The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 35: Ich zerstöre euch alle! ----------------------------------- Luan plante, zurück zu den zerbrochenen Spiegeln zu gehen und sich die Scherben genauer anzuschauen, denn er wusste nicht, wo er ansonsten im Refugium mit der Suche anfangen sollte. Er müsste ziellos alles abgrasen, was die schlechteste Option wäre. Dieser Ort könnte inzwischen viel zu groß geworden sein, wodurch sich das Erkunden in die Länge ziehen würde, oder sich jederzeit wieder verändern und ihn somit zwingen von vorne zu beginnen. In der Zwischenzeit wären Ferris und Bernadette dann vielleicht wirklich schon verloren. Daran sollte er aber nicht denken. Immerhin unterstützten Mara und Naola ihn tatkräftig mit positiven Gefühlen und Gedanken, wofür sie sich ebenso anstrengen mussten, weil das einiges an Konzentration erforderte. Besonders über die getrennten Ebenen hinweg, zwischen Realität und Refugium. Lange hielten sie das wahrscheinlich nicht aus. Ein spöttisches Gelächter hallte über den Nagelwald hinweg, der größtenteils von Luan gestutzt worden war. Anscheinend glaubte Verrell immer noch an seinen Sieg und nahm diesen Rückschlag gar nicht als solchen wahr, sondern amüsierte sich vielmehr an den Geschehnissen. Wie zuvor ertönte Verrells Stimme als ein verzerrtes Echo aus der Ferne: „Denkt ihr etwa ernsthaft, Hass lässt sich so leicht mit euren guten Gefühlen überschreiben? Oh nein.“ Die letzten beiden Worte wurden von einem Laut begleitet, der nach Genugtuung klang. Zeitgleich begann die Umgebung plötzlich stark zu flimmern, wie bei einem alten Film, und ein unangenehm lautes Rauschen erzeugte zusätzlich den Effekt eines Störbildes bei einem alten Fernsehgerät. Trotz dieser beunruhigenden Zeichen rannte Luan weiter, ohne sich davon aufhalten zu lassen und blieb wachsam. Erst als sich auch noch sämtliche Farben umkehrten und das Schwarz sich um ihn herum zu Weiß wandelte, musste er innehalten. Dieser abrupte Farbwechsel schmerzte in den Augen, doch das hielt nur wenige Atemzüge lang an. Erneut veränderten sich die Farben, Weiß und Schwarz vermischten sich zu einem wabernden Ganzen, überzogen von einem bunten Schleier, der an Seifenblasen erinnerte. Was plante Verrell damit schon wieder? Oder brach das ganze Refugium auf einmal zusammen? Dessen Schöpfer musste vorhin eine schwere Verletzung einstecken, also wäre das ein gutes Zeichen für Luan. „Hoffnung ist so eine naive Einstellung“, kicherte Verrell düster. „Überlege doch mal: Was passiert, wenn man Gutes und Böses mischt? Chaos. Und du weißt doch, wie intensiv Traumwelten auf Gefühle reagieren. Mit Refugien ist das nicht anders.“ Also entstanden diese merkwürdigen Veränderungen durch Luan? Das würde bedeuten, mit seiner Prägung hatte er Verrells Hass und die Hoffnung, die er von Mara und Naola bekam, miteinander vermischt. Dabei spürte Luan gerade nur die gutartigen Energien, aber vielleicht kämpfte sich der Gegenpart bereits zurück an die Oberfläche und schaffte damit einen Konflikt. