kontrollierte er seine Gefühle, was ihm dank der Atemhypnose noch gut möglich war.

Er bückte sich unter den großen, fächerartigen Blättern hindurch, von denen um das Bett herum einige wie ein Vorhang von der Decke hingen. Eine schwarze, Flüssigkeit klebte an diesen blutroten Pflanzen und verbreitete einen stechenden Geruch. Etwas weckte in ihm die Befürchtung, dass diese Substanz entsetzlich auf der Haut brennen könnte. Zu seinem Vorteil war er aber ohnehin bereits von der schwarzen Ablagerung bedeckt.

Schließlich stand Luan endlich vor dem Bett und betrachtete das Problem genauer. Gleichmäßig pulsierten die Äderchen und glühten während dieses Prozesses stets matt auf, ähnlich wie in der Schall-Welt des Reinmahrs, der in Wahrheit auch eine Geißelsaat gewesen war. Obwohl die Fesseln sich zu fest um sie schlangen, schlief Mara einfach weiter, wenn auch mit einem leidvollen Gesichtsausdruck.

Einige Äderchen klebten ihr zudem an den Schläfen und schienen etwas aus ihr herauszusaugen, wodurch das Pulsieren zustande kam. Wahrscheinlich bediente das Geißel-Ei sich an ihrer Energie, um die Saat weiter zu vermehren. Konnte sie überhaupt als richtiger Alptraum bezeichnet werden? Vermutlich schon, immerhin verursachte sie Chaos und bereitete Mara Schmerzen, nicht zu vergessen den Traumbrechern draußen. Luan musste die Geißelsaat definitiv aufhalten.

Langsam hob er die Hand und legte sie auf Maras Stirn, die sich glühend heiß anfühlte. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Laut Vane könnte die Methode, mit der er sie retten wollte, ab einem bestimmten Zeitpunkt keinen Erfolg mehr erzielen. Trotzdem musste Luan es versuchen, wofür er nach seiner Taschenuhr griff, die er inzwischen unter seinem Mantel geschoben hatte, auf Vanes Rat hin.

Geißelsaat konnte nämlich intelligenter als gewöhnliche Alpträume handeln, die oft nicht einmal begriffen, dass sich Traumbrecher leicht töten ließen, würden sie nur ihre Herzen zerstören. Leider musste Luan innehalten, als er hinter sich ein Rascheln vernahm.

Ruhig drehte er sich ein Stück zur Seite, seine Sinne allesamt auf die Regungen im Raum konzentriert. In seinen Augen flackerte Entschlossenheit, mit der er die Dornenranken anstarrte, die sich von den Wänden gelöst hatten und ihn durch den Vorhang aus Blättern hindurch genauso ins Visier nahmen. Jeder wollte den anderen in Schach halten, nur eine falsche Tat könnte kritische Folgen auslösen.

Luan musste in Maras Traum eindringen, um ihr helfen zu können, sofern er nicht davon abgehalten wurde. Noch dazu könnte er seinen Körper nicht mitnehmen, dieser bliebe hier zurück, wie eine leere Hülle. Schutzlos. Genau das Problem hatte Vane ebenso durchdacht und ihm daher ein Hilfsmittel mitgegeben. Nun sollte er darauf vertrauen, dass es funktionierte.

Schweigend hob Luan wieder die Hand, in der er noch die roten Samen festhielt, die Vane untersucht hatte. Diesmal ließ er sie einfach zu Boden fallen, in das Gras hinein, wo sie nicht mehr zu sehen waren. Nur wenige Sekunde später war ein Knacken zu hören, was vermuten ließ, dass die Samenkörner aufgeplatzt sein könnten.

Plötzlich rieselte weißer Sand nach oben und setzte sich zu neuen Gestalten zusammen. Bedeutete das, aus diesen Samen konnte wirklich immer wieder neue Saat schlüpfen? Das war es jedenfalls, was Vane ihm gesagt hatte – und auch der Grund dafür, weshalb er sie ihm unbedingt abnehmen wollte, um ihn vor dieser unangenehmen Überraschung zu bewahren.

Eigentlich sollte Luan unruhig werden, doch Vane hatte ihm versichert, dass er diese beiden Samen in seinem Labor manipulieren konnte. Für Maras Wohl blieb Luan nichts anderes übrig, als daran zu glauben und ohne Anspannung zu beobachten, ob der Arzt wirklich erfolgreich gewesen war oder nicht.

Rasch formten sich aus den Mengen an Traumsand, der einzig aus zwei winzigen Körnern stammte, menschliche Figuren. Soweit wirkten sie nicht anders als die restliche Geißelsaat, doch waren diese beiden von einer violetten Aura umgeben, die Luan durch seine Taschenuhr sehen konnte.

Violett?, dachte er verwundert.

Sonst besaß die Energie von Alpträumen grundsätzlich eine rötliche, aggressive Farbe, bei Traumbrechern zeigte sie sich in einem ruhigen Blau. Rot und Blau, zusammen ergaben sie Violett. Was hatte das zu bedeuten?

Vane, was hast du getan?

Wütend nahmen die Dornenranken eine Angriffsposition ein und die Knospen an ihnen begannen zu blühen, um neue Geißelsaat zu erschaffen. Schützend bauten die zwei Gestalten mit der violetten Energie sich vor Luan auf, was er als Zeichen dafür nahm, mit seinem Vorhaben fortfahren zu können. Er müsste sich darauf verlassen, dass diese Wesen stark genug waren und ihn so lange wie nötig verteidigen konnten.

Angeblich besaß Geißelsaat ein starkes Rudelverhalten, eine weitere Weisheit, die Vane mit ihm geteilt hatte. Dieses Verhalten war nicht immer ersichtlich, aber weil sie allesamt aus demselben Ei stammten, fühlten sie sich wie eine Einheit. Darum hatten sie Luan auch Einlass in dieses Zimmer gewährt, da er zwei von ihnen gefangen hielt. Ausgehend von diesem Wissen war die Möglichkeit groß, dass sie nur mit halber Kraft gegen ihre manipulierten Geschwister kämpfen könnten – und das räumte ihm mehr Zeit ein.

Luan wandte sich wieder Mara zu und griff erneut nach seiner Uhr, ohne sich noch einmal dabei unterbrechen zu lassen, trotz der Gefahr, die sich hinter seinem Rücken entwickelte. Äußerst behutsam drehte er an dem Rädchen, mit dem man normalerweise die Zeit einstellen können müsste, bei Traumbrechern löste es jedoch eine andre Funktion aus.

Seine Traumzeit war eingefroren, nicht aber der Geist der Taschenuhr. Genau den benötigte er in diesem Augenblick. Ein lebloser Gegenstand alleine könnte niemals Träume auf diese Weise verwalten und nutzen, wie die Uhren der Traumbrecher es vermochten. Es kam auf das Zusammenspiel zwischen allen Komponenten an. Dazu gehörte auch der Geist von Luans Taschenuhr, deren Sprungdeckel automatisch aufsprang und ein grelles Licht verströmte, nur erschien nicht wie sonst die Pistole.

Bläuliche, durchsichtige Bänder glitten aus dem leuchtenden Ziffernblatt hervor, ein geheimnisvolles Glitzern begleitete ihre Erscheinung. Elegant und ruhig tanzten sie durch die Luft und machten es sich, nach einer knappen Geste von Luan, zur Aufgabe, sich über Mara zu legen, wie eine Decke.

Traumbrecher konnten dank diesen Bändern Verbindung mit einem Opfer aufnehmen, das von einem Alptraum besessen war und noch schlief, auch von der Ferne aus. Sie besaßen eine unendliche Länge und konnten ohne Taschenuhren nicht gesehen werden, was die Arbeit oft um einiges leichter machte. So war es zum Beispiel möglich von einem Dach aus Alpträume unschädlich zu machen und dafür nicht mal in den Alltag eines Menschen eingreifen zu müssen.

Während die Bänder versuchten, sich um Maras Kopf zu legen und wie die Äderchen einen Zugang zu ihrem Traum zu schaffen, atmete Luan möglichst entspannt durch. Was sich hinter ihm abspielte, blendete er voll und ganz aus. Erst als die Bänder sich auch um seinen Körper schlangen, schloss er die Augen, um sich von ihnen führen zu lassen.

„Verbinden.“

Ein Sog war zu spüren, der ihn, wie bei der verbesserten Sicht außerhalb seines Körpers, aus der materiellen Hülle befreite. Nur rauschte sein Geist in diesem Fall durch die Bänder hindurch, als würde er einem festgelegten Pfad folgen.

Sein Körper erschlaffte und wurde von den Bändern gehalten, während er in ein strahlendes Licht hinein flog, in dessen Mitte ein schwarzer Punkt ruhte. Je weiter er kam, desto größer wurde dieser. So groß, bis er in der Ungewissheit verschwand und in Maras Traum hinab stürzte, den es zu beenden galt. Auf keinen Fall wollte er ohne sie wieder aufwachen – aber er müsste auch aufpassen, nicht in ihrem Alptraum für immer verloren zu gehen.
 

***
 

Luans Flug endete abrupt und die Bänder entließen seinen Geist mitten in Maras Traumwelt, wo er automatisch seine übliche, körperliche Gestalt annahm. Stolpernd landete er auf einem massiven Marmorboden, gewann jedoch schnell sein Gleichgewicht zurück.

Die Schwerkraft hier ist so hoch, bemerkte er sofort. Das ist nicht gut.

Das könnte bereits ein Zeichen für Maras Zustand sein, der nicht gut aussah. Je leichter einem die Bewegungen in einem Traum fielen, desto friedlicher sah dieser auch aus. Natürlich gab es ab und zu Ausnahmen, aber an diesem Merkmal war es möglich, die Lage schon zu Beginn des Aufenthaltes zügig einzuschätzen.

Schwerfällig brachte Luan sich in eine aufrechte Position. Wenigstens musste er sich hier vorerst nicht mehr mit der Hitze herumschlagen, sein Körper außerhalb dieses Traumes blieb dem dennoch ausgesetzt. Sollte er verletzt werden, bekäme Luan das auf unangenehme Weise zu spüren, obwohl sein Geist momentan getrennt von seiner Hülle existierte.

Ein leises Flattern in der Ferne verriet ihm, dass die Bänder noch nahe genug bei ihm waren, um ihn jederzeit zurück in die Realität holen zu können, sollte das nötig sein. Sie hielten sich zwischen den Ebenen vor der Dunkelheit versteckt, von der diese Welt durchtränkt war. Nicht von den Lichtverhältnissen her, sondern von den Gefühlen. Hell war es mehr als genug, bei dem grellen Flutlicht, das von oben auf ihn herab schien.

Dafür wirkte eine tiefe, dunkle Verzweiflung auf Luan ein. Dunkelheit, die das Herz zu trüben und an seiner Entschlossenheit zu nagen versuchte. Davon durfte er sich nicht beeinflussen lassen, sonst könnte er Mara nicht retten. Gefasst atmete er nochmal durch, was ohne Körper nicht mehr notwendig wäre, doch es tat seinen Zweck und half ihm dabei, konzentriert zu bleiben.

Maras Alptraum. So sah er also aus.

Massen aus dicken Stahlseilen zogen sich pfeilgerade durch die gesamte Umgebung, wirkten wie ein bedrohliches Netz, das alles unter Kontrolle hielt. Tatsächlich dienten sie scheinbar dazu, unzählige spitz zulaufende Türme, Obelisken, zu halten, die wie zufällig an diesem Ort verteilt in die Höhe ragten, ohne eine bestimmte Funktion zu erfüllen.

Ihre dunkelvioletten Oberflächen glänzten aufdringlich im Licht und rötliche Symbole waren darin eingraviert worden, bei denen es sich um die Sprache der Alpträume handelte. Flüsterstimmen drangen von den Obelisken her an Luans Ohren, als wollten sie ihm die Geschichte hinter den einzelnen Texten erzählen, aber er ignorierte sie bewusst. Er durfte dem Feind keinerlei Aufmerksamkeit zukommen lassen, das könnte diesen nur stärken.

Nicht nachdenken. Nicht auf die Umgebung einlassen. Einfach weitergehen, befahl er sich selbst.

Also lief er vorwärts, um Mara zu suchen. In dieser endlosen Weite und dem lichten Wald aus Obelisken. Die Schwerkraft wollte ihn in die Knie zwingen, doch er kämpfte dagegen an und hielt aufmerksam nach Hinweisen Ausschau. Immer wieder kletterte er auf seinem Weg über Stahlseile oder musste unter ihnen hindurch kriechen, ihre Anwesenheit war wie ein Gesetz. Niemand könnte sie so einfach zerschneiden und sie hatten die Obelisken fest im Griff.

So verhielt es sich oft mit Alpträumen. Es gab stets etwas, das Kontrolle ausübte und die Dinge im Griff hielt. Eine emotionale Kette. Solange Luan ihnen folgte, sollte er irgendwann zum Kern dieser Welt gelangen, genau wie in der Schöpfer-Welt im Wald, mit den Händen aus Baumwurzeln.

Luan.

Widerwillig hielt er inne und sah sich um. Diese Stimme. Sie klang verdächtig nach Mara, nein, mehr nach Estera und doch völlig anders. Ein Gefühl der Vertrautheit ließ ihn glauben, es könnte sich um einen von den beiden handeln, aber diese Stimme war ihm fremd. Rasch wollte er weitergehen, um dem Alptraum keine falschen Signale zu senden, doch Luan erstarrte, als direkt vor ihm plötzlich ein Obelisk stand.

Vorhin war der Weg definitiv noch frei gewesen, abgesehen von einigen Stahlseilen. Mühevoll unterdrückte Luan sein Misstrauen und blieb ruhig, wollte einfach um diesen Spitzpfeiler herumgehen. Erneut erklang die Stimme von eben und hielt ihn davon ab.

Luan. Mein Sohn.

Auf einmal hatte Luan das Gefühl, als müsste er innerlich zerbrechen. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Das war alles andere als witzig, für so etwas war keine Zeit. Er hatte keine Eltern und kannte sie auch nicht, demnach sollten Alpträume auch nicht dazu fähig sein, diese Erinnerung gegen ihn zu nutzen. Es gab keine.

„Schlechter Versuch“, murmelte er.

Als er sich zur Seite drehte, weil er seinen Plan umsetzen und an dem Obelisk vorbeigehen wollte, kam er immer noch nicht vom Fleck. Diesmal waren es Stahlseile, von denen ihm der Weg abgeschnitten wurde. Auch auf allen anderen Seiten, sie hatten ihn eingekreist, mitsamt dem Obelisk. Offenbar hatte er vorhin unbewusst innerlich eine zu emotionale Reaktion gezeigt und es nur selbst nicht wahrgenommen.

Verdammt ...

Vorsichtshalber ließ Luan mit bedachten Bewegungen seine Pistole erscheinen, für den Fall, dass er einem Kampf doch nicht ausweichen konnte. Inzwischen waren die anderen Obelisken verstummt, einzig jener vor ihm flüsterte ihm ununterbrochen Dinge zu. Seinen Namen. Sehnsuchtsvolle Worte. Absurde Behauptungen.

Sein Blick wanderte über die eingravierten Symbole, womit er versuchen wollte, sich von dieser Stimme abzulenken und vielleicht eine Schwachstelle zu finden. Ein paar einzelne Wörter konnte er durchaus herauslesen, unter anderem auch einen Namen. Luna.

Ich kenne niemanden, der so heißt.

Zögerlich hob er die freie Hand und berührte sachte die glatte Oberfläche – dummerweise ein großer Fehler. Wie in Trance hatte er sich bewegt und als es bereits zu spät war, zeigte der Kontakt zum Obelisk eine Reaktion auf die Umgebung. Innerhalb einer Sekunde verzerrte sich der Ort kurzzeitig zu einem verschwommenen Bild, bis sich die Sicht wieder normalisierte, und es brachte eine Veränderung mit sich.

Eine schwarze, klebrige Substanz war erschienen und hatte sich überall ausgebreitet. Sie schien jener auf diesen Pflanzen draußen in der Realität ähnlich zu sein. Wegen dieser Masse wurde es zusätzlich schwierig sich zu bewegen, wie Luan schnell feststellen musste. Seine Schuhe wollten durch sie am Boden haften bleiben, dabei zog sie sich eigentlich nur wie ein feiner Film über den Untergrund.

Vielmehr sammelte sich die Substanz über ihm, am Himmel, von wo aus sie einen gigantischen Schatten über die Welt warf und sich wie ein Lebewesen regte. Schwarze Tropfen und ganze Teile dieses Schleimes fielen von diesem klobigen Klumpen herab, fanden jedoch nur selten den Weg bis zum Boden. Vorher blieben die meisten an den Stahlseilen hängen und verhärteten sich dort. Fast wie die Ablagerung auf seiner eigenen Haut, aber damit wollte der Alptraum ihn sicher nur verunsichern.

Keine Angst, sagte er sich. Das ist alles nicht real.

Luan wollte die Hand von dem Obelisk trennen, aber sie schien dort festzukleben und ließ sich nicht lösen. Unter seiner Handfläche staute sich Hitze an.

„Ich habe keine Zeit“, grummelte er für sich.

Zu allem Überfluss wollte diese Stimme nicht aufhören zu ihm zu sprechen und verankerte sich in seinem Kopf. Das machte ihn langsam wahnsinnig, wer war diese Frau? Was bezweckte dieser Alptraum damit? Noch während er das dachte, begann der Obelisk unruhig zu beben und sackte ein Stück in sich zusammen, verlor auf einmal seine Härte und wurde zu einer zähen Masse.

Unförmige Hügel bildeten sich auf der zuvor glatten Oberfläche. Nun konnte Luan in das Innere dieses ehemaligen Spitzpfeilers hineinblicken, als wäre der Schutzschild verschwunden, der den Inhalt vor seinen Augen verborgen hielt. Wahrscheinlich hatte er es der Verbindung mit der Taschenuhr zu verdanken, dass er den Menschen sehen konnte, der in dem Obelisk eingeschlossen war.

Eine Frau.

Sie schlief.

Instinktiv huschte sein Blick zu den anderen nahegelegen Obelisken, die ebenfalls ihre Form verloren und erkannte auch in ihnen Menschen. Nervosität keimte in ihm auf. Könnte es sein, dass das aus jenen wurde, die von einer schwarzen Ablagerung übersät waren? Nein, woher nahm er auf einmal diese Vermutung?

Bevor er die Fassung verlieren konnte, schluckte er die erwachte Unruhe herunter. „Um es mit Ferris’ Worten zu sagen: Scheiß drauf.“

Mit dieser Aussage drückte er den Lauf der Pistole gegen die Masse vor sich, die sich schon bedrohlich um seinen Arm schlängelte, und feuerte einen Schuss ab. Eine Energiekugel, groß genug, um einiges bewirken zu können. Augenblicklich verhärtete sich die Substanz, nur um in der nächsten Sekunde Risse zu bilden, aus denen helles Licht nach außen drang. Der darauf folgende Knall verkündete die Explosion, in der sich auch gleich das Gesamtbild dieser Welt auflöste.

Auf den Knall folgte direkt das laute Kreischen von Geißelsaat, die durch diesen Gewaltakt auf ihn aufmerksam gemacht wurden. Rasch machte Luan sich ein Bild von der neuen Lage. Er stand nun inmitten von Trümmern einer antiken, schneeweißen Ruine, keine Obelisken oder Stahlseile waren mehr zu entdecken. Offenbar hatte er eben das Herzstück erwischt. Oder?

Die Schwerkraft hat sich ein wenig verändert, notierte er sich gedanklich auch diese Veränderung. Ich fühle mich etwas leichter.

Das konnte er auch sofort ausnutzen. Durch einen Rückwärtssalto wich er einem Feind aus, der aus der Ferne angebraust kam und geradewegs dort mit Wucht in den Boden einschlug, wo er gerade eben noch gestanden hatte. In einem Alptraum konnte auch Luan solche sportlichen Vorteile vollends auskosten, immerhin lebte dieser Ort durch Dinge, die in der Realität nicht möglich waren. Nicht so leicht. Durch die Schwerkraft waren solche Sprünge dennoch ziemlich mühsam.

„Luaaaaaan~“, schrie die Geißelsaat im Chor, was ihm nur einen empörten Laut entlockte.

„Nennt mich gefälligst nicht so freundschaftlich bei meinem Namen!“, beschwerte Luan sich hemmungslos. „Hier geht es nicht um mich, klar?! Wo ist Mara?!“

Was er hier tat, war reichlich dumm. Vane hatte ihm geraten, ruhig zu bleiben und seine Gefühle nicht zu zeigen. Eines der wichtigsten Verhaltensregeln in Alpträumen und Schöpfer-Welten. Allerdings dauerte diese Vorgehensweise zu lange, sie fraß zu viel Zeit. Und er ließ garantiert nicht zu, dass diese Wesen mit ihm spielten, nur weil er sich bemühte kampflos voranzukommen.

Ich kann auch ganz anders.

Zahlreich flog Geißelsaat aus sämtlichen Richtungen auf ihn zu, getarnt als Sterne im Nachthimmel, der über den Ruinen thronte. Möglicherweise bildete dieser Ort nur eine weitere Welt in diesem Alptraum, den sie geschaffen hatten. Wenn es davon noch mehr gab, könnte es wirklich ewig dauern, bis er zu Mara kam. Es ging nicht anders.

Ohne zu zögern startete Luan einen Kugelhagel als Antwort auf diesen Angriff. Seine Energie bohrte sich in die weißen Körper aus Traumsand und ließ die Lichtpunkte hinabfallen, wie Sternschnuppen. Aufgrund der Menge half es ihm nicht weiter, zu zielen, er schoss blind in den Himmel und wich denen aus, die es schafften, ihn zu erreichen.

Das Gekreische und die Schüsse dröhnten in den Ohren, verdrängten die Stimme von vorhin. Von Luna. Warum, verstand er nicht, aber etwas an diesem Namen löste Trauer und Wut in ihm aus. Ein Schmerz, den er in dieser Form noch nie zuvor erlebt – oder nur vergessen – hatte. Alles in seinem Kopf ging im Chaos unter, dabei war es so bemüht darum gewesen, genau das zu verhindern.

„Verdammt!“, stieß er hervor, als er von einer Geißelsaat gerammt und gegen eine zerstörte Wand geschleudert wurde.

Keuchend schoss er weiter Energiekugeln ab. „Ihr seid keine Alpträume! Ihr seid eine verdammte Plage! Nichts weiter als Unkraut von Verrell!“

Auch noch beleidigend zu werden, brachte ihn erst recht nicht weiter. Im Gegenteil, es fachte nur noch mehr den Kampfgeist der Geißelsaat an. Gierig labten sie sich an seinen Gefühlen und zogen dadurch einen tiefroten Schweif hinter sich her.

Nach wenigen Minuten konnte Luan nur noch ausweichen und sprang zwischen den Trümmerteilen hin und her. Suchte hinter halben Säulen Schutz oder versuchte die Feinde in die Irre zu führen, was ihm nicht gelang. Dadurch, dass sie von jeder Seite angriffen, wussten sie immer, wo er gerade war. Für ihn war es unmöglich, ihren Blicken zu entkommen.

Auch seine Energie reichte bei weitem nicht aus, um jeden Alptraum abzuschießen. Ehrlich gesagt wusste er nicht einmal, welche von ihnen real und welche bloß Trugbilder waren. So hatte er sich diese Rettungsaktion nicht vorgestellt, das hätte nicht passieren dürfen.

In seiner Erschöpfung spürte er kaum noch, wie die Geißelsaat sich auf ihn stürzte und ihn in sich einschloss. Wohin er auch sah, nur weiß. So hell, dass es in den Augen schmerzte. Irgendwann wurde es plötzlich still. Nichts regte sich mehr. Er fühlte sich leicht und schwer zugleich. Sein Kopf pochte schmerzhaft.

War er ... tot?

Luan.

Angestrengt hob er den Kopf, als er die Stimme vernahm. Abermals diese Frau, Luna. Einige Meter entfernt stand sie vor ihm, im weißen Nichts. Durch die Helligkeit tränten seine Augen, er konnte sie nicht richtig erkennen. Wer war sie?

Es tut mir so leid, Luan“, entschuldigte sie sich bedrückt. „Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte nur, dass es endlich endet.

Wie zerbrechlich ihre Stimme klang. Warum bemerkte er das erst jetzt?

„Wer bist du?“, fragte Luan erschöpft.

Nur schemenhaft konnte er erkennen, wie sie den Kopf schüttelte. Anscheinend bekäme er keine Antwort auf diese Frage, aber vielleicht hatte er bei einer anderen mehr Glück.

„Wo ist Mara?“

Schweigen. Auch darauf reagierte sie nicht, als hätte sie ihn gar nicht gehört. Müdigkeit überfiel ihn und wollte ihn dazu bringen die Augen zu schließen, doch er ließ es nicht zu. So einfach machte er seinen Feinden die Sache garantiert nicht. Zitternd hob er die Hand, in der er noch die Handfeuerwaffe festhielt, und bemühte sich zu zielen. Schließlich schoss er ohne jede Vorwarnung auf die Frau und löste eine weitere Explosion aus, das Weiß zerbrach zu etlichen Splittern.

Danach offenbarte sich mit dem nächsten Atemzug vor ihm plötzlich ein dichter, grüner Wald. Irritiert rieb er sich die Augen, aber sie tränten gar nicht mehr. Auch seine Erschöpfung hielt sich erstaunlicherweise in Grenzen, dafür, dass er im Kampf eben ohne nachzudenken Energiekugeln an seine Feinde verteilt hatte. Bildete er sich das ein oder hatte die Schwerkraft wieder ein winziges Stück nachgelassen?

„Was zum ...“

Kampfbereit sah er sich um. Er stand auf einem großen See, in der Lichtung eines Waldes, und versank nicht darin. Wieder Nacht, Sterne funkelten am Himmel. Glühwürmchen schwirrten friedlich herum und leuchteten in bunten Farben, was ein magischer Anblick war. Für Luan blieb das Ganze aber überhaupt nicht schön, sondern gefährlich.

Zwar hatte Vane gemeint, das Geißel-Ei dürfte sich ziemlich gut vor Eindringlingen schützen, und doch konnte Luan nicht leugnen, wie überrascht er war. Ein Traum lag in dem anderen verborgen. Eine Kette, die kein Ende zu nehmen schien. Das hier war gar nicht Maras Alptraum, er hatte sich geirrt. Es handelte sich um das Abwehrsystem des Kerns der Geißelsaat, zu dem er wollte. Man führte ihn durch ein Labyrinth.

Gab es einen Ausgang? Offenbar besaß jede einzelne Welt ein Herzstück, aber sollte es nur jedes Mal in einen neuen Traum führen, säße Luan fest. Nachdenklich ging er einige Schritte über die Wasseroberfläche, auf der sich keine Wellen bildeten. Wenigstens hatte er es bisher noch nicht mit völlig bizarren Orten zu tun bekommen, darauf könnte er auch verzichten.

Kaum war dieser Gedanke beendet, lenkte ein Platschen seine Aufmerksamkeit nach unten, in den tiefen See hinein. Eine rote Flüssigkeit drang vom Grund aus schleichend nach oben und begann das Wasser zu verfärben.

Sein Blick galt aber mehr dem Spiegelbild auf der Oberfläche, das ihn selbst zeigte, jedoch auf verstörende Art und Weise. Tiefe Augenringe klafften in seinem bleichen Gesicht, schwarze Flüssigkeit quoll aus seinen Augen und er sah furchtbar abgemagert aus, war nur noch ein dürres Gestell. Wie ein Geist. Das braune Haar ergraute bereits und war zerzaust, auch sein Augenpaar war gänzlich farblos und leer.

„Wer bist du?“, krächzte das Spiegelbild heiser, womit er Luans Frage wiederholte, die er eigentlich an Luna gestellt hatte.

„Wer ich bin?“

Erst ertappte er sich dabei, wie er darüber nachsinnen wollte, konnte sich jedoch rechtzeitig davon abhalten und sich Vanes Worte in Erinnerung rufen. Einen klaren Kopf behalten. Ruhig bleiben. Außerdem ging es nicht um ihn, wie er schon gesagt hatte. Selbst wenn er darüber nachdenken wollen würde, hatte Mara momentan Vorrang, genau wie Ferris.

Also hob er leicht die Pistole an und plante, dieses falsche Spiegelbild einfach genauso zu erschießen wie alles andere, das ihn zu beeinflussen versuchte.

Warte ...

Luan zögerte. Jeder Traumbrecher wusste, dass es das Herzstück eines Alptraumes zu zerstören galt, um solch eine Welt aufzulösen. Allerdings hing dieser Kern stets eng mit dem Träumenden zusammen, mit dessen Emotionen und Erinnerungen. Da er nicht mehr glaubte, in Maras Alptraum zu sein, sondern in einer Falle des Geißel-Eis festzustecken, das ihn um jeden Preis aufhalten wollte, erkannte er eventuell eine Lösung, um ausbrechen zu können.

Alles in diesen Welten war darauf ausgelegt, ihn aufzuhalten.

Alles drehte sich um ihn.

Alles reagierte auf ihn, trotz der Ruhe, mit der er die erste Welt durchschritten hatte.

„Ziemlich clever“, musste Luan zugeben, als er das Ziel änderte und sich den Lauf seiner Pistole an den eigenen Kopf hielt. „Aber ich bin schlauer.“

Das Spiegelbild starrte ihn ungläubig an, als er den Abzug betätigte und sich selbst erschoss.

Hör auf dein wahres Ich (Teil 3)

Jeglicher Schmerz blieb aus, als Luan sich selbst eine Energiekugel in den Kopf jagte. Der Gesichtsausdruck seines Spiegelbildes brannte sich dabei in sein Gedächtnis, obwohl das Nichts ihn schlagartig übermannte.

Schwärze, die ihn blind machte und gegen die auch seine Taschenuhr nicht anzukommen vermochte. Stille, die ihm weismachen wollte, er hätte sein Gehör gänzlich verloren. Schwerelosigkeit, die ihm sein Körpergefühl entriss, ohne dass er sich verloren fühlte. Gerüche und Geschmäcker existierten in Traumwelten sowieso nicht und bekamen höchstens durch Einbildung zwischendurch einen Auftritt, aber auch das war ihm nicht vergönnt.

Das Bild dieses ungläubigen Starrens seines Spiegelbildes füllte gänzlich seinen Geist aus und bot somit keinen Platz mehr für etwas anderes. In den leeren Augen dieses verloren wirkenden Luans war in der letzten Sekunde ein panischer Funke aufgeblitzt, begleitet von einem schweigsamen Vorwurf, der sich wie ein schweres Gewicht an das Original klammerte, bis auch dieses Gefühl im Nichts verlorenging. So wie alles andere, aber Luan hatte keine Angst.

Schließlich riss er die Augen auf, erwachte aus dem Moment des Zerbrechens und atmete sofort instinktiv durch. Sämtliche Sinne, ausgenommen vom Riechen und Hören, nahmen ihre Arbeit wieder auf und zeigten ihm damit, dass es vorbei war. Er hatte es geschafft. Das wahre Herzstück, Luan, konnte zerstört und dieses Labyrinth dadurch aufgelöst werden. Erleichtert entspannte er für einen kurzen Moment seinen Körper.

Kaum zu glauben, dass er so etwas erlebt hatte. Ein Traumbrecher, der vom Feind kurzerhand einfach zum Herzstück gemacht wurde. Wer hätte mit solch einer Falle rechnen können? Im Vergleich zu anderen Alpträumen besaß diese Gattung ein höheres Kaliber, eine Geißel selbst musste noch gefährlicher sein.

Statt weiter darüber nachzudenken, richtete Luan sich lieber auf, immerhin war seine Mission noch nicht vorbei und der Feind lebendig. Leider war die Schwerkraft nun noch stärker als in der ersten Welt mit den Obelisken, äußerst lästig. Schlimmer war allerdings, dass es bedeutete, Mara musste es ziemlich schlecht gehen.

Diesmal lauerte eine dunkle, weite Leere um ihn herum, doch es war nicht vollkommen schwarz. Hier erlaubte es ihm seine Taschenuhr nicht nur wieder, durch die hellblaue Sichtebene gut sehen zu können, aus einer bestimmten Richtung zogen sich zudem eine Menge feine Äderchen durch die Umgebung, bohrten sich knapp hinter ihm in den Boden hinein und glühten in unregelmäßigen Abständen rot auf. Sie pulsierten, genau wie die in seinem Zimmer, die sich um Maras Körper schlangen.

Jetzt bin ich auf dem richtigen Weg.

Schon bei dem feindseligen Knistern in der Atmosphäre hatte Luan bereits gewusst, nicht nur in einer weiteren Falle gelandet zu sein, sondern genau dort, wo er von Anfang an hin wollte. Mit etwas Mühe gelang es ihm, sich gerade hinzustellen, bemerkte dabei jedoch, dass sich ein paar von diesen roten Strängen auch an seinen Kopf festgesaugt hatten. Zunächst zögerte er, beschloss dann aber, sie besser restlos von sich zu entfernen. Wahrscheinlich hatte er es diesen Dingern zu verdanken, in mehreren Schichten aus Alpträumen gefangen gewesen zu sein.

Möglichst vorsichtig zog Luan sich die Äderchen von dem Körper und betrachtete sie genauer. Anscheinend waren sie durch seinen Ausbruch abgestorben, denn sie sahen vertrocknet aus und glühten auch nicht, wie der Rest von ihnen. Achtlos ließ er sie fallen und kontrollierte nochmal, ob er jede einzelne Fessel losgeworden war, bevor er sich weiter umsah.

Neben diesen Adern zierten auch zahlreiche glanzlose Glassplitter diesen Ort, indem sie ruhelos in der Luft schwebten. In ihnen spiegelte sich nichts, sie waren einfach nur da und schienen ohne Orientierung herumzuwandern. Etwas an diesem Bild war unbeschreiblich traurig, hoffentlich war das kein schlechtes Omen.

Luan unterdrückte den Drang, einen dieser Splitter antippen zu wollen, und folgte zielstrebig den Äderchen in die Richtung, aus der sie kamen. Nach und nach wurden sie immer größer, schwollen zu dicken Schläuchen an, durch die Energie gepumpt wurde, zum Herzen. Zu dem Geißel-Ei, dessen Antlitz sich ihm schließlich zeigte. Endlich stand er diesem Unheil gegenüber.

Das Geißel-Ei besaß tatsächlich eine ovale Form und war etwa so groß wie eine ausgewachsene Eiche. Von überall her bohrten sich die Schläuche in die schrumpelige, rote Haut hinein, die keinen Blick in das Innenleben dieses Organs zuließ. Durch jeden neuen Energieschub entstand eine Regung im Ei, wegen der eine Art Druckwelle ausgesandt wurde, begleitet von dem Klang eines kräftigen Herzschlages.

Ich muss zugeben, dass ich etwas Eindrucksvolleres als das erwartet habe, dachte Luan.

Für Enttäuschung war aber keine Zeit, denn als er den Blick wachsam über den Klumpen aus Fleisch wandern ließ, entdeckte er schließlich Mara. Einsam stand sie direkt vor dem Geißel-Ei, mit dem Rücken zu ihm, und regte sich nicht. Fast wie eine Puppe, deren einzige Aufgabe darin bestand, irgendwo herumzustehen und sonst nichts weiter zu tun. Kein gutes Zeichen, überhaupt nicht.

„Mara?“, hallte Luans Stimme in der Leere wider, als er sie ruhig ansprach. „Mara, hörst du mich?“

Leider zeigte sie keinerlei Reaktion, was ihn dazu antrieb, sich ihr langsam zu nähern. Zwar behielt er das Geißel-Ei und die Umgebung im Auge, konzentrierte sich jedoch mehr auf Mara. In seinem Inneren herrschte auf einmal eine natürliche Ruhe, die er sich nicht mehr zwanghaft einreden musste. Vielleicht war das in der ersten Welt ein Fehler gewesen, aber nun war sein Wunsch, ihr zu helfen, stärker als jede Unsicherheit.

