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The last sealed Second

Diarium Fortunae
von

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Ich bin gerade erst angekommen

Sie tauchten gänzlich in dem strahlend weißen Licht, das sie auf der anderen Seite der Tür empfing, ein, und fielen. Für einen kurzen, beunruhigenden Moment lang wirkte die Schwerkraft auf sie und zerrte ihre Körper hinab ins endlos anmutende Nichts. Panisch klammerte sich Mara bei diesem unerwarteten Sturz sofort hilfesuchend an Luan fest und kniff aus Reflex die Augen zusammen.

Diese Körpernähe behagte ihm zwar nicht, aber er legte dennoch verständnisvoll einen Arm um ihre Hüfte und hielt sie so fest, mit der Absicht, ihr dadurch etwas Sicherheit zu schenken, obwohl sie noch fielen. Negative Gefühle erweckten hier im Sicherheitsnetz sonst nur zu viel Misstrauen, doch er wusste, wie beängstigend es sein konnte, wenn man das erste Mal durch ein Tor nach Athamos schritt. Ihm ging es damals nicht anders, ohne jegliches Vorwissen siegten stets die schlimmsten Vorstellungen.

Für Mara mussten sich die Sekunden, in denen sie unaufhaltsam nach unten stürzten, wesentlich länger und intensiver anfühlen. In Wahrheit dauerte es aber nicht lange, bis die Schwerkraft nachließ und sie allmählich zu schweben anfingen, getragen von dem angenehm warmen Licht, das sich wie eine zweite Haut über sie gelegt hatte, sie wirklich zu berühren schien. Gemächlich glitten sie weiter hinab, wie schwerelose, leichte Federn.

Als Mara diese Veränderung bemerkte, öffnete sie wieder zögerlich die Augen und blickte sich nervös um. Noch gab es jedoch nichts anderes als dieses Weiß zu sehen, von dem sie getragen wurden. Erst als ihr Flug schließlich endete und unter ihren Füßen auf einmal ein unsichtbarer Widerstand zu spüren war, der sie hielt, änderte sich etwas an der Umgebung, was sich kaum wahrnehmen ließ. Luan machte sich nicht die Mühe, Mara darauf hinzuweisen.

„Fast geschafft“, sagte er ruhig und zog sie behutsam mit sich. „Du musst keine Angst haben.“

„Ich habe keine Angst“, behauptete sie leise und ging mit kleinen Schritten vorwärts. „Mich hat das nur etwas erschreckt.“

Vane, der schon aufgrund seiner Körpergröße zu weitaus längeren Schritten fähig war als sie beide, ging schweigend an ihnen vorbei, in einem zügigen, strammen Tempo. Seine Gestalt wurde nach und nach von dem Licht verschluckt, je weiter er sich von ihnen entfernte, bis er nicht mehr zu sehen war. Wenige Augenblicke später konnte man nur noch anhand eines Quietschens, das sich ungewöhnlich wohlklingend anhörte, erahnen, dass er soeben durch eine weitere Tür gegangen sein musste.

Auch für sie wurde nach einer Weile im Licht die nächste Tür sichtbar, abermals aus Holz, aber diesmal ohne irgendwelche nennenswerten Details. Völlig einsam stand sie ohne Rahmen mitten an diesem Ort herum, geduldig darauf wartend, als Durchgang für jemanden dienen zu dürfen. Ohne zu zögern griff Luan nach der Klinke, öffnete die Tür und führte Mara mit sich hindurch, hinaus aus dieser Ebene, die den Verbindungsweg darstellte.

Dadurch lösten sich die kaum sichtbaren Fäden von ihnen, dank denen ihr Sturz vorhin in ein schwereloses Segeln übergegangen war, und blieben im Licht zurück, aus dem sie selbst bestanden. Kaum hatte Luan die Tür hinter ihnen geschlossen, kehrte Normalität zurück, was das Körpergefühl anging. Kein Fallen. Kein Schweben. Alles war normal.

