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The last sealed Second

Diarium Fortunae
von

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Ich bin kein Mensch mehr

„Das hier gehört alles zu einem Refugium, oder?“

Vane sah Bernadette nicht an, sondern ließ den Blick wachsam über die Umgebung schweifen, um mögliche Gefahren frühzeitig erkennen und darauf reagieren zu können. Als Geißel besaß er den Luxus, auch hier problemlos jeden kleinsten Winkel ausmachen zu können, der für das menschliche Auge von schwarzen Schatten verschluckt wurde und ohne Taschenuhr selbst für Traumbrecher nur schwer einsehbar sein musste.

Dummerweise hatte er dafür nicht rechtzeitig erkannt, in eine Falle von Ferris’ Geißel gelaufen zu sein. Vermutlich hatte sie seinen Platz eingenommen, kurz nachdem die drei in den Buchladen gekommen waren, denn der letzte Blickkontakt von Vane zu Ferris war noch davor gewesen. Andernfalls hätte er ihn gleich enttarnt, Alpträume erkannten andere Alpträume sofort, im Regelfall. Hoffentlich war Luan in Ordnung und kam zurecht.

„Richtig“, antwortete Vane nickend auf ihre Frage, auch wenn es mehr nach einer Feststellung ihrerseits geklungen hatte.

Er glaubte aber, mit seiner Stimme Ruhe in diesen Ort bringen zu können und sie beide somit eventuell vor Angreifern zu schützen. Deshalb sprach er auch direkt weiter, statt das Thema nur mit einem einzigen Wort zu beenden und zu schweigen, wie es für ihn üblich wäre.

„Es verfügt über ein Ausmaß, wie ich es bislang noch nie erlebt habe. Das gesamte Haus ist betroffen. Von einem solch weitläufigen Refugium habe ich bisher nicht einmal Gerüchte gehört.“

Was vielleicht auch größtenteils daran lag, dass normalerweise schnell in der Realität unerklärliche Schäden entstanden, je mehr so ein Riss sich ausweitete und damit Traumbrecher anlockte, die sich anschließend um das Problem kümmerten. Aus dem Grund gelang es den meisten Alpträumen gar nicht erst, ihr Reich überhaupt so groß werden zu lassen, dabei könnten sie sich ewig in einem Refugium versteckt halten, solange sie auf das Ausbauen verzichteten. Ohne deutliche Hinweise konnte man diese Verstecke nämlich kaum finden, eigentlich war es beinahe unmöglich, es sei denn, man besaß ein gewisses Gespür dafür.

Warum bekamen Alpträume einfach niemals genug davon, etwas zu zerstören, und mussten immerzu weitermachen? Ihm war es doch auch gelungen, diesen Drang gänzlich abzuschütteln.

„An diesem Ort krümmt sich die Realität sehr stark“, riss Bernadette ihn aus seinen Gedanken.

Innerlich schüttelte Vane sie vollkommen ab und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Woher weißt du das?“

„Weil ich damals selbst einen Platz brauchte, an dem ich mein Haus abstellen kann.“

„Dein Haus?“, reagierte er leicht irritiert, doch an seinem ernsten Gesichtsausdruck änderte sich nichts, so wie immer.

Im Augenwinkel nahm er wahr, wie sie mit ihren Händen gestikulierte. „Als ich damals aus dem Hauptquartier geflohen bin, brauchte ich ein neues Zuhause. Dafür kehrte ich zuerst zu meinem alten Haus zurück, in dem ich damals mit Edge gelebt hatte, aber es stand natürlich leer und der Zustand war leider ziemlich schlecht.“

Sofort musste Vane sich fragen, warum das Haus natürlich leergestanden hatte, weil es sich so anhörte, als wäre Bernadette fest davon ausgegangen. Sie sprach aber schon weiter, ehe er in der Richtung nachhaken konnte, weshalb er das einfach mal so hinnahm und ihr zuhörte, während sie weitergingen.

„Ich wusste, früher oder später könnte Atanas auf die Idee kommen, mich dort zu suchen, also musste ich woanders hin.“ Ein schwermütiges Seufzen von ihr durchbrach die Dunkelheit um sie herum. „Nachdem ich durch meinen Verrat alles verloren hatte, was mir noch am Herzen lag, hatte ich nur noch dieses alte Haus hier. Also habe ich meine Prägung genutzt, um es etwas aufzupolieren, nur ein bisschen, damit ich den natürlichen Charme nicht komplett zerstörte, und dann versetzte ich es an einen anderen Ort.“

„Dir ist es gelungen, das gesamte Haus an einen anderen Ort zu teleportieren?“, hielt Vane fest, da es ihn erstaunte.