Nach nur wenigen Schritten erhöhte sich plötzlich die Temperatur immens, wofür das Geißel-Ei verantwortlich sein musste. In dessen Nähe war das Klima derart erhitzt, es fühlte sich um einiges schlimmer an als draußen in der Realität. Glücklicherweise konnte Luan es hier wesentlich besser ignorieren, weil er keinen festen Körper besaß und dieser demnach auch nicht durch so etwas geschwächt werden könnte. Jedenfalls nicht, wenn man es nicht zuließ.

Hitze bedeutete allerdings auch, dass Unmengen an Energie sich an diesem Knotenpunkt ansammelten. Energie, gewonnen aus einem reinen Sakromahr.

„Bleib weg“, zerschnitt Maras Stimme aus heiterem Himmel die Atmosphäre. „Du magst keine Nähe, also lass auch mich in Ruhe.“

Widerwillig hielt Luan augenblicklich an, sein Blick ruhte auf ihr. Soweit er es sehen konnte, schienen sich keine Äderchen an ihrem Körper zu befinden. Womöglich war das auch nur eine Illusion und nicht ihr richtiger Geist, dennoch musste er versuchen, auf sie einzugehen. Besonders solange er nicht wusste, ob sie es wirklich war oder er nur ausgetrickst wurde.

„In Ordnung.“ Unschuldig hob er die Hände, obwohl sie es nicht sehen konnte. „Wenn du willst, bleibe ich hier stehen.“

Erst befürchtete Luan, sie würde nichts mehr sagen, aber nach kurzer Zeit stellte sie ihm eine Frage. „Was willst du?“

„Ich will dich zurückholen“, antwortete er ehrlich.

Mich?“, wiederholte sie betont, ein Hauch der Empörung lag in ihren folgenden Worten. „Als ob es dir jemals um mich gehen würde.“

Statt ihm eine Chance zu lassen, darauf zu reagieren, fuhr sie direkt fort. „Warum hast du dich gewehrt?“

Eigentlich hätte Luan lieber etwas auf ihre vorherige Aussage erwidert, doch er behielt das für einen geeigneten Zeitpunkt im Kopf und beantwortete vorerst ihre Fragen. Mara bewegte sich noch immer nicht, was ihm Sorgen bereitete. Er wollte ihr Gesicht sehen, um einschätzen zu können, wie es ihr ging.

„Du klingst, als könntest du das nicht verstehen“, bemerkte er.

„Kann ich auch nicht.“

Zeit für eine Gegenfrage: „Warum nicht?“

Während sie miteinander sprachen, wollte Luan aus Gewohnheit den Griff um seine Pistole verstärken, nur hielt er diese nicht mehr in der Hand. Natürlich, er hatte sie auch in einer völlig anderen Ebene in diesem Alptraum beschworen. Egal, momentan benötigte er sie nicht, das hier wollte er wirklich ohne Gewalt regeln.

„Du hättest erfahren können, wer oder was du bist“, lautete Maras Erklärung. „Er hätte es dir gezeigt, wenn du es zugelassen hättest.“

„Wen meinst du?“, wollte Luan wissen.

Endlich zeigte sie, dass sie nicht nur eine starre Puppe war und hob träge eine Hand, zu dem Geißel-Ei. Kurz davor hielt sie wieder inne, als wollte sie eine direkte Berührung vermeiden. Ihre Handfläche war nur wenige Zentimeter von dem Wesen entfernt, das ihr erbarmungslos die Energie nahm, doch sie wirkte sogar dankbar.

„Ich verstehe ...“ Nach wie vor sprach er ruhig zu ihr. „Und du glaubst ihm also?“

„Warum sollte ich nicht? Hast du dich nicht umgeschaut?!“, reagierte sie gereizt und fuhr herum. „Hast du dir nicht mal die Mühe gemacht?!“

Maras Augenfarbe war verblasst und einem trostlosen Grau gewichen. War das etwa ein Merkmal dafür, wenn die Gefühle manipuliert oder beeinflusst wurden? Auch Luans Augen hatten mit der Zeit ihre Farbe verloren, aber er dachte sich niemals ernsthaft etwas dabei, weil es ihm herzlich egal gewesen war. Anfangs vermutete er, es hinge mit der schwarzen Schicht auf seinem Körper zusammen – und diesem Thema war er stets ausgewichen.

Nicht nur ihre Augen, allgemein wirkte sie gebrochen. Blass, nahezu schneeweiß. Nichts als Verzweiflung in ihrer Mimik, als kannte sie gar keine anderen Emotionen mehr. Womöglich sollten all die Glassplitter und die Leere dieses Ortes genau diesen Zustand verdeutlichen.

Nein ... sie kann nicht gebrochen worden sein.

In dem Fall könnte er nichts mehr für sie tun. Selbst wenn sie noch nicht gänzlich gebrochen war, könnte sein Plan somit keinen Erfolg erzielen und Vane hatte ihm davon abgeraten, es trotzdem zu versuchen, sollte sie emotional bereits zu stark zerstört worden sein.

„Nichts!“, rief sie heiser und breitete beide Arme aus. „Hier ist gar nichts, so sieht es in mir aus! Das bin ich! Ich bin gar nichts ... jetzt weiß ich es ganz sicher.“

Kaum merklich zog Luan die Augenbrauen zusammen, als ihm etwas auffiel. Vorhin hatte sie sich noch träge bewegt, doch ihre Arme hatte sie recht schnell gehoben. Schon ihre rasche Umdrehung eben galt ebenso als Indiz dafür, dass er sich nicht mit Maras Geist unterhielt, sonst müsste es ihr wegen der Schwerkraft ähnlich ergehen wie ihm.

Eine Illusion konnte sie aber auch nicht sein, dafür bewies sie zu viel Emotion in der Stimme. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren, sollte er das richtig deuten. Er hoffte darauf.

Luan schüttelte den Kopf. „Du irrst dich.“

„Tue ich nicht!“, widersprach sie lauthals und legte die Hände auf ihr Gesicht. „In mir ist alles leer. Ich bin nur eine Hülle, ein Werkzeug, geschaffen von Estera, um etwas zu erledigen, das sie selbst nicht tun kann.“

Zitternd strich sie sich einige Haarsträhnen aus der Stirn und fuhr sich mit den Fingern weiter über den Kopf. „Alles, was mich ausmacht, sind Erinnerungen von ihr. Dass du heute einen Seitenscheitel trägst, kam durch ihre Idee, weil ihr damals Friseur gespielt habt.“

Wie von selbst berührte Luan sein eigenes Haar und dachte kurz an diesen Moment zurück. Richtig, er hatte seine Frisur Estera zu verdanken. Ein Seitenscheitel sollte artig und gepflegter wirken, so hatten sie die Chance auf eine Adoption erhöhen wollen. Der Plan war fehlgeschlagen, bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr hatte ihn niemand haben wollen.

„Das sind so schöne Erinnerungen“, hauchte sie leise und vergrub die Hand in ihren Haaren. „Aber es sind nicht meine. Ich bin nur ein Sakromahr, geschaffen nach ihrem Abbild, und löse mich bestimmt auf, sobald ich dir das erzähle, wofür ich geschickt wurde. Ich habe keine Zukunft.“

Offensichtlich hatte das Geißel-Ei Mara vollkommen in seiner Gewalt und ihr jegliche Hoffnung genommen. Anders als er, konnte sie sich auch bestimmt nicht aus diesen Träumen befreien. Was mochte sie alles durchgemacht und gesehen haben?

„Ich bleibe dabei, du irrst dich“, sagte er einfühlsam. Sein Blick schwenkte zu dem Geißel-Ei. „Dieses Ding zeigt uns nicht, wer oder was wir wirklich sind ... sondern wovor wir uns am meisten fürchten.“

Mara löste die Hände von ihrem Gesicht und den Haaren, als sie ihn verwirrt ansah. „Was?“

„Weißt du noch, wie ich dir erklärt habe, dass Alpträume sich von den negativen Gefühlen ihrer Opfer ernähren? Das macht sie stärker, deshalb konfrontiert man uns hier mit unseren Ängsten, damit wir uns darin verlieren und glauben, es gäbe keinen Ausweg mehr.“

Tatsächlich fürchtete Luan sich davor, zu erfahren, wer er war. Das gab er nur ungern zu, aber oft genug ging er allem, was ihn persönlich betraf, aus dem Weg und redete auch nicht darüber. Ob das schon vor der Atemhypnose so gewesen war oder erst dadurch zustande kam, wusste er nicht, doch es blieb Fakt. Allmählich wollte er aber die Wahrheit erfahren, wie er es schon zu Vane sagte.

Inzwischen gab es nämlich etwas ganz anderes, wovor seine Angst weitaus größer war.

„Glaub diesem Ding also kein Wort“, bat Luan sie eindringlich. „Glaub daran, was ich dir gesagt habe.“

Sie musste überlegen. „Dass ich ... nicht kaputt bin?“

Er nickte.

„Dass es mich menschlich macht, träumen zu wollen?“

Wieder ein Nicken. „Sehr menschlich sogar. Dir ist gar nicht bewusst, wie menschlich du schon bist. Du hast es mir auch längst mehrmals bewiesen.“

Die Verzweiflung in ihrer Mimik wurde von Skepsis abgelöst. „Wann soll ich das bewiesen haben?“

Zum Glück hakte sie nach und wehrte nicht ab, er machte Fortschritte. Noch war nichts verloren, er konnte das schaffen. Entsprechend motiviert setzte er das Gespräch auch fort.

„Fangen wir damit an, dass du mir in dem Wald vor einigen Tagen gesagt hast, du hättest Angst“, versuchte er, ihr diese Situation in Erinnerung zu rufen. „Du meintest, du hättest keine Angst vor der Dunkelheit, sondern vor etwas anderem. Weißt du das noch?“

„Ich denke schon ...“

„Wovor hattest du Angst?“

„Ich ...“ Durcheinander huschten ihre Augen über den Boden. „Ich habe gespürt, dass etwas Böses in der Luft lag. Das hat mir Angst gemacht.“

„Alpträume haben niemals Angst“, betonte Luan diesen Fakt, fuhr aber direkt mit dem nächsten Punkt fort, ehe sie ihn unterbrechen konnte. „Und denke mal zurück an den Buchladen, wo ich etwas gesehen habe, du aber nicht.“

Er hatte ihre Aufmerksamkeit, wie ihre nächsten Worte bewiesen. „Du hast mir nicht sagen wollen, was du siehst.“

„Entschuldige.“ Sein Tonfall war etwas reumütig. „Das war ein Trugmahr gewesen. Ein Alptraum, den du eigentlich hättest sehen müssen, als Sakromahr.“

„Dann bin ich wohl doch kaputt“, schloss sie gleich eine negative Erklärung daraus.

„Nein, du hattest auch dort Angst“, blieb Luan hartnäckig. „Das hebt dich von den Alpträumen ab, weil es dich menschlich macht. Vergiss auch nicht, dass du als Sakromahr sogar von einem Alptraum besessen werden konntest, was nicht möglich sein sollte.“

Gut, das lag vermutlich eher an dem Geißel-Ei, aber er nutzte jedes Detail, mit dem er sie überzeugen könnte. Luan musste sie einfach überzeugen.

Trotzdem schien sie noch unsicher zu sein. „Wieso hast du dir das alles gemerkt? Du hast mich dauernd abgewiesen.“

„Nur, weil ich andere nicht in meiner Nähe haben will, heißt das nicht, dass ich niemanden mag oder mir andere völlig egal sind.“

Mit diesen Worten, die ihm wie selbstverständlich über die Lippen gekommen waren, überraschte er sich nun sogar selbst. In seinem Inneren löste sich plötzlich ein Teil der Atemhypnose, als diese Erkenntnis sich zurück in sein Herz kämpfte. Bei dem Gespräch mit Mara im Buchladen hatte sie gesagt, es ginge ihm nicht um sie, und dem konnte er zu dem Zeitpunkt nicht widersprechen, weil er der festen Überzeugung gewesen war, für andere wirklich nichts zu empfinden. Dass ihm jeder egal war, was er dann auf seine versiegelten Gefühle geschoben hatte.

Aber das passte nicht zusammen. Warum hätte er sonst weiter Alpträume jagen sollen? Sicher, er arbeitete lieber alleine, wie ein Einzelgänger eben, aber es gab einen guten Grund dafür. Ein schmerzvolles Pochen in seinem Kopf meldete sich, weshalb er eine Hand an die Stirn legte. In Wahrheit ...

„Ich weiß es wieder“, brachte er schließlich hervor und blickte Mara unbewusste mit großen Augen an. „Ich wollte nicht, dass du Angst vor mir hast.“

Auch sie war von dieser Erklärung nun erstaunt. „Wie meinst du das?“

„Ich war damals immer alleine, weil jeder Angst vor mir hatte.“ Deswegen hatte ihn auch niemand adoptieren wollen. „Ich habe das völlig vergessen, aber instinktiv vermieden, anderen Leuten weiter Angst einzujagen. Nicht, weil ich Nähe nicht mag, sondern weil ich wegen dieser harten Schicht auf meiner Haut nicht noch unheimlich wirken wollte ...“

Weil er nicht nochmal ganz alleine sein wollte, so wie in seiner Kindheit. Das war seine größte Angst von allen – und ehe er doch noch alles und jeden verlor, wollte er die Wahrheit wissen, bevor er sich vollkommen verschloss.

Erschöpft fiel Luan auf die Knie, als der Schmerz im Kopf zunahm und etwas in seiner Brust stach. Auch ohne eine Diagnose von Vane ahnte er, dass die Atemhypnose gerade heftigen Schaden genommen haben musste und das in der Form nicht gesund für ihn war. Mit diesen Schmerzen konnte er nicht mehr klar genug denken, dabei lief bisher alles so gut. Sein Körper wollte der Schwerkraft nachgeben und noch tiefer zu Boden sinken.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Luan? Was hast du?“

Es war Mara, die ihn besorgt musterte. Sie hatte die Distanz zwischen ihnen überwunden und war zu ihm gekommen, um nach ihm zu sehen. Grau überdeckte immer noch das Blau ihrer Augen. Nein, das konnte und wollte er nicht akzeptieren.

Hinter Mara begann das Geißel-Ei sich verdächtig zu bewegen, darauf sollte er vorerst nicht achten. Solange er ruhig blieb und seinen guten Absichten folgte, konnte nichts passieren, so hatte Vane es ihm versichert. Also blieb all seine Aufmerksamkeit bei Mara, mit der er das Gespräch unbeirrt fortsetzte.

„Hör auf dein wahres Ich“, sagte er mit sämtlicher Überzeugung, die er aufbringen konnte. „Ich dachte bis vor kurzem noch, dass ich genau wüsste, was ich will und was ich tue, aber eigentlich habe ich keine Ahnung, was mit mir los ist. Ich bin völlig durcheinander, nicht wegen dir, sondern weil da etwas ist, das mich verändert hat.“

Zum ersten Mal seit einer langen Zeit brachte Luan ein aufrichtiges Lächeln zustande. „Und doch bin ich immer meinem Gefühl gefolgt. Jeder von uns hat seine eigenen Träume, Wünsche und Überzeugungen, die sich nicht einfach verschließen oder überdecken lassen. Auch du hast sie, das weiß ich.“

Sprachlos starrte sie ihn an, ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen. „I-ich habe ... eigene Träume, Wünsche und Überzeugungen?“

„Ganz bestimmt“, machte Luan ihr Mut, sein Lächeln hielt an. „Erzähl mir davon.“

Während Mara innerlich mit sich und ihren Gefühlen zu kämpfen schien, warf er einen flüchtigen Blick über ihre Schulter. Inzwischen zeigte das Geißel-Ei sein wahres Gesicht und entpuppte sich als Monster. In dem ovalen riesigen Fleischklumpen offenbarte sich ein gigantisches Maul mit krummen, spitzen Zähnen, das weit aufgerissen worden war. Dahinter entdeckte er Mara, ihren wahren Geist, eingeschlossen in einem Kokon aus Äderchen. Schlafend.

Knackend wandelten sich die Schläuche um das Geißel-Ei herum zu Beinen, mit denen es zu stehen versuchte. Da es derart aktiv wurde, musste Luan Erfolg haben und mit seinen Worten Mara erreichen. Zudem setzten sich Stück für Stück auch die Glassplitter im Hintergrund unbemerkt zu dem Ganzen zusammen, das sie sein sollten. Nur noch etwas Geduld, keine Panik, dann wurde alles gut.

„Ich will träumen können“, begann sie zögerlich.

Verstehend nickte Luan ihr zu. „Das tust du schon, indem du dir genau das wünschst. Was noch?“

Unterstützt durch seine spürbare Überzeugung, konnte sie noch mehr aufzählen. „Ich möchte noch viel mehr Bücher lesen, ich mache das so gern.“

„Das hat Estera nie getan“, warf Luan ein.

„Wirklich nicht?“ Dank diesem Wissen bekam sie noch mehr Mut, zu versuchen, sich selbst zu finden. „Ich aber! Lesen ist so schön, dabei kann ich gut träumen. Ich finde, für Bücher ist man nie zu alt oder zu jung.“

„Siehst du? Du hast Überzeugungen.“

„Ja~“, stellte auch sie glücklich fest, trotz dem Zittern in ihrer Stimme. „Ich will meinen eigenen Stil finden. Mara sein. Herausfinden, was ich kann und was nicht. Ich will ...“

Ihre Stimme erstickte, als ihr nun die Tränen über die Wangen liefen. „Ich will leben.“

Ein qualvoller Schrei, der durch die Leere dieses Ortes jagte, verriet ihm, dass er es geschafft hatte. Plötzlich schwankte die Schwerkraft hin und her, der Boden fing an zu beben und die Leere drohte zusammenbrechen, besiegt von den Glassplittern, die eine neue Welt bauten. Das Opfer entwickelte menschliche Züge, so konnte sich das Geißel-Ei nicht in diesem Körper halten. Es benötigte einen anderen Alptraum, an dessen Energie es wachsen und sich orientieren konnte, anders konnte es nicht überleben.

Genau das war der Plan.

Nur so konnte Mara gerettet werden.

Geißelsaat zählte wahrlich mehr zu Unkraut als zu den richtigen Alpträumen, ohne die sie nicht mal ihre Existenz aufrecht erhalten konnten.

„Das wirst du“, versprach Luan ihr. „Ich helfe dir, du kannst das schaffen. Du vertraust mir doch, richtig?“

„Irgendwie schon.“ Schluchzend musste sie schlucken. „Ich kenne dich eben, durch Estera.“

„Wodurch du dir dein eigenes Bild über mich machen konntest.“ Er legte beide Hände gegen ihre Wangen. „Ich bin wegen dir hier, nicht wegen Estera. Bitte glaube mir. Es ist mein Wunsch, Träume zu beschützen, mein Ich, also wäre ich auf jeden Fall für dich bis hierher gekommen. Egal, was du bist oder wer dich geschickt hat.“

Bedrohlich stampfte das Ungetüm aus einem Fleischklumpen schleichend in ihre Richtung, kaum dass es endlich sein Gleichgewicht gefunden hatte, das Maul stand nach wie vor weit offen. Deshalb bekam Luan auch mit, wie so etwas wie ein elektrischer Schlag über die Äderchen durch Maras Geist fuhr und diesem einen Schrei entlockte – garantiert versuchte das Geißel-Ei, sie erneut durch Alpträume zu jagen und somit zu schwächen.

Gleichzeitig schloss Luan sie vor sich behutsam in die Arme und spendete ihr etwas von seiner Ruhe. „Bleib stark, Mara. Du hast es geschafft, dich selbst in Form deiner Gedanken hier draußen bei mir zu zeigen, so stark bist du.“

Darum hatte das Geißel-Ei und dessen Saat keine Chance. Sie würden verlieren. Hier und jetzt.

„Ich bin stark“, wiederholte sie.

„Weil du Träume hast.“

„Ja.“

„Hier.“ Er löste sich wieder etwas von ihr und schnappte sich aus der Luft einen größeren Splitter, der noch in seiner Nähe schwebte. „Du musst kein Sakromahr bleiben. Keine Kopie von Estera. Du kannst mit kleinen Veränderungen anfangen und dich selbst befreien, tue es jetzt.“

Zunächst verstand Mara nicht, was er von ihr wollte, und wischte sich überfordert die Tränen aus dem Gesicht, während sie diesen Splitter ansah. Derweil erreichte das Geißel-Ei sie nach mehreren schwerfälligen Schritten und beugte sich mühsam zu ihnen herunter, um sie beide auf einmal zu verspeisen, doch Luans Blick blieb auf Mara fixiert – und zu seiner Freude begriff sie endlich, was sie tun sollte.

Entschlossen nahm sie ihm den Splitter ab und griff mit der anderen Hand nach ihren Haaren. Selbst als sie zusammen von dem Geißel-Ei verschlungen wurden, hielt Luan sie noch fest, keine Spur von Angst oder Zweifel in seinem Herzen. Im Maul stieg die Hitze ins unermessliche an, sie wurden eingeengt, einfach zerquetscht. Für sie schien es kein Entkommen mehr zu geben.

Dann spürte Luan in sich erneut etwas. Keinen Schmerz, ein warmes, überwältigendes Gefühl von Macht, durch das er für den Bruchteil einer Sekunde alles und jeden überflügelte. Anschließend tauchte er in gleißendes Licht hinab und hörte das Flattern der Bänder, die ihn aus diesem Traum zurück in die Wirklichkeit rissen.
 

***
 

Als Luan in seinen richtigen Körper zurückkehrte und sofort erwachte, fühlten seine Glieder sich anfangs taub an. Schützend hielten die Bänder, der Geist seiner Taschenuhr, ihn nach wie vor in der Luft, damit er nicht zu Boden fiel und dadurch auch keine Störungen während seines Aufenthalts in Maras Alptraum zustande kamen.

Statt sich direkt in die Taschenuhr zurückzuziehen, halfen die Bänder Luan noch dabei, sich aufrecht hinzustellen und stützten ihn vorerst, bis die Kraft in seine Gliedmaßen zurückkehrte. Beruhigt stellte er fest, dass die Fesseln um Mara herum abstarben und wie Pflanzen innerhalb von Sekunden verdorrten, zu Asche zerbröckelten. So erging es auch sämtlichen anderen Gewächsen in seinem Zimmer.

Suchend blickte er sich nach den beiden Gestalten um, von denen er dank Vanes Arbeit hier draußen beschützt worden war, doch auch sie mussten sich bereits aufgelöst haben. Ebenso wie jede weitere Geißelsaat. Flüchtig erhaschte Luan zwar noch den Blick auf einige weiße Sandkörner, aber sie lösten sich kurz darauf auf und waren nicht mehr zu sehen.

Das leise Keuchen von Mara lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu ihr. Tatsächlich öffnete auch sie gerade müde die Augen und wirkte natürlich erschöpft.

„Willkommen zurück“, begrüßte Luan sie. „Geht es?“

„Mhm ...“ Kraftlos erhob sie sich und klopfte dabei die Asche von ihrer Kleidung, was kaum etwas brachte. „Ich hatte einen merkwürdigen Traum.“

„Das war nicht nur ein Traum“, wies er sie darauf hin und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Die neue Frisur steht dir.“

„Wie?“

Prüfend tastete sie ihren Nacken entlang, der nun frei lag, weil ihre Haare nicht mehr so lang waren wie vorher. Schwarze Strähnen lagen zwischen der Asche verteilt herum. Noch sah ihre Frisur ziemlich zerschnitten aus, doch rein optisch machte es schon einen neuen Menschen aus ihr. Ja, einen Menschen.

„Also ist das wirklich passiert?“ Erstaunt stieß sie einen Seufzer aus. „Ich fühle mich jetzt ... richtig gut, aber auch schwach.“

„Nach dem, was passiert ist, kein Wunder.“

„Was ist überhaupt genau passiert?“

„Ein sogenanntes Geißel-Ei“, klärte er sie auf. „Verrell muss es dir eingepflanzt haben.“

Nachdenklich nickte sie für sich. „Ja, ich glaube, ich erinnere mich daran.“

Bevor sie weitere Worte miteinander austauschen konnten, drehte Luan an dem Rädchen seiner Taschenuhr, um die Bänder vorerst zurück in den Schlaf zu versetzen. Wie zuvor zogen sie sich in das leuchtende Ziffernblatt zurück und er schloss den Deckel sanft, kaum dass sie verschwunden waren. Wirklich sicher stand er noch nicht auf seinen Beinen, aber es musste genügen.

„Ich bin froh, dass es dir gut geht“, sagte Luan ehrlich.

Ihre Stirn war gerunzelt, als sie ihn misstrauisch ansah, doch sie glättete sich schnell wieder. „Dir scheint es auch besser zu gehen.“

Diese Worte irritierten ihn ein wenig. „Wie kommst du darauf?“

„Wenn du lächelst, wirkst du viel mehr wie du selbst.“

Wenigstens konnte er damit nun sicher sein, dass sie alles, was vorhin im Traum passiert war, noch wusste. Ausnahmsweise störte er sich nicht daran, es beruhigte ihn. Hoffentlich vergaß sie diese Stärke, die sie dem Geißel-Ei gegenüber bewiesen hatte, nicht mehr so leicht, dann könnte so etwas nicht noch einmal geschehen.

Mara war in Sicherheit.

Als nächstes war Ferris an der Reihe.

„Hallo? Alles okay da drinnen?“, drang eine Stimme außerhalb des Zimmers zu ihnen.

Bestimmt waren es Traumbrecher. Nachdem sich die Geißelsaat aufgelöst hatte, musste mit ihnen auch die Gefahr vorbei sein und sie konnten alle aufatmen. Sich ihrer Neugier zu stellen, dürfte die nächste größte Gefahr sein, gegen die es anzukommen galt. Zuallererst musste Luan aber einem anderen Termin nachkommen, den er auch dringend nötig hätte. Noch immer spürte er den stechenden Schmerz in seiner Brust.

„Alles okay“, bestätigte er seinen Kollegen. „Es ist vorbei. Wir kommen raus.“

Luan reichte Mara seine Hand, ehe er weitersprach. „Komm, ich muss zu unserem Arzt zurück. Du solltest dich auch untersuchen lassen, nur zur Vorsicht.“

Dagegen hatte sie nichts einzuwenden, denn sie nahm seine Hand dankend an und ließ sich von ihm aus dem Bett helfen. Sie gaben sich gegenseitig Halt, auf dem Weg nach draußen, wobei sie die Aschereste der Geißelsaat hinter sich ließen. Ihre Nähe fühlte sich gar nicht mehr unangenehm an, wie Luan gestehen musste.

Es tat gut, nicht alleine zu sein.

Es geht nicht darum, was ich will

Inzwischen zählten die fünf Stunden längst als vergangen und somit gehörte auch der Tag, den Vane für die Vorbereitungen zum Brechen der Atemhypnose angeblich mindestens benötigte, ebenfalls der Vergangenheit an. Trotzdem musste Luan sich weiterhin gedulden, denn momentan kümmerte sich der Arzt zuerst um alle Verletzten, die der Kampf gegen die Geißelsaat hinterlassen hatte.

Natürlich sollte das Vorrang haben, auch Ferris könnte das sicher verstehen und würde lieber etwas länger warten, statt andere Leben zu gefährden. Zwei Tage blieben Luan auch noch übrig, um rechtzeitig zu Verrell zurückzukehren, was seine Sorgen jedoch nicht zu mildern vermochte. Jede einzelne Sekunde bedeutete vielleicht mehr Leid für Ferris, alleine der Gedanke bedrückte ihn.

Deshalb, und auch wegen den Schmerzen in der Brust, konnte Luan nicht einfach seelenruhig schlafen, sondern saß aufrecht in einem der beiden Betten in dem Krankenzimmer, in das Vane sie nach ihrer Rückkehr vorerst hingebracht hatte. Nach einem solchen Überraschungsangriff in Athamos, dem Ort, der stets als frei von Alpträumen galt, kam ihm die friedliche Ruhe in diesem Raum seltsam unnatürlich vor. Nur wie eine zerbrechliche Illusion.

Draußen auf den Gängen schien dagegen eine Menge los zu sein, Schritte huschten ununterbrochen hin und her, begleitet von aufgeregten Stimmen. Hatte es wirklich so viele erwischt? Das war furchtbar.

„Es ist meine Schuld“, hörte er Mara leise sagen, die auf dem zweiten Bett im Zimmer lag und genauso hellwach wie er an die Decke starrte. „Ich habe das Geißel-Ei in mir hierher gebracht.“

„Eigentlich ist es eher meine Schuld“, widersprach Luan ihr ein wenig heiser. „Ohne mich hättest du Athamos niemals betreten können, aber ich habe dich mitgenommen. Gegen die Regeln.“

Immerhin hätte er sie vorher anmelden müssen und dabei wäre Atanas eventuell aufgefallen, dass etwas Gefährliches in ihr hauste. Normalerweise konnte ihr Anführer Alpträume doch irgendwie ausfindig machen, warum nicht auch das Geißel-Ei in Mara? Daraus durfte Luan ihm aber gewiss keinen Vorwurf machen, seine schwarze Ablagerung hatte als sonst zuverlässiger Radar hierbei ebenso versagt.

„Aber-“, wollte Mara einwerfen, doch er unterbrach sie.

„Wir sollten das nicht tun.“ Sein Blick glitt in ihre Richtung. „Es ist vorbei. Niemandem nützt es etwas, wenn wir jetzt die Schuld unbedingt auf uns nehmen wollen. Wir haben beide nichts von dem Geißel-Ei gewusst.“

„Hm ...“ Langsam richtete Mara sich in eine sitzende Position auf und nickte. „Du hast recht. Ich lasse es einfach nicht nochmal zu, dass jemand meinen Körper derart missbraucht.“

Ihre Worte klangen entschlossen. Auch ihre Mimik und Haltung wirkte wesentlich entspannter als zuvor, wie verändert. Ja, Mara hatte wirklich eingesehen, dass sie nicht dazu gezwungen war, ein Sakromahr bleiben zu müssen, wenn sie das nicht wollte. Diesmal war sie auf einem guten Weg, hoffentlich ohne Stimmungsschwankungen. Bestimmt waren diese nur das Resultat ihrer Unsicherheit und Zweifel gewesen, mit denen sie die ganze Zeit über zu kämpfen gehabt hatte, obwohl sie sich schon so früh wünschte, sich zu verändern.

Du bist eben schon sehr menschlich, nicht kaputt.

Als er sich an den auffälligsten Zeitpunkt ihrer Stimmungsschwankungen erinnerte, trieb ihn das dazu an, genauer nachzuhaken. „Du, Mara, was wolltest du mich damals vor dem Betreten des Buchladens fragen?“

Damals?“ Sie neigte leicht den Kopf. „So lange ist das nun auch nicht her.“

„Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor.“

Nachdenklich spitzte sie die Lippen, ehe sie zustimmte. „Irgendwie schon, ja.“

„Also?“

„Ach, ich wollte nur fragen, ob Träume eigene Gefühle besitzen können oder immer an die Vorgaben ihrer Erschaffer gebunden sind“, klärte sie ihn auf. „Ich habe mir solche Sorgen um Bernadette und auch um dich gemacht, aber ich wusste nicht, ob das von mir kam oder ich nur automatisch auf etwas zurückgriff, das ich von Estera übernommen habe.“

„Estera kannte Bernadette gar nicht“, gab Luan zu Bedenken.

„So weit habe ich zu dem Zeitpunkt nicht gedacht.“ Aus Gewohnheit wollte sie wohl ihre langen Haarsträhnen hinter die Ohren schieben, aber da ihre Frisur dafür nun zu kurz war, griff sie nur in die Luft. „Es hat mich so aufgewühlt, dass ich dich, den Grund für mein Dasein, getroffen habe, obwohl ich nicht gezielt nach dir suchte, da konnte ich nicht so weit denken.“

„Du hattest Angst, deine Existenz könnte bald vorbei sein“, sagte er mitfühlend. „Das tut mir leid. Vergiss einfach deine Bestimmung.“

Überrascht blickte Mara ihn an. „Ich soll das einfach vergessen?“

„Warum auch immer Estera dich gemacht hat, ich bin sicher, sie findet auch noch einen anderen Weg, um mit mir Kontakt aufzunehmen.“ Davon war er fest überzeugt, seine letzten zwei Träume bewiesen das zusätzlich. „Du hast schon eine Menge für uns getan, indem du mir mitgeteilt hast, dass Estera dich schuf. Glaub mir, mehr musst du nicht tun.“

Sollte sie ihrer Bestimmung doch folgen, könnte sie dadurch nur wieder zu unsicher werden und das sollten sie vermeiden. Mara musste lange genug unter ihren Ängsten leiden, das genügte. Außerdem verstand Estera seine Entscheidung sicher, so wie er sie kannte.

Mara kam nicht dazu, noch etwas zu dem Thema beizutragen, weil auf einmal die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde und Vane hereinkam, der sie beide sofort prüfend musterte. Egal, wie viel auf seiner Krankenstation los war, er verlor niemals seine ruhige Art. Dafür war er zu beneiden.

„Schön, dass ihr noch wach seid.“

Sofort erfüllte seine Stimme den Raum mit einer wohltuenden Harmonie, obwohl Vanes ernster Gesichtsausdruck nicht dazu passen wollte. In seinen Händen hielt er ein Klemmbrett, das in der Regel stets ein Teil von ihm war, und einen Kugelschreiber, womit das Gesamtbild ihres Arztes wieder komplett war.

Vane notierte sich auch gleich etwas, während er weitersprach. „Wir sollten uns jetzt um deine Atemhypnose kümmern, Luan.“

Dagegen hatte er nichts einzuwenden, er wollte das unbedingt hinter sich bringen. Nur kam es unerwartet, dass sie damit nun doch recht zeitig anfangen konnten, weshalb Luan direkt nachhakte, was denn mit den Verletzten sei, worauf er von Vane folgende Antwort bekam:

„Ich kann mich leider erst richtig um die meisten kümmern, sobald ich mit dir fertig bin.“ Der Arzt hielt kurz beim Schreiben inne und deutete mit der Spitze des Kugelschreibers auf seinen eigenen Hals. „Meine Schall-Prägung darf mindestens vierundzwanzig Stunden lang nicht aktiv genutzt worden sein, um einen Erfolg bei der Auflösung deiner Atemhypnose zu garantieren.“

Das war neu für Luan. „Heißt das, eure Stimmen können sich abnutzen?“

„So in etwa“, bestätigte Vane und schrieb weiter. „Unsere Stimmen mögen sich zwar immer klar anhören, können bei häufiger Nutzung jedoch Unreinheiten ansammeln, wodurch die Wirkung von Befehlen und die Effekte allgemein gemildert werden. Nur geübte Traumbrecher sind in der Lage, ihre Stimmen so weit zu kontrollieren, dass sie nicht so schnell unrein werden.“

Also hatte wohl jede Prägung auch ihre Schwächen. Ob nur Vane bewusst war, worauf er bei seiner achten musste? Sonst hätte Luan bestimmt schon mal früher von Schall-Traumbrechern gehört, deren Stimmen zu abgenutzt waren, um noch etwas bewirken zu können. Oder diese Atemhypnose erforderte schlicht besondere Maßnahmen, wie eben vollkommene Reinheit.

„Die Frage ist vermutlich überflüssig, aber ich möchte sie dir dennoch stellen“, begann Vane und beendete seine Notizen vorerst, indem er den Kugelschreiber an dem Klemmbrett befestigte. „Willst du das wirklich tun?“

Missbilligend zog Luan die Augenbrauen zusammen. „Du hast nicht ernsthaft vor, nochmal darüber zu diskutieren? Ich habe meine Entscheidung getroffen.“

„Und ich werde mich nicht mehr gegen deine Entscheidungen stellen“, versicherte Vane und benötigte nur knapp zwei Schritte, bis er bei ihm am Bett stand. „Ich möchte dir zu diesem Thema trotzdem noch etwas sagen und hoffe, dass du meinen Worten Glauben schenken kannst.“

Nachdenklich warf Luan den Blick zu Mara, aber sie wirkte absolut ratlos und konnte daher nur mit den Schultern zucken. Eigentlich sollte er Vane diese Bitte nicht abschlagen, nachdem er nur dank ihm ohne größere Schäden das Problem mit dem Geißel-Ei hatte lösen können. Statt ihn also abzuweisen nickte Luan ihm schließlich zu und schenkte ihm diese wertvolle Zeit, um sagen zu können, was er anscheinend loswerden wollte.