Mara sah das offenbar anders, denn sie blickte sich mit großen Augen um, nun mehr fasziniert als nervös. „Wo sind wir hier?“

„In Athamos“, beantwortete Luan ihre Frage – hier durfte man den Namen ruhig offen aussprechen. „Das ist unser Portalraum.“

Ihre Faszination konnte er gut nachvollziehen, denn selbst heute empfand er diesen Ort selbst noch als magisch und beeindruckend, schon weil der Raum sehr weitläufig war.

Im Zentrum ragten kreisförmig steinerne Wände in die Höhe, wie ein großer, breiter Turm. In ihm ließen sich noch mehr Türen finden, die tiefer ins Hauptquartier hineinführten. Golden schimmernder Efeu schlängelte sich außen an dem Gestein empor und verschwand mitsamt der Wand in einen dunklen Nachthimmel, an dem unzählige Sterne funkelten.

Schmale Wege aus Stein führten schwebend von etlichen Türen aus, die allesamt völlig willkürlich im Raum verteilt herumstanden, zum Turm in der Mitte, genau wie jeder einzelne Zweig eines Baumes stets zurück zum Stamm führte – Luan stellte sich darum gern vor, der Nachthimmel bildete eine Art Wiese mit Glühwürmchen und alles stände auf dem Kopf, denn der Grund könnte farblich perfekt nach oben passen.

Nur ein Meter unter ihnen ruhte nämlich ein tiefer See, aus dem der Efeu hervorkam und sich an einigen Stellen auch um die brückenartigen Pfade über der Wasseroberfläche klammerte. Davon ließen sich die Traumbrecher, von denen hier immerzu irgendwo welche herumliefen, aber nicht stören. Solange man sich hier vorsichtig bewegte, konnte man eigentlich nicht einfach vom Weg herunterfallen. Ferris hatte es trotzdem einmal geschafft ...

Ferris, dachte Luan besorgt.

„Das Wasser“, hörte er Mara sagen, „sieht so schön aus.“

Der See bestand aus allerhand verschiedenen Blautönen, die harmonisch ineinander übergingen. Aus den Tiefen des Wassers heraus erfüllte ein beruhigendes Glühen den Portalraum gedämpft mit Licht, weshalb es über ihnen dunkel war, doch selbst die Sterne spendeten ein wenig Helligkeit. Durch den Efeu glitzerte der See leicht golden.

„Komm, gehen wir“, drängte Luan und löste seinen Arm von ihr, da sie jetzt keine Angst mehr zu haben schien. „Hier herrscht ständig Betrieb, also sollten wir besser nicht zu lange im Weg herumstehen. Oh, und du kannst meine Uhr jetzt loslassen.“

Diese letzten Worte betonte er mit etwas Nachdruck, weil sie sich daran erinnern sollte, dass er Nähe nicht mochte. Glücklicherweise vertraute sie ihm wohl genug, um ohne Misstrauen seiner Bitte mit einem knappen Nicken nachzukommen. Nachdem sie sich von seiner Taschenuhr getrennt hatte, nahm er sie sofort ab und steckte sie zurück in seinen Mantel, bevor er Mara mit einer raschen Handbewegung zu verstehen gab, dass sie vorgehen sollte.

Auch dieser Geste folgte sie ohne Widerworte und bewegte sich langsam über den schmalen, gewundenen Pfad, der sich ab und zu mit anderen kreuzte, Richtung Turm. Sogar für sie musste es offensichtlich sein, dass dort der Ausgang lag, auch wegen den anderen Traumbrechern, die stetig ein und aus gingen. Von Vane war aber auch hier weit und breit nichts mehr zu sehen, bestimmt war er schon ohne sie weitergegangen.

Wenn er dachte, er könnte sich davor drücken, sich um Luans Atemhypnose kümmern zu müssen, indem er vor ihm weglief, irrte der Arzt sich gewaltig.

Denk daran, Vane, du hast schon zugestimmt.

„Ist der Himmel echt?“, fragte Mara unterwegs und warf zwischendurch immer wieder mal einen Blick nach oben, konzentrierte sich jedoch lieber mehr auf den Weg.