„Ja, hierher. Ich wusste, dass es in Limbten genügend Krümmungen gab.“

Auch Traumbrecher mit Schöpfer-Prägungen konnten das empfindliche Gerüst der Realität zusammenbrechen lassen, wenn sie zu viel mit ihren Fähigkeiten dort veränderten. Allerdings existierten in der Tat einige Orte und Stellen in der Welt, wo sich die Wirklichkeit ohnehin schon krümmte und selbst Risse wie ein Refugium existieren konnten, ohne ernsthaften Schaden anzurichten.

Mit dem Krankenwagen herumzufahren, den Bernadette für ihn geschaffen hatte, war demnach auch nicht ganz ungefährlich, doch sie hatte darauf geachtet, dass diese Art der Störung zu klein war, um in der Realität ernsthaften Schaden anrichten zu können. Man bewegte sich damit quasi durch Löcher im Gerüst vorwärts, die gerade auf den Straßen groß genug waren.

„Woher?“, wollte Vane nach wie vor wissen, blieb dabei aber geduldig mit ihr.

Limbten besaß tatsächlich viele Krümmungen, wie er wusste. Vor vielen Jahren hatte er sich hier vor seinem Wirt versteckt, in einem eigenen Refugium. An der vertrauten Kälte hatte er sofort erkannt, sich auch jetzt in einem zu befinden. Jedenfalls wunderte er sich, wieso auch Bernadette wusste, dass sich in dieser Stadt die Realität an mehreren Stellen krümmte.

„Von meinem Mann“, antwortete Bernadette sehnsuchtsvoll. „Er war kein Traumbrecher, aber Edge hatte schon immer ein sehr feines Gespür für Anomalien und erkannte sofort, um was für einen zerklüfteten Ort es sich bei Limbten handelte, als er mal geschäftlich hier war.“

Wahrscheinlich hätte ihr Mann, Edgar Maron, einen äußerst guten Schöpfer als Traumbrecher abgegeben, wenn er einer gewesen wäre. Nur selten gab es welche, die dazu in der Lage waren, Risse zu spüren. Selbst Alpträume fanden sie oft nur durch einen glücklichen Zufall, so wie er damals. Daran wollte er lieber nicht zurückdenken.

„Es schmerzt, meinen einzigen Rückzugsort nun so zu sehen“, fuhr sie fort.

„Das hier ist doch nur ein falsches Bild.“

Diese Aussage tröstete Bernadette aber sicher nicht, wie er sich denken konnte. Menschliche Gefühle waren sehr sensibel und kompliziert, noch heute versuchte er aus ihnen schlau zu werden, indem er haufenweise Bücher las. Der Erfolg hielt sich dabei bedauerlicherweise in Grenzen, ein paar Erkenntnisse zwischendurch hatte es jedoch durchaus gegeben.

„Trotzdem macht es mich unglücklich“, betonte sie. „Dieses Haus ist alles, was mir geblieben ist. Ein Teil von mir. Diese Schattenseite fühlt sich für mich wie ein Stich ins Herz an. Es ist einfach absolut falsch.“

Weiterhin behielt Vane die Umgebung im Auge. Sämtliche Räume des Hauses hatten sich in eine dunkle Schattenseite verwandelt und ihr Aussehen verändert. Von den Positionen der Räume her schien noch alles gleich zu sein, nur die Gestalt glich nicht mehr dem Original. Während das Schlafzimmer von Bernadette im Refugium wie eine Art Vogelkäfig mit rostigen Gittern aussah, in dem lauter zerfetzte Buchseiten durch die Luft schwebten, hatte der Gang hinter der Tür sich zu einem unebenen, gewundenen Pfad gewandelt.

Wie eine Linie in einem abstrakten Kunstwerk schlängelte er sich kreuz und quer durch das Bild. Einige Stellen auf dem Boden und an den Wänden wölbten sich in verschiedenen Formen hervor, sahen wie Buckel aus, die ihnen den Weg versperren oder sie stolpern lassen wollten. Vorsichtig mussten sie über allerhand kleine Hügel klettern und sich manchmal durch einen engen Spalt zwängen, wenn sich an einer Stelle das graue, kalte Gestein wie Hindernisse in den Weg zu stellen versuchte.