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Zielstrebig lief Luan weiter und kam schließlich bei den Scherben der Spiegel an. Dort kniete er sich auf den Boden und sammelte ein großes Stück Glas auf, um es sich aus der Nähe anzusehen. Obwohl diese Scherben besonders sein müssten, wirkten sie vollkommen gewöhnlich. Hatten sie beim Zerbrechen ihre Funktion verloren? Suchend ließ Luan kurz den Blick über die Umgebung schweifen, konnte jedoch nichts entdecken, was auffälliger wäre als die Glasscherben. Darum sah er nochmal auf das Stück hinab, das er in der Hand hielt, und erschrak innerlich. Sein Spiegelbild hatte sich verändert und zeigte eine andere Version von ihm, zweifelsohne diesen Kian. Grimmig erwiderte dieser sein Starren, mit dem er deutlich aussagte, dass er Luan am liebsten eigenhändig zerfetzen wollte. Sollte Kian auch eine Geißel sein, schien er ebenso bösartig zu sein wie Verrell. „Ich warte immer noch“, drang Kians Stimme dumpf aus der Scherbe hervor. „Breche endlich!“ „Nun dränge ihn doch nicht so“, reagierte Verrell irgendwo im Refugium auf diese Beschwerde, die nicht mal an ihn gerichtet war. „Halt du ja schön die Klappe!“, zischte Luans Spiegelbild, von Zorn erfüllt, der seine roten Augen unheilvoll zum Glühen brachte. „Du hättest mir ruhig mal sagen können, dass du so genau weißt, was es mit diesem verdammten Gefängnis auf sich hat, in dem ich hier verrotte! Von diesem Fluch hätte ich gern gewusst, so viel zur Zusammenarbeit.“ Luan zwang sich unterdessen zur Ruhe, auch wenn Kians Anblick ihm Angst einjagte. Es weckte verlorene Erinnerungen an einen gnadenlosen Kampf mit ihm, den er vergessen hatte. Ausgerechnet in dieser Situation wollte er sich nicht an vergangene Bilder entsinnen, sonst geriet das Refugium wegen ihm schlimmstenfalls noch mehr aus den Fugen. „Kian, bitte“, stöhnte Verrell genervt. „Ich kann nichts dafür, dass du nicht mit demselben Wissen beglückt bist wie ich. Übrigens hätte das sowieso nichts an deiner Lage geändert, du warst eben noch ein Teil von Luan und deshalb schließt dich der Fluch natürlich mit ein, wenn die Gefahr besteht, dass der Weltenbrecher durchdreht.“ Kian schwieg, allerdings schienen ihm tausend Dinge durch den Kopf zu gehen, sollte Luan seinen Gesichtsausdruck richtig deuten. Er beschloss, die beiden vorerst zu ignorieren und sich weiter auf Ferris und Bernadette zu konzentrieren. Als er die Scherbe in den Händen ein wenig hin und her drehte, bemerkte er dabei etwas Leuchtendes, das nur in bestimmten Winkeln in dem Spiegelstück erschien. Schnell erkannte Luan, wie er es halten musste, so dass er zwei rot leuchtende Fäden sehen konnte, die sich unsichtbar aus den Spiegeln heraus über den Boden zogen. Nicht mal seine Taschenuhr hatte ihm dabei geholfen, sie zu bemerken. Woran mochte das liegen? Im Hintergrund stritten Verrell und Kian sich immer mehr, doch er hörte ihnen nicht mehr zu, auch wenn es interessant wäre. Sicher könnte er noch einige neue Informationen herausfiltern, aber womöglich versuchten sie mit ihrem Gespräch nur, ihn abzulenken. Lieber setzte er seine Priorität bei der Rettung seiner Gefährten und folgte, dank der Glasscherbe als Hilfsmittel, den Fäden durch das Refugium. Dieser Weg war mit Erfolg gekrönt: Sie führten ihn direkt zu Ferris und Bernadette, die nicht weit entfernt in einem Teil des Nagelwaldes lagen, in dem er sich zuvor nicht bewegt hatte. Demnach waren die einzelnen Bäume in diesem Bereich noch hoch gewachsen, durch die Instabilität des Refugiums schien das Metall jedoch seine Härte verloren zu haben. Wie vertrocknete Blumen waren die einzelnen Nägel nach unten geknickt. Kaum erblickte Luan die reglosen Körper von Ferris und Bernadette, hastete er zu ihnen hinüber. Einige Alpträume