Auch Luan sah nun kurz hinauf. „Nein, jedenfalls handelt es sich dabei nicht um denselben Himmel wie draußen, in der Realität.“

„Also ist er künstlich?“, vermutete sie.

„Richtig.“

Auf einmal wirkte sie ein wenig bedrückt. „Verstehe ...“

„Aber er ist durchaus echt“, stellte Luan richtig. „Wir können ihn sehen, die Sterne spenden uns ein bisschen Licht und der Anblick löst etwas in uns aus, sei es Begeisterung oder Gleichgültigkeit. Das macht ihn doch auf eine besondere Art lebendig.“

Mara gab nur einen nachdenklichen Ton von sich, statt noch etwas darauf zu sagen, woran er sich keineswegs störte, vielmehr hieß er diese Ruhe willkommen. Reden lag ihm eigentlich nicht so wirklich, es sei denn, ein Thema interessierte ihn. Träume zum Beispiel, darüber könnte er eine Menge sagen, doch selbst dafür war jetzt nicht die richtige Zeit.

Je näher sie dem Turm kamen, desto öfter trafen sie mit anderen Traumbrechern zusammen, die aber überwiegend nur aus Höflichkeit einen knappen Gruß aussprachen und sich nicht von Maras Anwesenheit irritieren ließen. Immerhin könnte sie einfach nur ein neues Mitglied sein, was nicht weiter verwunderlich wäre. Manchmal schlugen regelrecht Wellen von Neulingen auf Athamos nieder und oft kam man nicht mal dazu, jede Person richtig kennenzulernen.

Am Ziel angekommen, übernahm Luan wieder die Führung und öffnete eine bestimmte Tür, durch die sie in eine runde Halle kamen, dem Vorraum, der im Keller von Athamos lag. Auch hier zeichneten etliche Türen in den Wänden den Ort aus, nur war es nicht mehr so magisch wie vorher. Alles war aus altem, grauem Gestein und es gab keinerlei Lichtquellen, woran man sich als Traumbrecher natürlich nicht störte, wenn man an die Dunkelheit gewöhnt war.

Der einzige Blickfang, neben den Türen, bildete eine Wendeltreppe, die sich um eine stabile, weiße, Säule herumschlängelte, und zu sämtlichen Stockwerken sowie Bereichen in Athamos führte. In unregelmäßigen Abständen huschten Traumbrecher zwischen den Türen und der Haupttreppe hin und her und umgekehrt. Niemals herrschte hier Ruhe, es war immer etwas los. Schade, denn es gab Zeiten, in denen Luan zu gern den Portalraum betreten wollte, nur um sich einfach von der Magie des Ortes beruhigen zu lassen.

„Ich nehme an, du willst das sofort erledigen?“, lenkte eine Stimme seine Aufmerksamkeit auf sich und ließ diesen Gedanken zurück in den Hintergrund rücken.

Vane hatte offenbar hier auf sie gewartet und stand mit verschränkten Armen nahe der Treppe, den Blick fest auf Luan gerichtet, so ernst wie eh und je. Jeder Traumbrecher, der an dem Arzt vorbeigehen musste, wirkte sichtlich angespannt und eilte schnell durch den Raum, als wäre er auf der Flucht. Außer Naola gab es eben sonst keine andere Person, die mit Vane auskam. Höchstens Bernard, doch der war auch kein Mensch.

„Wenn Sie die Atemhypnose meinen, dann ja“, bestätigte Luan und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust. „Ist das für Sie ein Problem?“

Diese Frage musste sich provokanter anhören, als er es beabsichtigte, denn Vane hatte schon oft genug gezeigt, dass er ein Problem damit hatte. Er wollte auch eher wissen, ob es zeitlich gerade nicht sofort möglich wäre, weil es verdächtig danach klang, als käme jetzt eine Erklärung, warum er sich noch in Geduld üben müsste.