Gefährlich wurde es dann, wenn die Wölbungen bereits Stacheln ähnelten und sie daran vorbeikommen mussten. Irgendwie wartete Vane nur darauf, dass sich die Umgebung zu bewegen anfing und sie zerquetschen oder aufspießen wollte. Noch dazu war der Flur durch seine neue Form, die lauter Kurven beinhaltete, viel länger als in der Realität, darum waren sie schon eine Weile unterwegs und arbeiteten sich in eine Richtung vorwärts.

Sobald sie mal auf eine Tür stießen, ignorierten sie diese, weil sie hauptsächlich die Treppe nach unten suchten, wo auch der Ausgang liegen sollte. Zumindest in der Welt, aus der sie kamen. Anders als eine Schöpfer-Welt ließ sich ein Refugium nur zerstören, wenn man dessen Erbauer tötete, nach einem Herzstück zu suchen wäre also sinnlos. Höchstens eine Sache wäre noch möglich, auf die sie momentan jedoch auch keinen Zugriff besaßen.

„Trotzdem bleibt das hier nur ein Trugbild“, versuchte Vane weiter, sie zu beruhigen, indem er hartnäckig bei seiner Meinung blieb. „Sobald wir hier herauskommen, bist du zurück in deinen vertrauten vier Wänden, wo alles noch so ist, wie es sein soll.“

Leider schien Bernadette sich nicht beruhigen lassen zu wollen. „Im Moment ist das hier aber meine Realität, denn ich bin hier ... so wie es für Luan Realität ist, dass er sein altes Ich verloren hat und unglücklich ist.“

„Fängst du schon wieder damit an?“, seufzte Vane tief. „Darüber hatten wir schon gesprochen.“

„Ich weiß ...“

Sie klang erschöpft und sah auch immer noch so aus, ihr Zustand schien sich stetig zu verschlechtern. Womöglich wegen der Atmosphäre im Refugium, die auf menschliche Wesen kräftezehrend wirkte, doch da musste auch etwas anderes sein. Länger konnte und wollte Vane das als Arzt nicht ignorieren.

„Hast du Schmerzen?“, erkundigte er sich direkt und löste den Blick von der Umgebung, damit er sie prüfend mustern konnte.

Bernadette war blass, aber lächelte die ganze Zeit. Selbst als sie plötzlich kraftlos in die Knie sackte und ihm damit ungewollt ohne Worte signalisierte, dass in der Tat etwas mit ihr nicht stimmte. Sofort hielt auch er an und hockte sich neben sie, wo er ihr half, sich mit dem Rücken an eine gerade Stelle bei der Wand anzulehnen, bevor er anfing sie zu untersuchen.

Relativ schnell erkannte er einige Symptome, die ihm Sorgen bereiteten. Grau hatte sich in ihre Augen geschlichen und war dabei, das Blau langsam gänzlich zu überdecken. Zudem fühlte sie sich kalt an, ohne jegliche Anzeichen dafür zu zeigen, dass sie wirklich fror. Er hätte sie schon viel früher untersuchen sollen.

„Hast du Schmerzen in der Brust?“

Die Antwort war ein schwaches Nicken.

„Ein Stechen?“

Wieder ein Nicken.

„Ich verstehe.“

Jetzt machten ihre Worte endlich Sinn, denn sie hatte bei ihrer Unterhaltung vor dem Auftauchen von Ferris’ Geißel davon gesprochen, es gäbe nun drei von ihnen, die Probleme machten. Zügig holte Vane seine Taschenuhr aus dem Kittel hervor und ließ den Deckel aufspringen, bevor er die Zeit aktivierte und somit von einer Energie eingehüllt wurde, wie es bei jedem Traumbrecher geschah, nur war seine violett.

Eine Mischung aus Blau und Rot, was sehr unüblich war, deswegen ließ er sie normalerweise auch vor niemandem sichtbar werden. Seine jetzige Patientin wusste allerdings, dass er selbst eine Geißel war, daher konnte er das problemlos zeigen.