belagerten sie und klebten teilweise sogar an ihnen, als würden sie die beiden aussaugen wollen. Nur ein paar Schüsse aus seiner Pistole waren nötig, um diese schattenhaften Missgestalten aus dem Weg zu räumen und in Traumsand zu verwandeln. Sie waren derart vertieft gewesen, dass sie Luans Auftauchen nicht bemerkt hatten. Zuerst hockte er sich danach neben Ferris und prüfte dessen Lebenszeichen. Er konnte erleichtert aufatmen, sein Freund war nicht tot, sondern schlief nur. Wobei das nicht unbedingt besser war, wenn er in einem schrecklichen Alptraum gefangen sein sollte. Falls diese Wesen vorhin zur Gattung der Dunstmahre gehörten, hatte Verrell sie bestimmt dazu genutzt, die Träume von Ferris und Bernadette zu manipulieren. Dunstmahre waren darin wahre Meister. Zwar konnten sie ihre Handlungen nicht auf die Realität ausweiten und befielen nur Trübträume, aber gerade deswegen galten sie als gefährlich. Menschen, die nicht wussten, dass sie träumten, nahmen diesen Zustand häufig als real wahr, was sie zu leichten Opfern für einen Dunstmahr machte. Er trieb die Menschen gern in den Wahnsinn und hinderte sie leicht daran, überhaupt wieder aufzuwachen, weil der Träumer davon überzeugt war schon in der Wirklichkeit zu sein. Das war heikel. Ferris trug seine Taschenuhr um den Hals und Luan musste mit Entsetzen feststellen, dass sie tickte. Eine Menge Zeit war verstrichen, Ferris hatte kaum noch welche übrig. Sofort schloss Luan für ihn die Uhr und deaktivierte sie. Bei der Berührung flossen kurzzeitig die Emotionen von Ferris auf ihn über, sie waren geprägt von Sehnsucht und Angst. Alles wird gut, dachte Luan zuversichtlich, in der Hoffnung, diese Worte erreichten Ferris in seinem Traum. Du schläfst nur. Wach einfach auf, okay? Im Augenwinkel konnte Luan flüchtig wahrnehmen, wie einer der Fäden in der Reflektion der Scherbe verblasste und verschwand. Waren sie mit den Taschenuhren verbunden? Konnte eine Geißel wirklich so weit gehen und sein Refugium mit der Seele eines Traumbrechers verbinden? Allein die Vorstellung war unheimlich. Wenigstens atmete Ferris allmählich etwas ruhiger als zuvor, also verließ Luan seine Seite vorerst wieder und huschte zu Bernadette hinüber. Ihre Uhr war ebenfalls aktiv, was er änderte und sie zum Stoppen brachte – seltsamerweise erfuhr er durch die Berührung bei ihr nichts von ihren aktuellen Emotionen, ihr Herz fühlte sich nur auffallend kalt an. Auch bei ihr verblasste der Faden im Spiegel und verschwand spurlos, was hoffentlich bedeutete, dass die beiden endlich vom Refugium getrennt waren. Du hast auch so viel Zeit verloren ... aber du solltest damit besser zurechtkommen. Liefen die Taschenuhren etwa seit Verrell sie hier eingesperrt hatte? Das konnte nicht sein, in dem Fall hätte keiner von ihnen überhaupt noch Traumzeit übrig. Zwischendurch musste ihre Zeit durchaus angehalten haben. Vermutlich aktivierten die Uhren sich jedes Mal, sobald sie in ihren Alpträumen dazu gezwungen waren sich zu verteidigen und weil ihr Geist diese Lage als ernstzunehmende Gefahr einstufte, reagierten ihre Energiequellen darauf hier in der Realität. Dunstmahre konnten also auch Traumbrecher in die Irre führen. Wieder wollten ihm Bilder durch den Kopf spuken, durch die Ereignisse aus der Vergangenheit wachgerüttelt werden sollten. Damals musste er schon einmal festgestellt haben, wie bedrohlich Dunstmahre für Menschen und Traumbrecher gleichermaßen sein konnten. Wie zuvor schien es sich dabei nur um schlechte Erinnerungen zu handeln. „... Luan?