Genau diese Befürchtung machte Vane auch sogleich wahr: „In der Tat, es benötigt einige Vorbereitungen. Es soll diesmal doch anständig gemacht werden, oder nicht?“

„Natürlich“, brummte Luan leise, dem es nicht gefiel, noch länger warten zu müssen. „Egal, ich muss sowieso zu Atanas und Bericht erstatten, dann mache ich das zuerst. Wie viel Zeit brauchen Sie?“

„Mindestens einen Tag.“

„Was? Einen ganzen Tag?“

„So sieht es aus.“

Seufzend löste Luan die Arme wieder voneinander. „Dieser Verrell hat mir drei Tage gegeben, deshalb gebe ich Ihnen wirklich nur einen Tag Zeit. Mehr nicht.“

Am liebsten wäre er heute schon zurück zum Buchladen gegangen, um Ferris und Bernadette zu befreien, und vor allem diese Geißel zu vernichten, aber seit den letzten Tagen legten sich ihm ja scheinbar gern Steine in den Weg. Wenigstens diskutierte Vane nicht mit ihm, sondern nickte verstehend und wandte sich bereits der Treppe zu.

„Das reicht vollkommen. Komm morgen um diese Zeit zur Krankenstation.“

„Ich werde da sein“, versicherte Luan ihm.

Aufmerksam verfolgte er mit den Augen anschließend jeden Schritt von Vane, wie er die einzelnen Treppenstufen aus milchigem Glas emporstieg, bis er aus seinem Sichtfeld verschwand. Statt ihm gleich zu folgen und selbst mit Mara nach oben zu gehen, blieb er noch kurz unten mit ihr stehen, damit er sicher sein konnte, den Arzt für heute nicht mehr sehen zu müssen.

Plötzlich ertönte in der dunklen Halle dann ein lauter Knall und hallte wie ein wütender Fluch von den Wänden wider. Vor Schreck war Mara zusammengezuckt und direkt näher zu ihm gerückt. Noch bevor Luan den Kopf zur Seite drehte, wusste er jedoch schon, wer für diesen Lärm verantwortlich sein musste, und seine Vermutung fand Bestätigung, kaum dass er einen Traumbrecher ins Auge fasste, den er gut kannte.

„So ein Scheiß!“, stieß dieser genervt hervor, ohne jemand bestimmten anzusprechen – er war ganz alleine durch eine Tür aus dem Portalraum gekommen. „Dieser Job wird immer langweiliger. Es gibt echt keine Herausforderungen mehr, diese Alpträume scheinen von Tag zu Tag schwächer zu werden.“

Rowan Durante, so hieß derjenige, der sich gerade lautstark beklagte und dabei von den anderen ignoriert wurde. Ähnlich wie bei Vane huschten sie zügig an ihm vorbei, nahezu panisch, als hätten sie Angst, sonst in sein Visier geraten zu können. Für Luan war es unglaublich, dass jemand wirklich als noch unbeliebter galt. Seiner Meinung nach blieb Vane um einiges anstrengender, aber ihm konnte es egal sein, was die restlichen Traumbrecher dachten.

Hinter Rowan hatte die Tür, die er mit zu viel Gewalt zugeknallt haben musste, einen langen, tiefen Riss im Holz, wofür er mit Sicherheit Ärger bekäme, wie so oft. In der Regel genügte jedoch ein Schöpfer, um solche Schäden rückgängig machen, andernfalls käme er mit diesem Vandalismus sicherlich nicht so leicht davon.

Erst als Rowan Richtung Treppe ging, entdeckte er auch Luan, und der zornige Funke in seinen giftgrünen Augen verblasste gleich etwas. „Hey, dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Kommst du oder gehst du gerade?“

„Ich bin gerade erst angekommen“, antwortete Luan und nickte ihm zur Begrüßung zu.

„War deine Mission auch so langweilig wie meine?“

„Kann ich nicht behaupten ...“

Ausführlicher wollte er nicht unbedingt werden, deshalb hoffte er, Rowan hakte nicht weiter nach. Das blieb Luans Mission, auch wenn Rowan bestimmt keine Probleme damit hätte, eine Geißel mit nur einem Schlag seines riesigen Hammers zu zermalmen. Zu seiner Erleichterung schnaubte Rowan aber nur unzufrieden und funkelte ihn neidisch an.