„Wie ist das passiert? Hat deine Geißel dich schon versucht zu brechen?“

Diesmal schüttelte sie den Kopf, was eine furchtbare Vorahnung bei Vane weckte und er konnte nur dafür beten, damit vollkommen falsch zu liegen. Mit aktivierter Traumzeit fing er sanft an zu singen, in der Sprache der Alpträume, die außer ihm in der Regel niemand verstehen konnte. Schall-Traumbrecher verwendeten grundsätzlich ihre Muttersprache für Lieder, ausgenommen bei Befehlen.

Der Klang seiner Stimme breitete sich aus, was durch seine violette Energie zu verfolgen war. Gleichmäßig verteilte sie sich in der Umgebung und ließ bei jeder Berührung mit einem Hindernis feine Töne entstehen, als wäre die Welt an sich ein einziges Musikinstrument. Je länger er sang, desto mehr erhellte sich der Farbton um einige Nuancen und legte sich wie eine sanfte Decke über Bernadette, drang in sie hinein, wollte Wärme und Trost spenden.

Zwar atmete sie wesentlich ruhiger, doch Vanes Gesang konnte leider nicht die Wirkung erzielen, die er im Sinn hatte.

Dank seiner Energie in ihr wurden für ihn die Risse in Bernadettes Brust, in ihrem Geist, sichtbar, wie bei einem Röntgengerät. Für einige Sekunden glühten sie auf und waren dadurch noch besser zu sehen. Ein Netz aus hauchdünnen Linien, in dessen Zentrum ein Einschussloch zu sehen war. Durch die vielen Risse war ihr Geist derart zerbrechlich geworden, dass nur ein leichter Hauch ihn zusammenstürzen lassen könnte.

„Luan hat auf mich geschossen“, brachte sie leise hervor und sprach damit in sein Lied hinein, doch er sang unbeirrt fort. „So einfach würde ich mich nicht brechen lassen. Menschen sind sehr leicht zu beeinflussen, aber mir kann das nicht mehr passieren.“

Der Pistolenschuss eines Traumbrechers war für ihresgleichen äußerst gefährlich, zumindest wenn sie einen Alptraum in sich trugen, was leider bei allen der Fall war. Eine Geißel verband sich mit dem Geist ihres Wirts, sobald sie in ihn eingepflanzt wurde und wuchs in ihm heran. Zwang man sie vorher durch eine Energiekugel nach draußen, gefährdete man gleichzeitig den Zusammenfall der Seele, mit der sie verbunden war und einen Teil des Ganzen bildete.

Risse, die durch seelische Schmerzen verursacht wurden, könnte Vane noch gut mit seinem beruhigenden Gesang wieder heilen, nur war das eine Form von physischen Schäden, für die er Materialien bräuchte, die es nur in Athamos gab. Obwohl er das genau wusste, sang er einfach weiter. Er wollte nicht wahrhaben, nichts für Bernadette tun zu können.

„Ich bin kein Mensch mehr“, redete sie weiter, den Blick abwesend auf seine Energie gerichtet, von der sie umgeben waren. „Ich habe meine Menschlichkeit aufgegeben, als ich euch alle verraten habe.“

Zu gern wäre Vane darauf eingegangen, war aber damit beschäftigt, stur weiterzusingen – bis Bernadette eine Hand nach ihm ausstreckte und versuchte, den Deckel seiner Uhr zu schließen.

„Ist schon gut, hör ruhig auf. Ich weiß deine Mühe zu schätzen, wirklich, aber du kannst nichts für mich tun.“

Widerwillig stoppte Vane seinen Gesang abrupt und sah sie verständnislos an. „Das ist nicht sehr feinfühlig von einer Person, die einst die Mutterfigur für sämtliche Traumbrecher darstellte.“

Leise verhallte der Klang seiner Stimme im Hintergrund und seine violette Energie verblasste, kaum dass er die Uhr selbstständig deaktivierte und Deckel wieder schloss. Nicht mal er als Geißel mochte es, wenn jemand ohne seine Erlaubnis sein Herz berührte, dafür waren sie bei Traumbrechern zu empfindlich. Das Tor zu ihrer Seele.