“, hauchte eine ihm vertraute Stimme schwach und unterbracht somit den Ablauf der Bilder abrupt. Bernadette war aufgewacht, im Gegensatz zu Ferris. Anscheinend besaß sie wesentlich mehr Willensstärke als er. Eigentlich sollte Luan sich darüber ärgern, dass sie als Verräterin als erstes erwachte, aber er war vielmehr froh darum. Durch ihr blasses Gesicht und die Erschöpfung in ihren Augen wirkte sie mehr tot als lebendig. Ihr Blick schien sogar beinahe leer zu sein. „Ja“, antwortete er knapp und sah sie besorgt an. „Wie geht es dir?“ In der Frage lag die stumme Bitte versteckt, dass sie durchkommen sollte. Ihm kamen Verrells Worte wieder in den Sinn. Er wollte nicht schuld daran sein, falls Bernadette hier wegen ihm starb, nur weil er auf sie geschossen hatte. Bestimmt hätte sie noch mehr Kraft zur Verfügung, ohne seinen Angriff. Immerhin raubte sie einst vielen anderen Traumbrechern ihre Zeit und musste daher mehr als genug zur Verfügung haben, doch ihre Uhr zeigte die gewohnten sechs Stunden an. „Es tut mir leid“, brachte Bernadette mühevoll hervor und hob zitternd eine Hand, die sie an Luans Wange legte. Er wehrte sich nicht dagegen. „Was ich damals getan habe ... ich wollte dich nicht verletzen.“ Wieso kam sie nun auf dieses Thema zu sprechen? Hatte sie seine Gedanken gelesen? So gern er mehr erfahren hätte, Luan musste bei der Sache bleiben und ging nicht auf ihre Worte ein. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, wir müssen hier raus.“ Nach dieser Aussage wollte er aufstehen und sich um Verrell kümmern, das Ganze beenden. Aber Bernadette hielt ihn am Arm fest, mit ihren letzten Kraftreserven. „Warte, bitte.“ Selbst das Atmen schien ihr schwerzufallen. „Hör mir zu.“ Luan wollte ihr widersprechen, doch er konnte nicht. Sie gab sich alle Mühe mit ihm zu sprechen. Insgeheim wünschte er sich, sie würde ihn so fröhlich ansehen wie damals und ihre altbekannten Späße machen. Selbst ihre lockigen Haare hatten ihre Form verloren und ähnelten nur noch einem Haufen Stroh, den man unmöglich wieder richten könnte. Da er nichts sagte, nahm sie das als Anlass dafür weiterzusprechen: „Ich habe dich nur beschützen wollen, deshalb stahl ich den anderen ihre Traumzeit.“ „Mich?“, reagierte Luan ratlos. „Wovor?“ „Vor einem Monster ... allein mit meinen Fähigkeiten hätte ich es niemals in Schach halten könnten.“ Instinktiv fiel sein Blick auf die Scherbe, die er noch in der Hand hielt. Etwa vor Kian? Zumindest wäre das eine logische Schlussfolgerung. Langsam wurde ihm bewusst, wie viel Macht und Einfluss eine Geißel wirklich ausüben konnte. Wenn selbst jemand wie Bernadette zusätzliche Kräfte benötigte, nur um einen Feind auf Abstand zu halten, musste das einiges bedeuten. Nicht umsonst galt sie als eine der besten Schöpfer unter den Traumbrechern. „Egal, was du eines Tages hören magst“, begann Bernadette, musste jedoch schwer husten und sich selbst unterbrechen. Achtlos warf Luan das Spiegelstück weg und legte auch die Pistole zur Seite, damit er ihr mit beiden Händen ein wenig in eine aufrechte Position helfen konnte. So sollte sie etwas besser Luft bekommen. Ein müdes Lächeln drückte ihren Dank für diese Geste aus, bevor sie einfach mit dem Reden fortfuhr: „Lasse dir niemals einreden, ich hätte es nur für andere getan oder für die eine, große Sache. In erster Linie tat ich es für mich selbst, denn ich bin ein sehr egoistischer ... Mensch. Weißt du ...