„Meine Fortuna muss mich hassen.“

Es wirkte jedes Mal merkwürdig, sobald jemand wie Rowan etwas von Glück abhängig machte. Zwar trug er eine Brille, war jedoch alles andere als gebildet und wortgewandt, dafür besaß er einen muskulösen, kräftigen Körperbau, was ein typisches Merkmal für Traumbrecher mit einer Koloss-Prägung war. Einzig sein rosa-farbenes Haar zerstörte das Bild von einem gnadenlosen Kämpfer und darunter litt er auch ziemlich, wie Luan wusste.

Neben Naola war Rowan noch eine der Personen mit außergewöhnlichen Haarfarben, die er kannte. Im Nacken hatte er sie sich zu einem kleinen Zopf zusammengebunden und vernachlässigte ihre Pflege ansonsten deutlich, vermutlich um dem Rosa irgendwie entgegen zu wirken. Sie standen scheinbar ohne jede Hilfe von Haargel oder etwas in der Art nach oben ab.

Das größte Merkmal an Rowan blieb allerdings dessen Blick, dem man nachsagte, er könnte töten, ließ man sich nur zu lange auf diesen ein. Das immerzu dunkle Knurren in seiner Stimme unterstrich diesen Eindruck zusätzlich. Damals hatte Luan einige Probleme und sogar Streit mit ihm gehabt, heute verstanden sie sich dagegen äußerst gut. Irgendwie erinnerte er sich nicht mehr so recht daran, wann sich das derart geändert haben könnte.

„Wer is’n das da?“, wollte Rowan wissen und starrte dabei zu Mara.

Wie die anderen jagte sein Blick auch ihr Angst ein, weshalb sie nur noch mehr Luans Nähe suchte und sich ein Stück hinter ihn stellte, womit sie Rowans Augen entkommen wollte. Beinahe zeitgleich mussten sie über dieses Verhalten seufzen, aus unterschiedlichen Gründen.

„Ihr Name ist Mara“, erklärte Luan ihm. „Sie ist mein Gast.“

„Kein Alptraum, also?“

„Kein Alptraum.“

„Schade, ich habe noch einiges an Energie übrig, die ich heute nicht nutzen konnte.“

„Alpträume kämen hier doch gar nicht rein“, erinnerte er Rowan, ohne belehrend dabei klingen zu wollen. „Wegen dem Sicherheitsnetz.“

Dennoch wirkte er gekränkt, seine Stirn bildete tiefe Krater. „Ja ja, hoffen darf man wohl noch.“

Mit diesen Worten schob er sich an ihnen vorbei und stieg die Treppen nach oben, woran Luan sich diesmal ein Beispiel nahm. An Rowans Seite konnte er sicher sein, von niemandem über Mara ausgefragt zu werden. Gerade weil Luan normalerweise ziemlich genau auf die Regeln achtete, gab es den einen oder anderen, der ihm das noch nachtragen und jede Chance nutzen könnte, einen Fehler bei ihm zu finden. Davor fürchtete er sich doch mehr, als er bisher dachte.

Unruhig warf er einen Blick zu seinem Gast, den er bei Atanas noch anmelden musste. Jede Berührung mit einer Stufe der Treppe ließ diese schwach aufleuchten, wovon Mara sich sofort in den Bann ziehen ließ und jeden einzelnen ihrer eigenen Schritte beobachtete. Ihr Verhalten weckten in ihm noch mehr Erinnerungen an damals, an die Zeit, als er neu hier war und genauso fasziniert auf diese ganzen Dinge reagiert hatte.

„Was hast du jetzt vor?“, erkundigte er sich unterwegs bei Rowan, Mara blieb nach wie vor dicht hinter ihm.

„Ich verzieh mich in eine Trainingshalle und tobe mich noch etwas aus.“

„Könntest du mir vorher vielleicht einen Gefallen tun?“

Abrupt blieb Rowan stehen und blickte misstrauisch über die Schulter. „Seit wann bittest du jemanden um etwas? Sonst willst du auch alles alleine machen.“

Es stimmte, dass es Luan äußerst wichtig war, möglichst viele Aufgaben selbstständig zu bewältigen, was Rowan am besten verstehen sollte. Der besaß nicht mal einen Partner, mit dem er bei besonders schwierigen Fällen zusammenarbeiten könnte, aber für ihn schien es auch nichts zu geben, das ihn wirklich ausreichend zu fordern wusste. Jedenfalls war er ein absoluter Einzelgänger.