„Wie kannst du außerdem behaupten, kein Mensch mehr zu sein, mit dem Wissen, wer Luan wirklich ist?“

Entschuldigend lächelte sie ihn an. „Weil gerade Luan viel menschlicher ist als ich.“

„Wieso seid ihr alle in letzter Zeit so redselig?“, stellte Vane fest. „Du solltest deine Kräfte sparen.“

„Er hat sich so sehr gefreut, als er nach langem wieder mal für kurze Zeit etwas träumen konnte“, erzählte sie weiter und beachtete seinen Rat gar nicht. „In diesem Moment hat er so glücklich gewirkt.“

Vane erinnerte sich. Bei dem Telefonat hatte sie erwähnt, dass Luan angeblich dazu in der Lage gewesen sein sollte, zu träumen, während seine Geißel den Körper übernommen hatte. Im Grunde nicht weiter verwunderlich, denn die Atemhypnose war zu dem Zeitpunkt schon instabil und in dieser Art von Schlaf, in den Luan versetzt worden war, womöglich nicht mal richtig wirksam.

„Er war schon mit einem einzigen, kleinen Traum so zu zufrieden. Mir dagegen hat die Vorstellung, nie mehr träumen zu können, wenn meine sechs Stunden erst mal abgelaufen waren, furchtbare Angst eingejagt. Obwohl ich noch träumen konnte, habe ich es nicht genossen, sondern wollte mehr ...“

„Ich kann mir denken, worauf du hinaus willst“, warf er ein und steckte seine Uhr zurück in den Kittel, wo sie sicher war. „Für dein Handeln damals hattest du aber einen guten Grund.“

„Vielleicht“, ging sie zweifelnd darauf ein und schloss die Augen. „Vielleicht war ich aber auch in Wahrheit nur egoistisch, als ich mit meiner Prägung meine Traumzeit erhöht habe, indem ich sie von den anderen stahl ... und dann auch noch Luan dazu gebracht habe, mir mit der Atem-Prägung dabei zu helfen, während er keine Ahnung hatte, was ich eigentlich plante.“

Ein wenig fing ihre Stimme an zu zittern, sie schien ein Schluchzen zu unterdrücken. „Es tut mir so leid, dass ich ihn reingelegt habe und den anderen ihre Zeit gestohlen habe. Ich habe sie alle so sehr gemocht.“

„Maron“, sagte er ruhig und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir wissen beide nicht, ob es damals einen besseren Weg gegeben hätte, aber in dem Moment hast du getan, was getan werden musste, um das Schlimmste zu verhindern. Du hast Luan schützen wollen, uns alle, und das erfolgreich.“

Er legte eine kurze Pause ein. „Deine Schuldgefühle wirken auf mich sehr menschlich.“

„Das ist lieb von dir.“ Mit seiner Aussage ließ er ihr Lächeln wieder etwas stärker werden. „Ich fühle mich aber nicht menschlich, so wie dieses Refugium gerade die Realität für uns ist. Darum habe ich eine Entscheidung getroffen.“

In einem Buch hatte Vane mal gelesen, dass Menschen kurz vor ihrem Ableben meistens nochmal eine Menge redeten, so ähnlich wie Bernadette jetzt. Ganz bestimmt ließ er nicht so einfach zu, dass sie schlappmachte. Immerhin musste sie auch an Luan denken. Sollte sie es nicht schaffen und er herausfinden, warum, könnte er sich wie ein Mörder vorkommen.

Vorsichtig zog er ihren Arm um seine Schultern und brachte sie mit seiner Hilfe dazu, vom Boden aufzustehen. „Komm, gehen wir weiter. Die Treppe müsste ganz nah sein.“

„Ich will meiner Geißel diesen Körper überlassen.“

Auf der Stelle erstarrte Vane, noch bevor er mit ihr den ersten Schritt tun konnte. Hatte er das richtig gehört? Diese Worte weckten etwas in ihm, das er kaum beschreiben konnte. Möglicherweise waren es sogar Gefühle, die in Vane hochkamen, denn exakt diesen Satz hatte er schon einmal gehört. Vor langer Zeit.

Sprachlos blickte er sie an, was sie weiterhin lächelnd erwiderte. „Ich habe mir das gut überlegt. Wenn aus dir so ein guter Mann werden konnte, setze ich Hoffnungen in meine Geißel, dass ihr das auch gelingt. Sie soll mein Leben haben, damit sie eine Chance bekommt und ich bezahle damit gleichzeitig für meinen Verrat.“

„Das kannst du nicht tun“, gewann Vane seine Sprache wieder. „Wie kommst du überhaupt darauf? Du hast mich immer gehasst und jetzt sagst du so etwas?“