Darüber zeigte Vane sich merklich erleichtert und sah ebenfalls kurz zu Mara hinüber. „Was ist mit dem Mädchen?“

„Sie darf ruhig zuhören.“

„In Ordnung.“ Seufzend nahm Vane auf der Bettkante Platz, woran Luan sich erstaunlicherweise nicht störte. Nicht mehr so sehr wie sonst. „Bernadette und ich, wir haben uns damals aus einem guten Grund für diese Atemhypnose entschieden.“

Zum Glück wusste er längst, dass Vane mit ihr zusammenarbeitete, sonst hätte ihn diese Information nun sicherlich schwer getroffen. „Was für ein Grund soll das sein?“

„Vor einigen Jahren ist etwas Schlimmes passiert.“ Er stockte und senkte den Blick auf sein Klemmbrett hinab, als könnte er dort die richtigen Worte finden. „Etwas, das dich stark mitgenommen und zerstört hätte, wären wir tatenlos geblieben. Bernadette hat am meisten dafür riskiert, um dich zu retten, und dafür etwas Unverzeihliches getan.“

Eine Vermutung bahnte sich in Luan an, die ihm nicht gefallen wollte. „Hat das etwa mit ihrem Verrat zu tun?“

„Richtig.“ Sacht schüttelte Vane den Kopf. „Wir wollten niemandem jemals schaden, weder Athamos noch den Traumbrechern. Es ging nur darum, dich zu retten.“

Am liebsten wäre Luan es, sein Misstrauen könnte ihn davon abhalten, diese Worte zu glauben, aber etwas in ihm wusste, dass es die Wahrheit war. Bedeutete das wirklich, Bernadette hatte die Regeln einzig seinetwegen gebrochen? Sollte er darüber froh oder bestürzt sein?

„Was ist denn so schlimmes passiert, dass ihr so weit dafür gehen musstet?“

Leider sollte Luan darauf keine Antwort bekommen. „Ich halte es für besser, wenn du dich aus eigenem Antrieb wieder daran erinnerst, wenn du das willst. Ohne die Atemhypnose werden so einige Erinnerungen nach und nach zurückkommen, einige schneller, andere weniger und ein paar sicher nur, solltest du das zulassen.“

Vor kurzem noch hätte Luan an der Stelle wütend reagiert, aber heute war ihm nicht danach. Einerseits fühlte er sich noch zu erschöpft von den letzten Geschehnissen, andererseits zeigte Vane gerade wieder diese verletzliche Seite, die es Luan unmöglich machte, auch noch verbal auf ihn einzuschlagen. Sollte das alles stimmen, trugen er und Bernadette ohnehin schon eine große Last mit sich herum. Alleine. Oder?

„Habt ihr beide das alleine geplant?“, wollte Luan wissen, um endlich herauszufinden, wie viele Verräter es noch in Athamos geben könnte.

„Es gab noch jemanden, der uns unterstützt hat“, gestand Vane unerwartet offen. „Aber niemand aus unseren Reihen.“

Wer könnte das wohl sein? An Vanes Tonlage erkannte Luan sofort, dass er auch darauf keine Antwort erwarten sollte. Wenigstens zeigte der Arzt sich überhaupt so gesprächig und offenbarte ihm einige Dinge, die er zuvor geheim gehalten hatte. Seine Sorge um Luan musste wahrlich groß sein, wenn er dieses Gespräch nun als letzte Möglichkeit dafür nutzte, ihn umstimmen zu wollen.

Wie traurig, dass Luan diese besorgte Seite an Vane die letzten Jahre über niemals wahrgenommen hatte.

„Warum tust du das für mich?“, fragte Luan vorsichtig. „Bei Bernadette kann ich es noch nachvollziehen, aber wir ... haben wir uns mal besser verstanden?“

Offenbar überlegte Vane, ob er darauf auch offen antworten sollte und entschied sich letztendlich dann sogar dafür. „Du warst die allererste Person, die keine Angst vor mir hatte.“

Sprachlos starrte Luan Vane an, der den Blick ebenso schweigend erwiderte. Sicher, gegenwärtig gab es Naola und auch Nevin, die sich gut mit ihm verstanden, aber die restlichen Traumbrecher begegneten Vane nur ungern und wenn, dann mit Furcht – oder mit Hass, so wie Rowan.

Damals musste er sich furchtbar einsam gefühlt haben, so wie Luan vor langer Zeit im Waisenhaus. Wie ähnlich sie sich in dem Punkt waren ...

„Luan, ich kenne dich gut“, sprach Vane nach einer Weile weiter, nun wesentlich väterlicher. „Du warst schon immer ein sehr gefühlsbetonter Mensch und hattest anfangs eine Menge Schwierigkeiten bei den Kämpfen mit Alpträumen, was du dir heute nicht mal mehr vorstellen kannst. Aber ich habe selbst miterlebt, wie du schon einmal kurz davor warst zu brechen, das dafür verantwortliche Gefühl steckt auch jetzt noch in dir und könnte erneut zum Leben erwachen, sobald du dich wieder an alles erinnerst.“

Luan musste schwer schlucken und griff an seinen rechten Arm, wo auch seine Atem-Prägung ruhte. Zurzeit war er der einzige Traumbrecher mit diesen Fähigkeiten und er benötigte sie auf jeden Fall, um gegen Verrell anzukommen. Sonst könnte er Ferris und Bernadette nicht befreien, zudem wären auch noch viele andere Menschen in Gefahr, sobald die Geißel erst mal ihren eigenen, richtigen Körper besaß.

All diese Opfer könnte Luan niemals für sein eigenes Wohl bringen.

„Möchtest du das wirklich riskieren?“, fügte Vane seinen letzten Worten hinzu.

„Es geht nicht darum, was ich will“, entgegnete Luan, dessen Entschluss sich nicht verändert hatte. „Menschenleben stehen auf dem Spiel und die müssen gerettet werden. Jemand muss für sie kämpfen. Ich könnte mir selbst nicht verzeihen, wenn ich diese Menschen einfach im Stich lasse. Also breche diese Atemhypnose bitte, Vane.“

„Ja, ich bitte Sie auch darum“, mischte Mara sich ein.

Gleichzeitig huschten die Blicke beider Augenpaare zu ihr hinüber, nur Vane war derjenige, der erneut seufzte und sich geschlagen gab. „Wenn das so ist, dann lass uns anfangen.“

Als Vane sich anschließend vom Bett erhob, beschloss Luan, sich daran ein Beispiel zu nehmen und ebenfalls aufzustehen. Kaum stand er aber auf den Beinen, ließ ihn ein kaltes Stechen in der Brust zusammenzucken und aufkeuchen, womit er gleich Vanes ärztliche Instinkte in Alarmbereitschaft versetzte.

„Was hast du?“

„Schmerzen“, sprach Luan das Offensichtliche aus. „Ich glaube, in Maras Alptraum ist meine Atemhypnose wieder ein Stück zersplittert.“

„Und das sagst du mir erst jetzt?“ In den Worten lag mehr Sorge als ein Vorwurf versteckt. „Wie konnte das passieren?“

„Keine Ahnung, du bist doch der Arzt hier.“

Während Luan eine Hand gegen die Brust presste und kontrolliert durchzuatmen versuchte, bekam Vane offensichtlich eine Erkenntnis, denn sein Blick heftete sich abermals auf Mara. Seine dunkelbraunen Augen waren klar und durchdringend, was ihr sichtliches Unbehagen bereitete. Schnell fiel Luan auf, wie fixiert Vane sie plötzlich ansah, wodurch die Schmerzen nebensächlich wurden.

„Stimmt etwas nicht?“

„Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, was deine Atemhypnose überhaupt erst durcheinander bringen und dadurch beschädigen konnte.“ Aufmerksam rückte er seine Brille zurecht. „Es muss an dem Mädchen liegen.“

„An Mara?“, reagierte Luan verwundert.

Fragend wandte Vane sich ihm zu. „Ist bei eurer ersten Begegnung etwas Außergewöhnliches passiert?“

Erst vergingen einige Sekunden, bis sowohl Luan als auch Mara synchron tief einatmeten, als ihnen der Moment wieder ins Gedächtnis kam. Sie beide hatten durch ihre Berührung vor einigen Tagen etwas erlebt, das jeden gleichermaßen aufgewühlt haben musste.

„Ja, ich hatte eine Erscheinung“, berichtete Luan zögerlich. Persönliche Dinge teilte er nach wie vor nicht gern. „Als ich sie berührte, sah ich jemanden, der mir sehr wichtig ist und einige alte Gefühle in mir geweckt hat.“

Auch Mara erzählte zum ersten Mal, was sie gesehen hatte. „Und ich wurde an meine Bestimmung erinnert, nämlich Luan zu suchen und ihm etwas auszurichten.“

„Ein akuter Schock also“, hielt Vane für sich fest und nickte verstehend. „Das erklärt, warum alles aus den Fugen geraten ist.“

„Es sollte wohl so sein.“ Jedenfalls sah Mara das so. „Wir beide sollten zu uns selbst finden.“

Auf diese Aussage hin deutete Luan ein Lächeln an. „Gut möglich.“

Ein leises Kratzen auf Papier ertönte, was verriet, dass Vane sich mit dem Kugelschreiber nochmal einige Notizen machte – kein Wunder, auch für ihn musste das eine Menge Rätsel in Bezug auf die Atemhypnose gelöst haben. Noch während er blitzschnell ein Wort nach dem anderen verfasste, pfiff er einmal laut, woraufhin von draußen gedämpft ein schweres Tapsen zu hören war. Automatisch schritt Luan zur Tür hinüber, um diese zu öffnen, weil er wusste, wer nun zu ihnen stoßen würde.

Kurz darauf schob sich auch schon der große Körper eines Hundes träge in den Raum hinein. Ein Bernhardiner, der Vane gehörte und als beliebtes Maskottchen der Krankenstation galt. Auch das war eine der alten Regelungen von der vorherigen Ärztin: Tiere für die Patienten. Laut ihren Aufzeichnungen gab es kein besseres Beruhigungsmittel als die Anwesenheit eines flauschigen Freundes, den man streicheln konnte. Keine Medizin wusste seelisches Leid so gut zu mildern.

Daran hielt auch Vane sich und hatte nun diesen Hund, der ebenso viel Ruhe besaß wie er selbst. Eigentlich hatte Luan Angst vor Hunden, denn als Kind war er einst von einem gebissen worden, aber vor diesem Bernhardiner konnte er sich einfach nicht fürchten. Das Tier strahlte solch eine friedliche Aura aus und benahm sich zudem Patienten gegenüber äußerst rücksichtsvoll, da konnte man diesen Kollegen von Vane nur mögen.

„Mara, das hier ist Bernard“, stellte dieser seinen Hund vor und tätschelte ihm den Kopf. „Er wird dir Gesellschaft leisten und auf dich aufpassen, solange ich mich um Luan kümmere.“

Unschlüssig betrachtete Mara das riesige Tier von ihrem Bett aus. Sie wirkte nicht verängstigt, schien jedoch nicht mit Hunden vertraut zu sein und nicht zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. Reglos saß Bernard neben Vane und hechelte gleichmäßig, den Blick auf Mara gerichtet. Gegenseitig machten sie sich ein Bild von dem jeweils anderen, bis sie etwas sagte: „Ein ... Bernhardiner namens Bernard?“

„Das ist doch naheliegend“, verteidigte Vane sich, der diese Aussage schon oft zu hören bekommen hatte.

Was das betraf, war Mara aber auf seiner Seite. „Stimmt, es macht Sinn.“

„Keine Sorge, Bernard ist ein guter Junge“, teilte Luan seine Erfahrungen mit. „Mir ist es auch lieber, wenn du nicht alleine bist.“

Vane hatte mitgedacht, was das betraf. „Deswegen habe ich ihn auch gerufen.“

Schwerfällig erhob Bernard sich und schleckte kurz Luans Hand zur Begrüßung ab, erst danach näherte er sich dem Bett, auf dem Mara saß. Dort nahm er wieder Platz und wartete geduldig ab, bis sie sich traute, die Hand auszustrecken und ihn zu streicheln. Die Begeisterung ließ nicht lange auf sich warten.

„Er ist richtig weich~“, stellte sie fest.

„Ich nehme an, wie können dich also ihm überlassen.“ Zufrieden begab Vane sich zur Tür. „Nevin wird zwischendurch auch nach dir sehen, sobald er Zeit hat.“

Nach einem letzten, fragenden Blick zu Luan, der ihm mit einem Nicken begegnete, verabschiedeten sie sich daraufhin von Mara und verließen das Krankenzimmer zusammen. Immer noch liefen einige Traumbrecher unruhig die Gänge entlang, wichen Vane jedoch wie gewohnt aus, was ihnen dabei half, ohne Hindernisse zum Labor zu gelangen. Genau dort lag ihr jetziges Ziel.
 

***
 

Vane hatte Luan in ein Behandlungszimmer im Labor geführt, den er für ihr Vorhaben schon komplett vorbereitet hatte. Sämtliche Gegenstände und Möbel, ausgenommen einem Bett in der Mitte des kreisrunden Raumes mit der hohen Decke, wurden dafür aus diesem Bereich verbannt. Einzig vier Maschinen aus Metall standen hier bereit. Tanks von den Fortunae.

Bei denen handelte es sich um die gleichen Gerätschaften, die auch zur Übertragung von reiner Energie für geschwächte Traumbrecher benötigt wurden und Kaminöfen ähnelten. Sie nahmen gemeinsam die Formation eines Quadrates ein und schlossen somit das Bett in sich ein, auf dem Luan sich hinlegen sollte. Diesmal wurde er aber nicht über dünne Schläuche mit den Maschinen verbunden, sondern musste einfach nur entspannt bleiben – soweit ihm das eben möglich war.

Nachdem Luan sich hingelegt hatte, aktivierte Vane die einzelnen Geräte, die gewohnt lautlos zu arbeiten anfingen und die silbern schimmernde Energie im Inneren ihrer Bäuche in Bewegung brachten. Konzentriert stellte der Arzt über die wenigen Tasten anschließend bei jeder einzelnen Maschine etwas ein und betätigte zum Schluss den jeweils einzigen Hebel, über den sich die kleine Tür mit dem Glasfenster öffnen ließ.

Ungehindert konnte die strahlende Energie dadurch nach draußen strömen und bildete eine netzartige Halbkugel um Luan. Das helle Licht blendete ihn und ließ wieder mal seine Augen tränen, aber daran störte er sich nicht, solange alles problemlos verlief. Ab jetzt gab es kein Zurück mehr, seine Gefühle kämen endgültig frei, mit ihren Erinnerungen.

„Die reine Energie wird die Teile der Atemhypnose wie Magnete anziehen, sobald sie sich von dir lösen“, lautete Vanes Erklärung, kaum dass er die letzte Maschine eingestellt hatte. „So verhindern wir, dass ein Splitter verlorengeht und sich doch in dir versteckt hält.“

„Bist du nervös?“, murmelte Luan leise. „Sonst redest du während den Behandlungen doch niemals.“

„Vielleicht ein bisschen. Ich mache so etwas auch zum ersten Mal.“

„Wie beruhigend.“

„Deinen Sarkasmus gewöhnst du dir hoffentlich bald ab“, kommentierte Vane unbeeindruckt. „Der passte von Anfang nicht zu dir.“

„Mal sehen, ich finde ihn eigentlich ganz nett.“

Solche kurzen Sticheleien mit Vane konnten recht unterhaltsam sein, wenn sie auf beiden Seiten nicht so todernst gemeint waren, wie es vorher der Fall gewesen war. Ein wenig Humor konnte im Leben nicht schaden, so sah Ferris das bestimmt auch.

Erneut bat Vane ihn darum, sich zu entspannen, und aktivierte die Traumzeit seiner Taschenuhr, woraufhin er von einer violetten Aura eingeschlossen wurde. Bei ihm sah sie also tatsächlich nicht blau aus. War er etwa zur einen Hälfte Mensch und zur anderen Alptraum? Daran müsste Luan sich auch bald erinnern können, deshalb dachte er vorerst nicht weiter darüber nach und schloss die Augen, um sich wirklich zu entspannen.

Wenig später setzte Vanes Gesang ein, intensiver und kräftiger als jemals zuvor. Wie üblich verstand Luan den Text nicht, was jedoch auch nicht nötig war. Sanft drangen die einzelnen Töne des Liedes in seinen Kopf ein und schienen seinen Geist langsam zu betäuben, indem er in ein tiefes, ruhiges Meer hinab tauchte. Genau wie zu dem Zeitpunkt, als Bernadette gesungen und schon versucht hatte, etwas an seiner Atemhypnose zu ändern.

Im Gegensatz zum letzten Mal fühlte Luan sich nun aber sicher und geborgen, wurde von Vanes Stimme tiefer in das Meer geleitet, in dem Schwerelosigkeit herrschte. Nach und nach verhallte der Gesang in der Ferne und wurde von einem melodischen Klirren abgelöst, von dem er, anders als bei Bernadette, nicht aus der Trance gerissen wurde.

Dennoch spürte Luan die Regungen in seinem Inneren. Die Gitter, hinter denen ein Großteil seiner Gefühle lange verharren musste, lösten sich auf und ließen die Gefangenen frei. Bilder rauschten an seinem inneren Auge vorbei, zu viele, als dass er sie allesamt erfassen und verstehen könnte. Eine Mischung aus Erleichterung aber auch Druck entfaltete sich in seinem Geist, der diese Veränderungen mühevoll zu verarbeiten versuchte.

Mit Hilfe von Vane, dessen Gesang nicht gänzlich verschwunden war, gelang es Luan, sich davon nicht erdrücken zu lassen. Wie lange dieser Zustand anhielt, konnte er nicht sagen, doch irgendwann ergriff jemand seinen Arm und zog ihn behutsam aus diesem Meer heraus, zurück in die Realität. Instinktiv atmete Luan tief durch und öffnete die Augen, wodurch er sah, dass Vane ihn in eine aufrechte Position gebracht hatte.

„Alles ist gut“, beruhigte dieser ihn und legte stützend eine Hand auf seinen Rücken. „Wie fühlst du dich?“

Anfangs kam Luan sich reichlich orientierungslos vor und sah sich um. Sein Herz schlug schneller als es sollte und sein Atem blieb schwer. Für einen kurzen, schrecklichen Moment lang wirkte die Welt wie ein einziger Fremdkörper und er selbst fühlte sich so verloren wie noch nie. In ihm herrschte eine Unruhe, die er nicht beschreiben konnte. Alles war so ... anders.

Als Vane bewusst wurde, dass er noch keine Antwort bekam, redete er von sich aus weiter. „In ein paar Minuten geht es dir besser, du musst dich nur stabilisieren. Es gab keine Probleme, demnach solltest du dich schnell fangen können.“

Irritiert huschte Luans Blick weiter ohne Unterlass durch die Gegend. Ein violetter Glanz lag überall in der Luft und in dem silbernen Netz hatten sich haufenweise bläuliche Splitter verfangen. Diese wurden von der reinen Magie Stück für Stück absorbiert und verschwanden somit spurlos, irgendwann waren keine Teile mehr zu entdecken.

Tatsächlich vergingen mehrere Minuten, in denen Luan einfach nur aufrecht dasaß und sich zu orientieren versuchte. Derweil machte Vane es sich zur Aufgabe, die Maschinen auszustellen, wodurch auch das Licht vom Netz verblasste und den Raum dunkler werden ließ. Erst als Vane sich danach zurück zu ihm neben das Bett stellte und anfing etwas auf sein Klemmbrett zu schreiben, hatte Luan das Gefühl, allmählich zu sich zu kommen.

Dieses vertraute Bild, wie Vane dastand und ausdauernd schrieb, womit er ihm geduldig die Zeit zu geben schien, sich zu fangen, brachte Klarheit in Luans Kopf. Wie von selbst kehrten alte Erinnerungen zurück, von ihrem ersten Treffen und anderen Szenen, die mit guten Gefühlen verbunden waren. Beinahe fühlte es sich familiär an.

Ich weiß wieder, warum deine Aura violett ist ... du bist auch eine Geißel.

Allerdings war Vane anders als Verrell, nicht bösartig. Das hatte Luan damals auf den ersten Blick erkannt und deshalb keine Angst verspürt, egal wie abweisend der Arzt sich gegeben hatte. Durch diese Erinnerung wurde ihm auch klar, warum ausgerechnet Vane so viel über Geißeln und deren Tricks wusste – es waren seine Artgenossen.

Nur wie Vane hier in Athamos gelandet war, das wusste Luan nicht. Hatte Atanas überhaupt eine Ahnung davon, dass er einen Alptraum auf der Krankenstation beschäftigte? Eine leise Stimme sagte ihm, gerade deswegen galt Vanes wahre Herkunft als Geheimnis, andernfalls wüssten auch viel mehr darüber Bescheid.

„Lange nicht gesehen“, gab Luan nach weiteren, endlos erscheinenden Minuten endlich von sich. „Das klingt komisch, es so zu sagen, wir haben uns ja die ganze Zeit gesehen.“

Abrupt hielt Vane beim Schreiben inne und schenkte ihm seine Aufmerksamkeit. „Warum sagst du das dann?“

„Ich hielt es irgendwie für passend, oder nicht?“

„Mhm.“ Leicht klopfte Vane ihm mit dem Kugelschreiber auf den Kopf. „Kannst du mir jetzt sagen, wie du dich fühlst?“

So wirklich konnte Luan darauf keine Antwort geben, doch er bemühte sich darum, seinen aktuellen Zustand zu beschreiben. „Es ist alles so wirr, aber ich habe keine Schmerzen mehr. Wie lange hat das Brechen denn gedauert?“

„Mal sehen“, setzte er an und warf einen Blick auf seine nicht vorhandene Armbanduhr, „etwa eine Stunde.“

„Sehr witzig.“

„Wir sind also noch sarkastisch, hm? Schade. Auf jeden Fall dürfte es einiges an Zeit in Anspruch genommen haben.“ Nach diesen Worten legte Vane das Klemmbrett und den Kugelschreiber neben Luan auf dem Bett ab. „Ich war nämlich sehr gründlich.“

Genauso gründlich führte er auch die folgende Untersuchung durch, wobei er jedoch nur einige bestimmte Reflexe kontrollierte und Merkmale überprüfte, die bei Traumbrechern beobachtet werden mussten. Nach einem ausführlichen Blick in Luans Augen, beendete er den letzten Check.

„Sieht gut aus.“

„Sind meine Augen wieder grüner geworden?“, nutzte Luan die Gelegenheit nachzufragen.

Beeindruckt hob Vane die Augenbrauen. „Dir entgehen wirklich keine Details. Aber ja, das sind sie. Je mehr sich deine Gefühle und Erinnerungen festigen, desto mehr erlangen sie ihre ursprüngliche Farbe zurück.“

„Und du sagtest, das kann unter Umständen etwas dauern?“

„Manchmal mehr, manchmal weniger.“ Vane schob die Hände in die Seitentaschen seines Kittels. „Normalerweise sollten sämtliche Erinnerungen nach dem Brechen einer Atemhypnose sofort zurückkehren. In deinem Fall habe ich aber schon vorher befürchtet, dass du zur Verdrängung neigst und es bei dir stückchenweise verlaufen wird. Wenn du die Wahrheit wirklich wissen willst, wirst du dich auch bald restlos an alles erinnern.“

„Du hast nicht gelogen, als du sagtest, du kennst mich gut ...“ Luan runzelte die Stirn. „Das kann einem glatt Angst machen.“

„Fang nicht an, mich zu ärgern“, warnte Vane ihn halbherzig und deutete mit einem Nicken zu seinem rechten Arm. „Lass mal sehen, ob deine Prägung wieder einsatzfähig ist.“

Richtig, darum hatte er doch diese Atemhypnose loswerden wollen. Aufgeregt hob er den Arm, an dem das leichte Gewicht der Klingen zu spüren war. Nur eine kurze Berührung mit der Fingerspitze genügte und die Atem-Prägung wechselte in die aktive Stellung. Die Klingen wurden sichtbar und glühten hellblau, als sie sich um sein Handgelenk aufbauten. Wie angenehm die kühle Atmosphäre war, die sie verbreiteten, solange sie noch nicht mit anderen Emotionen beschrieben waren.

Zum Test feuerte Luan die Klingen ab und ließ sie durch das Behandlungszimmer fliegen. Sie gehorchten seinem Willen reibungslos, so wie früher. Der Kontakt zu ihnen schien niemals gestört gewesen zu sein, das tat ziemlich gut. Mit ihnen fühlte er sich gleich um einiges stärker – so könnte er Verrell vernichten.

„Da du nun deine Klingen zurück hast, tu mir bitte einen Gefallen“, riss Vane ihn aus seinen Gedanken und musterte ihn streng. „Hör endlich auf mich und gehe sparsamer mit deiner Energie um. Du siehst schon viel älter aus, als du eigentlich bist, weil ohne Energie dein Atemfluss zu oft nicht richtig arbeiten konnte. Falten an sich sind nicht tragisch, aber du weißt, dein Körper muss frischgehalten werden.“

„Mit meiner Atem-Prägung werde ich keine Energiekugeln mehr brauchen“, konnte Luan ihn beruhigen. „Die genügt mir vollkommen.“

Zielstrebig stand er von der Liege auf, aber Vane reagierte schnell und hielt ihn noch zurück, indem er weitersprach. „Noch etwas.“

„Was denn noch?“, seufzte Luan schwer. „Ich muss los und Ferris helfen, er wartet auf mich.“

Unbeirrt zog Vane seine rechte Hand aus der Seitentasche und legte sie sich auf die Brust. „Denk daran, dass deine Ablagerung ein Problem bleibt. Ohne Atemhypnose wirst du merken, dass deine Emotionen viel schneller explodieren können. Reg dich nicht zu sehr auf, das bleibt wichtig für dich.“

Ungeduldig wollte Luan das ebenfalls nur knapp abhaken und sagen, was der andere hören wollte, aber er musste doch innehalten. Hatte diese schwarze Schicht etwas mit dem schlimmen Vorfall zu tun, über den Vane nicht reden wollte? Womöglich hing dieses Ereignis auch mit seiner versiegelten Sekunde zusammen. Nein, dafür war keine Zeit. Und doch ...

„Ich mache dir einen Vorschlag“, sagte Luan gefasst und blickte ihn dabei fordernd an. „Ich verspreche dir, alles dafür zu tun, dass ich heil von meiner Mission zurückkehre, wenn du mir danach meine Fragen beantwortest, ohne auch nur einmal abzublocken.“

Gequält verzog Vane das Gesicht. „Mit dir hat man es nicht leicht.“

„Mit dir auch nicht“, hielt er dagegen.

Wortlos nahm Vane seine Sachen vom Bett an sich und ging voraus zur Tür, was Luan ihm gleichtat. Seine Klingen kehrten an ihren Platz am Handgelenk zurück und er versetzte sie zurück in den Ruhemodus, damit sie nicht mehr zu sehen waren. Am Ausgang angekommen, berührte Vane die Klinke und schielte zu ihm hinunter.

„Meinetwegen. Ich tue es.“

Ein dankbares Lächeln bildete sich auf Luans Lippen. „Du willst um jeden Preis, dass mir nichts passiert, was?“

Diese Aussage ließ Vane unkommentiert und öffnete die Tür, woraufhin sie gemeinsam den Flur betraten. Hier herrschte eine unheimliche Stille, im Vergleich zur Krankenstation, wo einiges los war. Genau darauf kam Vane auch als nächstes zu sprechen, nachdem er den Raum abgeschlossen hatte und weiterging.

„Ich werde mich nun um meine Patienten kümmern. Wenn du noch etwas wartest, kann ich dir einige Informationen über Geißeln mitgeben, die du für diesen Verrell brauchen wirst.“

„Nicht nötig“, lehnte Luan ab, wofür er einen verwirrten Blick von ihm erntete, auf den er gleich reagierte. „Ich habe schon selbst durch genaue Beobachtungen herausgefunden, welche Schwächen Geißeln haben.“

„Bist du dir sicher?“

„Absolut.“ Selbstbewusst überholte er Vane, der aufgrund seiner Größe viel schneller als er sein müsste. „Ich kann gar nicht verlieren, wenn es um meine Freunde geht.“

Warum ausgerechnet Limbten?

Vor Maras Krankenzimmer wartete eine eher unangenehme Überraschung auf Luan: Rowan höchstpersönlich.

Er lehnte mit dem Rücken gegen die Wand, direkt neben der Tür, und stand mit verschränkten Armen da, die Muskeln immer noch angespannt. Aufgrund der Kämpfe gegen die unbekannte Geißelsaat sahen seine Haare nun um einiges zerzauster aus, als sie es ohnehin schon gewesen waren. Auch sein Körper hatte eine Menge sichtbarer Blessuren davongetragen, aber Rowan schien sich überhaupt nicht daran zu stören, so wie man es von ihm kannte. Wahrscheinlich bemerkte er sie nicht einmal wirklich, sein Schmerzempfinden musste er abgetötet haben.

Luan fror für einen kurzen Moment in seiner Bewegung ein und spürte Nervosität in sich aufleben, weil Rowans Gegenwart sich gerade sogar für ihn ziemlich bedrohlich anfühlte. Dessen Augen versprühten die dreifache Menge an Gift und seine Brauen zogen sich so stark zusammen, dass es schon alleine beim Zuschauen anstrengend wirkte. In einem schnellen Rhythmus hob und senkte sich Rowans Brustkorb deutlich, was bei ihm meistens dafür sprach, dass er sich um die Kontrolle seiner Wut bemühte.

Großartig, das hat mir noch gefehlt ...

Da es nur unnötig Zeit kostete, wie eine Statue herumzustehen und darauf zu warten, bis Rowan von selbst wieder verschwand, brachte Luan es lieber hinter sich. Wer gegen eine Geißel antreten wollte, sollte vor einem Kollegen erst recht nicht zurückschrecken. Bestimmt wachte Rowan nur über Nevin, der im Zimmer bei Mara sein könnte und sich um sie kümmerte, oder er plante Luan wegen diesem Chaos zur Rede zu stellen – beides zusammen käme auch in Frage.

„Hast du mir nicht geschworen, dass dieses Mädel keine Gefahr darstellt?“, knurrte Rowan wie ein wildes Tier, kaum dass Luan bei ihm angekommen war.

Geschworen? Besser, Luan ließ das einfach so stehen, denn versichert hatte er es ihm tatsächlich.

„Es war auch nicht Maras Schuld“, beteuerte er sofort. „Jemand hat sie als Gefäß missbraucht, sie ist also selbst ein Opfer und fühlt sich trotzdem schuldig. Ich stehe nach wie vor dafür ein, dass sie nicht gefährlich ist.“

Zwar war Luan nervös, sprach jedoch mit fester Stimme, damit seine Überzeugung auch Rowan erreichte. Beschwichtigen könnte er ihn auf diese Weise nicht, doch vielleicht brachte es ihm wenigstens dessen Verständnis ein.

Jemand, hm?“, wiederholte Rowan brummend. „Wer?“

Das giftgrüne Augenpaar fixierte sich auf Luan, eine Antwort fordernd. Offenbar wollte Rowan diese Person zur Rechenschaft ziehen, für das, was sie in Athamos angerichtet hatte. Dieser Drang war nachvollziehbar, denn durch diesen Vorfall war immerhin sein Bruder Nevin in Gefahr geraten, an einem Ort, der eigentlich vor Alpträumen absolut sicher sein sollte.

Ich werde ihn vernichten“, sagte Luan, statt zu antworten.

Dadurch schüttete er Öl ins Feuer, Rowans Zähne knirschten hörbar. „Pass auf, ich-“

„Ich weiß, wie du dich fühlst“, unterbrach er ihn – jeder andere hätte Luan an der Stelle für lebensmüde erklärt. „Ich bin selbst wütend wegen dem, was passiert ist, auch wenn man es mir nicht anmerkt. Dieser Jemand hat Menschen gefährdet, die mir wichtig sind. Deshalb will ich mich selbst um ihn kümmern, auch weil er das Ziel meiner Mission ist. Wärst du an meiner Stelle und Nevin darin verwickelt, könntest du doch auch keinem anderen diese Aufgabe überlassen.“

Im Sekundentakt entspannten sich Rowans Gesichtszüge ein wenig nach dieser Ansage. Bestreiten konnte er das nicht, dessen war er sich bewusst. Schließlich stieß er ein genervtes Stöhnen aus.

„Na schön, du hast recht. Es passt mir nicht, aber dann überlasse ich es halt dir.“

Erleichtert nickte Luan ihm zu. „Ich werde nicht versagen.“

„Das verbiete ich dir auch!“, warnte Rowan ihn. „Aber du schaffst das schon. Du hast uns ja auch von diesen Alpträumen befreit, wie auch immer du das angestellt hast. Diese Erklärung schuldest du mir noch. Nach deiner Rückkehr.“

So viel Vernunft war ungewöhnlich für Rowan, aber Luan nahm das einfach dankbar an. Zum Glück konnte er in den letzten Jahren Freundschaft mit ihm schließen, sonst hätte dieses Gespräch wahrscheinlich doch etwas anders ausgesehen.

Plötzlich fügte Rowan dann noch etwas hinzu: „Solltest du aber im Notfall mal Hilfe brauchen, bin ich auf deiner Seite.“

Überrascht sah Luan ihn an, was den anderen dazu antrieb, eine Erklärung anzuhängen: „Ohne dich wären auch ich und Nevin genauso schnell gebrochen oder von Alpträumen zerfleischt worden wie viele andere Traumbrecher damals. Wir stehen alle tief in deiner Schuld, deswegen wirst du mich immer als Verbündeten haben. Selbst wenn du mal Mist anstellen solltest.“

Sprachlos ließ Luan diese Worte auf sich wirken. Es tat gut, zu wissen, dass er Verbündete hatte, von denen er ernst genommen und nicht als unfähig eingestuft wurde. Nur aus diesem Grund hatte Luan alles alleine schaffen wollen, um sich seinen Platz in Athamos zu sichern. Er könnte den Traumbrechern niemals den Rücken zukehren, sie waren seine Familie.

Drängend nickte Rowan Richtung Tür, bevor Luan etwas sagen konnte. „Jetzt hol schon diese Mara und geh endlich los. Ich will dich so bald wie möglich ausquetschen können.“

Obwohl er damit nur eine ausführliche Befragung meinte, klang selbst so etwas aus Rowans Mund beängstigend, aber Luan könnte dem sowieso nicht entkommen. Ohne weitere Worte ging er zügig zur Tür hinüber und öffnete diese, um das Krankenzimmer zu betreten. Drinnen warteten nicht nur Mara und Bernard, sondern auch Nevin, genau wie vermutet. Lächelnd und aufgeschlossen unterhielt er sich mit ihr, wie mit einem gewöhnlichen Menschen.

Wie schön für dich, Mara.

Irgendwie hatte der schwerfällige, riesige Bernhardiner es geschafft, sich zu ihr auf das Bett zu legen und hechelte zufrieden, während er den beiden aufmerksam lauschte. Beinahe schade, dieses Bild zerstören zu müssen, doch es wurde Zeit.

„Ich unterbreche euch nur ungern, aber Vane und ich sind fertig. Mara, wir können los.“

„Ah, Luan“, reagierte Nevin erfreut und drehte sich zu ihm, wobei sein langer, geflochtener Zopf durch die Luft wirbelte. „Eine wirklich süße Freundin hast du da gefunden~.“

„Das war reiner Zufall – und da ist nicht mehr zwischen uns.“

„Luan, schau mal!“, warf Mara aufgeregt ein und hob etwas nach oben.

Eine Brille, mit runden Gläsern und einem rotem Gestell. Begeistert setzte Mara sie sich auf und sah gleich ganz anders aus, lebendiger. Sie schien sich über diese Sehhilfe – benötigte sie überhaupt eine? – sehr zu freuen, dabei gab es genug Leute, die so etwas als Makel betrachteten. Moment, dann wollte sie wohl genau deswegen eine haben.

„Jetzt bin ich ein richtiger Bücherwurm“, verkündete sie.