„Ich bitte auch nicht irgendjemanden, sondern dich“, entgegnete Luan ernst und trat einen Schritt zur Seite, so dass er Mara besser sehen konnte. „Würdest du sie für mich in mein Zimmer bringen? Ich muss dringend zu Atanas, dorthin kann ich sie nicht mitnehmen, und dir traue ich.“

Prüfend wanderte Rowans Blick erneut zu Mara. „Du kannst mir versichern, dass sie keine Gefahr darstellt?“

„Absolut.“

Darüber musste Luan gar nicht erst nachdenken, Sakromahre waren gutartig, selbst wenn man sie auch mit negativen Wünschen erträumte. Nicht umsonst galten sie als heilig, sie bestanden aus reiner Energie, daher konnte er das so sicher sagen, ohne Mara gut genug zu kennen. Kaum zu glauben, dass erst ein paar Tage vergangen waren.

„Meinetwegen“, knurrte Rowan zustimmend und setzte seinen Weg fort. „Sie soll mir einfach folgen.“

Genau das mochte Luan an ihm, er stellte nicht zu viele Fragen und nahm die Dinge schnell so hin, wie sie waren. Bei manchen Alpträumen war so eine Einstellung eher gefährlich, aber was solche zwischenmenschliche Situationen anging, empfand er es als angenehm. Möglicherweise stimmte Rowan aber auch nur zu, weil er Luan noch etwas schuldete, was mehr zutreffen sollte.

„Hast du gehört?“, wandte Luan sich an Mara und ging dabei auch weiter. „Folge ihm, er wird dich zu meinem Zimmer bringen. Sobald ich mit Atanas gesprochen habe, komme ich zu dir, also warte dort auf mich und geistere nicht hier herum.“

Ihr Mund öffnete sich erst, schloss sich aber wieder, ohne dass ein Wort über ihre Lippen gekommen war, und machte einem simplen Nicken Platz. Noch konnte er nicht so recht einschätzen, ob sie sich nicht traute, etwas zu sagen oder sie nur begriffen hatte, dass ihm so eine Art lieber war.

„Ist der Alte eigentlich auch zurück?“, zog Rowan mit dieser Frage die Aufmerksamkeit zurück zu sich.

„Vane?“, ging Luan darauf ein. „Ja.“

„Endlich. Er nutzt immer die Gutmütigkeit von Nevin aus und lässt ihn an seiner Stelle in der Krankenstation schuften, wenn er mal länger weg muss.“

Nevin Durante war der jüngere Bruder von Rowan und stand demnach unter dessen Schutz. Kein Wunder, dass er sich daran störte, zu sehen, wie Nevin für Arbeiten missbraucht wurde, die gar nicht in seiner Verantwortung lagen, dabei half der sicher gern aus. Zumindest konnte Luan sich das gut vorstellen, Rowans Bruder war für seine Hilfsbereitschaft und seinen netten Charakter bekannt und bei jedem beliebt.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich aufrichtig, da es seine Schuld war, dass Nevin den Ersatz spielen musste. „Mir wäre es auch lieber, Vane würde nicht jedes Mal angerannt kommen, sobald es um mich geht.“

„Dafür bist du echt zu bemitleiden.“

„Ich weiß.“

Als sie das Stockwerk erreichten, in dem sich auch die privaten Quartiere der Traumbrecher befanden, verließ Rowan die Treppe und blickte anschließend fordernd zu Mara. „Dann komm, ist nicht weit.“

„Gib mir aber vorher noch das Buch“, bat Luan und streckte dabei die Hand aus. „Ich muss es jetzt dorthin zurückbringen, wo es hingehört.“

Die ganze Zeit über hatte Mara es festgehalten, dicht an ihren Körper gedrückt, wie einen wichtigen Teil von ihr. Langsam löste sie es von sich und hob es etwas an, um es ein letztes Mal genau anzusehen, doch ihr Gesichtsausdruck wirkte seltsam unentschlossen. Im Grunde nützte es ihr nichts mehr, denn sie hatte darin keine Lösung für ihr Problem finden können. Ein Gefühl in ihr hing anscheinend dennoch an dem Buch, das ihr für kurze Zeit Hoffnung geschenkt hatte.