“ Bernadette schloss träge ihre Augen, ihr Lächeln blieb bestehen. „Ich und Edge, wir wollten immer Kinder haben, aber ich konnte keine bekommen. Als ich dann dich traf, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, für jemanden wie eine richtige Mutter sein zu können. Du brauchtest diese Fürsorge so sehr und mich hat diese Aufgabe mit Glück erfüllt. Darum wollte ich dich beschützen, weil ich dich so lieb habe.“ Jegliche Wut und Schmerzen, unter denen Luan seit ihrem Verrat gelitten hatte, lösten sich gänzlich in Luft auf, denn er glaubte ihr. Jedes Wort. In ihrer Stimme spürte er dieselbe Zuneigung wie aus alten Tagen und er wusste einfach, dass sie nicht log. Plötzlich schämte er sich dafür, so lange an ihr gezweifelt und ihr Vorwürfe gemacht zu haben. In Wahrheit war alles seine Schuld. Ohne die Atemhypnose hätte er ihr bestimmt früher Gehör geschenkt und auf seine Gefühle vertraut. „Verzeih mir“, sagte Luan heiser, seine Stimme zitterte leicht. „Okay? Jetzt hör auf, so zu reden. Ferris würde sicher sagen, dass nur Sterbende in solchen Momenten Dinge dieser Art erzählen, also lass es bitte. Wir sollten wirklich hier raus.“ Nach und nach wurde Bernadettes Atem ruhiger. Zu ruhig, anders als bei Ferris. Schleichend geriet er in Stillstand. „Es ist schon gut“, entschuldigte sie sich leise. „Du wirst nicht mehr alleine sein.“ Jedes Wort klang leiser und leiser, bis ihre Stimme schließlich mit dem letzten erstickte. Hilflos spürte Luan, wie ihr Körper in seinen Armen erschlaffte und kein Funken Kraft mehr übrigblieb. Ungläubig schüttelte Luan den Kopf. Sie atmete nicht mehr. Unmöglich. Traumbrecher konnten nicht so einfach sterben, es sei denn, ihre Uhr wurde zerstört oder befand sich zu weit von ihnen entfernt. Besonders Bernadette konnte mit all der ergaunerten Zeit nicht hier und jetzt ihr Leben verlieren. Wie sollte das funktionieren? Vorsichtshalber kontrollierte Luan nochmal ihre Taschenuhr und vergewisserte sich, dass sie noch Zeit übrig hatte. Woran war also gestorben? Genau wie vorhin fühlte ihr Herz sich kalt an, was nicht normal war. Mein Schuss? Schlagartig wurde ihm übel. Ist ihre Seele zerbrochen, wie Verrell behauptet hat? Nein. Nein, das kann doch nicht sein. Alles in ihm sträubte sich dagegen, das zu glauben. Müsste ihre Taschenuhr nicht irgendeinen Schaden davontragen, wenn es so wäre? Außer dieser Kälte? Immerhin war das ihr Herz und noch schien es intakt zu sein. Nervös fing er an sie zu schütteln und versuchte sie aufzuwecken, sie könnte nur in einen Tiefschlaf gefallen sein. „Bernadette. Bernadette, komm schon.“ Es kam ihm unwirklich vor. So weit durfte es nicht kommen, niemand sollte sterben. Dafür war Luan zurückgekommen und nicht um trotzdem so etwas erleben zu müssen. Zum ersten Mal wäre er mehr als dankbar, könnte er wirklich nur in einem furchtbar langen Alptraum feststecken. Das durfte nicht die Wirklichkeit sein. „Wach auf!“, rief Luan verzweifelt. „Bernadette!