Fragend wandte Luan sich an Nevin. „Wo kommt die Brille her?“

„Na, von Chander natürlich.“

Chander Farone, ein Schöpfer-Traumbrecher, der immerzu an Nevins Seite war, unsichtbar. Soweit Luan wusste, verband die beiden ein enges, emotionales Band. Von Anfang an waren sie unzertrennlich. Allerdings blieb Chander extrem schüchtern und zeigte sich daher nur ungern, in Rowans Augen galt er wegen dieser Art als Feigling.

Für Luan genügte diese Antwort jedenfalls und er bedankte sich für diese nette Geste bei Chander, den er nicht sehen konnte, doch er wusste, dass er da war. Anschließend gab er Mara erneut zu verstehen, losgehen zu wollen. Lange ließ sie sich nicht bitten und umarmte nochmal herzlich den Hund, bevor sie aus dem Bett stieg.

„Tschüss, Bernie“, verabschiedete Mara sich von ihm.

Der Bernhardiner gab ein leises Brummen von sich und blieb gemütlich liegen. Einen letzten, kurzen Wortwechsel mit Nevin ließ Luan ihr ebenfalls noch, denn niemand könnte sagen, ob sie sich wiedersehen würden. Am besten blieb Mara nach diesem Aufenthalt fern von Athamos, wenn sie wirklich ein normales Leben als richtiger Mensch führen wollte.

Da fällt mir ein, ich wollte Nevin noch etwas fragen ...

„Denk dran“, sprach dieser Mara gerade gut zu. „Schon die Anwesenheit auf dieser Welt macht jeden von uns besonders. Egal, wer oder was wir sind.“

„Ich werde es mir merken.“

Eilig lief Mara zu Luan, bereit aufzubrechen, jedoch war er diesmal derjenige, der das Ganze doch erneut ins Stocken brachte: „Ah, Nevin, sag mal: Ist es wahr, dass Trugmahre verderben und zu bösartigen Alpträumen einer höheren Stufe heranwachsen können?“

Erst schien Nevin von dieser Frage überrumpelt, antwortete ihm aber darauf, ohne vorher genauer nachzuhaken, warum Luan das auf einmal wissen wollte.

„Leider ja“, seufzte Nevin bedrückt. „Trugmahre tragen viele Emotionen in sich. Wie bei uns kann ihre Stimmung unter bestimmten Umständen ins Negative umschlagen, zum Beispiel wenn sie sich ständig bedroht fühlen. Sie können sogar von anderen Alpträumen gefressen werden, so wie Träume.“

Wieso erfuhr Luan so spät davon? Bislang hatte er es nicht erlebt, dass Trugmahre verderben oder gefressen werden konnten. Wie auch? In beiden Fällen verschwand ihre Reinheit und ihre Existenz in dieser Form. Er fragte sich, ob Edgar in dem Buchladen sicher war. Solange Verrell ihn besetzte, garantiert nicht.

„Wo bringt ihr die Trugmahre hin, wenn ihr sie eingefangen habt?“

Nevin konnte scheinbar nicht verstehen, warum er auch das wissen wollte, weil die Antwort darauf für ihn offensichtlich war: „Zu Atanas, in die Schatzkammer.“

Nachdenklich bohrte Luan weiter nach: „Und was macht er dort mit ihnen?“

„Ehrlich gesagt ... keine Ahnung.“ Unschuldig hob Nevin die Hände. „Aber hey, du kennst Atanas doch. Er wird den Trugmahren in der Schatzkammer vermutlich sichere Zuflucht gewähren, dort kann ihnen nichts mehr passieren.“

Der Funken Misstrauen, den Verrell bezüglich Atanas in ihm entfacht hatte, begann wieder etwas stärker zu glühen und konkurrierte mit dem Gefühl des Vertrauens, das Luan nicht einfach ablegen konnte. Seine Pflicht wäre es, Nevin von Edgar zu erzählen, damit er in Sicherheit gebracht wurde. Aber ob dieser Trugmahr das wollte?

Wenn ich wüsste, was Atanas mit ihnen macht ...

Trugmahre konnten verderben, womöglich bis zu Geißeln aufsteigen. Indem Atanas vorher Traumbrecher entsandte, verhinderte er diesen Schritt, und sie kamen stattdessen zu ihm in die Schatzkammer. Laut Verrell pflanzte ihr Anführer den Traumbrechern Geißeln ein ... der folgende Gedankengang gefiel Luan ganz und gar nicht, er schüttelte ihn ab.

„Wozu willst du das denn wissen?“, erkundigte Nevin sich.

Aber Luan wehrte ab und schritt durch die Tür nach draußen. „Nicht so wichtig. Wir gehen jetzt, bis dann.“

Mara folgte ihm ohne weitere Aufforderungen, was ihn zufrieden stimmte, denn so konnte er sich diesem Gespräch problemlos entziehen. Außerhalb des Krankenzimmers haftete Rowans Blick aufmerksam an ihnen, bis sie aus seinem Sichtfeld verschwanden. Kurz darauf verließen sie bereits die Krankenstation, Vanes Revier, und marschierten schnellen Schrittes Richtung Portalraum, über den sie hierher gekommen waren.

Die Zeitbegrenzung von drei Tagen war noch nicht vorbei, aber es kam Luan so vor, als wäre er schon viel zu lange in Athamos. Hoffentlich blieb dieses Gefühl nur eine Täuschung und sie kämen rechtzeitig zurück. Sein Schritttempo erhöhte sich, bis er im Keller, kurz vor den Portalen, plötzlich nochmal stehenblieb, womit er Mara verwirrte.

„Was ist los? Ich dachte, wir haben es eilig?“

„Mhm.“

Unsicher starrte Luan auf den Boden. Nevin nichts von einem Trugmahr zu erzählen war eine Sache, anders war es aber, wenn er Befehlen von Atanas nicht Folge leistete. Sein Anführer hatte ihm gesagt, er sollte vor seinem nächsten Aufbruch Mara zu ihm bringen, um sie registrieren zu lassen. Somit wäre sie für immer in Athamos als Sakromahr verzeichnet, nicht frei, sondern unter Beobachtung.

Unter solchen Umständen könnte sie kaum ein neues Leben anfangen, geschweige denn zum Menschen werden. Schlimmstenfalls holte Atanas sie eines Tages ebenfalls nach Athamos, sollte er eine zu große Gefahr darin sehen, sie ungeschützt draußen herumwandern zu lassen. Trugmahre wurden zu ihm in die Schatzkammer gebracht, für Sakromahre müsste im Prinzip das Gleiche gelten. Erst recht weil sie wesentlich seltener waren.

„Luan, was ist denn?“, fragte Mara ein zweites Mal ratlos. „Hast du was vergessen?“

„Nein.“ Entschlossen schüttelte er den Kopf und ging weiter. „Hab ich nicht.“

Später könnte er aber so tun, als hätte er es einfach vergessen. Bei solch einem Zwischenfall in Athamos wäre das verständlich, oder nicht? Also würde Luan hinterher behaupten, nicht mehr daran gedacht zu haben, mit Mara zu Atanas zu gehen, sobald dieser nach ihr fragte. Es mochte eine Lüge sein, aber kein Verrat.

Lange vor Athamos hatte Luan nichts anderes als die Liebe zu Träumen gehabt – darum wollte er sich in diesem Fall zum Wohle von Mara entscheiden.
 

***
 

Dank eines Portals aus Athamos erschienen Luan und Mara wieder in Limbten, im Hotel Tesha. Zimmer 104, das Ferris für sie gebucht hatte, war vollkommen verlassen und empfing sie mit einer leblosen Stille. Kein Wunder, bisher gab es nicht viel Zeit dafür, sich hier aufzuhalten. Zwischendurch waren offenbar Zimmermädchen hier gewesen und hatten die Betten gemacht, wodurch der Raum erst recht unbewohnt aussah.

Dank Vanes Anweisungen beim Telefonat hatte Naola nicht nur vorübergehend den Stand der Dinge im Auge behalten, sondern auch dafür gesorgt, dass sämtliche Rechnungen gezahlt wurden, damit in der Richtung kein zusätzlicher Ärger für sie entstand. Darum dürften Luan und Ferris auch noch dieses Zimmer gehören, auf diese Weise konnten sie unbemerkt hierher zurückkehren. Draußen war selbst in verlassenen Gassen die Möglichkeit zu groß, von jemandem beobachtet zu werden.

„Verdammt“, murmelte Luan ernst, als er das Portal verließ und im Zimmer stand.

Wie zuvor zeigte Mara sich wieder ratlos: „Hast du doch etwas vergessen?“

Nein, das war es nicht. Etwas anderes bereitete ihm Sorgen. In der Stadt schien sich einiges getan zu haben, die Ablagerung auf seiner Haut reagierte darauf. Es war das altbekannte Kribbeln, ein Zeichen dafür, einem Alptraum nahe zu sein. Diesmal wandelte es sich aber schnell zu einem aufdringlichen Jucken, überall. Beinahe wie ein schmerzhaftes Brennen.

Unruhig trat Luan ans Fenster und schob die Vorhänge zur Seite, um nach draußen zu sehen. Dort schien es unerwartet ruhig zu sein, was aber daran liegen musste, dass es noch Tag war. Er wollte nicht wissen, wie es nachts aussah, bei dieser intensiven Reaktion der schwarzen Kruste. Zum ersten Mal erlebte er es in diesem Ausmaß.

„Es müssen haufenweise Alpträume hierher gekommen sein“, gab er Mara eine Antwort, wenn auch eher widerwillig. „Ich kann es spüren.“

Zweifellos musste es an Verrell liegen. Seine Anwesenheit in Limbten zog bestimmt andere Alpträume magisch an, weil sie hofften, von seiner Macht in irgendeiner Form profitieren zu können. Wie viele verschiedene Ränge mochten sich hier eingefunden haben? Ein guter Grund mehr, diese Geißel zu vernichten.

„Das ist nicht gut“, erkannte Mara richtig.

„Aufhalten wird mich das aber nicht. Komm, beeilen wir uns.“ Luan zog die Vorhänge wieder zu und eilte zur Zimmertür. „Wir müssen zu Naola.“

Sie wusste vielleicht einige nützliche Details über die neusten Geschehnisse in der Stadt, aber wahrscheinlich hatte sie die Ankunft der Alpträume noch gar nicht bemerkt. Andernfalls hätte sie sich bei ihnen gemeldet, es sei denn, Vane wollte ihn nicht mit dieser Information beunruhigen. Genau das musste es sein – Vane war ein bisschen zu fürsorglich für Luans Geschmack.

„Du wirst bei ihr bleiben“, beschloss Luan, als er auf dem Gang die Tür hinter Mara schloss und sie dabei eindringlich ansah. „Für dich ist es viel zu gefährlich, mir zu folgen.“

Sie konterte mit einem verständnislosen Blick. „Das geht nicht, ich bleibe bei dir.“

„Du musst jetzt nicht mehr deiner Bestimmung folgen“, erinnerte er sie. „Darüber hatten wir doch schon gesprochen.“

„Darum geht es mir auch gar nicht.“

„Worum denn dann?“ Während er weitersprach, ging er bereits zu Naolas Zimmertür hinüber. „Machst du dir Sorgen um Bernadette? Keine Sorge, ich werde sie befreien.“

Plötzlich hielt Mara ihn am Ärmel fest, was ihn automatisch dazu brachte stehenzubleiben und sich ihr zuzuwenden. Aus Gewohnheit verzog er das Gesicht und riss sich vorsichtig von ihr los. Gleichzeitig wollte er sie, zum wiederholten Male, darauf hinweisen, dass er Nähe nicht mochte und sie sich endlich daran halten sollte, aber da griff Mara bereits noch einmal nach seinem Arm.

„Ich lasse dich nicht allein“, lauteten die Worte, die Luan sprachlos werden ließen. Behutsam strich sie über seinen Arm. „Du machst mir keine Angst und ich finde dich auch nicht unheimlich, also mach dir keine Gedanken.“

Richtig, das hatte Luan in der Traumwelt, bei dem Geißel-Ei, erkannt und ihr offenbart. Als er sich daran erinnerte, konnte er die Verlegenheit kaum verbergen und blieb stumm, weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Jemand anderes nahm ihm dieses Problem dann ungefragt ab:

„Awww~“, ertönte Naolas entzückte Stimme. „Das ist so rührend.“

Ihre Zimmertür stand einen kleinen Spalt breit offen, durch den sie die beiden beobachtete, was die gesamte Situation nur noch peinlicher für ihn machte. Sicher hatte sie Luan gehört und wollte ihm entgegen kommen, um Zeit zu sparen – und doch verschwendete sie diese mit solchen unnötigen Kommentaren.

Bevor Luan anmerken konnte, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt für so etwas war, huschte Naola schon von selbst hinter der Tür hervor und verließ ihr Zimmer. Augenblicklich löste Ernst die Entzückung ab und sie zeigte sich einsatzbereit:

„Ich fahre euch zum Buchladen, keine Widerrede. Unterwegs können wir uns dann genauso gut unterhalten.“

Mit so einem Verhalten kam Luan wesentlich besser zurecht, weshalb er Naola innerlich dafür dankte und dem zustimmte. Emotionen konnte er ein anderes Mal angehen. Daher diskutierte er auch vorerst nicht mehr darüber, dass Mara hierbleiben sollte, sondern akzeptierte ihre Entscheidung.

Gemeinsam begaben sie sich also zum Wagen, der vor dem Hotel parkte. Ohne Ferris schien er einiges an Glanz verloren zu haben, es kam Luan inzwischen wie ein fremdes Auto vor. Nicht mehr lange, dann könnte er sich hoffentlich wieder über den schrecklich schlechten Fahrstil von Ferris aufregen. Er vermisste das, egal wie genervt er oft davon gewesen war.

Wie schön es wäre, könnte das alles nur ein Traum sein, weil ich mir bei einem Autounfall den Kopf angeschlagen habe.

Laut Ferris geschahen solche Wendungen allerdings nur in fiktiven Geschichten, bevorzugt in Filmen. Also blieb dieser Gedanke nur eine Träumerei.

Deshalb sollte er sich auf die Realität konzentrieren. Naola setzte den Wagen in Bewegung und fuhr sie, schneller als erlaubt, durch die Stadt zum Ziel. Unterwegs gab sie alles an Luan weiter, was sie in seiner Abwesenheit beobachten konnte. Darunter fiel tatsächlich der Anstieg von Alpträumen in Limbten, der verstärkt in der Nähe des Buchladens Maron zu bemerken war – demnach lag Luan mit seiner These über die Anziehungskraft einer Geißel richtig.

Des Weiteren erklärte Naola, dass sie versucht hatte einige Alpträume zu bekämpfen, zumindest die kleineren Kaliber, doch angeblich verschwanden manche von ihnen bei der Verfolgung spurlos und tauchten an einem gänzlich anderen Ort in der Stadt wieder auf. Lag das an all den Refugien von Verrell? Es wäre nicht auszuschließen, dass die Alpträume sie benutzten, so wie Portale.

Wie Luan schon feststellen musste, bewegten die Refugien sich sogar, was es schwierig machte, sie überhaupt zu finden, geschweige denn zu öffnen. Egal, sobald er Verrell erledigt hatte, löste dieses Problem sich von selbst in Luft auf – es sei denn, ein Refugium einer Geißel verhielt sich auch in dem Punkt anders.

Nachdenklich lenkte Luan den Blick nach draußen, lauschte den letzten Informationen von Naola. Ihre Stimme rückte aber mehr und mehr in den Hintergrund, bis sie gänzlich verhallte. Etwas anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich, wofür er noch näher an die Fensterscheibe rückte und weiterhin die Umgebung betrachtete.

Das kann nicht sein.

Limbten. Dieser Name. Diese Stadt.

Schlagartig kehrte eine Erinnerung zurück, eine erdrückende Erkenntnis. Je mehr Gebäude und Straßen ihm bekannt vorkamen, desto weniger konnte er sich dagegen wehren. Vorher war es ihm nicht aufgefallen. Wegen der Atemhypnose? Konnte eine Verdrängung derart elementare Lebensinhalte einfach auslöschen?

„Warum ausgerechnet Limbten?“

Eine Frage, die er sich selbst in seiner Abwesenheit stellte, aber von der Naola sich angesprochen fühlte: „Keine Ahnung. Vielleicht nur purer Zufall. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Alpträume wählerisch bei der Ortsauswahl sind.“

Zögerlich warf Luan den Blick wieder nach vorne. „Ja, da hast du wohl recht.“

Vane hatte Naola nichts von der Geißel erzählt und das wollte er nicht gerade kurz vor einem wichtigen Kampf nachholen, sonst fraß das nur abermals Zeit. Hinterher könnte Luan sie in Ruhe über alles aufklären. Vielmehr beschäftigte ihn, ob es einen besonderen Grund dafür gab, dass sich diese Mission in Limbten abspielte. Dem Ort, wo er aufgewachsen war und sich das Waisenhaus befand, in dem er bis zu seinem 18. Lebensjahr gelebt hatte.

Soll das eine Verschwörung sein? Das finde ich nicht witzig.

Darüber durfte er nicht nachdenken, sonst lenkte ihn das zu sehr ab. Ob Zufall, Verschwörung oder was auch immer, zuerst musste er Ferris und Bernadette retten. Genau, um Luan ging es hierbei nicht ... oder?

Die restliche Fahrt über verbrachte Luan damit, möglichst ruhig zu bleiben und bemühte sich um eine gleichmäßige Atmung. Emotionen zu unterdrücken war schwerer, als er dachte, aber nicht unmöglich. Er bekäme das auch ohne Atemhypnose hin, absolut perfekt hatte selbst die nicht alle Empfindungen und Ausbrüche eindämmen können. Ein bisschen unter dem Einfluss seiner Gefühle zu stehen war demnach normal.

Etwas später hielt Naola den Wagen schließlich vor dem Buchladen und ließ den Motor verstummen. Angespannt betrachteten sie das Gebäude, das von außen keinerlei Veränderungen aufwies und harmlos erschien. Auffällig war nur die Abwesenheit von Menschen in der Gegend um den Laden herum, was jedoch für Luan und Naola verständlich war. Wegen den negativen Energien der vielen Alpträume musste den meisten Leuten dieser Teil der Stadt unheimlich geworden sein und das schreckte sie ab. Für Luan war das nichts Neues.

„Ich gehe rein“, kündigte Luan an und schnallte sich ab. „Bitte bleibt ihr beiden hier.“

Damit zeigte Mara sich nicht einverstanden: „Du willst wirklich alleine sein? Das glaube ich nicht, lass dich doch wenigstens von Naola begleiten. Sie kann dir helfen.“

Luans Hand ruhte schon auf dem Türöffner des Wagens, aber er blieb noch sitzen und sah nach vorne, wo Mara neben Naola saß. Auch sie wirkte sichtlich besorgt, kannte ihn jedoch gut genug, um zu wissen, dass jeder Einwand an ihm abprallen würde. Seltsamerweise fühlte Luan sich von dieser Fürsorge gestärkt und nicht gestört, wie es bei ihm sonst üblich war. Höchstens die Verlegenheit stufte er als unangenehm ein, ließ sich deswegen aber nicht von der positiven Energie ablenken.

Was würde sich noch alles an seiner Wahrnehmung verändern?

„Ich brauche euch hier“, entgegnete Luan auf Maras Worte und zog seine Taschenuhr hervor – es war soweit. „Ihr gehört nämlich zu meinem Plan.“

Du musst keine Angst haben

Stille, die schwer auf der Seele lastete.

Kälte, die jegliche Hoffnung zersplittern ließ.

Verrells Refugium. Luan war zurück.

Schon das dritte Mal, wurde ihm bewusst. Das soll mein letzter Besuch hier sein.

Obwohl ihm dieser Ort inzwischen bekannt sein sollte, veränderte sich die Umgebung wieder und wieder, somit blieb sie ihm fremd. Diesmal streckte sich direkt vor ihm ein zweiflügeliges Gittertor in die Höhe, ähnlich wie bei der Einfahrt zu einem prunkvollen Anwesen. Dementsprechend edel und mächtig sah es aus. Das Metall glühte bedrohlich, als wäre es stark erhitzt, aber Luan spürte keinerlei Hitze, nur die übliche Kälte.

Kurz bevor er das Refugium betreten hatte, konnte ihm das Treffen mit Edgar vor dem Eingang dabei helfen mehr Ruhe zu finden. Anscheinend war der Trugmahr wirklich die ganze Zeit über im Keller geblieben und bewachte den Zugang. Zum Glück war ihm dabei nichts zugestoßen, an diesen Wesen zeigte Verrell also kein Interesse. Umso besser für Edgar, immerhin gehörte er zu Bernadette.

Kaum hatte Luan anschließend das Refugium betreten, fand er sich vor diesem Tor wieder, das einsam in der Schwärze herumstand, ohne eine dazugehörige Mauer. Verrell musste Langeweile gehabt haben. Was brächte es ihm andernfalls, nochmal alles umzugestalten?

Geräuschlos glitten die beiden Türen nach diesem Gedanken selbstständig nach innen auf und offenbarten dahinter eine lange Glastreppe. Sie war in dieser Dunkelheit kaum auszumachen, doch dank der Taschenuhr leuchtete sie für Luan gut sichtbar. Schon draußen war die schwarze Kruste äußerst aktiv gewesen und nachdem das Tor sich geöffnet hatte, schien es noch schlimmer zu werden.

Zwar wurde das Brennen von der kühlen Atmosphäre des Refugiums erstickt, dafür nahm das Kribbeln und Jucken zu, sie entwickelten sich allmählich zu einem Stechen. So musste es sich anfühlen, wenn tausende feine Nadelspitzen überall in die Haut stachen, was nicht schmerzvoll war, jedoch auch nicht angenehm. Wie viele Alpträume mochten sich hier aufhalten?

Mühevoll unterdrückte Luan ein genervtes Seufzen und nahm ohne weiter zu zögern diesen unnötigen Anstieg in Kauf, der sicherlich nur dazu diente, Verrell zu amüsieren. Nicht mehr lange.

Endlich, schoss es Luan durch den Kopf, aber nicht wegen Verrell. Dieses Tor hat mich ans Waisenhaus erinnert. Unseres sah fast genauso aus.

Dadurch entstand zusätzliches Unbehagen in ihm, davon ließ er sich jedoch nicht aufhalten. Jede Treppenstufe, die Luan berührte, gab einen musikalischen Ton von sich, vergleichbar mit einem Klavier. Je höher er kam, desto mehr wandelten sich die Geräusche. Zu Stimmen. Anfangs schluchzten sie leise, bis zu einem lauten Weinen, das sich zu einem Schreien auszuweiten drohte.

Allerdings erzeugte nicht direkt die Glastreppe diesen Chor, denn um sie herum lauerten zahlreiche Alpträume im Schutze der Dunkelheit, wo sie nicht zu sehen waren und mit dem Schwarz verschmolzen. Als Traumbrecher bemerkte Luan sie trotzdem. Anscheinend warteten sie auf etwas, sie beobachteten ihn nur und regten sich nicht. Entweder spielte die Wahrnehmung ihm einen Streich oder das Starren der Alpträume war wirklich so erwartungsvoll, wie es wirkte. Nahezu hoffend.

Wahrscheinlicher war aber, dass ihn die Reaktionen der Ablagerung und die Erinnerung ans Waisenhaus beeinflussten. Vor derart vielen Alpträume wollte Luan ungern die Fassung verlieren und Schwäche zeigen. Darum erwiderte er deren Blicke und versicherte ihnen auf diese Weise stumm, kampfbereit zu sein. Bevor es so weit kommen konnte, erreichte Luan aber, zu seiner Erleichterung, das obere Ende der Treppe.

„Du bist ganz schön schnell zurückgekommen“, erklang Verrells Stimme, deren kühler Ausdruck die Atmosphäre noch mehr gefrieren ließ.

An seiner Erscheinung hatte sich nichts verändert, außer, dass er gerade keine Zigarette rauchte. Selbstsicher stand er im Nichts, umgeben von den Spiegeln, die schwebend um ihn herum kreisten. Sofort huschte Luans Blick suchend über jeden einzelnen, leider konnte er aber momentan nichts in ihnen sehen. Ferris und Bernadette waren hoffentlich noch hier, lebendig.

„Bist du sicher, dass du schon fertig bist?“, sprach die Geißel zweifelnd weiter und beugte dabei den Oberkörper etwas in seine Richtung. „Du weißt ja: Bei diesem Spiel geht es um deinen Freund und die Verräterin. Du willst doch nicht, dass ihnen etwas zustößt?“

„Ich habe nicht vergessen, worum es geht“, versicherte Luan gefasst, den Blick wieder auf Verrell fixiert.

Dieser klatschte in die Hände und tat so, als hätte er eine Erkenntnis: „Ah, jetzt weiß ich, was los ist: Du hast mich vermisst~.“

„Möglich, aber nicht, weil ich dich mag.“

„Sondern weil du mir den Kopf abreißen und mein Herz zerquetschen willst, schon klar.“

So etwas sollte man nicht derart unbeschwert sagen, wie Verrell es eben getan hatte, aber das machte nur nochmal deutlich, was er für ein bösartiges Geschöpf war.

„Ich bezweifle, dass du ein Herz hast“, sagte Luan verächtlich.

Geschockt griff Verrell sich an die Brust, sein Schauspiel war absichtlich schlecht. „Wie gemein. Du magst an meinem Herzen zweifeln, aber Gefühle trage ich auf jeden Fall in mir. Ärger. Abscheu. Wut. Hass. Das darf man nicht unterschätzen.“

Verrells Gefühlswelt war Luan herzlich egal, er hatte sich die Chancen auf Sympathie und Verständnis schon lange verspielt und bekäme auch keine mehr. Dieser Zug war abgefahren.

„Genug mit diesem lächerlichen Small-Talk“, beendete Luan das Ganze und ging einige Schritte näher auf ihn zu, blieb jedoch auf Abstand. „Ich will immer noch wissen, wo Ferris und Bernadette sind.“

Statt endlich darauf zu antworten, betrachtete Verrell ihn schweigend. Prüfend suchte er in Luans Augen nach etwas, wovon nur er wissen konnte. Ein kaum sichtbarer Funke der Enttäuschung huschte schließlich über Verrells Gesicht und er gab sich auch keine Mühe dabei, seine Unzufriedenheit zu verbergen.

„Ich hatte eine andere Reaktion erwartet“, gab er zu. „Immer noch so feindselig?“

„Wie sollte sich sonst sein?“

„Kooperativer.“

Ohne die Füße oder Beine zu bewegen, kam Verrell näher, glitt einfach über den Boden hinweg. Anfangs langsam, doch mit dem nächsten Wimpernschlag stand er dann plötzlich dicht vor Luan, der Mühe hatte, nicht sofort zurückzuweichen.

„Sag“, hauchte Verrell und bohrte seinen Blick in ihn hinein, „hast du meine Bedingungen erfüllt? Weißt du Bescheid?“

Es war eindeutig, dass er mehr von Luan wollte, als dieser erahnen konnte. Er wollte nicht vorzeitig offenlegen, wie die Dinge standen und damit möglicherweise den Plan gefährden, also schwieg er einfach. Eine Zeitspanne verstrich, in der sie beide sich gegenseitig anstarrten und jeder auf den kleinsten Hinweis dafür wartete, welche Handlung als nächstes angebracht wäre. Solch eine Anspannung war mehr als anstrengend.

Letztendlich musste jemand wieder etwas sagen und derjenige war Verrell: „Hm, wie schade. Ich hätte nicht gedacht, dass du noch so feindselig bist, sobald du alles weißt.“

Luan beschloss vorerst weiterhin zu schweigen, um nichts Falsches zu sagen und gleichzeitig die größte Schwäche dieser Geißel auszunutzen, die er bei ihrem ersten Kampf erkannt hatte. Mit Erfolg, es dauerte nicht lange und Verrell, der immer noch viel zu dicht vor ihm stand, sprach weiter. Scheinbar war ihm wirklich nicht bewusst, dass er seinen Schwachpunkt mit diesem Verhalten mehr und mehr bestätigte.

„Ich wollte, dass du auf die Wahrheit stößt“, fuhr er ungehemmt fort. „Nur darum solltest du herausfinden, wie du mich besiegen kannst. Leider war das der einzige Weg, bei dem du diese Wahrheit nicht bestreiten kannst, das Diarium Fortunae lügt nämlich nicht. Du wirst sicher darauf gekommen sein, nur darin die richtige Antwort auf die Frage zu finden, wie man Geißeln vernichtet. Dumm bist du ja nicht.“

Beinahe brüderlich tätschelte er Luans Kopf. „Und doch bist du noch gegen uns? Du solltest jetzt eigentlich auf der Seite der Alpträume stehen.“

Was?

Hatte Luan das richtig verstanden oder verabschiedete sich sein Verstand?

Warum glaubte die Geißel so etwas? Alpträume blieben Luans Feinde, egal was geschah. Trugmahre und Sakromahre bildeten die einzigen Ausnahmen, sie mussten beschützt werden. Nichts und niemand könnte Luan jemals dazu bringen, sich mit den Alpträumen zu verbünden. Zu gern hätte er das Verrell laut gesagt und seiner Empörung freien Lauf gelassen, aber er sollte noch eine Weile mitspielen.

„Du hast Mara ein Geißel-Ei eingepflanzt“, war das einzige, das Luan zum Gespräch beitrug.

„Ach so, darum geht es dir also? Du bist sauer deswegen?“

„Und wie.“

Schmunzelnd trat Verrell einen Schritt zurück und löste dabei auch die Hand von seinem Kopf. „Natürlich habe ich das. Muss ich dir etwa echt erklären, wieso?“

„Das wäre besser für dich.“

„Huh, du bist echt verrückt nach Sakromahren“, machte Verrell sich ungeniert über ihn lustig und winkte über seine eigene Schulter. „Du bleibst eben doch leicht zu lesen. Ich wusste, du würdest sie mit nach Athamos nehmen.“

Kurz hielt er inne, wartete und seufzte anschließend. „Schade, es wäre so praktisch, wenn sich auch für uns sofort überall ein Portal öffnen würde.“

„Sprich weiter“, verlangte Luan.

Offenbar sah Verrell noch eine Chance darin, sein Ziel zu erreichen, indem er ihm diese gewünschte Erklärung bot, was Luan gelegen kam. Die Geißel plauderte amüsiert weiter: „Sakromahre sind heilig und werden nicht so schnell einfach vernichtet, eine ziemlich gute Geheimwaffe also.“

„Die Geißelsaat hat auch mich angegriffen.“

Darauf ging Verrell aber nicht ein und verschränkte die Arme, ehe er weitersprach: „Mit dieser Geheimwaffe und dank deiner Hilfe wollte ich Athamos und Atanas in den Untergang treiben, dummerweise funktionierte dieser Plan wohl nicht, dabei wäre das der leichteste und schnellste Weg gewesen. Versuchen wollte ich es mal. Aber ... Menschen sind anscheinend gern Betrüger. Nicht wahr, Luan?“

Ein schrilles Klirren durchbrach das weite Nichts aus Dunkelheit. In der Umgebung bohrten sich aus dem Boden mehrere Metallnägel, so groß wie Hochhäuser, hervor, die ebenso glühten wie das Tor am Eingang des Refugiums. Mit rasender Geschwindigkeit wuchsen innerhalb von Sekunden so viele, dass sie bald eine Armee aus Hunderten waren. Ihre Hitze sorgte für etwas Licht, doch die Schwärze schien es einfach in sich zu verschlingen.

Umkreist von diesem dichten Wald aus Metall, gab es kaum noch Bewegungsfreiheit. Einige Spiegel waren von den Nägeln aufgespießt worden, wodurch sich das klirrende Geräusch erklären ließ. Hoffentlich hatte das keine schweren Folgen für Ferris und Bernadette. Zusammen mit Verrell stand Luan noch in dieser einzigen Lichtung und biss unruhig die Zähne zusammen.

Hatte die Geißel etwa doch erkannt, dass Luan keine Ahnung hatte, von welcher Wahrheit die Rede war und somit die Spielregeln brach? Am besten sollte er schnellstmöglich handeln und das endlich beenden, bevor es zu spät dafür war.

„Du solltest nicht so herablassend über Menschen sprechen“, riet Luan, womit er ihn zu provozieren versuchte.

„Süß, du bist dieser Rasse sehr verfallen, was?“ Lachend wandte Verrell sich ab und drehte ihm den Rücken zu – Jackpot. „Denk doch mal nur an Bernadette. Sie hat alle verraten und das größte Tabu in der Geschichte der Traumbrecher begangen, nur um ihre eigenen, egoistischen Ziele zu erreichen. Menschen sind widerliche Kreaturen.“

Luan musste es sich verkneifen, darauf etwas zu erwidern. Stattdessen ballte er die rechte Hand zur Faust und die sechs unsichtbaren Klingen erwachten aus ihrem Schlaf. Geschwind folgten sie seinen Anweisungen, wofür er weder sprechen noch denken musste, und schlossen sich zusammen. Zu einer einzigen, großen Klinge, die seinen Arm als eine Art Schwertgriff nutzte und fest damit verbunden blieb.

Mühelos gelang es dem hellblauen Leuchten seiner Prägung gegen die gierige Dunkelheit anzukämpfen und erhellte die Umgebung. Jeder Metallnagel, der von diesem Licht berührt wurde, verblasste abrupt, wurde pechschwarz und zerbröckelte leicht. Noch bevor Verrell sich über die entstehende Wärme oder gar die veränderten Lichtverhältnisse wundern konnte, rammte Luan ihm bereits von hinten seine Klinge in den Rücken, geradewegs durch die Brust hindurch.

Überrascht schnappte Verrell nach Luft, hielt jedoch kurz danach den Atem an und verkrampfte. Zwar packte Luan ihn mit der freien Hand an Arm, um ihn daran zu hindern zu fliehen, doch sicher würde Verrell jetzt keine unbedachten Schritte wagen, solange diese Klinge in ihm steckte – und sie stellte eine Gefahr für ihn dar.

„Wie ironisch, dass du so schlecht über Menschen redest“, machte Luan sich endlich Luft. „Dabei verhältst du dich selbst ziemlich menschlich.“

Mit seiner Ungeduld und dieser Überheblichkeit, dem hohen Maß an Selbstsicherheit, bot er viele Möglichkeiten, ihn anzugreifen. Wer zu überzeugt von sich und seinen Fähigkeiten war, musste früher oder später lernen, dass jemand diese Schwächen ausnutzen würde. Vermutlich hatte Verrell diesen Hauch von Menschlichkeit, wenn auch die negative Seite, in Ferris ungewollt von diesem erlernt.

Außerdem hatte Luan beim letzten Mal deutlich bemerkt, dass Verrell Respekt vor seiner Atem-Prägung besaß. Da er auch von dieser Atemhypnose wusste, musste er deswegen keine Sorgen vor diesen Klingen gehabt haben. Wie das jetzige Gespräch ergeben hatte, war Verrell außerdem davon ausgegangen, Luan von nun an sowieso auf seiner Seite zu haben und sich auch zukünftig nicht vor diesen Fähigkeiten fürchten zu müssen. Falsch gedacht.

„Idiot!“, zischte Verrell warnend. „Du hast das Diarium Fortunae also wirklich nicht gelesen.“

„Wenn das deine einzige Sorge ist: Stirb.“

Durch die Verschmelzung aller Klingen zu einer, hatten sich auch die Energien gebündelt. Ebenso war es mit den Gefühlen von Verrell, die absorbiert wurden und das Hellblau rot verfärbten. Purer Hass rauschte durch die Klinge und drohte auf Luan überzugehen, so stark war diese Emotion, doch er nutzte sie gegen Verrell.

Sämtlicher Hass zog sich an einem Punkt in der Klinge zusammen, ehe er förmlich explodierte und in die Geißel zurückgeschleudert wurde. Das helle Licht blendete stark und brannte in den Augen. Zum ersten Mal hörte Luan Verrell vor Schmerzen aufschreien, aber auch Ärger lag in diesem Laut.

Alles schien nur eine Sekunde lang anzudauern. Sein eigener Hass kehrte zu ihm zurück und zerfraß ihn wie heiße Lava von innen, löste eine Explosion aus, die seinen Körper zerriss.

Da stimmt was nicht, dachte Luan beunruhigt.