Luan kam sich schrecklich vor. Sein Pflichtgefühl befahl ihm, es ihr wegzunehmen, aber gleichzeitig wollte er Mara nichts entreißen, das ihr als einziges etwas bedeutete.

„Hallo?!“, machte Rowan ungeduldig Druck und interessierte sich gar nicht dafür, um was für ein Buch es überhaupt ging. „Ich hab auch nicht ewig Zeit.“

Kopfschüttelnd kehrte Mara aus ihrer Abwesenheit zurück und legte es in Luans Hand. „Danke, dass ich es so lange haben durfte.“

„Schon gut.“ Vorsichtig drehte Luan das Buch in seinen Händen. „Wir sehen uns später.“

„Wirklich?“ Ehe er darauf reagierten konnte, schüttelte sie bereits nochmal mit dem Kopf. „Entschuldige, ich meine, ja, bis später.“

„Stellt euch nicht so an, Luan muss nur ein paar Stockwerke höher, nicht ans Ende der Welt“, kommentierte Rowan diese Szene verständnislos und hob leicht die Hand zum Abschied. „Man sieht sich.“

Damit machte er sich zusammen mit Mara, die ihm nur ungern folgte, auf dem Weg zu Luans Zimmer, der ihnen noch eine Weile hinterher sah, dann aber auch weiterging. Sein nächstes Ziel lag ganz oben in Athamos, quasi auf dem Dach, wo die Schatzkammer zu finden war und Atanas lebte. Bisher hatte er noch niemals ernsthafte Probleme oder Ärger mit ihrem Anführer gehabt, warum war er also diesmal so nervös wegen dem folgenden Gespräch?

Ich habe die Mission noch nicht abschließen können ...

Nach einigen Schritten hielt Luan an und musste tief durchatmen. Bis morgen müsste er sowieso warten, also nahm er sich einen Moment lang Zeit, die Augen zu schließen und den Kopf in den Nacken zu legen, um zu lauschen. Wenige Sekunden später konnte er es hören, einen sanften, gleichmäßigen Herzschlag in der Ferne und den warmen Atem, von dem das gesamte Gemäuer von Athamos erfüllt wurde. Beides weckte ein vertrautes Gefühl in Luan, durch das er sich automatisch besser fühlte. Und doch ...

Ich habe Angst.

Seit er es kürzlich wieder so intensiv erleben musste, hatte dieses Gefühl ihn nicht mehr vollständig verlassen. Könnte es weiter zunehmen, sobald Vane die Atemhypnose vollständig löste? Wovor hatte Luan Angst? Dass Atanas ihn von der Mission abziehen könnte? In dem Fall müsste er sich nutzlos fühlen und verlor den Grund, der es ihm erlaubte, hier zu leben. Athamos war das einzige Zuhause, das er jemals besessen hatte.

Bedeutete das, er tat das alles am Ende doch nur für sich selbst?

Der Herzschlag wurde auf einmal lauter, als versuchte er, mit ihm Kontakt aufzunehmen und ihm Mut zuzusprechen, begleitet von einem sehnsuchtsvollen Hauch, den Luan noch nie ergründen konnte, seit er hier lebte. Er wusste nur, dass es sich richtig anfühlte, in Athamos zu sein, schon von Anfang an. Darum wollte er auch alles tun, um bleiben zu können und folgte gehorsam den Regeln.

„Ich werde keine Fehler machen“, sagte Luan zu sich selbst und verdrängte dabei, schon längst welche begangen zu haben.

Als er weiter die Treppen emporstieg, wurde sein Griff um das Buch stärker und er war nun derjenige, der sich hoffnungsvoll daran klammerte.



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