“ Nichts. Bernadette war tot. Einfach so. Mama ... Vorsichtig legte er sie wieder auf den Boden ab und rang um seine Selbstbeherrschung. Schwankend richtete er sich auf und atmete schwer, beide Hände zu Fäusten geballt. Längst waren die Stimmen von Kian und Verrell verstummt, sicher hatten sie mitbekommen, was los war. Wahrscheinlich amüsierten sie sich sogar darüber. Dieser Gedanke war es, der Luan in Rage versetzte. Aufgebracht fuhr er herum und schrie in die Weiten des Refugiums: „Ich hab die Schnauze voll von deinem scheiß Spiel! Was soll das hier werden?! Führst du ein dramatisches Theaterstück auf, ist es das?! Seid ihr so wild darauf, mich brechen zu sehen?! Lieber werde ich wahnsinnig und zerstöre euch alle, bevor ich von einem Fluch eingesperrt werde!“ Eine brennende Hitze erfasste seinen Körper, ausgelöst von der schwarzen Ablagerung. Tatsächlich reagierte sie abermals sofort auf seinen Gefühlsausbruch und regte sich, zog sich unangenehm zusammen und engte ihn ein. Im Moment war das Luan völlig egal, er kochte vor Wut und würde erst recht explodieren, wenn er das zu verdrängen versuchte. „Habt ihr kapiert?! Ich vernichte euch! Ich vernichte euch! Ich zerstöre euch alle!“ Aus der Ferne flogen die Atem-Klingen herbei und kehrten an seinen rechten Arm zurück, wo sie sofort sämtliche Farben verloren. Einen Augenblick lang blieben sie unbeschrieben und verschwanden ins Nichts, bis sie anfingen golden zu strahlen. Um ihn herum schmolzen die Metallnägel in sich zusammen und bildeten auf dem Boden einen See aus wirren Farbkombinationen. Da war es schon wieder. Ein Herzschlag. Luan hörte es laut und deutlich, in seinem Geist. Es kam direkt aus seiner Seele und schärfte all seine Sinne. Bei jedem Herzschlag nahm das Strahlen seiner Klingen zu und wurde von einer Energie durchflutet, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte, dennoch kam sie ihm bekannt vor. Sie war unbeschreiblich. Er hörte die gesamte Welt atmen. Er erlebte sämtliches Glück und Schmerz. Er drohte sich darin zu verlieren. Automatisch bewegte sich Luans Körper und feuerte die goldenen Klingen ab. Spielend rissen sie das Refugium auseinander, innerhalb von Sekunden, als wäre es nur eine simple Leinwand. Von überall regneten pechschwarze Splitter herab und weißer Traumsand wirbelte herum – auch kein Alptraum blieb verschont. Seine Klingen zogen jeweils einen Schweif aus glühenden Funken hinter sich her. Der Prozess dieser Zerstörung ließ sich kaum mit den Augen verfolgen, es geschah so schnell, dass Verrell bald keine Versteckmöglichkeit mehr blieb. Finster fixierte Luan die Geißel mit seinem Blick, das Refugium war Geschichte. Haufenweise Splitter flogen weiterhin durch die Gegend und lösten sich nach und nach auf, sobald sie den Boden oder etwas anderes berührten. Luan, Verrell, Ferris und Bernadette befanden sich im Keller des Buchladens, zurück in der Welt der Lebenden. So war es von Anfang an geplant gewesen. „Beeindruckend, aber nicht verwunderlich, bei dir“, kommentierte Verrell das Ganze gewohnt kühl. „Du bist ja auch ein hohes Tier, nicht wahr? Zwecklos ist es trotzdem, diese Stadt gehört schon mir.“ Statt etwas darauf zu erwidern, zögerte Luan nicht und griff ihn mit seinen Klingen an. Bevor sie die Geißel aber erreichen und durchbohren konnten, tauchte sie geschwind in den Schatten ab, womit sie erfolgreich auswich. Instinktiv wollten die Klingen Verrell folgen, rammten sich jedoch nur tief in den festen Boden hinein und blieben dort stecken, bei Luan im Raum. Das konnte nicht wahr sein. Nach all diesem Ärger gelang dem Feind wirklich so leicht die Flucht? Noch immer wagte Verrell es offensichtlich, mit Luan zu spielen und so zu tun, als hätte er jede mögliche Wendung vorher kommen sehen und mit eingeplant. Diese Selbstsicherheit machte ihn verrückt. „Egal, wo du dich versteckst, ich werde dich finden“, knurrte Luan hasserfüllt. „Hörst du mich?! Ich zerstöre jedes Refugium in dieser Stadt, bis ich dich erwische!