Es war normal, dass Atem-Traumbrecher die Gefühle derer durchleben mussten, von denen sie diese absorbierten, aber das dauerte für gewöhnlich nicht lange an. In dem Fall wollten sie nicht nachlassen. So viel Hass. Mehr als vor wenigen Tagen. Wie konnte ein einziges Wesen solch eine Intensität dieses negativen Gefühls nur aushalten? Woher nahm Verrell das?

Keuchend kniff Luan die Augen zusammen. Auch in seinem Körper brannte der Hass wie Lava. Zwar verletzte ihn das nicht so wie Verrell, aber es war kaum zu ertragen. Er wollte einfach nur, dass es aufhörte, egal wie. Sein Verstand drohte davon ertränkt zu werden und belebte etwas in ihm. Etwas, das in seinen Ohren laut wie ein Herz pulsierte.

Plötzlich stand die Welt still. Die Zeit. Das Leben.

Eine weitere Explosion, verursacht von seiner Klinge, schleuderte Luan anschließend gewaltsam zurück. Im nächsten Augenblick lag er schon auf dem Boden und atmete tief durch, sein rechter Arm zitterte heftig. Nur schleichend wich das aggressive Rot aus seiner Klinge, die noch aktiviert war.

Lange blieb Luan nicht liegen, sondern richtete sich rasch wieder auf und kam stolpernd auf die Beine. Verrell stand ebenfalls noch, wenn auch mit einem riesigen Loch in seinem Körper. Brennende Funken schwebten zu Boden und zerfielen zu Asche, der klägliche Rest dessen, was die Klinge hatte vernichten können.

Wenigstens keuchte Verrell genauso schwer wie er, es hatte ihm eindeutig geschadet.

„Du bist zu bemitleiden“, gab er angeschlagen von sich und torkelte sichtlich. „Denkst du, dass du so leicht durchschauen könntest, wie Geißeln zu bezwingen sind?“

Luan musste mehrmals blinzeln, behielt den Feind jedoch aufmerksam im Auge. Sein rechter Arm zitterte noch immer und fühlte sich steinhart an.

„Versuch gar nicht erst, mich zu verunsichern“, entgegnete Luan. „Ich bin nicht blind, du bist erledigt.“

Daraufhin versuchte Verrell zu lachen, bekam aber nur ein röchelndes Husten zustande und fluchte wütend. „Wie du willst. Dann also die harte Tour, ja? Verabschiede dich von Ferris und Bernadette.“

„Wage es ja nicht, ihnen etwas anzutun!“

Aufgrund des Hasses, den Luan über die Prägung in sich aufgenommen hatte und der erst noch nachlassen musste, konnte er bei dieser Drohung nicht ruhig bleiben. In der Ferne war ein leises Flattern zu hören, das sich vermehrte und näherkam. Die Alpträume. Sie kamen in Bewegung. Folgten sie Luans negativem Ausbruch oder eilten sie Verrell als Verstärkung zur Hilfe?

„Wo sind sie?!“, schrie Luan aufgebracht und stürmte der Geißel entgegen, für einen neuen Angriff.

Mit dieser Verletzung dürfte es Verrell schwerfallen, sich zu teleportieren oder das Refugium anderweitig als Waffe gegen Luan zu nutzen. Tatsächlich wich er diesmal aus, mit einem kräftigen Sprung zur Seite, mitten in den Metallwald aus Nägeln hinein.

„Du gehst mir echt auf den Sack! Weißt du eigentlich, wem deine Freunde diese Probleme zu verdanken haben? Ganz alleine dir!“

Verrells Stimme hallte wie ein böses Omen zwischen den Nägeln hervor und klang verzerrt.

„Lügner!“

Zielstrebig hastete Luan ihm nach. Leider war das Licht seiner Klinge nicht mehr rein genug, um diese bizarre Struktur des Refugiums einfach zerfallen zu lassen. Also nutzte Luan sie dazu, sich den Weg freizuräumen und zerschnitt sämtliche Metallnägel, die ihn dabei störten, wie Butter. Die abgetrennten Teile zerfielen dann wieder zu Asche.

„Wärst du meinen Anweisungen gefolgt, wüsstest du, dass ich nicht lüge!“

„Gib dir keine Mühe, ich vernichte dich, egal was du sagst!“

Als Luan die nächsten Metallnägel zerschnitt, tauchte Verrells Gestalt dahinter auf, doch er rannte sofort weiter und floh in den nächsten Bereich des Waldes. Hinter ihm verglühten weitere Funken seines Körpers, anscheinend fiel er durch die Bewegung allmählich auseinander. Lange könnte er dieses Spiel also nicht treiben. Nicht, wenn Luan alles niedermähte und ihm somit jede Möglichkeit nahm, sich vor ihm zu verstecken. Daher verfolgte er Verrell weiter und vollführte einen Hieb nach dem anderen.

„Ha, klar, das dachte ich mir. Darum haben wir es dir nicht selbst gesagt, weil du uns sowieso nicht glauben würdest.“

„Hör auf, ständig über mich zu reden!“, befahl Luan. „Hier geht es nicht um mich!“

„Doch, das tut es. Es geht ganz allein um dich. Alles passiert nur wegen dir.“

Zwischen den Nägeln sprangen unterdessen Alpträume hervor, die ebenfalls in diesen Wald vordrangen. Es waren abscheuliche Gestalten, auf die Luan jeweils nur flüchtig einen Blick erhaschen konnte, so schnell zerschnitt er sie zusammen mit dem Metall. Wie sie genau aussahen, interessierte ihn momentan ohnehin nicht.

„Soll ich es dir verraten?“

„Nein!“

Davon ließ Verrell sich nicht abhalten, natürlich tat er es trotzdem: „Über uns Geißeln existiert noch ein höherer Rang, den nur ein einziger Alptraum trägt. Das Wort Zerstörung dürfte bei dir diesbezüglich doch einiges triggern, nehme ich an.“

Schlagartig erschlafften Luans Glieder und verloren ihre Kraft, er musste stehenbleiben. Ja, dieses Wort löste eine Reaktion in ihm aus. Eine, die er nicht benennen konnte. Schon als Rowan es in einem Satz erwähnt hatte, war dieses Gefühl aufgekommen. Ihm fehlte die Konzentration, sich darauf überhaupt einzulassen, zumal Luan erst im Stillstand bemerkte, dass die Ablagerung wieder zu wachsen angefangen hatte. Ihre Hitze raubte ihm die Luft zum Atmen, vor seinen Augen flimmerte alles.

Seltsamerweise blieben die Alpträume in der Nähe genauso reglos wie er und griffen nicht weiter an, sondern beobachteten ihn fasziniert. Er konnte nach wie vor ihre Gestalt nicht genau erkennen, doch er glaubte halbwegs entstellte, tierische Figuren auszumachen. Unter ihnen befand sich auch Verrell, er wirkte zwischen diesen Wesen beinahe wie eine engelsgleiche Schönheit.

„Ja, du solltest dich nicht so aufregen“, riet Verrell, mit einer Mischung aus Spott und Verständnis. „Sonst bist du bald erledigt. Das, was da auf deinem Körper wächst, ist nämlich ein Fluch.“

Ein Fluch?

Warum hatte Vane niemals sagen können, was es war, Verrell jedoch schon? Beide waren Geißeln. Log letzterer nur oder gehörte diese Antwort zu den Fakten, vor denen Vane ihn schützen wollte?

Leises Getuschel entstand unter den Alpträumen, sie schienen aufgeregt zu sein.

„Eine Schutzfunktion sozusagen“, erklärte Verrell unaufgefordert weiter. „Sobald die Gefahr besteht, dass du außer Kontrolle gerätst, weitet der Fluch sich aus, bis er dich komplett in einem ausbruchsicheren Gefängnis eingeschlossen hat, aus dem du mit eigenen Kräften nicht mehr herauskommen kannst. So wirst du unschädlich gemacht.“

Erschöpft stand Luan da, unfähig sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Automatisch kamen ihm die Bilder dieser Obelisken aus einer Ebene der Traumwelt in den Sinn, durch die er in Athamos gewandert war, um das Geißel-Ei und Mara zu suchen. Bestand zwischen Luan und diesen Türmen also wirklich eine Verbindung? Zumindest hatte alles in diesen Ebenen dazu gedient, seine Ängste zu nähren, so viel wusste er.

„Du solltest lernen, mit dem Wahnsinn richtig umzugehen.“ Einladend breitete Verrell die Arme aus. „Wer könnte das besser, als wir Alpträume? Wir können dir helfen.“

„Woher ... kommt dieser Fluch?“, brachte Luan heiser hervor.

„Das ist eine etwas längere Geschichte, aber in gewisser Weise von dir selbst. Von ihm.“

Von wem? Etwa diesem Kian? Verrell wusste die Antwort, warum sagte er es ihm nicht? Vielleicht könnte Luan ihm glauben und hätte Ruhe vor dieser Ungewissheit. Genau, Ruhe. Alles, was er jemals wollte, war ein ruhiges und friedliches Leben mit einer Familie. Allerdings stand er hier, im Alltag eines Traumbrechers und voller Verwirrung. Sein Kopf schmerzte.

Derweil ging Verrell einen Schritt auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Beruhige dich jetzt und komm. Ich gebe dir alle Antworten, die du willst. Dann kann dein Leid ein Ende haben.“

Unsicher blickte Luan nach vorne. Seine Sicht war noch etwas verschwommen, doch dank der hellblauen Sichtebene der Taschenuhr hielt sich das einigermaßen in Grenzen. So konnte er auch die rötliche Aura sehen, die von Verrell ausging. Sah man genauer hin, könnte man annehmen, er stehe in Flammen. Wild zuckten sie empor und vereinten sich mit der Dunkelheit, verdichteten sie noch mehr.

Ein trauriger, trostloser Ort, wo selbst die Hoffnung verloren scheint. Genau wie im Waisenhaus damals.

Nein.

Ohne Vorwarnung schwang er Verrell erneut die Atem-Klinge entgegen, statt seine Hand zu ergreifen. So leicht machte er es der Geißel nicht. Diesmal reagierte Verrell schnell, als hätte er diese Handlung vorhergesehen, und fing den Angriff mit beiden Händen ab, wenn auch sichtlich entkräftet, durch die schwere Verletzung. Wieder floss Röte in die Klinge hinein und berauschte Luan mit Hass.

„Willst du dich wirklich selbst vernichten?“

„Wenn das hilft, dich auszulöschen, stört mich das nicht. Du bist das reine Böse“, urteilte Luan überzeugt. „Ich lasse dich nicht entkommen.“

Ich bin der Böse, ja?“, betonte Verrell eingeschnappt, den Schmerz unterdrückend. Wegen der direkten Berührung zu der Klinge begannen seine Hände zu verkohlen, wie zuvor bei seiner Brust. „Wer von uns hat denn mit einer Energiekugel auf die gute Bernadette geschossen? Weißt du eigentlich, was du damit angerichtet hast? Du hast sie quasi auf dem Gewissen. Dank deinem Schuss hast du die Geißel in ihr entfesselt, Bernadette wird schon längst gebrochen sein.“

Ungläubig schüttelte Luan den Kopf. „Was?“

„Ganz recht, mein Guter.“ Boshaft grinste Verrell ihn an. „Dein Schuss hat sie getötet. Und weißt du, was mit den Seelen von gebrochenen Menschen passiert? Sie irren entweder orientierungslos auf ewig zwischen den Welten umher oder wandeln als Trugmahre herum.“

Ruckartig riss Luan die Klinge aus Verrells Händen. Während dieser dadurch um sein Gleichgewicht kämpfte, rammte Luan ihm seine Waffe gezielt zwischen die Schlüsselbeine. Sein eigener Körper begann innerlich zu beben und wurde gänzlich vom Hass verschüttet, wodurch das Wachstum der Ablagerung, dieser angebliche Fluch, weiter angekurbelt wurde. Er fühlte sich immer schwerer und steifer, jedoch verschleierte der Hass die Angst davor.

Du redest zu viel, dachte Luan genervt. Stirb endlich!

Röchelnd hing Verrell in der Klinge, zeigte aber keine Furcht vor dem Tod, sondern starrte ihn gefühllos an. „Idiot. Wenn ich nicht für Zerstörung sorge, dann wirst du es eh selbst tun, Weltenbrecher.“

„Weltenbrecher?“, wiederholte er wie hypnotisiert

In Luans Kopf hallte eine Stimme wider und stimmte dieser Aussage zu: So ist es. Egal, wie sehr du dich anstrengst, du wirst verlieren.

Es war ein Satz, den er schon einmal gehört hatte. Vor langer Zeit. Ein verwüstetes Schlachtfeld tauchte vor seinem inneren Auge auf, begleitet von etlichen Momentaufnahmen eines Kampfes. Die Bilder überlagerten sich und rauschten viel zu schnell vorbei, als dass er sie erfassen könnte. Allerdings war Bernadette ebenfalls dort und neben Luan selbst eine weitere Person. Sie sah aus wie sein Zwilling, nur mit stechend roten Augen und der Ausstrahlung eines Dämons. Kian. Bislang hatte Luan ihn nur einmal im Traum gesehen.

Ich halte das nicht aus.

Luan war mit alldem überfordert. Zu viele verschiedene Eindrücke wirkten auf ihn ein. Zu viele Regungen herrschten in seinem Körper. Zu viele Emotionen brachten ihn durcheinander. Zu viel. Er hatte sich wirklich zu viel zugemutet. Warum war er ganz alleine hierher gekommen?

Dann breche doch einfach, schlug das Wesen namens Kian vor, das in ihm lebte. Ruck Zuck hast du für immer Ruhe und stehst nicht mehr im Weg.

Bevor Luan tatsächlich aufzugeben gedenkte, erklang eine andere, wesentlich gutmütigere und vertraute Stimme in seinem Geist: Mara.

Du musst keine Angst haben, beruhigte sie ihn. Du bist nicht allein. Wir sind bei dir.

Ihre Worte schafften Frieden in dem Chaos, das ihn heimgesucht hatte. Aus der Ferne sandte Mara ihm positive Gedanken und stand ihm bei. Im Wagen hatte Luan sich über die Taschenuhr mit ihr und Naola verbunden, um zusätzliche Energiequellen und somit eine Absicherung zu haben, falls etwas schieflaufen sollte. Sonst wären Ferris und Bernadette verloren.

Komm schon, Luan! Du kannst es schaffen, feuerte Naola ihn an. Hol Precious da raus!

Heilsam breiteten sich die Gefühle der beiden in ihm aus und konnten von seiner Atem-Prägung in Energie umgewandelt werden. Jeglicher Hass schwächte ab, wurde von Hoffnung und Vertrauen überflügelt. Das Hellblau kehrte zurück und strahlte kräftiger als je zuvor, es kleidete das Refugium allmählich in Weiß ein und erhellte die Dunkelheit.

Luan dankte Mara und Naola im Geiste. Sein Verstand war wieder klar genug, um dem ein Ende zu setzen.

Anscheinend war er irgendwann nach hinten geschwankt und gefallen, denn er lag wieder auf dem Boden, wie er feststellte, mit der Klinge an seinem Arm. Sofort sorgte er dafür, dass er auf die Beine kam und suchte mit seinem Blick nach Verrell. In der Zwischenzeit musste er etwas getan haben, zumindest stand er nicht mehr vor Luan und auch die Alpträume waren verschwunden. Vor ihm lagen nur noch die Metallnägel und warfen durch das Licht seiner Prägung lange, schmale Schatten.

„Einfach lächerlich“, hörte er Verrell sagen.

Feiner Traumsand rieselte von oben hinab. Luans Blick folgte der Stimme und entdeckte die Geißel über sich auf einem der Metallnägel, von der sich die Spitze blütenartig aufgespalten hatte und für ihren Erschaffer einen Standplatz bot. Missbilligend runzelte Luan die Stirn, irgendwie konnte Verrell seinen Körper halbwegs regenerieren und sah nicht mehr allzu verletzt aus.

„Hast du die Alpträume verschlungen?“, vermutete Luan.

„Du bist ein kluges und aufmerksames Kerlchen“, lobte Verrell ihn halbherzig.

Es mochte ein Rückschlag für Luan sein, doch half der Geißel diese Regeneration dennoch nicht. Schweigend hob er den rechten Arm in die Luft und bat Mara und Naola um noch mehr Energie. In Sekundenschnelle erhöhte sich die Strahlkraft und war kaum noch mit offenen Augen auszuhalten. Allein mit ihrem Licht sorgte die Klinge dafür, dass das Refugium Risse bildete und Stück für Stück zerbrach.

Auch auf Verrells Haut bildete sich Bräune, so dass sein Körper sich bald einfach mitsamt diesem Höllenloch auflösen sollte. Trotzdem blieb er überraschend siegessicher.

„So kannst du mich nicht besiegen“, behauptete Verrell und zuckte mit den Schultern. „Selbst Schuld, du hättest es ganz leicht herausfinden können. Ah, übrigens: Du solltest das Refugium nicht einfach zerstören, wenn du deine beiden Lieblinge noch retten willst.“

Hörte dieser Kerl irgendwann mal auf zu reden? Andauernd kam er mit neuen Offenbarungen und Behauptungen um die Ecke, darauf hatte Luan keine Lust mehr. Unbeirrt machte er weiter und ließ sich nicht nochmal in ein Gespräch verwickeln, was Verrell äußerst entzückend zu finden schien.

„Plötzlich wieder so entschlossen? Putzig.“ Schwungvoll hob er einen Arm und beobachtete wie dieser langsam zu Asche zerbröckelte. „Ich bin fairer, als du annimmst. Ich habe Ferris und Bernadette längst in diese Ebene geholt. Es könnte ihrer Seele ernsthaft schaden, wenn du sie so plötzlich aus ihrer Trance reißt. Tja, bei Bernadette ist es ja schon zu spät, wegen dir.“

Widerwillig hielt Luan nun doch inne. Wann sollte Verrell sie hierher geholt haben? Etwa als die Spiegel durch das Auftauchen der Metallnägel zersplittert waren? Immerhin konnte er Ferris und Bernadette sie zuletzt darin sehen, also beinhalteten sie vielleicht eigene Räume des Refugiums, in die Verrell sie eingesperrt hatte.

Ohne Luans Zutuns löste sich die Atem-Klinge von seinem Arm, spaltete sich in die ursprünglichen sechs Teile und schoss auf Verrell zu, was ihn dazu zwang sich zu bewegen, wenn er nicht nochmal durchbohrt werden wollte. Verwundert sah Luan zu, wie die Geißel damit beschäftigt war auszuweichen, doch er bekam kurz darauf eine Erklärung für dieses Verhalten seiner Prägung:

Wir werden uns um ihn kümmern, versicherte Mara ihm. Wir passen auf, dass er nicht flieht. Geh und suche nach Ferris und Bernadette.

Dagegen hatte Luan nichts einzuwenden und nickte sich selbst zu. Während er herumfuhr und loszog, um die beiden Gefangenen zu finden und zu befreien, öffnete er den Deckel seiner Taschenuhr. Sollte Verrell recht haben und das Refugium durfte nicht zerstört werden, solange die anderen noch in Trance waren, musste vorerst die Pistole zur Verteidigung genügen, mit der physischer Schaden vermieden wurde.

Was, wenn für Bernadette wirklich jede Hilfe zu spät kam? Er durfte sich von diesen Sorgen nicht wieder einnehmen und unterkriegen lassen, aber er konnte es auch nicht ignorieren. Wie sollte er das Mara beibringen? Hatte sie es bereits mitbekommen?

Das Ganze schrie nach einer neuen Falle von Verrell. Trotzdem ...

Bernadette ... bitte, sei am Leben.

Ich zerstöre euch alle!

Luan plante, zurück zu den zerbrochenen Spiegeln zu gehen und sich die Scherben genauer anzuschauen, denn er wusste nicht, wo er ansonsten im Refugium mit der Suche anfangen sollte. Er müsste ziellos alles abgrasen, was die schlechteste Option wäre. Dieser Ort könnte inzwischen viel zu groß geworden sein, wodurch sich das Erkunden in die Länge ziehen würde, oder sich jederzeit wieder verändern und ihn somit zwingen von vorne zu beginnen. In der Zwischenzeit wären Ferris und Bernadette dann vielleicht wirklich schon verloren.

Daran sollte er aber nicht denken. Immerhin unterstützten Mara und Naola ihn tatkräftig mit positiven Gefühlen und Gedanken, wofür sie sich ebenso anstrengen mussten, weil das einiges an Konzentration erforderte. Besonders über die getrennten Ebenen hinweg, zwischen Realität und Refugium. Lange hielten sie das wahrscheinlich nicht aus.

Ein spöttisches Gelächter hallte über den Nagelwald hinweg, der größtenteils von Luan gestutzt worden war. Anscheinend glaubte Verrell immer noch an seinen Sieg und nahm diesen Rückschlag gar nicht als solchen wahr, sondern amüsierte sich vielmehr an den Geschehnissen.

Wie zuvor ertönte Verrells Stimme als ein verzerrtes Echo aus der Ferne: „Denkt ihr etwa ernsthaft, Hass lässt sich so leicht mit euren guten Gefühlen überschreiben? Oh nein.“

Die letzten beiden Worte wurden von einem Laut begleitet, der nach Genugtuung klang. Zeitgleich begann die Umgebung plötzlich stark zu flimmern, wie bei einem alten Film, und ein unangenehm lautes Rauschen erzeugte zusätzlich den Effekt eines Störbildes bei einem alten Fernsehgerät.

Trotz dieser beunruhigenden Zeichen rannte Luan weiter, ohne sich davon aufhalten zu lassen und blieb wachsam. Erst als sich auch noch sämtliche Farben umkehrten und das Schwarz sich um ihn herum zu Weiß wandelte, musste er innehalten. Dieser abrupte Farbwechsel schmerzte in den Augen, doch das hielt nur wenige Atemzüge lang an.

Erneut veränderten sich die Farben, Weiß und Schwarz vermischten sich zu einem wabernden Ganzen, überzogen von einem bunten Schleier, der an Seifenblasen erinnerte. Was plante Verrell damit schon wieder? Oder brach das ganze Refugium auf einmal zusammen? Dessen Schöpfer musste vorhin eine schwere Verletzung einstecken, also wäre das ein gutes Zeichen für Luan.

„Hoffnung ist so eine naive Einstellung“, kicherte Verrell düster. „Überlege doch mal: Was passiert, wenn man Gutes und Böses mischt? Chaos. Und du weißt doch, wie intensiv Traumwelten auf Gefühle reagieren. Mit Refugien ist das nicht anders.“

Also entstanden diese merkwürdigen Veränderungen durch Luan? Das würde bedeuten, mit seiner Prägung hatte er Verrells Hass und die Hoffnung, die er von Mara und Naola bekam, miteinander vermischt. Dabei spürte Luan gerade nur die gutartigen Energien, aber vielleicht kämpfte sich der Gegenpart bereits zurück an die Oberfläche und schaffte damit einen Konflikt.

Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Zielstrebig lief Luan weiter und kam schließlich bei den Scherben der Spiegel an. Dort kniete er sich auf den Boden und sammelte ein großes Stück Glas auf, um es sich aus der Nähe anzusehen. Obwohl diese Scherben besonders sein müssten, wirkten sie vollkommen gewöhnlich. Hatten sie beim Zerbrechen ihre Funktion verloren?

Suchend ließ Luan kurz den Blick über die Umgebung schweifen, konnte jedoch nichts entdecken, was auffälliger wäre als die Glasscherben. Darum sah er nochmal auf das Stück hinab, das er in der Hand hielt, und erschrak innerlich.

Sein Spiegelbild hatte sich verändert und zeigte eine andere Version von ihm, zweifelsohne diesen Kian. Grimmig erwiderte dieser sein Starren, mit dem er deutlich aussagte, dass er Luan am liebsten eigenhändig zerfetzen wollte. Sollte Kian auch eine Geißel sein, schien er ebenso bösartig zu sein wie Verrell.

Ich warte immer noch“, drang Kians Stimme dumpf aus der Scherbe hervor. „Breche endlich!

„Nun dränge ihn doch nicht so“, reagierte Verrell irgendwo im Refugium auf diese Beschwerde, die nicht mal an ihn gerichtet war.

Halt du ja schön die Klappe!“, zischte Luans Spiegelbild, von Zorn erfüllt, der seine roten Augen unheilvoll zum Glühen brachte. „Du hättest mir ruhig mal sagen können, dass du so genau weißt, was es mit diesem verdammten Gefängnis auf sich hat, in dem ich hier verrotte! Von diesem Fluch hätte ich gern gewusst, so viel zur Zusammenarbeit.

Luan zwang sich unterdessen zur Ruhe, auch wenn Kians Anblick ihm Angst einjagte. Es weckte verlorene Erinnerungen an einen gnadenlosen Kampf mit ihm, den er vergessen hatte. Ausgerechnet in dieser Situation wollte er sich nicht an vergangene Bilder entsinnen, sonst geriet das Refugium wegen ihm schlimmstenfalls noch mehr aus den Fugen.

„Kian, bitte“, stöhnte Verrell genervt. „Ich kann nichts dafür, dass du nicht mit demselben Wissen beglückt bist wie ich. Übrigens hätte das sowieso nichts an deiner Lage geändert, du warst eben noch ein Teil von Luan und deshalb schließt dich der Fluch natürlich mit ein, wenn die Gefahr besteht, dass der Weltenbrecher durchdreht.“

Kian schwieg, allerdings schienen ihm tausend Dinge durch den Kopf zu gehen, sollte Luan seinen Gesichtsausdruck richtig deuten. Er beschloss, die beiden vorerst zu ignorieren und sich weiter auf Ferris und Bernadette zu konzentrieren. Als er die Scherbe in den Händen ein wenig hin und her drehte, bemerkte er dabei etwas Leuchtendes, das nur in bestimmten Winkeln in dem Spiegelstück erschien.

Schnell erkannte Luan, wie er es halten musste, so dass er zwei rot leuchtende Fäden sehen konnte, die sich unsichtbar aus den Spiegeln heraus über den Boden zogen. Nicht mal seine Taschenuhr hatte ihm dabei geholfen, sie zu bemerken. Woran mochte das liegen?

Im Hintergrund stritten Verrell und Kian sich immer mehr, doch er hörte ihnen nicht mehr zu, auch wenn es interessant wäre. Sicher könnte er noch einige neue Informationen herausfiltern, aber womöglich versuchten sie mit ihrem Gespräch nur, ihn abzulenken. Lieber setzte er seine Priorität bei der Rettung seiner Gefährten und folgte, dank der Glasscherbe als Hilfsmittel, den Fäden durch das Refugium.

Dieser Weg war mit Erfolg gekrönt: Sie führten ihn direkt zu Ferris und Bernadette, die nicht weit entfernt in einem Teil des Nagelwaldes lagen, in dem er sich zuvor nicht bewegt hatte. Demnach waren die einzelnen Bäume in diesem Bereich noch hoch gewachsen, durch die Instabilität des Refugiums schien das Metall jedoch seine Härte verloren zu haben. Wie vertrocknete Blumen waren die einzelnen Nägel nach unten geknickt.

Kaum erblickte Luan die reglosen Körper von Ferris und Bernadette, hastete er zu ihnen hinüber. Einige Alpträume belagerten sie und klebten teilweise sogar an ihnen, als würden sie die beiden aussaugen wollen. Nur ein paar Schüsse aus seiner Pistole waren nötig, um diese schattenhaften Missgestalten aus dem Weg zu räumen und in Traumsand zu verwandeln. Sie waren derart vertieft gewesen, dass sie Luans Auftauchen nicht bemerkt hatten.

Zuerst hockte er sich danach neben Ferris und prüfte dessen Lebenszeichen. Er konnte erleichtert aufatmen, sein Freund war nicht tot, sondern schlief nur. Wobei das nicht unbedingt besser war, wenn er in einem schrecklichen Alptraum gefangen sein sollte. Falls diese Wesen vorhin zur Gattung der Dunstmahre gehörten, hatte Verrell sie bestimmt dazu genutzt, die Träume von Ferris und Bernadette zu manipulieren.

Dunstmahre waren darin wahre Meister. Zwar konnten sie ihre Handlungen nicht auf die Realität ausweiten und befielen nur Trübträume, aber gerade deswegen galten sie als gefährlich. Menschen, die nicht wussten, dass sie träumten, nahmen diesen Zustand häufig als real wahr, was sie zu leichten Opfern für einen Dunstmahr machte. Er trieb die Menschen gern in den Wahnsinn und hinderte sie leicht daran, überhaupt wieder aufzuwachen, weil der Träumer davon überzeugt war schon in der Wirklichkeit zu sein. Das war heikel.

Ferris trug seine Taschenuhr um den Hals und Luan musste mit Entsetzen feststellen, dass sie tickte. Eine Menge Zeit war verstrichen, Ferris hatte kaum noch welche übrig. Sofort schloss Luan für ihn die Uhr und deaktivierte sie. Bei der Berührung flossen kurzzeitig die Emotionen von Ferris auf ihn über, sie waren geprägt von Sehnsucht und Angst.

Alles wird gut, dachte Luan zuversichtlich, in der Hoffnung, diese Worte erreichten Ferris in seinem Traum. Du schläfst nur. Wach einfach auf, okay?

Im Augenwinkel konnte Luan flüchtig wahrnehmen, wie einer der Fäden in der Reflektion der Scherbe verblasste und verschwand. Waren sie mit den Taschenuhren verbunden? Konnte eine Geißel wirklich so weit gehen und sein Refugium mit der Seele eines Traumbrechers verbinden? Allein die Vorstellung war unheimlich.

Wenigstens atmete Ferris allmählich etwas ruhiger als zuvor, also verließ Luan seine Seite vorerst wieder und huschte zu Bernadette hinüber. Ihre Uhr war ebenfalls aktiv, was er änderte und sie zum Stoppen brachte – seltsamerweise erfuhr er durch die Berührung bei ihr nichts von ihren aktuellen Emotionen, ihr Herz fühlte sich nur auffallend kalt an. Auch bei ihr verblasste der Faden im Spiegel und verschwand spurlos, was hoffentlich bedeutete, dass die beiden endlich vom Refugium getrennt waren.

Du hast auch so viel Zeit verloren ... aber du solltest damit besser zurechtkommen.

Liefen die Taschenuhren etwa seit Verrell sie hier eingesperrt hatte? Das konnte nicht sein, in dem Fall hätte keiner von ihnen überhaupt noch Traumzeit übrig. Zwischendurch musste ihre Zeit durchaus angehalten haben. Vermutlich aktivierten die Uhren sich jedes Mal, sobald sie in ihren Alpträumen dazu gezwungen waren sich zu verteidigen und weil ihr Geist diese Lage als ernstzunehmende Gefahr einstufte, reagierten ihre Energiequellen darauf hier in der Realität. Dunstmahre konnten also auch Traumbrecher in die Irre führen.

Wieder wollten ihm Bilder durch den Kopf spuken, durch die Ereignisse aus der Vergangenheit wachgerüttelt werden sollten. Damals musste er schon einmal festgestellt haben, wie bedrohlich Dunstmahre für Menschen und Traumbrecher gleichermaßen sein konnten. Wie zuvor schien es sich dabei nur um schlechte Erinnerungen zu handeln.

„... Luan?“, hauchte eine ihm vertraute Stimme schwach und unterbracht somit den Ablauf der Bilder abrupt.

Bernadette war aufgewacht, im Gegensatz zu Ferris. Anscheinend besaß sie wesentlich mehr Willensstärke als er. Eigentlich sollte Luan sich darüber ärgern, dass sie als Verräterin als erstes erwachte, aber er war vielmehr froh darum. Durch ihr blasses Gesicht und die Erschöpfung in ihren Augen wirkte sie mehr tot als lebendig. Ihr Blick schien sogar beinahe leer zu sein.

„Ja“, antwortete er knapp und sah sie besorgt an. „Wie geht es dir?“

In der Frage lag die stumme Bitte versteckt, dass sie durchkommen sollte. Ihm kamen Verrells Worte wieder in den Sinn. Er wollte nicht schuld daran sein, falls Bernadette hier wegen ihm starb, nur weil er auf sie geschossen hatte. Bestimmt hätte sie noch mehr Kraft zur Verfügung, ohne seinen Angriff. Immerhin raubte sie einst vielen anderen Traumbrechern ihre Zeit und musste daher mehr als genug zur Verfügung haben, doch ihre Uhr zeigte die gewohnten sechs Stunden an.

„Es tut mir leid“, brachte Bernadette mühevoll hervor und hob zitternd eine Hand, die sie an Luans Wange legte. Er wehrte sich nicht dagegen. „Was ich damals getan habe ... ich wollte dich nicht verletzen.“

Wieso kam sie nun auf dieses Thema zu sprechen? Hatte sie seine Gedanken gelesen?

So gern er mehr erfahren hätte, Luan musste bei der Sache bleiben und ging nicht auf ihre Worte ein. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, wir müssen hier raus.“

Nach dieser Aussage wollte er aufstehen und sich um Verrell kümmern, das Ganze beenden. Aber Bernadette hielt ihn am Arm fest, mit ihren letzten Kraftreserven.

„Warte, bitte.“ Selbst das Atmen schien ihr schwerzufallen. „Hör mir zu.“

Luan wollte ihr widersprechen, doch er konnte nicht. Sie gab sich alle Mühe mit ihm zu sprechen. Insgeheim wünschte er sich, sie würde ihn so fröhlich ansehen wie damals und ihre altbekannten Späße machen. Selbst ihre lockigen Haare hatten ihre Form verloren und ähnelten nur noch einem Haufen Stroh, den man unmöglich wieder richten könnte.

Da er nichts sagte, nahm sie das als Anlass dafür weiterzusprechen: „Ich habe dich nur beschützen wollen, deshalb stahl ich den anderen ihre Traumzeit.“

„Mich?“, reagierte Luan ratlos. „Wovor?“

„Vor einem Monster ... allein mit meinen Fähigkeiten hätte ich es niemals in Schach halten könnten.“

Instinktiv fiel sein Blick auf die Scherbe, die er noch in der Hand hielt. Etwa vor Kian? Zumindest wäre das eine logische Schlussfolgerung. Langsam wurde ihm bewusst, wie viel Macht und Einfluss eine Geißel wirklich ausüben konnte. Wenn selbst jemand wie Bernadette zusätzliche Kräfte benötigte, nur um einen Feind auf Abstand zu halten, musste das einiges bedeuten. Nicht umsonst galt sie als eine der besten Schöpfer unter den Traumbrechern.

„Egal, was du eines Tages hören magst“, begann Bernadette, musste jedoch schwer husten und sich selbst unterbrechen.

Achtlos warf Luan das Spiegelstück weg und legte auch die Pistole zur Seite, damit er ihr mit beiden Händen ein wenig in eine aufrechte Position helfen konnte. So sollte sie etwas besser Luft bekommen.

Ein müdes Lächeln drückte ihren Dank für diese Geste aus, bevor sie einfach mit dem Reden fortfuhr: „Lasse dir niemals einreden, ich hätte es nur für andere getan oder für die eine, große Sache. In erster Linie tat ich es für mich selbst, denn ich bin ein sehr egoistischer ... Mensch. Weißt du ...“

Bernadette schloss träge ihre Augen, ihr Lächeln blieb bestehen. „Ich und Edge, wir wollten immer Kinder haben, aber ich konnte keine bekommen. Als ich dann dich traf, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, für jemanden wie eine richtige Mutter sein zu können. Du brauchtest diese Fürsorge so sehr und mich hat diese Aufgabe mit Glück erfüllt. Darum wollte ich dich beschützen, weil ich dich so lieb habe.“

Jegliche Wut und Schmerzen, unter denen Luan seit ihrem Verrat gelitten hatte, lösten sich gänzlich in Luft auf, denn er glaubte ihr. Jedes Wort. In ihrer Stimme spürte er dieselbe Zuneigung wie aus alten Tagen und er wusste einfach, dass sie nicht log. Plötzlich schämte er sich dafür, so lange an ihr gezweifelt und ihr Vorwürfe gemacht zu haben. In Wahrheit war alles seine Schuld.

Ohne die Atemhypnose hätte er ihr bestimmt früher Gehör geschenkt und auf seine Gefühle vertraut.