“ Hierbei handelte es sich nicht mehr nur um ein Spiel oder eine Mission von Athamos, es war persönlich. Es war unverzeihlich. Ein sanftes Glockenspiel hinderte Luan daran, einen lauten Schrei auszustoßen, indem es seine Aufmerksam auf den Trugmahr lenkte. Edgar war mit ihnen im Keller, bis zum Ende hatte er die Stellung gehalten. Ein Teil der leuchtenden Kugeln wanderte zu Bernadette, während der andere sich tröstend auf Luans Schultern und seinem Kopf niederließ. Von dem Trugmahr ging eine wohltuende Wärme aus, wie eine Umarmung. So eine hatte Luan sich nicht verdient, er konnte Edgar seine Bernadette nicht heil zurückbringen. Und doch versuchte er gerade, Luan zu beruhigen. Der Schrei blieb ihm weiterhin im Halse stecken und wich einem Schluchzen. „Ich habe versagt ...“, flüsterte Luan reumütig. „Entschuldige ... es tut mir so leid.“ Jemand sagte seinen Namen, doch es war nicht Edgar. Trugmahre konnten nicht sprechen. Bei der Person handelte es sich um Ferris, der inzwischen ebenfalls aufgewacht war und an seine Seite trat. Ihn zu sehen, lebend, trieb Luan erst recht Tränen in die Augen. Er schluckte hart, weil er sie zurückhalten wollte. Ferris sah vollkommen erledigt aus, aber er lebte. Er lebte. Wenigstens er. Schweigend legte Ferris einen Arm seine Schultern, wogegen Luan sich nicht wehrte, obwohl die harte Kruste gerade noch besonders aktiv war und Hitze verströmte. „Danke, dass du gekommen bist“, hörte er Ferris müde sagen. Die Verwirrung musste bei ihm noch groß sein, aber momentan schien es ihm wichtiger zu sein, Luan zu danken und ihm Halt zu geben. In der Tat war das unbeschreiblich hilfreich. Nicht lange und Schritte eilten über ihnen in den Laden hinein, wurden lauter. Mara und Naola hasteten zu ihnen in den Keller, große Sorge stand ihnen ins Gesicht geschrieben, vermischt mit Erleichterung. Sofort schlang auch Naola die Arme um ihn und schimpfte halbherzig mit Luan darüber, wie unvorsichtig er gewesen sei, betonte jedoch auch, wie stolz sie auf ihn war. Ihre Unterstützung hatte sich schon über die Atem-Prägung heilsam angefühlt, solche direkte Nähe blieb aber unvergleichbar. Also ließ Luan sich darauf ein und stieß niemanden weg, sondern ließ sich von ihnen halten. Nach wie vor waren seine Klingen von einem goldenen Strahlen erfüllt, das nur langsam schwächer wurde, und er hatte das Gefühl, wegen der Ablagerung schlechter als sonst Luft zu bekommen. Sie musste in der letzten Stunde gewaltig zugenommen haben, sein Körper war schwer und steif. Mara kniete neben Bernadette und Luan befürchtete bereits, dass sie jede Sekunde zu weinen anfangen würde, sobald sie ihren Tod bemerkte. Schon anhand seiner Gedanken musste sie es wissen. Allerdings kam es, zu seiner Überraschung, ganz anders, als erwartet. Schon als er Mara aufatmen hörte, schielte er irritiert zu ihr, wagte sich aber nicht nachzufragen was los sei. Im Grunde wusste er es. Oder? Folgende Worte sorgten anschließend dafür, dass Luan ernsthaft an seinem Verstand zweifelte: „So ein Glück, sie lebt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)