„Verzeih mir“, sagte Luan heiser, seine Stimme zitterte leicht. „Okay? Jetzt hör auf, so zu reden. Ferris würde sicher sagen, dass nur Sterbende in solchen Momenten Dinge dieser Art erzählen, also lass es bitte. Wir sollten wirklich hier raus.“

Nach und nach wurde Bernadettes Atem ruhiger. Zu ruhig, anders als bei Ferris. Schleichend geriet er in Stillstand.

„Es ist schon gut“, entschuldigte sie sich leise. „Du wirst nicht mehr alleine sein.“

Jedes Wort klang leiser und leiser, bis ihre Stimme schließlich mit dem letzten erstickte. Hilflos spürte Luan, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte und kein Funken Kraft mehr übrigblieb. Ungläubig schüttelte Luan den Kopf.

Sie atmete nicht mehr.

Unmöglich.

Traumbrecher konnten nicht so einfach sterben, es sei denn, ihre Uhr wurde zerstört oder befand sich zu weit von ihnen entfernt. Besonders Bernadette konnte mit all der ergaunerten Zeit nicht hier und jetzt ihr Leben verlieren. Wie sollte das funktionieren? Vorsichtshalber kontrollierte Luan nochmal ihre Taschenuhr und vergewisserte sich, dass sie noch Zeit übrig hatte. Woran war also gestorben?

Genau wie vorhin fühlte ihr Herz sich kalt an, was nicht normal war.

Mein Schuss? Schlagartig wurde ihm übel. Ist ihre Seele zerbrochen, wie Verrell behauptet hat? Nein. Nein, das kann doch nicht sein.

Alles in ihm sträubte sich dagegen, das zu glauben. Müsste ihre Taschenuhr nicht irgendeinen Schaden davontragen, wenn es so wäre? Außer dieser Kälte? Immerhin war das ihr Herz und noch schien es intakt zu sein. Nervös fing er an sie zu schütteln und versuchte sie aufzuwecken, sie könnte nur in einen Tiefschlaf gefallen sein.

„Bernadette. Bernadette, komm schon.“

Es kam ihm unwirklich vor. So weit durfte es nicht kommen, niemand sollte sterben. Dafür war Luan zurückgekommen und nicht um trotzdem so etwas erleben zu müssen. Zum ersten Mal wäre er mehr als dankbar, könnte er wirklich nur in einem furchtbar langen Alptraum feststecken. Das durfte nicht die Wirklichkeit sein.

„Wach auf!“, rief Luan verzweifelt. „Bernadette!“

Nichts.

Bernadette war tot. Einfach so.

Mama ...

Vorsichtig legte er sie wieder auf den Boden ab und rang um seine Selbstbeherrschung. Schwankend richtete er sich auf und atmete schwer, beide Hände zu Fäusten geballt. Längst waren die Stimmen von Kian und Verrell verstummt, sicher hatten sie mitbekommen, was los war. Wahrscheinlich amüsierten sie sich sogar darüber.

Dieser Gedanke war es, der Luan in Rage versetzte.

Aufgebracht fuhr er herum und schrie in die Weiten des Refugiums: „Ich hab die Schnauze voll von deinem scheiß Spiel! Was soll das hier werden?! Führst du ein dramatisches Theaterstück auf, ist es das?! Seid ihr so wild darauf, mich brechen zu sehen?! Lieber werde ich wahnsinnig und zerstöre euch alle, bevor ich von einem Fluch eingesperrt werde!“

Eine brennende Hitze erfasste seinen Körper, ausgelöst von der schwarzen Ablagerung. Tatsächlich reagierte sie abermals sofort auf seinen Gefühlsausbruch und regte sich, zog sich unangenehm zusammen und engte ihn ein. Im Moment war das Luan völlig egal, er kochte vor Wut und würde erst recht explodieren, wenn er das zu verdrängen versuchte.

„Habt ihr kapiert?! Ich vernichte euch! Ich vernichte euch! Ich zerstöre euch alle!“

Aus der Ferne flogen die Atem-Klingen herbei und kehrten an seinen rechten Arm zurück, wo sie sofort sämtliche Farben verloren. Einen Augenblick lang blieben sie unbeschrieben und verschwanden ins Nichts, bis sie anfingen golden zu strahlen. Um ihn herum schmolzen die Metallnägel in sich zusammen und bildeten auf dem Boden einen See aus wirren Farbkombinationen.

Da war es schon wieder.

Ein Herzschlag.

Luan hörte es laut und deutlich, in seinem Geist. Es kam direkt aus seiner Seele und schärfte all seine Sinne. Bei jedem Herzschlag nahm das Strahlen seiner Klingen zu und wurde von einer Energie durchflutet, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte, dennoch kam sie ihm bekannt vor. Sie war unbeschreiblich.

Er hörte die gesamte Welt atmen.

Er erlebte sämtliches Glück und Schmerz.

Er drohte sich darin zu verlieren.

Automatisch bewegte sich Luans Körper und feuerte die goldenen Klingen ab. Spielend rissen sie das Refugium auseinander, innerhalb von Sekunden, als wäre es nur eine simple Leinwand. Von überall regneten pechschwarze Splitter herab und weißer Traumsand wirbelte herum – auch kein Alptraum blieb verschont. Seine Klingen zogen jeweils einen Schweif aus glühenden Funken hinter sich her.

Der Prozess dieser Zerstörung ließ sich kaum mit den Augen verfolgen, es geschah so schnell, dass Verrell bald keine Versteckmöglichkeit mehr blieb. Finster fixierte Luan die Geißel mit seinem Blick, das Refugium war Geschichte. Haufenweise Splitter flogen weiterhin durch die Gegend und lösten sich nach und nach auf, sobald sie den Boden oder etwas anderes berührten.

Luan, Verrell, Ferris und Bernadette befanden sich im Keller des Buchladens, zurück in der Welt der Lebenden. So war es von Anfang an geplant gewesen.

„Beeindruckend, aber nicht verwunderlich, bei dir“, kommentierte Verrell das Ganze gewohnt kühl. „Du bist ja auch ein hohes Tier, nicht wahr? Zwecklos ist es trotzdem, diese Stadt gehört schon mir.“

Statt etwas darauf zu erwidern, zögerte Luan nicht und griff ihn mit seinen Klingen an. Bevor sie die Geißel aber erreichen und durchbohren konnten, tauchte sie geschwind in den Schatten ab, womit sie erfolgreich auswich. Instinktiv wollten die Klingen Verrell folgen, rammten sich jedoch nur tief in den festen Boden hinein und blieben dort stecken, bei Luan im Raum.

Das konnte nicht wahr sein. Nach all diesem Ärger gelang dem Feind wirklich so leicht die Flucht? Noch immer wagte Verrell es offensichtlich, mit Luan zu spielen und so zu tun, als hätte er jede mögliche Wendung vorher kommen sehen und mit eingeplant. Diese Selbstsicherheit machte ihn verrückt.

„Egal, wo du dich versteckst, ich werde dich finden“, knurrte Luan hasserfüllt. „Hörst du mich?! Ich zerstöre jedes Refugium in dieser Stadt, bis ich dich erwische!“

Hierbei handelte es sich nicht mehr nur um ein Spiel oder eine Mission von Athamos, es war persönlich. Es war unverzeihlich.

Ein sanftes Glockenspiel hinderte Luan daran, einen lauten Schrei auszustoßen, indem es seine Aufmerksam auf den Trugmahr lenkte. Edgar war mit ihnen im Keller, bis zum Ende hatte er die Stellung gehalten. Ein Teil der leuchtenden Kugeln wanderte zu Bernadette, während der andere sich tröstend auf Luans Schultern und seinem Kopf niederließ.

Von dem Trugmahr ging eine wohltuende Wärme aus, wie eine Umarmung. So eine hatte Luan sich nicht verdient, er konnte Edgar seine Bernadette nicht heil zurückbringen. Und doch versuchte er gerade, Luan zu beruhigen. Der Schrei blieb ihm weiterhin im Halse stecken und wich einem Schluchzen.

„Ich habe versagt ...“, flüsterte Luan reumütig. „Entschuldige ... es tut mir so leid.“

Jemand sagte seinen Namen, doch es war nicht Edgar. Trugmahre konnten nicht sprechen. Bei der Person handelte es sich um Ferris, der inzwischen ebenfalls aufgewacht war und an seine Seite trat. Ihn zu sehen, lebend, trieb Luan erst recht Tränen in die Augen. Er schluckte hart, weil er sie zurückhalten wollte.

Ferris sah vollkommen erledigt aus, aber er lebte.

Er lebte.

Wenigstens er.

Schweigend legte Ferris einen Arm seine Schultern, wogegen Luan sich nicht wehrte, obwohl die harte Kruste gerade noch besonders aktiv war und Hitze verströmte.

„Danke, dass du gekommen bist“, hörte er Ferris müde sagen.

Die Verwirrung musste bei ihm noch groß sein, aber momentan schien es ihm wichtiger zu sein, Luan zu danken und ihm Halt zu geben. In der Tat war das unbeschreiblich hilfreich. Nicht lange und Schritte eilten über ihnen in den Laden hinein, wurden lauter. Mara und Naola hasteten zu ihnen in den Keller, große Sorge stand ihnen ins Gesicht geschrieben, vermischt mit Erleichterung.

Sofort schlang auch Naola die Arme um ihn und schimpfte halbherzig mit Luan darüber, wie unvorsichtig er gewesen sei, betonte jedoch auch, wie stolz sie auf ihn war. Ihre Unterstützung hatte sich schon über die Atem-Prägung heilsam angefühlt, solche direkte Nähe blieb aber unvergleichbar. Also ließ Luan sich darauf ein und stieß niemanden weg, sondern ließ sich von ihnen halten.

Nach wie vor waren seine Klingen von einem goldenen Strahlen erfüllt, das nur langsam schwächer wurde, und er hatte das Gefühl, wegen der Ablagerung schlechter als sonst Luft zu bekommen. Sie musste in der letzten Stunde gewaltig zugenommen haben, sein Körper war schwer und steif.

Mara kniete neben Bernadette und Luan befürchtete bereits, dass sie jede Sekunde zu weinen anfangen würde, sobald sie ihren Tod bemerkte. Schon anhand seiner Gedanken musste sie es wissen. Allerdings kam es, zu seiner Überraschung, ganz anders, als erwartet. Schon als er Mara aufatmen hörte, schielte er irritiert zu ihr, wagte sich aber nicht nachzufragen was los sei. Im Grunde wusste er es. Oder?

Folgende Worte sorgten anschließend dafür, dass Luan ernsthaft an seinem Verstand zweifelte: „So ein Glück, sie lebt.“

Schön, euch zu sehen

Träge öffnete Luan die Augen, aber es war zu dunkel, um etwas erkennen zu können. Ihm mangelte es an Kraft und Antrieb dafür sich aufzurichten, darum wählte er die leichtere Option und blieb auf dem Bauch liegen. Einfach der Erschöpfung hingeben, jeglichen Versuch auslassen.

Unwillkürlich atmete er flach, als wollte er nicht bemerkt werden, wovon auch immer. Mühevoll kämpfte er gegen die Müdigkeit an und blinzelte ununterbrochen, seine Augenlider fühlten sich schwer an. Liegenbleiben wollte er zwar, jedoch nicht nochmal einschlafen und sich endgültig hilflos allen möglichen Gefahren aussetzen.

Von irgendwo drang ein stetiges Rauschen an seine Ohren. Es war kein Wasser, kein Regen, sondern es klang eher wie ein Zug, der mit hoher Geschwindigkeit über die Schienen raste und kein Ende zu nehmen schien. Das Rattern der einzelnen Waggons mischte sich zwischen das Rauschen, zusammen erschuf diese Geräuschkulisse ein aufdringliches Gefühl der Hektik. Darin lag die Botschaft verborgen, dass Luan keine Zeit dafür hatte herumzuliegen.

Während er weiterhin blinzelte, glaubte er, seine Taschenuhr erschien zwischendurch vor seinen Augen. Jedes Mal nur kurz, eine geisterhafte Erscheinung. Mit geöffnetem Deckel. Von den sechs Stunden war nur noch eine einzige Sekunde übrig, aber das war nichts Neues für ihn. Luan wusste auch ohne diese Erscheinung sowie dem Zug noch genau, dass seine Zeit so gut wie abgelaufen war.

„Wie lange willst du dann noch da rumliegen, du Trottel?“, fragte ihn jemand, genauso spöttisch wie beim letzten Mal. „Du machst mich krank. Es ist schon echt ein Kunststück für sich, ein solches Wrack zu sein wie du, aber zum Verrecken nicht zu brechen.“

Diese Stimme kannte Luan, leider. Sie gehörte ihm, der Geißel namens Kian. Mit einem lautlosen Seufzer erhob Luan sich langsam vom Boden, was ihm schneller gelang, als er gedacht hätte. Das lag vermutlich daran, weil dieser Fluch ihn scheinbar verlassen hatte, denn er konnte nichts mehr von der schwarzen Ablagerung an sich spüren. Erst nach diesem Zeichen erkannte er, dass er träumte. Schon wieder.

Das sollte aber immer noch unmöglich sein, erinnerte Luan sich selbst. Wie soll ich denn träumen können, mit nur einer Sekunde, die sogar eingefroren ist?

Kopfschüttelnd sah er ein, darauf aus dem Nichts heraus keine Antwort zu finden. Stattdessen versuchte er sich auf den Traum zu konzentrieren, nachdem er endlich aufrecht auf den Beinen stand. Ihn umgab die schon längst vertraute Schwärze, allerdings wirkte sie nicht so endlos und tief wie sonst, im Gegenteil. Sie bedrängte Luan förmlich und bot ihm nur wenig Platz, einen winzigen Raum.

Je länger er dastand, desto mehr vermittelte diese Atmosphäre ihm das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. Direkt vor ihm klaffte ein Loch in der Luft, auf der anderen Seite strahlte alles in einem Weiß. Hier drinnen blieb es dennoch finster, wahrscheinlich weil diese Helligkeit dort draußen nicht als Lichtquelle galt. In Träumen durfte man nicht nach Logik suchen, zumindest nicht in jedem Fall.

Vorsichtig näherte Luan sich dem Loch, wobei jeder Schritt von ihm ein Knirschen verursachte, ausgelöst von Glasscherben. In der Dunkelheit konnte er sie nicht sehen, aber sie schienen überall verstreut zu sein. Natürlich, Luan befand sich im Inneren des Süßigkeitenladens aus seinen Träumen, in den Kian ihn zuletzt gewaltsam hinein geschleudert hatte. Auf einmal bemerkte er die zahlreichen Risse um das Loch herum und die scharf wirkenden, spitzen Splitterreste, die das ehemalige Schaufenster nur noch wie an einem seidenen Faden zusammenhielten. Das Loch war groß genug für Luan, so dass er durch dieses hindurchsteigen konnte, wenn er sich dabei etwas bückte und die Beine anständig hob.

Außerhalb des Süßigkeitenladens hatte sich nicht viel verändert: Keine Menschen oder irgendein Lebenszeichen anderer Existenzen. Die gesamte Szenerie erstreckte sich nur über wenige Meter, mit dem Geschäft als Mittelpunkt, bevor die Umgebung sich auflöste und ins Weiße überging. Es gab nur eine Veränderung, doch die löste bereits mehr als genug den Wunsch in Luan aus, sofort aufzuwachen.

„Muss das denn wirklich sein?“, murrte er für sich.

Abseits der Abbildung des Süßigkeitenladens gab es diesmal noch mehr zu entdecken, jemand hatte die weiße Leinwand weiter ausgefüllt. Spitz zulaufende Türme, gehalten von Stahlseilen, ragten ohne eine bestimmte Anordnung hier und da in die Höhe. Rötliche Symbole schmückten als Gravuren die dunkelvioletten Oberflächen, deren Glanz eine unheimliche Atmosphäre verströmte.

Reglos und starr standen sie da, jene Obelisken aus den Traumebenen des Geißel-Eis. Von ihnen ging dieses Rauschen aus, das Luan im Laden gehört und fälschlicherweise für einen Zug gehalten hatte. Kein Flüstern. Ohne diese Stimmen wirkten die Türme wie Denkmäler für das Ende. Nicht der Tod, etwas weitaus Schlimmeres.

Ungläubig hob Luan einen Arm und betrachtete die Gänsehaut, den dieser Gedanke auslöste. So etwas sollte in einem Traum eigentlich nicht passieren, solch eine realistische Reaktion seines Körpers auf etwas, von dem er sich bedroht fühlte. Dabei hielten die Stahlseile die Obelisken wie eiserne Klauen fest und gefangen, sie könnten ihm nichts anhaben.

„Typisch, du bist so leicht zu beeinflussen“, kommentierte die Person von vorhin sein Verhalten genervt.

Sofort ließ Luan den Arm wieder sinken und sah sich um, wodurch er mit den Augen schnell Kian erfasste. Dieser stand weiter entfernt zwischen den Obelisken in der Unendlichkeit aus Weiß. Locker lehnte er mit dem Rücken gegen einen der Türme, ein Bein angewinkelt und die Arme verschränkt. Das Rot seiner Augen harmonierte mit der Symbolschrift in dem Obelisk hinter ihm.

Zunächst schwieg Luan einen Moment lang und versuchte dem glühenden Blick von Kian standzuhalten, bis er schließlich doch etwas sagte: „Ich erinnere mich wieder an dich.“

„Wow, tatsächlich?“ Kian deutete ein Pfeifen an, unterdrücke jedoch nur das Lachen. „Sorry, ich hab immer noch keine Kekse für dich.“

Einzig dank Bernadette hatte Luan diesen Kampf mit Kian überlebt, wie er endlich wusste. Sobald Luan versuchte sich an jenen Tag genauer zu erinnern, kehrten hauptsächlich die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in sein Gedächtnis zurück. Jedes einzelne Detail dieser Auseinandersetzung lag zwar noch nicht klar vor ihm, doch es genügte.

„Du hast mich damals fast ... umgebracht.“

Kian rollte mit den Augen. „Erwarte bloß keine Entschuldigung dafür. Ich bin eine Geißel, aus meiner Sicht hab ich das getan, was für uns normal ist. Nichts Schlimmes.“

„Ihr empfindet es als normal, andere zu töten?“, zeigte Luan sich verständnislos.

„Nicht töten, brechen!“, korrigierte Kian ihn gereizt. „Geißeln brechen Menschen, das hat nichts mit Mord zu tun. Jeder, der zu schwach ist und sich brechen lässt, hat im Leben sowieso keine Chance.“

Eine grausame und unfaire Sichtweise, der Luan widersprechen wollte, Kian kam ihm jedoch zuvor und stellte eine Frage: „Was glaubst du denn, warum man Alpträume wie mich Geißel nennt? Kleiner Tipp: Es hat nichts mit Gefangenschaft zu tun.“

Ehrlich gesagt hatte Luan keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete. Verrell erwähnte schon einmal etwas in der Richtung, wirklich tiefer in die Materie war er aber nicht gegangen. Daher musste Luan schweigen und darauf warten, dass Kian ihm die Antwort gab. Empört stieß dieser einen Fluch aus und löste sich von dem Obelisken, um sich gerade hinzustellen, womit er wohl sein starkes Selbstbewusstsein ausdrücken wollte.

„Als Geißel[ bezeichnet man etwas, dass für die Menschheit ziemlich schlimm ist. Eine Plage sozusagen, wie eine Seuche. Ein Fluch. Der Untergang. Die Apokalypse“, erklärte Kian beschwingt und schien dabei eindeutig zu übertreiben. „Geißel bedeutet aber auch Peitsche.“

„Peitsche?“, wiederholte Luan irritiert.

„Weil wir unsere Opfer auf psychischer Basis foltern“, erläuterte er weiter und begann zu grinsen, nahezu leidenschaftlich. „Wir peitschen so lange auf ihre Seele ein, bis sie bricht.“

Richtig, Verrell hatte gemeint, ihr Name hing damit zusammen, dass sie ihre Wirte quälten. Demnach war der Titel Geißel durchaus geeignet für diese Alptraumgattung, fand Luan. Nur die Bedeutung dieses Wortes zu kennen half ihm aber nicht sonderlich weiter, also wagte er es, noch mehr Informationen aus Kian herauszuholen. Einiges hatte er schon von Vane erfahren, nämlich dass Geißeln Menschen brechen, um deren Körper übernehmen und anschließend die Welt zerstören zu können.

Zerstörung ...

Strebten Alpträume wirklich so sehr danach?

Angespannt stellte Luan diese Frage gleich laut: „Warum wollt ihr eigentlich Zerstörung anrichten?“

„Pff“, gab Kian erst nur amüsiert von sich und legte den Kopf in den Nacken, die Augen geschlossen. „Wahrscheinlich weil wir einfach böse sind. Nicht wahr? So betrachtet ihr Howler uns Alpträume doch.“

„Ihr gebt uns auch allen Grund dazu.“ Schlagartig wurde Luan ernst und der Ausdruck in seinen Augen warnend. „Wegen euch leiden Menschen und ihr raubt den Träumen ihre Reinheit. Ließen wir euch gewähren, wäre die Welt bald nur noch ein Ort der Trostlosigkeit und Angst.“

„Und das völlig zu recht!“, schrie Kian außer sich und fixierte seinen Blick wieder auf Luan. Seine Nasenflügel bebten vor Wut und er schnaubte mehr, als anständig zu atmen. „Wir geben den Menschen nur das, was sie verdient haben! Sie sind widerliche, egoistische Wesen, die schnell alles und jedem einen Stempel aufdrücken, ohne richtig darüber nachzudenken. Wer andere unterdrückt, der muss damit rechnen, dass irgendwann ein Gegenangriff folgt.“

Offenbar trug Kian den gleichen Hass gegen Menschen, besonders gegenüber Traumbrechern, in sich, wie Verrell. Erneut lebte der Funke aus Zweifel in Luan auf, den Verrell angefacht hatte. Bezüglich Atanas und der Behauptung, er würde seinen Jägern höchstpersönlich Geißeln einpflanzen, damit sie gebrochen wurden. Unbewusst ballte Luan die Hände zu Fäusten.

„Ich weiß, dass Menschen grausam sein können“, kam er Kian ein wenig entgegen. „Aber nicht alle sind so. Und wir machen auch bei euch Alpträumen Ausnahmen und sehen die Unterschiede. Trugmahre und Sakromahre genießen unseren Schutz.“

Schutz, ja klar“, betonte Kian und rieb sich mit den Fingern über die Stirn, als bekäme er furchtbare Kopfschmerzen von diesem Gespräch. „Du bist genauso ein egoistischer Idiot wie jeder andere Mensch. Nur, weil du deine heile Welt nicht verlieren willst, verschließt du die Augen vor dem, was dir nicht gefällt.“

Dagegen konnte Luan nichts einwenden, denn das entsprach der Wahrheit. Weder seinen Platz in Athamos noch die Bindung zu Atanas wollte er verlieren. Bislang hatte er stets darauf vertraut, dass sein Gefühl ihn nicht täuschte und er für das Richtige kämpfte. Aber ...

„Atanas hat dir das genommen, das dir am allerwichtigsten war“, konfrontierte Kian ihn mit den Tatsachen und bewegte sich langsam auf ihn zu. „Das Träumen. Er hat deine Fähigkeit zu träumen auf sechs jämmerliche Stunden zusammengepresst und sobald die abgelaufen sind, musst du dich auf ewig davon verabschieden. Aus dir wird eine traurige, apathische Gestalt werden, die als Rentner in Athamos vor sich hin vegetieren darf, bis du dir freiwillig dein zweites Leben nimmst oder eines Tages still und heimlich anderweitig verschwinden wirst.“

Luans Kopf sackte schwer nach unten. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er diesen Tag bereits fürchtete. Schon seit seine letzte Sekunde eingefroren war und ihm das Träumen verwehrt blieb, fühlte er sich leblos. Er hatte sich mit der Jagd nach Alpträumen von diesem deprimierenden Zustand abgelenkt, aber es blieb immerzu eine Last für ihn.

„Ohne Atanas“, suchte Luan nach positiven Aspekten für seinen Anführer, „würde ich gar nicht mehr existieren. Ich wäre gestorben, ohne die Taschenuhr und den Atemfluss wäre mein Körper längst verwest und nur noch ein Haufen Knochen.“

Plötzlich tauchte Kians Gesicht in seinem Blickfeld auf. Vor Luan war er in die Hocke gegangen und suchte Augenkontakt, indem er zu ihm nach oben sah. Nach seiner Mimik wirkte Kian nach wie vor genervt und unterkühlt, gleichzeitig spiegelte sich ein Hauch von Mitleid in seinen Augen wider. Gewiss handelte es sich dabei sicherlich eher um eine negative Form und Kian bedauerte es nur, dass Luan derart dumm und uneinsichtig blieb.

„Jemand, der den Tod als schlimmere Option benötigt, um seine eigenen Nachteile harmloser erscheinen zu lassen und seine Opfer leichter überreden zu können, hat eindeutig Dreck am Stecken“, versuchte Kian, ihn zum Nachdenken anzuregen. „Bist du dir ganz sicher, dass du so jemandem vertrauen willst? Schon vergessen, was für eine Nachricht deine heiß geliebte Estera dir letztes Mal geschrieben hat?“

Natürlich sah Luan diese Worte noch klar und deutlich vor sich: „Du musst fliehen.“

„Uh-huh, ganz genau. Wen hat die Gute damit wohl gemeint? Klar, du kannst ganz leicht mir den schwarzen Peter zuschieben, aber du weißt nicht mit Sicherheit, ob sie mich gemeint hat oder nicht doch jemand anderen. Vor mir kannst du nämlich schlecht fliehen.“

Luan wollte nichts von dem glauben, was Kian erzählte. Genauso wie Verrell könnte er sich nur gern selbst reden hören und plante, mit seinen Behauptungen für Verwirrung zu sorgen. Ihn zu verunsichern. Warum klang das alles aber dann in Luans Ohren viel zu nachvollziehbar und richtig? Etwas ließ ihn glauben, Kian sagte die Wahrheit. Vielleicht weil er als Geißel schon länger mit Luan verbunden war.

„Das ist mir egal“, rutschte es ihm unkontrolliert heraus.

Darüber schien Kian nicht überrascht zu sein. „Ja, ja. Ich weiß, du willst die Sache mit Verrell abschließen und deine Freunde retten, bevor du die wirklich wesentlichen und wichtigen Probleme und Gefahren angehst.“

„Das ist genauso wichtig“, stellte Luan klar. „Ich setze nur Prioritäten.“

„Du setzt gar nichts, dir geht es nur um dich selbst. Feige bist du, mehr nicht.“

Auf solch ein hin und her ließ Luan sich gar nicht erst ein. „Wenn du mich nur noch beleidigen willst, müssen wir nicht länger reden.“

Bevor er sich umdrehen und weggehen konnte, packte Kian ihn an der Schulter, um ihm festzuhalten. „Schön hiergeblieben, Feigling, wir müssen noch über Verrell sprechen.“

„Ja?“ Wartend blickte Luan ihn an. „Ist er nicht dein Verbündeter?“

„Das war er.“ Ein hasserfülltes Grollen untermalte Kians Stimme. „Aber dieser Mistkerl hat mir nicht alles von dem erzählt, was er wusste, sondern es für sich behalten. So ein Verhalten lasse ich mir nicht bieten.“

Irgendwie ironisch, dass ein Alptraum wie Kian empört über das hinterhältige Verhalten einer anderen Geißel war. Die verhielten sich aber sowieso nicht wie ihre Artgenossen aus den anderen Gattungen, also sollte Luan das nicht zu sehr verwundern. Geißeln zeigten sich in menschlicher Form und besaßen einen eigenen Charakter, alleine das war eigentlich undenkbar für Alpträume.

„Also zahle ich ihm das jetzt zurück und verrate dir, was du tun solltest, um ihn in die Enge zu treiben“, begann Kian verheißungsvoll und ließ seine Hand auf Luans Schulter ruhen. „Stärke Ferris' Geist.“

„Du meinst seine Seele?“, schloss er daraus.

„Ja, was denn sonst? In Träumen nähren Alpträume sich von den Ängsten und negativen Gefühlen ihrer Opfer, das gilt auch für Geißeln. Solange Ferris so instabil und zerbrechlich bleibt, was seine Gefühle angeht, wirst du Verrell nicht töten können, weil er daraus seine Kraft bezieht. Vergiss nicht, er ist mit Ferris verbunden, obwohl er sich außerhalb von dessen Körper aufhält.“

Bis dahin konnte Luan diese Information nachvollziehen und verstehen, aber die nächste Aussage von Kian sorgte doch wieder eher für Misstrauen: „Ferris muss seine Geißel eigenhändig auslöschen.“

„Aber Ferris konnte mit seiner Energie doch nicht mal etwas gegen die Geißelsaat ausrichten“, wandte er skeptisch ein. Auch Vane hatte erklärt, warum Ferris gegenüber seiner Geißel hilflos war. „Bisher war ich der einzige Traumbrecher, dessen Angriffe Schaden bewirkten.“

Kian lag sichtlich ein Fluch auf der Zunge, weil sein Gegenüber derart schwer von Begriff war, aber er zwang sich offenbar zur Geduld und versuchte Luans Zweifel zu zerstreuen. „Pass auf, betrachte Geißeln mal gerade nicht als Gegner, sondern nur als die personifizierten Ängste einer Person. Solange du dich deinen Ängsten nicht stellst und sie überwindest, werden sie nicht einfach verschwinden, egal, was Außenstehende auch versuchen.“

Das klang in der Tat logisch. Anscheinend hätte Luan sich in Athamos besser doch die Zeit nehmen sollen, von Vane noch mehr über Geißeln zu erfahren. Er war zu sicher gewesen, es mit seinen eigenen Fähigkeiten schaffen zu können. Ganz allein.

Ich wollte Ferris unbedingt retten, dachte er bedrückt, und ein guter Freund sein.

Kian riss ihn aus diesen Gedanken heraus, indem er ein sensibles Thema zur Sprache brachte: „Du, als potenzieller Weltenbrecher, hättest bestimmt trotzdem gegen Verrell eine Chance, aber dafür müsstest du erst mal als solcher erwachen und dann hast du ganz andere Pläne, als irgendwelche Freunde zu retten.“

„Aha“, erwiderte Luan darauf knapp, da er auch das vorerst nicht genauer ergründen wollte. „Gut, es kann auf jeden Fall nicht schaden, Ferris zu stärken.“

So bestand zumindest nicht mehr die Gefahr, dass er von Verrell gebrochen werden könnte. Ja, diese Sicherheit würde Luan beruhigen. Er wusste also, was er als nächstes zu tun hatte.

Kaum hatte er diesen Gedanken beendet, schnürte ihm plötzlich etwas die Luft ab. Röchelnd tastete Luan nach seinem Hals, um den sich Kians Hand gelegt hatte und fest zudrückte. Kraftvoll hob die Geißel ihn sogar vom Boden hoch, so dass Luan hilflos wie ein Fisch am Haken zappelte.

Ein Traum. Das war nur ein Traum. Genau das sagte Luan sich immer wieder in Gedanken, um der Panik zu entkommen, aber es fühlte sich zu real an. Lag das an ihm? Wenn er wollte, müsste er diesen Traum kontrollieren können. Allerdings war Kian auch hier, was bedeutete, sie teilten ihn sich, ebenso wie den Körper. Also gehörten diese Träume womöglich gar nicht Luan, wie er gedacht hatte. Nicht nur.

„Diese Bernadette hatte recht“, hörte er Kian sagen, dessen Stimme wegen Luans Röcheln beinahe unterging. „Ich dachte wirklich, dieses ganze Theater, das sie und der Doc veranstaltet hatten, diente nur dazu, mich aufzuhalten. Ich war davon überzeugt, dieser Fluch, mein Gefängnis, hängt mit mir zusammen und das es nur der letzte Schritt zum Ziel wäre. Quasi mein Kokon, aus dem ich nur noch schlüpfen muss.“

Wovon redete Kian? Wann hatte er überhaupt mit Bernadette gesprochen? Aufgrund der Atemnot gelang es Luan nicht, einen klaren Gedanken zu fassen und eine Antwort darauf zu finden. Ihm wurde schwindelig und die Schwärze aus dem Süßigkeitenladen breitete sich unheilvoll aus, übermalte das Weiß.

„Aber nein, es ist ein Problem, das uns beide betrifft.“ Ein humorloses Lachen verließ Kians Kehle. „Es sollte mich tatsächlich kümmern, wie es dir geht, sonst werden wir für immer durch diesen Fluch eingesperrt. Wie tragisch, dass eine Geißel so etwas einsehen muss. Egal, wie ich es drehe und wende, im Grunde habe ich also schon verloren.“

Kurz bevor Luan drohte das Bewusstsein zu verlieren, warf Kian ihn wütend von sich. Nur ein kurzes Stück flog er durch die Luft, rollte anschließend über den Boden und blieb irgendwann liegen. Panisch schnappte Luan nach Luft, bis sogar seine Lungen anfingen zu schmerzen. Wie zu Beginn des Traumes konnte er nichts mehr sehen, weil es inzwischen zu dunkel geworden war.

„Nur wegen dir“, knurrte Kian, der irgendwo in der Schwärze verlorengegangen war. „Alles nur wegen dir. Es geht ja nur um dich. Dich wollten sie retten, ich hing nur zufällig mit dir zusammen. Verdammte Bernadette! Und ich hatte wirklich gedacht ...“

Luan verstand die Zusammenhänge nicht, für ihn klang es danach, als verlor Kian gerade vollkommen den Verstand. Keuchend schloss er die Augen und dachte an Estera. Selbst wenn das eher Kians Traum war, hätte er sie zu gern wiedergesehen. Wenigstens für einen kurzen Moment. Ihm fehlten diese schönen Träume so sehr.

„Eines sage ich dir, Luan“, sprach Kian seinen Namen drohend aus. „Wage es ja nicht, wahnsinnig zu werden und den Fluch an seine Grenzen zu treiben. Glaub mir, du wirst dir wünschen lieber gebrochen zu sein, sollten wir beide zusammen für die Ewigkeit eingesperrt sein. Ich mache dir dieses Leben nämlich dann zur Hölle, schlimmer als jeder Alptraum.“

Es reicht“, unterbrach ihn eine Frauenstimme, die Luan sofort mit heilsamer Erleichterung erfüllte. „Auf diese Weise wird nichts jemals besser werden.

Jemand kniete sich neben ihn und strich mütterlich über seine Haare. Trotz der Dunkelheit wusste Luan, wer es war, weshalb er sich entspannte und das Gefühl hatte, alles wäre plötzlich wieder gut.

Das wird es auch, Luan. Wach jetzt auf.
 

***
 

„Luan? Hörst du mich?“, schien Esteras Stimme aus seinem Traum nachzuhallen. „Wach auf.“

Als Luan diesmal die Augen öffnete, sah er zuerst das Gesicht von Mara, die sich über ihn beugte und ihn besorgt musterte. Ihr Anblick fühlte sich vertraut an, aber sie war nicht Estera – zumal Mara nun etwas anders aussah als sie. Streng genommen kannten sie sich immer noch nicht lange genug, er sollte also anders empfinden. Er musste Mara und Estera voneinander getrennt betrachten, egal wie schwer ihm das fiel.

Trotzdem war er froh darüber, sie zu sehen. Maras Anwesenheit wirkte sich gleich um einiges wohltuender aus, als diese Träume, die wahrscheinlich nicht mal ihm gehörten. Luan blieb ein traumloser Jäger mit Potenzial, das er nicht vollständig ausnutzen konnte.

„Bist du okay?“, erkundigte Mara sich und lehnte sich dabei zurück in eine aufrechte Haltung. „Du warst im Schlaf so unruhig. Hast du schlecht geträumt?“

„... Sozusagen.“

Müde fuhr Luan sich mit einer Hand über das Gesicht. Durch das Fenster drang Sonnenlicht herein, das den Raum mit warmen Farbtönen aus Orange und Rot füllte. Ob der Morgen anbrach oder schon der Abend vor der Tür stand, wusste Luan nicht. Nach den Ereignissen im Refugium, mit Verrell, hatte er sich in Maras Zimmer im Buchladen zum Schlafen hingelegt, um sich zu erholen und zur Ruhe zu kommen.

„Du hast fast einen Tag lang geschlafen“, informierte Mara ihn, ohne dass er von sich aus nachhaken musste. „Die Sonne geht schon wieder unter.“

„Verstehe.“

Sein Hals schmerzte nicht mehr, er konnte normal atmen. Zum Glück blieben solche Geschehnisse im Traum zurück, sobald man aus diesem erwachte. Beruhigt nahm Luan einige tiefe Atemzüge – Mara war so umsichtig, das Fenster zu öffnen –, bevor er sich versuchte im Bett aufzurichten. Ein angestrengtes Stöhnen entglitt ihm bei dieser Bewegung.

Die Schicht auf seiner Haut hatte sich noch mehr ausgebreitet und verhärtet. Inzwischen führte sie auf der rechten Seite bereits über seinen Hals bis zur Wange hinauf, was bedeutete, er könnte sie zukünftig nicht mehr komplett unter der Kleidung verstecken. Auch an den restlichen Stellen seines Körpers war der Fluch gewachsen, führte bis zu seinen Knien und den Ellenbogen.

Heiß fühlte sich die schwarze Kruste nicht mehr an, sie hatte sich abgekühlt und reagierte nur noch durch ein Kribbeln auf die Alpträume in Limbten. Leider konnte Luan sich nicht mehr anständig bewegen, seit sie sich derart weit ausgebreitet hatte. Es war, als müsste er die ganze Zeit ein schweres Gewicht in Form einer Rüstung tragen, in der die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurde. Ein lästiger Nachteil.

„Naola und Ferris sind unten in der Küche“, informierte Mara ihn, beinahe wie ein Dienstmädchen – offenbar war sie angespannt. „Sie haben Abendessen gemacht. Du solltest runtergehen und etwas essen, auch wenn es nicht so gut ist.“

Ferris und Naola konnte er sich wirklich nicht als Köche vorstellen. Im Moment wäre Luan aber jedes Essen recht, er hatte großen Hunger. Wann kam er überhaupt zuletzt dazu, Nahrung zu sich zu nehmen? Da er sich nicht daran erinnerte, musste das letzte anständige Essen länger her sein. Von Vane gäbe es dafür garantiert eine Predigt über die Gesundheit.

Prüfend sah er Mara an. Offensichtlich war Sorge der Auslöser für ihre Anspannung, ihre Mimik sprach Bände. Den Grund dafür verstand Luan gut, ihm ging es nicht anders. Hoffend hakte er nach: „Wie geht es Bernadette?“

Nur wenige Sekunden lang schwieg Mara betrübt und schien nach der geeigneten Antwort zu suchen. „Unverändert. Sie ist nicht bei Bewusstsein.“

„Aber sie lebt“, hielt Luan das Positive fest. „Darauf kommt es an.“

Ein schwaches Lächeln bildete sich auf Maras Lippen und sie nickte unsicher. „Das stimmt.“

Warum Bernadette noch lebte, blieb ein Rätsel für Luan. Müsste er eine Vermutung äußern, läge es daran, dass er zu dem Zeitpunkt im Refugium ziemlich durcheinander und aufgewühlt gewesen war. Vielleicht hatte er Bernadette deshalb aus Versehen vorschnell für tot gehalten. Egal, lieber ein peinlicher Moment mehr für ihn, statt einen Menschen zu verlieren.

Bernadette schlief momentan ebenfalls, in ihrem eigenen Zimmer, wo Mara über sie wachen wollte. So hatte jedenfalls der letzte Stand der Dinge gelautet, bevor Luan selbst ins Bett gegangen war. Hin und wieder schien Mara auch nach ihm gesehen zu haben, wofür er ihr dankte, denn nur durch sie musste er vorzeitig wachgeworden sein.

„Ich habe dir übrigens Kleidung von Bernadettes Mann rausgesucht, die sie noch da hatte.“ Bei diesen Worten deutete Mara zu dem kleinen Stapel am Fußende des Bettes. „Sie sind sicher etwas zu groß für dich, aber du solltest dich umziehen.“

Gute Idee, seine jetzige Kleidung war reichlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Außerdem konnte eine Nummer größer nicht schaden, wegen der Ablagerung, die nun mehr Platz in Anspruch nahm. In seinen alten Sachen würde Luan sich nur noch beengt fühlen.

„Naola hat mich auch zum Essen verdonnert“, seufzte Mara leise. „Also geh ich besser schon mal runter, dann kannst du dich umziehen. Ruf aber ruhig, falls du Hilfe brauchst.“

„Danke, das mache ich.“

Insgeheim betete Luan aber dafür, dass er es noch alleine schaffte, die Kleidung zu wechseln. Nickend wandte Mara sich von ihm ab und ging zur Tür. Erst als sie das Zimmer verlassen hatte und er ihre Schritte im Flur nicht mehr hörte, stieß Luan einen überforderten Laut aus, mit dem er sich für eine Weile von diesem Gefühl lösen wollte. Sich hängenzulassen nützte nichts, es gab noch viel zu tun.

Also schob Luan die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett. Jede Bewegung forderte ein gewisses Maß an Anstrengung von ihm, er kam sich vor wie eine Statue, die zu laufen versuchte. Hoffentlich sah es nicht wirklich so schlimm aus, wie es für ihn den Anschein hatte. Sonst könnte er sich auf viele Witze gefasst machen, allesamt auf seine Kosten.

Es dauerte etwas länger als gewöhnlich, dennoch gelang es Luan sich umzuziehen. Edgars Kleidung war in der Tat ein bisschen zu groß, dafür jedoch gemütlich. Er wünschte sich nur, Mara hätte ihm etwas mit weniger auffälligen Farben herausgesucht. Diese Mischung aus Rot und Blau war im Vergleich zu Schwarz wie ein Hinweisschild, durch das jeder Alptraum schnell auf ihn aufmerksam werden könnte.

Vorerst nahm er das aber hin und machte sich lieber auf den Weg in die Küche – im Schneckentempo. Auf dem Flur hörte er das Glockenspiel des Trugmahrs, er befand sich bei Bernadette in ihrem Zimmer. Edgar musste man wahrlich als treue Seele bezeichnen, das war beneidenswert.

Schweren Schrittes stieg Luan die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo er bald schon die Stimmen von Naola und Ferris hörte. Sie klangen unerwartet fröhlich und unbeschwert, als wäre niemals etwas Schlimmes geschehen. Vor kurzem hätte Luan sich noch über den mangelnden Ernst der beiden geärgert, diesmal erfüllte es sein Herz jedoch nur mit Freude. Er konnte es nicht mehr länger aushalten und wollte sie unbedingt sehen, vor allem Ferris.

Kaum stand er im Türrahmen zur Küche, verstummten alle Anwesenden abrupt und starrten ihn an. Einzig Mara aß nach kurzer Zeit einfach weiter, während Naola und Ferris von seinem Anblick hypnotisiert blieben. Da keiner von ihnen etwas sagte, übernahm das Luan, wobei er sogar ein ehrliches Lächeln zuließ.

„Schön, euch zu sehen.“

Ferris sog scharf die Luft ein. „Ist nicht wahr, ein lächelnder Luan Howe? Der sich auch noch freut? Naola, kneif mich bitte mal, ich glaub, ich träume doch noch.“

„Kneif du lieber mal mich“, entgegnete Naola genauso überrascht.

Diese Reaktionen sorgten dafür, dass Luans Nerven bereits schon wieder zu klagen anfingen. Etwas, das er seltsamerweise irgendwie vermisst hatte. Sich über etwas zu ärgern war allemal besser, als alleine zu sein und es war auch schön, dass die beiden noch so munter sein konnten. Jeder von ihnen musste sich in der Zwischenzeit im Bad zurechtgemacht haben, nur in ihren Gesichtern ließ sich noch etwas von den Strapazen erkennen.

„Darf ich mich nicht einfach mal freuen?“

„Doch, doch!“, versicherte Ferris rasch und klopfte erwartungsvoll – wie ein Kleinkind – neben sich auf den Tisch, wo noch ein Stuhl frei war. „Komm ran hier, du alter Mann~.“

Großartig, es ging bereits los mit den schlechten Witzen über seine Trägheit. Konnte Ferris damit nicht noch etwas warten? Immerhin hatten sie endlich die Gelegenheit, nach den letzten Tagen wieder mal ruhig miteinander zu sprechen. Das Problem mit dem Fluch sollte am besten gar nicht beachtet werden, es half Luan nämlich nicht weiter.

„Ich gebe dir gleich alter Mann“, warnte Luan genervt. „Und du bist älter als ich ... Jungchen.“

„Awww, Luan scherzt mit mir! Dass ich das noch erleben darf~.“

„Gewöhne dich nicht daran.“

Mühevoll bewegte Luan sich so schnell wie möglich auf den freien Stuhl zu, was trotzdem unbeholfen aussehen musste. Daran könnte Luan sich niemals gewöhnen – jetzt besaß Ferris noch einen guten Grund mehr, mit dem Auto fahren zu wollen.

„Ich find's auch schön, dich zu sehen“, meinte Ferris schließlich, als er neben ihm saß und lächelte dabei, wie gewohnt. „Ich bin zwar noch tierisch verwirrt und ratlos und überhaupt, aber echt froh, dich zu sehen.“

„Geht mir ähnlich“, gestand Luan.

„Hier, iss was.“ Naola schob einen gefüllten Teller näher zu ihm, den sie vorhin für ihn vorbereitet haben mussten. Sicher hatte Mara ihnen Bescheid gesagt, dass er aufgewacht war. „Du musst neue Energie tanken.“

Erst wollte Luan sich dafür bedanken, hielt jedoch inne, als er auf den Teller hinabsah. Falten bildeten sich auf seiner Stirn und er versuchte zu erahnen, was die beiden da gekocht hatten. Einiges davon sah noch verdächtig roh aus. Ungenießbare Assoziationen mit irgendwelchem Getier wollten sich in seinem Kopf anbahnen. Statt nachzufragen, worum es sich bei diesem Gericht handeln sollte, akzeptierte Luan lieber die Unwissenheit, aus Angst vor der Antwort.

Nächstes Mal ... koche besser ich.

Das hatte er ewig nicht mehr getan. Als Traumbrecher kam man nicht dazu, meistens aßen sie außerhalb. Eigentlich schade, Luan konnte ziemlich gut kochen.

„Eines müsst ihr mir jetzt aber mal unbedingt erklären“, setzte Ferris an und lenkte ihn dadurch von dem Thema Essen ab, was Luan momentan doch ganz recht war. „Ich und Bernadette waren doch nur wenige Tage Gefangene von diesem Verrell, richtig? Was ist in der Zwischenzeit passiert, dass Mara sich so krass verändert hat? Und du sogar auch.“

„Eigentlich nicht so viel.“ Nachdenklich machte Luan eine Pause. „Gleichzeitig aber doch eine ganze Menge.“

Es war wirklich notwendig, Ferris über einiges aufzuklären, auch Naola. Besonders über die Atemhypnose und Geißeln. Dafür bot sich das gemeinsame Abendessen gut an, obwohl Naola und Ferris bereits fertig zu sein schienen. Dieses Beisammen sein tat dennoch gut, es war nahezu friedlich. Gegenwärtig hielten sich auch nicht mehr allzu viele Alpträume in der Nähe des Buchladens auf, was das schwache Kribbeln seiner Ablagerung verriet, sie mussten Verrell gefolgt sein.

Luan konnte also beruhigt und entspannt damit beginnen, seine Kameraden auf den neuesten Stand zu bringen. Zwischendurch forderte Naola ihn dazu auf, zu essen, ehe es kalt wurde. Zu seinem Erstaunen musste er nach dem ersten Bissen eines zugeben: Das Essen schmeckte viel besser als erwartet.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Den Alptraum habe ich natürlich nicht nur eingebracht, um alles erklären zu können. Auf den wird später in der Geschichte nochmal zurückgegriffen, was die symbolische Bedeutung angeht und war auch für andere Dinge wichtig, die zu einem späteren Zeitpunkt nochmal aufkommen werden. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
"Scheiße" scheint das Lieblingswort von Ferris zu sein. :,D
(Ja, diese Anmerkung wollte ich dringend loswerden. So dringend, dass ich sie ins Nachwort gepackt habe. XD) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Einige wundern sich vielleicht, warum Ferris für Luan gleich einen Arzt angerufen hat, weil ich die Situation nicht so dramatisch dargestellt habe, wie sie in Wirklichkeit ist. Aber ein zu hoher Energieverbrauch ist tatsächlich sehr gefährlich für Traumbrecher. Ich wollte das nur nicht direkt alles in einem Kapitel erklären, da es wirklich sonst zu viel auf einen Schlag wird. Das wird an einer anderen Stelle natürlich dann genauer erklärt, warum Ferris und Vane es so ernst genommen haben.
Hier ein kleiner Hinweis schon mal im voraus: Weil Luan oft zu viel Energie verbraucht, sieht er etwas älter aus, als er ist, obwohl Traumbrecher eigentlich nicht mehr altern.
Auch was es mit dieser Maschine auf sich hat, die Luan mit neuer Energie versorgt hat, wird im Laufe der Zeit noch geklärt. In der Regel erkläre ich alles irgendwann, manches benötigt nur etwas Geduld. ;)
(Oh, heute mal ein richtig langes Nachwort. :D) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Viel LIEBE für das Ende! ♥♥♥
Und eeendlich kam ich mal zu einem Sakromahr (die sind einer der Gründe, warum ich diese Geschichte schreiben wollte). Die spielen in dieser Geschichte eine sehr wichtige Rolle, genau wie die Reaktion von Luans Ablagerung am Ende. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie lange ich schon diese "Verbindung" zweier Traumbrecher schreiben wollte, wenn sie ihre Taschenuhren aneinander halten. ♥
... Das ist ein echt großer Vertrauensbeweis. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hatte Vanes wahre Identität eigentlich viel, viel dramatischer offenbaren wollen ... aber wenn man bedenkt, dass diese Geschichte hier inzwischen (eigentlich) der zweite Teil in der Reihe ist, passt das schon so. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Na? Wer hat bemerkt, dass ich Ferris' Charactersong hier eingebaut habe? :3
(Mehr schlecht als recht, aber ich liebe es. ♥)
Der Grund, warum Ferris am Ende doch noch verloren hat, lässt sich hier übrigens genau erkennen (hoffe ich?). Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bin bei der Hälfte von LsS angekommen! Yay! Q___Q
*ist voll stolz auf sich* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ende des zweiten Dreiteilers~. =) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (18)
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Von:  MarySae
2015-03-29T10:06:42+00:00 29.03.2015 12:06
Hui, ein sehr beeindruckendes Kapitel! :D
Ich glaube, ich habe es schon Mal erwähnt, aber ich finde deine Ideen mit den Albträumen echt beeindruckend! *__*
Das klingt alles sehr gut durchdacht und in sich schlüssig, dass es richtig Freude macht, dem allen zu folgen :)

Der Albtraum an sich war wirklich gut ausgedacht! Die ganzen Hände, die nach einem griffen und nicht wieder los ließen, die Tatsache, dass niemand reden konnte (zumindest nicht auf normale Weise) und die Idee mit der Nahrung aus der Angst.
Das gefällt mir wirklich gut!
Super, wie Luan die Situation geregelt hat und wie tapfer Mara das alles mit sich hat machen lassen! Ich weiß nicht, ob ich so ruhig hätte sein können... :/
Aber schön, dass sie ihre Feindseligkeit gegenüber Luan erstmal abgelegt hat ^^ Das hätte sonst wirklich zu einem echten Problem werden können...

Und Ferris, der Retter in der Not! :D
Dabei hat er wahrscheinlich auch in Schwierigkeiten gesteckt, die er nur dank Luans Hilfe überwunden hatte xD (Darauf wette ich! xD)
Aber eine neue Art von Albträumen, die aus einem Samenkorn entspringen? O.o
Was auch immer das heißen mag, kein Wunder, dass Luan da etwas (sehr) irritiert war :O
Zum Glück konnten sie den ersten Angriff erst Mal blocken. Mal sehen, ob Luan den neuen Feind schnell genug analysieren und seine Schwäche herausfinden kann!
Ferris spukt zwar immer große Töne, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob da wirklich viel dahinter ist ^^

Spitzen Kapitel! :D
Viele Grüße, Mary
Antwort von: Platan
30.03.2015 16:54
Zuallererst: Vielen lieben Dank für diesen positiven Kommentar. :3
Das ganze Lob hat mich glatt verlegen gemacht. ^///^

Ich finde es interessant, wie bisher jeder ("jeder"? Zwei Leute bisher. XD) gesagt hat, dass man anstelle von Mara nicht so ruhig hätte bleiben können. Finde ich aber auch gut, denn Maras Handlungen sollen stellenweise ja ein wenig so wirken. :D

Ferris steht gerne im Rampenlicht. XD
Und ja, er hatte bestimmt auch Ärger am Hals. Er ist nämlich nicht gut darin, Herzstücke solcher Welten zu finden. :,D
Am Anfang von LsS fand ich es ganz schön anstrengend, alles zu erklären und gleichzeitig zu zeigen, dass da etwas nicht mit Rechten Dingen zugeht. x_X
Da Ferris jedenfalls noch oft überraschen soll, bin ich gespannt, ob ihm das gelingen wird. :>

Ich freue mich auf jeden Fall, dass dir das Kapitel so gefallen hat. X3
Ganz liebe Grüße zurück~.
Von:  MarySae
2015-03-05T07:22:03+00:00 05.03.2015 08:22
Na, die beiden sind ja mal ein nettes Pärchen: Ein menschenscheuer Miesmuffel und eine hyperaktive, misstrauische Frau mit Stimmungsschwankungen xD
Also ich muss echt sagen, dass du die Charaktere (selbst zu diesem Zeitpunkt) wahnsinnig gut kreiert und dargestellt hast! Das gefällt mir wirklich richtig gut! :)

Hmmm, Ferris ist also verschwunden und scheinbar in einem Albtraum gefangen. Die Idee mit dem Schöpfer klingt sehr interessant, auch wenn ich mich frage, woher der Albtraum kommt. O.o
Braucht es für so was nicht einen schlafenden Menschen? Hat der sich in Ferris eingenistet? O.o
So ganz blicke ich durch dieses Traum-Dingens noch nicht durch, aber anstatt zu spekulieren, werde ich einfach bei Gelegenheit weiterlesen ^^
Zumindest klingt das mit den Händen verdammt gruselig ._. Und auch diese ganze Tatsache, dass kein Geräusch mehr zu hören ist etc. Nachts im Wald auf einer verlassenen Landstraße möchte man so etwas garantiert nicht sehen ._.

Das Ende ist gut gewählt (ich liebe Cliff-Hanger xD) und macht mich neugierig auf mehr, aber leider wird das wieder ein bisschen warten müssen. ^^'
Das war auch wieder ein sehr gutes Kapitel! Gefällt mir wirklich gut, die Story! :)
Mach weiter so! :D

Viele Grüße, Mary
Antwort von: Platan
05.03.2015 14:44
> eine hyperaktive, misstrauische Frau mit Stimmungsschwankungen
Das ist mal eine sehr schöne und passende Beschreibung für Mara. XD
Awww, vielen Dank! Lob über Charaktere höre ich immer gerne, da sie mir am wichtigsten sind. ♥ Ich bin sehr froh, dass sie auch bei anderen gut rüberkommen. :3

Woher der Alptraum überhaupt gekommen war, wird noch geklärt, aber erst eine gaaanze Zeit später in der Geschichte (ich halte gerne hin, mit Antworten XD). Und ja, es braucht einen schlafenden Menschen, aber das wird von Luan im nächsten Kapitel dann auch noch gesagt werden. :)
Finde aber gut, dass du so viel spekulierst~. Ich kann von meiner Seite aus nur sagen, dass alles mit der Zeit geklärt wird, manches dauert nur länger als das andere.

Ich liebe Cliff-Hanger auch. ♥ Tun wir uns zusammen. XD
Ah, schon gut, ich hänge momentan auch mit Lesen hinterher, aber bei uns beiden läuft ja nichts weg. :)
Danke nochmal, ich werde auf jeden Fall weitermachen. :3
Von:  MarySae
2015-03-05T06:49:19+00:00 05.03.2015 07:49
Ich finde ja, Luan hat recht. Der Unfall war wirklich Ferris Schuld. ER war der Fahrer und hätte aufpassen müssen! Wenn Luan nicht eingegriffen hätte, hätte er eine Frau tot gefahren.
Also kann Ferris eigentlich froh sein, dass sein Auto nur im Graben gelandet ist. Sie hätten sich ja auch leicht überschlagen oder gegen einen Baum fahren können! Das war wirklich leichtsinnig :/
(Wobei ich dazu sagen muss, dass man mit dem Auftauchen der Frau dort im Nirgendwo auch nicht hätte rechnen können.)

Aber ich mag die Diskussion am Anfang des Kapitels xD
Die beiden sind ja sehr schlagkräftig, aber Luan hat die Runde eindeutig gewonnen ^^

Okay, diese Frau. Irgendwie ist sie schon merkwürdig...
Und auch, wenn ich mir eingestehen muss, dass ihre Zweifel und ihr Misstrauen gerechtfertigt war, ist sie mir mit ihrer Reaktion ziemlich auf den Keks gegangen ^^'
Wirklich blöd, dass Luan sie gerade in dem Moment so ... unsittlich berührt hatte. Auch, wenn seine Ausrede mit dem Prüfen ihrer Gesundheit eindeutig berechtigt war. Aber ihr gefiel das gar nicht. Natürlich nicht. Sie war irgendwo am A.... der Welt und neben ihr saß ein seltsamer Typ. Was sollte sie sonst denken?
Zumindest war es mutig von ihr sich so gegen ihn zu wehren!

Was mich gleich zu dem Schluss des Kapitels bringt. Hmmm. Was ist da wohl passiert? O.o Die Uhr spielt verrückt und da taucht irgendjemand, den Luan kennt, in dem Licht auf. Viele Infos gibt es dazu ja nicht, auch wenn die mich sehr interessieren würden ;)
Bin wirklich gespannt, wer genau die Frau eigentlich ist!

Ein super Kapitel! :)
viele Grüße, Mary
Antwort von: Platan
05.03.2015 14:27
Oh, wieder neue Kommentare! Vielen Dank. ♥
Luan freut sich, dass noch jemand seiner Meinung ist. Da muss Ferris sich nun wirklich geschlagen geben. :,D
Aber klar, Ferris hätte besser aufpassen müssen, das steht außer Frage. So ist er halt.

Mara soll am Anfang (und eine ganze Zeit lang) auch sehr "wirr" und "komisch" wirken, mit ihrer ganzen Art. Ich hatte deswegen schon immer die Erwartung/Befürchtung, dass sie unsympathisch rüberkommen wird. :,D
Daher bin ich schon mal erstaunt, dass du nach diesem Kapitel weitergelesen und dich nicht hast abschrecken lassen. ^^
Mara ist jedenfalls nicht ohne Grund so "merkwürdig". ;)

Viele Infos gebe ich diesbezüglich noch wirklich nicht. XD
Dafür tauchen aber bald erste Informationswellen auf. Der gesamte Anfang bis über Kapitel 10 hinaus dient eigentlich nur der Einführung, weil ich unmöglich alles in ein-zwei Kapiteln erklären konnte/wollte. °_°
Deshalb ist da viel Geduld angesagt. >_<
Und es freut mich sehr, dass du die bisher aufrecht erhälst. Vielen Dank. :3
Von:  MarySae
2015-02-17T16:58:10+00:00 17.02.2015 17:58
(Hihihihi, ich bin eben einfach gut darin, aus dem Nichts aufzutauchen ;) Das wurde mir schon mehrmals gesagt xD)

Na, die beiden machen doch gleich mal einen ... interessanten Eindruck. xD
Ein ziemlich muffliger Miesepeter und ein Strahlemann/ möchtegern Frauenversteher. Das sind immer die besten Teams. xD Wie heißt es doch so schön? Gegensätze ziehen sich an! xD

Jedenfalls ist das ein sehr schönes Kapitel!
Du hast sehr interessante Bröckchen an Informationen reingeschmissen, ohne wirklich welche zu erklären. Ich mag das eigentlich :) Das hält die Spannung aufrecht und mach neugierig auf mehr! :D
Den Move mit der Taschenuhr am Ende stell ich mir auch ziemlich cool vor! :D Mit dem pulsierenden Licht und alldem. Ne echt gute Idee! :)
Und auch sein Satz am Ende...
Aus der Beschreibung konnte man das mit seiner stehen gebliebenen Zeit ja schon raushören. Ein interessanter Aspekt, der wirklich was her macht!
Da bin ich schon echt gespannt drauf zu erfahren, was da eigentlich los ist! :D

Gefällt mir alles immer noch sehr gut! ^^
Mal sehen, wann ich dazu komme, weiterzulesen. Freue mich aber schon auf mehr! :D
viele Grüße, Mary
Antwort von: Platan
18.02.2015 16:14
Wieder vielen lieben für deinen Kommentar. ♥

"muffliger Miesepeter" als Bezeichnung für Luan finde ich gut, er eher weniger. XDDD
Freut mich auf jeden Fall, dass die beiden ihren bleibenden Eindruck hinterlassen haben. :3

Es beruhigt mich, dass hier scheinbar doch Spannung aufkommt, hatte da immer so ein bisschen Sorge. Ich wollte ewig schon mal eine Geschichte mit Taschenuhren schreiben, daher bin ich glücklich, dass meine bisherigen Ideen in der Verbindung gut ankommen. :D

Lass dir ruhig Zeit, LsS rennt ja nicht weg~. Danke nochmal, hoffentlich hast du weiterhin Spaß. ♥
Von:  MarySae
2015-02-16T19:04:05+00:00 16.02.2015 20:04
Ich habe es endlich mal geschafft, diese Geschichte hier anzufangen! D: Ich hatte mir das schon sooo lange vorgenommen, weil der kleine Inhaltstext wirklich interessant klang! Aber irgendwie bin ich immer wieder von abgekommen... *seufz*

Aber jetzt konnte ich wenigstens Mal reingucken und fühle mich jetzt in meinem Verdacht bestätigt: Das ist wirklich sehr interessant! :D
Diese ganze Idee mit den Träumen und Albträumen... Das Thema ist richtig gut! (In meiner neuen OF spielen die Träume ja auch eine große Rolle, wenn auch eine komplett andere, als bei dir hier ^^)
Wahnsinn, wie viel Interpretationsspielraum da ist! Und deine Art und Weise die Träume zu sehen, macht echt was her! :D

Hach ja, die guten Bücher... Die sind und bleiben einfach magisch.
Ich finde es immer witzig, wenn der Hauptcharakter in einem Buch selber so gerne Bücher liest. ^^ Das passt einfach so gut! xD

Zumindest sind mir die beiden Damen schon richtig sympathisch :) Noch durfte man sie zwar nicht groß kennen lernen, aber das wird bestimmt noch kommen! :D
Besonders das Ende hat mich jetzt leicht irritiert O.o Und vor allem neugierig gemacht O:
(Ich würde zu gerne das nächste Kapitel noch lesen, aber mir tun die Augen heute so weh -_- Fies... Aber ich denke, morgen werde ich ein bisschen weiterlesen!)

Also, ein echt guter Anfang! Klingt alles schon wirklich sehr gut!
Freu mich auf mehr! :D
viele Grüße, Mary
Antwort von: Platan
17.02.2015 04:22
Der Kommentar kam so überraschend und unerwartet, ich konnte ihn nur erst total ungläubig anstarren. Also, wow, dankeschön~. ♥
Ich habe echt nicht mit weiteren Lesern hier gerechnet, umso mehr freut es mich natürlich. :D
(Und ich kenne das, wenn man sich was vornimmt, aber nicht hinterherkommt <--- *hängt selbst mit zig Geschichten beim Kommentieren nach*)

Träume und Alpträume machen sich als Thema immer gut für Geschichten. :3 (ich mag dieses Thema einfach total)
Deshalb bin ich ja auch gespannt, wie das Thema bei deiner Geschichte ihren Lauf nehmen wird~.
Danke auf jeden Fall! Freut mich so sehr, dass dir meine Darstellung von Träumen bisher gefällt. :3

Bücher sind eben awesome ... egal ob in der Realität oder Fiktion~. XD

Du wirst wahrscheinlich noch ganz oft irritiert sein, ich neige nämlich dazu zigtausend Fragen aufzuwerfen und die erst seeehr spät zu beantworten. XD
Oh, und ich liebe Cliffhanger. :,D

Nochmals vielen Dank. :>
Es ist immer toll, von anderen guten Schreibern zu hören, dass ihnen eine Geschichte gefällt. ♥
Ich hoffe, du magst auch, was noch kommen wird.
Liebe Grüße zurück~.
Von:  Flordelis
2014-10-04T15:34:05+00:00 04.10.2014 17:34
> Luan rauschte förmlich wie ein Blitz durch die Eingangshalle des Hotels und wich geschickt allen Hindernissen aus, ohne sie wirklich wahrzunehmen.
Weil er zu seinem Liebsten eilen muss, der in höchster Gefahr schwebt! TT_______TT
Kieran: Das wird nie aufhören, oder?
Faren: Niemals~.

> Sorge war es, durch die er so überaus nervös war
*quietscht leise*

> was an den farbigen Lampenschirmen aus Glas lag
Ah, ich liebe solche Lampen. ♥
Die sind so dermaßen großartig.

> Sie saß regungslos neben der Tür zu ihrem Zimmer
Nicht Naola! TT________________TT
Meine Liebe! D;
Kieran: ... Warum ist das so schwer? >_<
Creepy-Kieran: Weil du dumm bist~.

> „Hey, Luan.“
Das stelle ich mir grad voll emotional vor, schlimm. TT______TT

> ihre Kleidung war teilweise zerrissen
Faren: ಠ‿ಠ
Kieran: Ich weiß genau, was du wieder denkst.
Faren: Dann muss ich es ja nicht erst sagen. XD

> Viel Erfahrung mit Kämpfen besaß sie demnach nicht.
Arme Naola. :<
Ist immer schlimm, wenn gerade die, die nicht so erfahren sind, kämpfen gehen müssen. >_<

> „Eigentlich wollte ich zusammen mit Tesha nach einem gemütlichen Café suchen, aber ich bin vorher nochmal zurück in euer Zimmer, um etwas zu holen.“
> Tesha? Das Hotel hieß so. Gab es hier etwa eine Person mit dem gleichen Namen? Musste wohl so sein.

Nein, Schatz, Naola ist objektophil und wollte unbedingt mit dem Hotel in ein Café, um sich dort mehr mit ihm zu unterhalten. *nick*

> Precious. Damit war Ferris gemeint, nur Naola nannte ihn so. Wann und wie das zwischen ihnen zustande gekommen war, wusste Luan nicht
Kieran: Ich glaube, ich gebe es langsam auf.
Alo: ...
Faren: ... Du willst doch nur, dass Alo es dir verrät. :,D
Kieran: Verdammt! >_<

> „Als wäre ich nicht die, die es haben will.“
Er wartet auf Luan, yay~.
Creepy-Kieran: Er hätte sie trotzdem crushen können.
Faren: Nein! D;
Creepy-Kieran: ... Stimmt, ist viel zu anstrengend.

> Ich wusste ja, dass er traurig ist. Aber nicht, wie traurig.
Precious. TT___________TT

> Vorsichtig hielt Luan sie fest, um sie vor einem unsanften Zusammenstoß mit dem Boden zu bewahren.
*quietscht wieder leise*

> in dem Fall war ihre Gesundheit natürlich wichtiger als der Groll, den Luan gegenüber Vane empfand
*leise blubber*
Kieran: Gut, in so einem Fall würde ich auch Jii anrufen.

> Ich schaffe das alleine und ich werde es beweisen.
So viel Ehrgeiz. ♥

> Schon vor dem zweiten Anrufton nahm jemand an der anderen Leitung ab und es war Vane persönlich.
Wer soll es denn sonst sein? Hat er noch mehr Assistenten? =O

> „Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.“
So badass~. ♥

> Diesmal wird Ferris im Notfall wohl nicht auftauchen. Er atmete tief durch. Diesmal muss ich ihn retten.
*quietscht schon wieder*
Ach, ich liebe die beiden~. ♥

> besaßen mehrere Fähigkeiten auf einmal, was auch durchaus vorkommen konnte
*abspeicher*

Ich finde das Refugium ja großartig. Ich hab auf Twitter nicht übertrieben, als ich meinte, ich werde sterben, wenn ich jemals eines schreiben muss. XD
Ich tue mich in "Sternenfeuer" schon bei den Barrieren so unendlich schwer, aber ein Refugium wird dann echt heavy werden. Du hast das wirklich großartig gemacht, dafür kann man dich nur bewundern. ♥
Vor allem erklärt das noch einmal genauer, warum es wohl Traumbrecher gibt, die im Angesicht eines Albtraums Angst bekamen. In so einem Refugium hätte ich auch Angst. D;
Kieran: Ich bin gerade so froh, dass ich kein Traumbrecher bin.

> „Du bist an diesem Unglück schuld, hörst du?!“
Was hat Precious getan? :<
*will ihn drücken*

Auch die Auswirkungen der Angriffe sind so toll und eindrücklich beschrieben worden. Ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sagen soll, weil ich es einfach großartig finde~.

*will Precious noch mehr drücken* TT_______TT
Faren: Oh Bro. :<

Ich weine hier wirklich. ;<

> Meine Traumzeit ist eingefroren, aber meine Beine funktionieren noch. Richtig, Ferris?
Besonders hiernach. TT____________TT

Ich hab jetzt gegen Ende nicht mehr viel zititert oder kommentiert, weil ich immer nur wieder hätte sagen können, wie genial ich das alles fand, also bekomsmt du es als Zusammenfassung:
Dieses ganze Kapitel war DER Hammer!
Das Refugium ist großartig, der Kampf einfach nur woah und die Hintergrund-Infos absolut passend eingestreut und es gab sowohl für Luan als auch für Ferris Charakterisierung. Und der erste richtige Blick auf die Atem-Prägung war auch extrem spannend gewesen.
Einfach nur toll. Man kann nichts anderes dazu sagen. ICH kann es jedenfalls nicht.
Absolut großartig.
Antwort von: Platan
10.10.2014 21:25
Und wieder: Vielen Dank. ♥ ENS folgt jetzt. :3
Von:  Flordelis
2014-10-01T12:23:08+00:00 01.10.2014 14:23
> In einem Teil wird es auch endlich mal einen richtigen Kampf geben! Yay~
Hurra!
Kieran: Yay.

> Naola wollte sich doch mit ihm unterhalten oder war dieses Gespräch etwa schon längst über die Bühne gegangen?
Ja und es war so tragisch. TT_________TT
Am Ende hat Ferris beschlossen, sein Auto wieder blau zu lackieren! BLAU!
Kieran: Ich sehe die Tragik dahinter nicht.
Alo: Rot ist so eine schöne Farbe. TT______TT *mag rote Autos*

> Irgendwie erfüllte es Luan mit Erleichterung, seinen Arbeitskollegen zu sehen, was schon lange nicht mehr vorgekommen war.
Awwwwwwwww~ ... *stutz*
He! Er hat ihn nicht mal als "Freund" bezeichnet. TT___________TT

Hoppla und Nanu.
Das sind Worte ... ich weiß gar nicht, wie ich sie nennen sollte, würde man mich danach fragen. Aber ich finde sie sehr schräg, ein bisschen altmodisch vor allem. Deswegen finde ich es sehr interessant, dass gerade Creepy-Precious sie sagt.

> Unter Traumbrechern wurde alles, was mit Gefühlen und Energie im Zusammenhang stand, also die Seele mit all ihren Bestandteilen, als Atem bezeichnet.
Das ist so ... religiös. ಠ‿ಠ
Kieran: Versteh ich nicht.
Faren: In der Bibel hat Got den Menschen seinen Odem eingehaucht, um sie zum Leben zu erwecken - also seinen Atem.
Kieran: Ah.
Alo: o_O
Faren: Was? Mein Vater hat mich auch in die Sonntagsschule geschickt. ... Deswegen find ich die Lazarus-Bezeichnung auch so lustig. :,D
Kieran: >_>
Faren: Wusstest du, dass Lazarus der Patron der Metzger und der Totengräber ist? XD
Kieran: Ich hätte gut weiterleben können, ohne das zu wissen. =_=

> die Prägung bei den Traumbrechern, durch die sie eine gewisse Individualität erlangten
Faren: *Luft hol*
Kieran: Ab Deepest Dark, ja.
Faren: Oh gut~. ^^
Alo: Übrigens gefällt mir das Konzept wahnsinnig gut~. Deswegen übernehm ich sowas in der Art. >:D

> Moment, bedeutete dass etwa, seine Gefühle waren wirklich durch eine Atemhypnose manipuliert worden?
Ah, ich hätte das Kapitel doch nicht im übermüdeten Zustand korrigieren sollen:
dass --> das

> Daran hatte er aus eigener Kraft gearbeitet, also wollte er das nicht glauben.
Mein armer kleiner Schatz. :<

> Neben ihm beugte er sich so weit zu ihm runter, dass er ihm ins Ohr flüstern konnte. „Würdest du dich gefälligst noch etwas zusammenreißen?“
Hrhrhrhrhrhrhrhrhrhrhr~
... Aber warum sollte Creepy-Precious so etwas zu ihm oder Creepy-Luan sagen?
Hmmm ... ich bin aktuell sehr ratlos. DA! Ich sehe nicht alles vorher! XD

> „Besser?“, wollte Ferris wissen und drückte ihn noch mehr an sich, als wollte er ihn trösten.
*leise quietsch*
Faren: Warum muss ich jetzt an die Snieckers-Werbung denken?
Alo: XDDDD

> Überfordert senkte er den Kopf und bettete es in seinen Händen
Echt mal, keine Korrekturen mehr, wenn ich eigentlich schlafen sollte.
Entweder ersetzt du "es" durch "ihn" oder du schreibst stattdessen "sein Gesicht".

> Das Buch kannst du auch noch morgen holen, auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an, findest du nicht?
Und gerade heute schaffen sie es, mit dem Buch Cthulhu zu beschwören und die Menschheit ins Verderben zu reißen. Gut gemacht, Creepy-Precious. ಠ_ಠ

> Es war komplett schwarz lackiert.
Naola hatte auf dem Rückweg nämlich einen Unfall und um der Strafverfolgung zu entgehen, beschloss sie, den Wagen neu lackieren zu lassen. ಠ‿ಠ
Kieran: Das macht dir Spaß, oder?
Alo: Sehr sogar. =D

> Zuletzt war es doch noch knallrot gewesen, genau wie die Decke im Kofferraum, oder?
Kieran: Ist die Decke denn noch da? Das ist wichtig! ಠ_ಠ

Aaaah, das ist so angenehm creepy, irgendwie~.
Also diese ganze Autofahrt im Allgemeinen. Die gefällt mir atmosphärisch extrem gut~.

> Bald hatte sich ein grauer Schleier im gesamten Innenraum des Wagens ausgebreitet und der Hustenreiz wollte gar nicht mehr aufhören.
Faren: Was für ein mieses Kraut raucht der Kerl denn? ಠ_ಠ

> Vor langer Zeit hatte Ferris ihm zuliebe das Rauchen aufgegeben
Awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww~ ♥

> Schlimmer war jedoch, dass er seine Hände nicht am Steuer hatte, sondern eine zum Rauchen nutzte und die andere als Kissen hinter den Kopf gelegt hatte. Gemütlich saß er zurückgelehnt in seinem Sitz, sah geradeaus nach draußen in die Schwärze, als gäbe es dort eine Menge zu sehen.
So awesome~. ♥

> Ich hatte ganz vergessen was für ein armseliger Anblick du sein kannst, ohne diese Atemhypnose.
Das war der Punkt, an dem ich Creepy-Precious nicht mehr mochte. u_û
NIEMAND beleidigt meinen Luan-Schatz! >_<

> Ich habe ihr schon vor etwa zwei Tagen einen Besuch abgestattet und halte mich seitdem in der Gegend hier auf.
DU warst das im Prolog! ò_ó

> Ich bin hier, um dir ein faires Spiel vorzuschlagen und das hast du nur meinem Wirt zu verdanken, weil er dich so sehr mag.
Awwww, Precious mag Luan~.
Kieran: Das ist keine Neuheit.
Alo: Ich finde es immer wieder schön~. ♥

> Für Dämonen waren andere Jäger zuständig
Kieran: Wohl wahr.

> Du bist ganz schön unhöflich, Luan.
Sagt derjenige, der raucht, obwohl es dem anderen ganz offenbar nicht guttut. =_=

> Du hast gerade das Vergnügen mit einer. Ich bin eine Geißel.
Uuuuuuuuuuh, VIP! *~*
Faren: Dämonen haben keine Hierarchien, oder? o_O
Kieran: Keine, die mir bekannt wären.
Alo: Aber Lazarus-Dämonen sind grundsätzlich intelligenter als jene, die auf natürlichem Weg Dämonen werden, die dann allerdings über eine größere Stärke verfügen.

> Abscheu hatte das Lächeln förmlich in Stücke gerissen und sich den Thron in der Mimik seines Herren zurückerobert.
So ein verdammt großartiger Satz! Respekt~!

> Ich bin der Grund dafür, warum ihr hierher in diese Stadt geschickt wurdet.
Wie funktioniert das eigentlich? Wie kann Creepy-Precious woanders sein als Precious? :3

> Was glaubst du, wieso ich wohl so wie Ferris aussehe, hm?
Faren: Weil mein Bro total stylish ist. =)
Kieran: Ich zweifle, dass das der Grund ist.

Das Auflösen des Refugiums war auch großartig beschrieben~. ♥

> Dort kreisten sechs lange, hellblau leuchtende Klingen gleichmäßig um seinen Unterarm herum
DAS IST SO COOL! Ich liebe die Atem-Prägung! X3

> Falls ja, musste er dringend herausfinden, wer ihm das angetan hatte
*starrt Vane an* ಠ‿ಠ

> Schade, ich bin nicht dazu gekommen dir zu sagen, was ich sagen wollte.
Verdammt! ಠ_ಠ

Also ich fand das Kapitel großartig~.
Wirklich toll gemacht, sehr eindrucksvoll geschrieben, alles in allem einfach wahnsinnig~.
Auch wenn Creepy-Precious mittendrin unterbrochen wurde, haben wir ein wenig was erfahren und haben genug Spannung mitbekommen, um weiter dran zu bleiben.
Sehr gut gemacht. =)
Antwort von: Platan
10.10.2014 21:10
Auch hier vielen Danke. ♥ Bald folgt eine ENS. ^^
Von:  Flordelis
2014-09-29T14:09:27+00:00 29.09.2014 16:09
> Uuund es werden mal wieder neue Fragen in den Raum geworfen. Ich bin SO gut darin. :,D
Guuuuuuuuuuut~

Kieran: Hast du wirklich Zeit hierfür?
Alo: Sicher. =)
Kieran: War da nicht noch-
Alo: La la la la la la~ ♫
Kieran: =_____=

Ah, Entspannung~.
Ich würde mich auch gern entspannen~.
Faren: Halt dich an mich, ich bin gut im Entspannen~.
Kieran: Halt dich lieber nicht an ihn. >_>

> der ihn an eine hohe Klippe führen wollte, mit einer beeindruckenden Aussicht auf ein weites, grünes Tal. Überdacht wurde dieser Anblick von einem wolkenlosen, strahlend blauen Himmel und die Sonne schloss alles in eine warme Umarmung ein. Direkt von dieser Klippe floss ein Wasserfall in das Tal hinab, in dem Ruhe und Frieden herrschte.
Diese Beschreibung gefällt mir so wahnsinnig gut, die ist richtig toll geworden~. ♥
Hat wirklich was sehr Entspannendes an sich.
Kieran: Ich will da auch hin. D;

> Tatsächlich hatte er geträumt und konnte sich auch daran erinnern.
Und ich bin immer noch gespannt, wie du das eigentlich erklären willst. :,D

> Allmählich wurde ihm jedoch bewusst wie kindisch er sich benommen haben musste, als er Bernadette und Mara sofort begeistert davon erzählt hatte, ohne dabei richtig Luft zu holen.
*quietscht leise und total begeistert und ist allein bei der Vorstellung hin und weg*
Faren: Gibt es irgendetwas, das dich auch so begeistert sein lässt, Kieran?
Kieran: ... Nein.
Faren: Wirklich?
Kieran: ... Ich werde es dir bestimmt nicht verraten.

> Inzwischen hatte er sich aber beruhigt und war reichlich beschämt davon, wie er sich nur so unprofessionell verhalten konnte.
Neeeeeeein, du warst dabei bestimmt total niedlich! ♥

> Mit einem Handtuch, das mehr als weich war
Weil es mit Perwoll gewaschen war~.

OMG, ein Chara, der sich rasiert!!!!11111111111elf
How can that be? ಠ_____________ಠ
Kieran: ...
Faren: Spätestens hier endet Luans Ähnlichkeit mit Kieran. Ich glaube, Kieran hat von Natur aus keinen Bart. :,D
Kieran: =_=
Faren: Er ist eben ein kleiner Uke~.
Kieran: =_________________________________=

> der sie eh nie brauchen würde, weil er tot war
Dieser Halbsatz klingt so ... fies, irgendwie. °____°

> Luan war davon überzeugt, dass der Trugmahr in diesem Buchladen der Verstorbene Geist ihres Mannes sein musste
*quietscht leise*
*ist total begeistert von dieser Tatsache*
*will so etwas auch haben* TT__________________________TT

Schöpfer-Prägungen stelle ich mir so cool vor ... was man damit alles machen könnte. Auch wenn die geschaffenen Dinge dann vielleicht nicht lange bleiben.

> Von nun an sollte er sich wieder zusammenreißen.
Faren: Nein! ;<

> „Nein, vom Weihnachtsmann. Natürlich von dir, du verfluchter Zelot! Von wem denn sonst?!“
Wie ich mir das davor vorstelle. XD
So am anderen Ende: "Was? Etwa von mir?" ಠ_ಠ "Das ist nicht mein Job."

> Ja, toll. Jetzt weiß ich es, schon klar!
XDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDDD

> Welche arme Seele wohl am anderen Ende hing?
Vane? ಠ‿ಠ
Kieran: Da vergeht einem das Mitleid direkt wieder.

> Ferris und Luan hatten sich noch nicht auf ihre eigentliche Mission konzentrieren können
Ich vergesse andauernd, dass sie noch gar nicht bei der eigentlichen Mission waren. XD
Kieran: Langsam kommt die einem nur wie ein Plotdevice vor.
Faren: Ach, wir kommen bestimmt noch hin~.

> Klang, als hätte dieser Jemand am Telefon sie beruhigen können, sie schien von etwas berührt zu sein.
Alo: ಠ_ಠ
Kieran: ...
Faren: Was bedeutet das?
Kieran: Falls es sich bei ihrem Gesprächspartner um Vane handelt, neidet sie Bernadette gerade aktiv an.
Faren: Ooooooh~.

> so heruntergekommen
Kieran: Wie nett. =_=
Faren: Na ja, wenn er so schlecht aussah ... :,D
Kieran: Das ist trotzdem nicht nett. >_>

> Dieses Getränk hatte er noch nie gemocht und das würde sich auch in Zukunft nicht ändern.
Kieran: Ich kann es dir so gut nachfühlen, Luan.
Faren: Ich weiß nicht, was du gegen Kaffe hast. D:
Kieran: =_=

> Mit ihr in so einer alltäglichen Umgebung zu sein, brachte auch andere, angenehmere Gefühle zum Vorschein
Awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww~

> Wenn sie kein Mensch war, was war sie dann?
Ja, WAS? >_<
Wir haben das Geheimnis von Vane gelüftet, aber was ist das von Mara?! D;
Kieran: Du hast sein Geheimnis nur "gelüftet", weil Rachel dir lauter Hinweise zugespielt hat.
Alo: ... Danke, Kieran. =_=
Kieran: =_=
Faren: Oh je. ^^;;;

> Mentale Veränderung und magische Einwirkung?
WW!Kieran: Das Buch würde ich ja gern mal sehen.
Alo: Was machst du denn hier? Kusch! Weg!

> Außerdem, Luan, wenn du wirklich so pflichtbewusst bist, wie du tust, warum stürmst du dann nicht sofort nach oben und nimmst Mara das Buch ab?
Faren (als Luan): Ich hab Angst vor ihr. :<
Kieran: Hör auf, dich über ihn lustig zu machen.
Faren: Seit wann bist du hier sein Leibwächter? ò_o
Kieran: >_>

Wenn nur Atanas es lesen darf, warum wurde es dann geschrieben?
... Oder wer hat es denn geschrieben? D:

> Ich bin wirklich ein schlechter Traumbrecher
Kieran: Denk das nicht! >_<
Faren: ... Kieran ist ja richtig fürsorglich geworden, was Luan angeht. o_O
Alo: Jaaaaa~. ♥

> Bestimmt durfte er sich von den anderen Traumbrechern dann anhören, wie nutzlos er war und nicht mal einer Frau ein Buch abnehmen konnte.
Faren: Manche Frauen sind aber auch richtige Furien. D;
Russel: Ja, versuch Seline mal was abzunehmen, was sie nicht rausrücken will.
Seline: Bitte? o_ó
Russel: Äh, ich meine, du bist perfekt und absolut keine Furie. :,D
Seline: ^^

> Die leuchtenden Kugeln schwebten um Bernadette herum, als wollten sie sie beschützen und ihr nahe sein.
Awwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwwww~ ♥♥♥
*will das immer noch klauen*

> Auch der Gedanke daran nicht, diesen Trugmahr melden zu müssen.
Warum eigentlich? D:

Was passiert eigentlich genau mit einem Traumbrecher, auf den geschossen wird?
*muss das wissen*
*so für Recherchezwecke und so*

> Irgendwie erwartete Luan eine dieser schwachen Ausreden, wie sie oft von solchen Leuten zu hören waren. Von wegen sie hätten einen guten Grund für ihr Handeln gehabt
Random-Lazarus: Da! Selbst dein kleiner Liebling sagt, dass das nur eine schwache Ausrede ist.
Kieran: ... Mir egal, ich hatte einen guten Grund für mein Handeln. ...

> Aber da es sowieso schon zerbrochen ist
Es?

Ich mag Charas, die zu singen anfangen. >_<
Also im Kampf oder sonstigen Gelegenheiten.
Kieran: ... Willst du mir deswegen Gesangsfertigkeiten in den Kampf mitgeben?
Alo: Ja!

Bernadette! D:

> Lieber Leser, bist du verwirrt? Das ist gut so, Luan nämlich auch. Warum soll er alleine leiden? XD
Kieran: Ja, lasst Luan nicht allein leiden! >_<
Faren: :,D
Alo: Awww~ ♥
Kieran: ... Könnt ihr nicht mal weghören oder so? =_=
Faren: Nein~.

Ah, wieder einmal ein gutes Kapitel. Hat mir sehr gut gefallen, auch wenn weiter keine Antworten kamen, aber es war mal wieder sehr unterhaltsam und kurzweilig geschrieben. ♥
Sehr gut gemacht, Liebes. ^^
Antwort von: Platan
10.10.2014 20:50
Nochmals großes Dankeschön! ♥ Antwort folgt mit ENS~
Von:  Flordelis
2014-09-08T14:10:25+00:00 08.09.2014 16:10
So, jetzt bin ich gestärkt und bereit für Creepy-Luan! ♥
Kieran: Mit Herzchen.
Alo: Mit Herzchen. ♥
Kieran: Ich versuche erst gar nicht, deinen Gedanken zu folgen.

> Schließlich zog er das Bein wieder zurück, ohne sein Vorhaben, Bernadettes Herz zu zerstören, beendet zu haben.
Puh~.
Jii: Also-
Kieran: WAH!
Jii: Jetzt erschreck dich nicht immer so, nur weil ich auftauche. =_=
Kieran: x______x
Jii: Jedenfalls, wenn unsere Herzen zerstört werden, haben wir 15 Sekunden Zeit uns das Herz eines anderen Mystischen zu schnappen und dieses einzunehmen.
Alo: ... Echt?
Jii: ... Ja. Glücklicherweise, sonst wäre ich schon tot. Dank dieser blöden Feuernymphe. =______=
Aurora: Ich wurde erwähnt! =D ... Aber ich bin die Sonnennymphe, bitte. u_û

> „War nur“, hauchte er, „ein kleiner Scherz.“
Es sind solche Sätze, bei denen ich zu quietschen beginne und begreife, wie viel du mir über bist. X3
So wahnsinnig toll~.

> Ich habe mir nur einen kleinen Spaß mit den zerbrechlichen Gefühlen eines Menschen gemacht.
Jii: Also ich mag diesen Luan sehr.
Kieran: Ich nicht. Der alte ist mir wesentlich lieber.
Jii: Weil du ein Langweiler und ein Mensch bist.
Kieran: Und?

> Die schwarze Kruste auf seiner Haut
Joel: ಠ_ಠ
Alo: Schau mich nicht so an. Die Szene mit Chris' Tod stand schon lange, bevor ich ich The LsS überhaupt kannte. u_û
Joel: Hmm.

> „Oh, Luan ist im Moment nicht zu erreichen. Tut mir schrecklich leid~“
Alo *als Creepy-Luan*: Bitte ruf später noch einmal an~. Einen schön-schrecklichen Tag noch. =D
Kieran: ...
Jii: Könnte Creepy-Luan meinen Anrufbeantworter für mich besprechen?

> Einige federnde Schritte brachten ihn wieder näher zu ihr, bis er an ihrer Seite stand und sich mit dem Oberkörper über sie neigen konnte.
Warum ist er so toll? ಠ_ಠ
Er hat diese verdammt coolen Posen drauf!

> Typisch, Menschen waren schon immer wahre Meister darin, alles auszublenden, was sie als schlecht und bösartig erachten.
Kieran: Wie kann man ihnen daraus einen Vorwurf machen? Es trifft nicht auf alle zu, aber es gibt nun einmal Menschen, die würden daran zerbrechen, wenn sie mit all der Bosheit und der Schlechtigkeit konfrontiert werden würden, die es gibt. Ich selbst habe manchmal Mühe, es auszuhalten.
Stellaris: Ich liebe die Welt auch mit ihrer Boshaftigkeit. ♥ Menschen sind so wunderbare Geschöpfe, mit all ihren Facetten, auch den negativen.
Jii: ... Von dir hätte ich gerne erst ein MRT und dann möchte ich dein Gehirn aufschneiden.
Stellaris: Nein! D:

> Ihr seid ja wandelnde Tote, die sich nur dank ihrer Träume noch bewegen können und durch den sogenannten Atemfluss frischgehalten werden.
Ich war ja schon gespoilert, aber das war trotzdem so WOOOOOOOOOOAH! °___________°
Und Kieran ist jetzt nicht mehr so eifersüchtig auf Traumbrecher.
Kieran: Es wäre mir zwar lieber, wenn ich nicht mehr altern würde, aber als Lazarus ist man irgendwie doch noch immer ein Mensch.
Jii: Übermensch. Ihr bekommt im Austausch gegen euren Seelenfrieden wahnsinnige Kräfte verliehen, die euch für immer bleiben und die mit jedem erlegten Dämon sogar anwachsen, nicht nur sechs Stunden - ihr dürft nur nicht verzweifeln. =)
Kieran: Und das ... ist ziemlich schwer.

> Schon blöd, dass ein Mensch erst sterben muss, bevor er zum Traumbrecher werden kann, was?
PRECIOUS! TT_____________________TT
*klammert sich an, den in der Szene nicht einmal vorhandenen, Ferris*

> Damit traf man bei Traumbrechern immer einen wunden Punkt
Kieran: Kann ich gut verstehen.

> Der Junge hat so viele Komplexe, auf die kann man gar nicht alle Rücksicht nehmen, selbst wenn ich wollte.
Alo: Creepy-Luan ist so gemein! TT_______TT
Jii: Ich mag ihn.
Kieran: Wie ist eigentlich Creepy-Cathan?
Alo: Der ist nicht gemein, nur ein wenig ... neben der Spur.
Jii: Ein wenig ist gut. Weißt du, was er mit-
Alo: *hält Jii den Mund zu* Shhhhhhhhhhhh!

> „Ah~“, reagierte er erfreut, verlor jedoch nicht den kalten Ausdruck in seinem Gesicht. „Jetzt kommen wir der Sache schon näher.“
Und dann bringt er wieder so etwas Tolles und ich bin wieder voll fasziniert von Creepy-Luan! >_<

> ließ ihre Taschenuhr ein Stück aus seiner Hand gleiten, bis er die Kette zu fassen bekam und fing an sie an dieser durch die Luft zu wirbeln, in Kreisen, wie eine Windmühle
ASDFGHJKL! Er ist böse, aber er ist dabei so cool!
Jii: ... *hält seine eigene Taschenuhr fest* Allein der Gedanke ...

> So gut wie keiner von euch Traumbrechern weiß, dass ihr die ganze Zeit in euch selbst einen Alptraum herumschleppt.
PRECIOUS! TT_________________________________________________________TT
Ja, ich muss dabei immer an ihn denken, weil er mir so leid tut! TT_________TT
...
Jedenfalls finde ich das aber so dermaßen cool. Eine wirklich großartige Idee~.

> Glaubst du, durch Schweigen diese Tatsache aus der Welt schaffen zu können?
Alo: Na ja, es gibt Märchen, in denen das funktioniert.
Kieran: Leider ist The LsS kein Märchen.
Alo: ...
Kieran: Alo?
Alo: Wenn es ein Märchen wäre, wäre Luan dann eigentlich der Prinz, der von seiner Liebsten von einem Fluch erlöst werden muss? Und wer wäre diese Liebste?
Kieran: *facepalm*

> Vane hatte mir damals zugesichert, dass er dafür sorgt, Luan im Hauptquartier festzuhalten!
Jii: Er hat bestimmt sein Bestes getan, aber Luans Kopf ist härter als Granit.

> Mitten im Dreh ließ er die Kette los, so dass ihre Uhr nach oben flog und er sie in der Luft mit einer Hand wieder auffangen konnte.
ASDFGHJKL!!!!!!!!

> Ihr mögt euch viel Mühe gegeben haben, aber einen Verrat vergisst man niemals.
Alle Lazari: *sehen Kieran an*
Kieran: Mann, am Ende rette ich euch doch alle, also seht mich nicht so an. =_= Und es ist ja nicht so, als hätte ich euch nicht doch ab und an unter die Arme gegriffen, wenn es wirklich schlimm stand, oder?
Alle Lazari: *leise murmel*

> Der Kleine ist wirklich ziemlich enttäuscht und verletzt wegen dem, was du ihm damals angetan hast.
Alo: *Luan in den Arm nehm* Oh, mein kleiner Liebling. TT_________TT

Ich muss ja übrigens sagen, dass ich es sehr interessant finde, dass Luans letzte Sekunde eingefroren ist und er somit quasi mit seinem Albtraum weiterhin feststeckt.
Ich hab nie wirklich darüber gesprochen, WARUM Kieran später immer wieder sagt, dass er nicht mehr verzweifeln kann und er sich deswegen auch keine Sorgen mehr macht. Aber das hängt damit zusammen, dass er an einer bestimmten Stelle seiner aktiven Lazarus-Karriere tatsächlich verzweifelt IST und dann gegen seine Anima gekämpft hat und eigentlich hätte er diesen Kampf verlieren und sich in eine Dämonin verwandeln müssen. Er lag sogar schon am Boden.
...
Kieran: Haben wir jetzt genug gespoilert?
Alo: Sie weiß ja immer noch nicht, was dann geschehen ist. :,D
Kieran: Ich will auch gar nicht daran denken. >_<
Jii: Aber das war so interessant! Und es war eine vollkommene Spiegelung von dem, was deinem Vater geschehen ist, was es NOCH interessanter macht!
Kieran: ...
Jii: ... Na dann nicht.
Kieran: Hier geht es übrigens um The LsS und nicht um "Die Guten sterben jung".
Alo: Aber ich entdecke so gern Parallelen zwischen dir und Luan! ♥

> Ich weiß aus einer zuverlässigen Quelle, dass ihr, du und dieser lästige Vane, genau darüber Bescheid wisst, wieso Luans letzte Sekunde eingefroren ist und ich will es wissen, denn ich hänge da genauso drin.
Woher weiß er das nur? °_°
Und warum weiß ich es nicht? :,D
Kieran: Willst du dir nicht ein wenig Spannung bewahren?
Alo: Aber ich bin auch so neugierig~.

> aber ich bin ein Alptraum
Alo *als Creepy-Luan*: Und ich bin cool, so deal with it. (⌐■_■)

> Schreiend ballte er die Hände zu Fäusten und schlug mit beiden einmal kräftig gegen den Boden,
ALTER! *_______*
Ich kann es nicht erklären, aber ich finde diese Stelle so cool und faszinierend!

> Natürlich geht es um Luan, um wen sonst?
Mir geht es um euch beide! Q_______Q

> Es war unnatürlich, dass er anders empfand.
Alo: Awwwwwwwwwwwwwwwww~.
Kieran: Das Gefühl kenne ich. Ich schlage mich in BL dauernd damit herum, weil mir das Töten Freude macht. Das ist unnatürlich!
Jii: Hm-hm.

> So lief es falsch, er durfte sowas wie Hoffnung nicht kennen.
Owwww, Creepy-Darling. :<

Wie ist Mara da nur reingekommen? WIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIEEEEEEEEEEEEE?!

Gott, die Szene danach ist so großartig, das kann man gar nicht in Worte fassen. Ich bin hier am Sitzen und mir Tränen aus den Augen wischen, weil sie so toll ist.
So ein toller Einfall, so großartig geschrieben ... einfach nur der Wahnsinn.

Kieran: Luan ist ein Waisenkind ...
Alo: Das bist du in CV auch.
Kieran: ... Ich bin nicht wirklich eines, ich fühlte mich nie so. Aber Luan ...
Alo: Nicht weinen, Kieran. D:
Kieran: Ich weine nicht. *verstohlen die Augen abwisch*

Estera. ... I want to know moreeeeeeeeeeee~.

Ich war mal wieder sehr fasziniert und angetan von diesem Kapitel. ♥
Und ich freue mich auf das nächste, so wie auf viele andere Dinge, die am Mittwoch kommen werden. ♥
Aaaaaaaaaah~ ♥♥♥

Kieran: Ich geh dann mal.
Alo: Zu Faren? =D
Kieran: ... Das geht dich ncihts an. >_>
Alo: Ich versteh schon. ;D
Kieran: >_<
Antwort von: Platan
19.09.2014 23:42
Uuuuund DANKE auch hierfür. Du hast Creepy-Luans Ego damit sehr gepusht. XD
Antwort folgt bald in einer ENS~
Von:  Flordelis
2014-09-02T11:08:32+00:00 02.09.2014 13:08
Ah, hier geht es weiter. *~*
Kiera: Du hast doch am Sonntag erst einen Kommentar geschrieben.
Alo: Und jetzt gleich noch einen. ♥

> Schlimm war das nicht, denn sie wollte ja sowieso zurückfahren und für ihn mit Ferris reden.
Es ist zwar schade, dass wir uns so schnell wieder von Naola trennen müssen, aber ich freue mich schon auf ihr Gespräch mit Ferris - und für die kommenden Ereignisse wäre sie ohnehin überflüssig gewesen.
Kieran: Wie nett.
Faren: Ist doch so.

Luans "Redefreudigkeit" finde ich immer noch so unheimlich genial. XD
Durch diese Einsilbigkeit bekommt er so unendlich viel Charakter, ohne dass du großartig darüber schreiben musst. Ich neid dir das voll an.
Kieran: ...
Faren: Kieran muss nicht mal was sagen, damit er Charakter hat. Man merkt auch so, dass er eifersüchtig ist.
Kieran: B-bin ich nicht!

> Nur ein wenig drehte sie den Kopf zur Seite, so dass sie ihn halbwegs über die Schulter hinweg mit den Augen erfassen konnte.
Das ist eine so wahnsinnig tolle Pose! *____*

Mara ist immer noch so ... mhm ... ich behalte sie im Auge. ಠ_ಠ
Ich will nicht sagen, dass ich sie nicht mag, ich kann sie nur noch nicht richtig einschätzen, da bin ich immer misstrauisch.

> Fast wäre ihm ein etwas hässlicheres Wort rausgerutscht
Alo: Luan, verrätst du mir, was du eigentlich sagen wolltest? =)

> dabei klangen ihre folgenden Worte eher traurig.
Alo: Owwwwwwwww. :< *Mara flauschen will*
Kieran: An sie traust du dich also nicht?
Alo: Ich kann sie ja nicht einschätzen. D:

> Es war offensichtlich, dass er mit ihr eine komplizierte Bekanntschaft gemacht haben musste und für gewöhnlich war es ihm lieber, sich von solchen Menschen fernzuhalten.
Kieran: Das kann ich so gut nachvollziehen. Komplizierte Leute neigen dazu, einem das Leben schwerzumachen. Und ich hasse das.
Faren: Bin ich auch kompliziert?
Kieran: Nein, nur anstrengend.
Faren: Na dann. =D
Alo: War Juran nicht auch kompliziert?
Kieran: ... Ju war eine Ausnahme.

Kieran: *macht den Mund auf*
Alo: Ja, ich weiß, Rachel hat Beschreibungen und ich nicht. ò_ó
Kieran: *schließt den Mund*
Alo: Ich weiß, dass Rachel viel toller ist als ich.
Kieran: Gut, dann muss ich es dir ja nicht erst mitteilen.
Alo: ... ಠ_ಠ
Kieran: ... Ich bin trotzdem dein Black Rock Shooter.
Alo: ♥
Faren: (Näher ran kommt man wohl nicht an ein "Ich liebe dich" von Kieran.)

Trugmahre hören sich SO schön an. *_______________*
Ich bin so neidisch, das glaubste gar nicht. D;
Das ist war wirklich Wundervolles, was du dir da ausgedacht hast. X3
... Ich will es klauen. TT___________TT
Kieran: Bitte schick mir keinen singenden Dämon an den Hals.
Alo: Nein, ich hab jetzt mehr an eine Verbindung mit Naturgeistern gedacht. Scheint eher was für die netten Damen zu sein. Aber ich hab da schon was anderes, yay~.
Kieran: Das ging schnell.

All diese Erklärungen, all diese Raffinesse! Wie machst du das nur? D;

Ein faszinierter Luan ist ein guter Luan. =)

> es war beinahe unheimlich, wie perfekt sich ihr Klang dort einfügte
What is it with Mara? >_____________________________________<
Kieran: Oh, Englisch, es wird ernst ...

> Übrigens spüre ich wieder deine Körperwärme, also tritt etwas zurück.
DIESER SATZ! XD
SO großartig! Ich liebe Luan! XDDDDDDDD

> „Aber“, wandte sie ein, „ich habe Angst.“
Alo: Kieran hätte nun nachgegeben und sie tatsächlich näher an sich herangelassen.
Kieran: Ich kann nichts dagegen tun. Wenn Leute Angst haben, möchte ich sie beschützen. >_>
Faren: Awwwww~
Kieran: =_=

> sie die rote Decke wahrscheinlich irgendwann abgelegt haben musste
Kieran: DIE DECKE! Ò_Ó
Alo: °_°

> Ein Wunder, dass der ihr noch nicht seine blaue Jeansjacke mit den vielen Pailletten angedreht hatte.
Sowas hat er echt? :,D
Oh, Precious~.

> Dieser schien sie zu verfolgen, was kein unübliches Verhalten für solche Geister war.
Kieran: Siehst du? Du wirst also nur von Trugmahren verfolgt.
Alo: Das beruhigt mich irgendwie nicht. ಠ_ಠ

> ein Foto von einem rothaarigen Mann mit Bart
MANN MIT BART!!!

> wie Menschen sie manchmal in alten Villen hinter Bücherregalen bauten
Hmmmm ... hat Luan das aus einem Geschichtsbuch oder kennt er sich vielleicht doch mit Popkultur aus? >:D

> Zumindest so lange nicht, bis die Kugeln des Trugmahrs anfingen sich auf dieser Wand zu einem Symbol anzuordnen. Ähnlich wie ein Sternenbild.
Awwww, das klingt so schön. ♥
Man kann sich das vor allem so gut vorstellen.
Kieran: ... Ich denke jetzt an Asterea ...
Alo: Ich auch~. =D
Kieran: ...

> „Ein Siegel.“
EIN SEEHUND! *______*

> sofern der Trugmahr ihn nicht an der Nase herumführte
Ein Trugmahr voller Schalk wäre bestimmt auch lustig ... in einer Parodie. :,D

> Häuser konnten zum Beispiel durch so einen erweiterten Riss von einem Tag auf den anderen einstürzen.
Ich finde es ja großartig, dass du, genau wie in Madoka, etwas ziemlich Alltägliches mit etwas Übernatürlichem erklärst. Ich liebe so etwas. ♥

> „Okay, ich hab’s. Aus dem Weg.“
Alo: Ich finde es so süß, wie Luan mit dem Trugmahr spricht, das ist so ... awwwwwwww~.
Kieran: Was ist daran so "awww"?
Alo: Das verstehst du nicht. D;
Kieran: *Faren anseh*
Faren: *mit den Schultern zuck* Ich versteh es auch nicht.

> Allein wegen dem Buch in deinem Arm werde ich auf jeden Fall zurückkommen.
Alo: *als Luan* Nicht wegen dir, du bist mir total gleichgültig, aber DAS BUCH! RUHM UND EHRE!

> Ich darf dich doch nicht aus den Augen lassen!
Ich frage mich ja, warum. ಠ_ಠ

Das Refugium erinnert mich auch wieder an die Hexenbarrieren. Ich mag Dinge, die mich an Hexenbarrieren erinnern.

> Ferris hatte recht, viel zu oft übersah er die offensichtlichsten Dinge, nur weil er sich zu sehr mit anderen Sachen beschäftigte.
Faren: Das erinnert mich an jemanden.
Kieran: Ich weiß nicht, wovon du redest.
Faren: Und ich nenne keine Namen, Kieran.
Kieran: ಠ_ಠ

Creepy-Luan! *__________*
Kieran: Wie kannst du das toll finden?
Alo: Wieso nicht?
Kieran: Mit mir machst du das aber nicht, oder?
Alo: Nein, ich hab schon Creepy-Landis, Creepy-Cathan, Creepy-
Kieran: Warte! Creepy-Cathan?
Alo: ... =X

> Warum ausgerechnet jetzt? Wieso finde ich sie gerade jetzt?!
Because of Plot, the Almighty! °________________°

Woher kennen die sich? ಠ_ಠ
Was haben die miteinander zu tuuuuuuuuuuuuuuuun?

> Luan, ich weiß, dass du mir nicht zuhören willst, aber ich kann dir alles erklären.
Alo: Erklär es miiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiir, ich höre zu! D;
Kieran: Ich frage mich ja, ob Alo weiß, dass die sie nicht hören können.
Faren: Ich finde das süß.

> „Oh nein! Für Verrat kann es niemals einen guten Grund geben! Niemals!“
Alle Lazari: *wieder zu Kieran seh*
Kieran: He! Erstens bin ich nicht der einzige Verräter, ja? Zweitens hatte ich einen wesentlich besseren Grund als alle anderen Verräter zusammen. Mein Plan ist perfekt! Wenn ihr euch nicht dauernd einmischen würdet. =_=

> „Nun, ich werde nichts bereuen. Luan aber ganz bestimmt.“
*öffnet ihren Twitter-Account*
WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS WAS
Das sind jetzt 35x WAS, die immer noch ganz genau ausdrücken, was ich an dieser Stelle dachte. :,D

Das ganze Kapitel war so dermaßen cool!
Erst diese eher etwas ruhige Stimmung mit dem Trugmahr, ein wenig Anspannung bei der Suche, dann die Barriere und dann ... CREEPY-LUAN! UND DIESER CLIFFHANGER!
Ich bin so dermaßen gespannt, wie es weitergeht, das würdest du mir niemals glauben! NIEMALS! ಠ_ಠ
Kieran: Und sie ist neidisch.
Alo: Sei endlich still, Mann. D;
Faren: ^^
Antwort von: Platan
19.09.2014 23:14
Nochmals Danke. ♥ Antwort wird auch hier in einer ENS folgen. :3


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