„Weil ich dachte, Wesen wie ihr bringen nur Zerstörung über die Welt. Wirklich dumm von mir, wo doch mein eigener Mann jetzt ein friedlicher Trugmahr ist.“ Erschöpft ließ sie ihren Körper wieder ein wenig fallen, wurde aber von Vane gestützt und auf den Beinen gehalten. „Dabei habe ich in einem von euch gefunden, wonach ich gesucht habe. Vielleicht habe ich die ganze Zeit nur nach diesem einen, kleinen Traum gesucht, der mich glücklich macht, so wie Luan.“

„Bernadette ...“

Auf einmal entglitt ihr ein entzückter Laut. „Oh, du nennst mich beim Vornamen? Dann magst du mich also jetzt endlich auch.“

Es stimmte, dass Vane nur Personen beim Vornamen nannte, die er mochte oder mit denen er zumindest etwas anfangen konnte, in irgendeiner persönlichen Art und Weise. Zwischen ihnen hatte aber lange Kriegsstimmung geherrscht, erst die letzten Ereignisse schienen geholfen zu haben, diese Kluft zu überwinden.

„Wir hätten eine Menge Spaß haben können, wären wir früher Freunde geworden, denkst du nicht?“

Schweigend setzte Vane sich mit ihr langsam in Bewegung, statt etwas dazu zu sagen. Für diese Situation fehlten ihm allmählich ohnehin die richtigen Worte, also ließ er sie weiter reden und hörte ihr aufmerksam zu, um zu zeigen, dass er bei ihr war.

„Es ist Mara“, hörte er sie mütterlich sagen. „Die Kleine liegt mir sehr am Herzen, weißt du? Sag, hast du auch nicht erkannt, dass sie ein Sakromahr ist?“

Verwundert schwenkte er kurz den Blick zu ihr, womit er ihr ein Schmunzeln entlockte. „Nicht mal du, hm? Ich wünsche mir für sie, dass sie ihren Weg findet und sich ihre Träume erfüllen. Sie muss nur daran glauben. Deine Menschlichkeit, mit der du mich am Telefon zu beruhigen versucht hattest, hat mich davon überzeugt, dass es nicht darauf ankommt, was man ist, sondern was in einem steckt. Mit dem Vertrauen in meine Geißel, werde ich Mara zeigen, dass das auch für sie gilt.“

„Glaubst du wirklich, du tust ihr damit einen Gefallen?“, bezweifelte Vane offen.

„Ich kenne Mara eben. So wie du Luan kennst. Ich weiß, was sie braucht.“

Endlich kamen sie an einer offenen Tür an, hinter dem sich die Treppe finden ließ, nach der sie gesucht hatten. Behutsam führte Vane sie weiter vorwärts, die einzelnen Stufen hinunter. Ähnlich wie der Gang im ersten Stock verlief auch die Treppe im Zickzack nach unten und bestand scheinbar aus einzelnen, übereinander liegenden Büchern. Dadurch fühlte sich der Untergrund an manchen Stellen seltsam weich und unsicher an.

„Du solltest es Luan sagen“, riet Bernadette ihm. „Sag ihm, dass du ihn magst und er dir wichtig ist.“

„Das würde er mir nicht glauben“, lehnte Vane ab.

„Weil er gerade nicht der Luan sein kann, der er in Wahrheit ist.“ Von seinem erneuten Seufzen ließ sie sich nicht davon abhalten, das Thema beizubehalten. „Ich bin sicher, er wäre glücklicher mit der Wahrheit, und wenn du bei ihm bleibst und ihm Vertrauen schenkst, übersteht er schon die dunklen Seiten daran.“

„Ich werde darüber nachdenken.“

Eigentlich bedeutete das nur, dass er nicht länger darüber reden wollte, für Bernadette war das anscheinend dennoch genug, so erleichtert wie sie klang. „Danke dir, Vane. Könntest du mir eventuell noch einen kleinen Gefallen tun?“

„Noch mehr?“, tat er so, als hätte sie schon mehr als genug von ihm verlangt – was auch nicht weit hergeholt wäre.

„Sollte mal der geeignete Zeitpunkt dafür kommen und ich nicht mehr da sein, könntest du Mara dann etwas für mich ausrichten?“

Nahm sie dieses Vorhaben, der Geißel ihren Körper zu überlassen, wirklich derart ernst? Noch verstand er nicht, wie Mara das helfen sollte. Schadete ihr das nicht mehr? Außerdem war nicht mal sicher, ob die Geißel noch lebte. Sollte sie noch nicht vollständig ausgewachsen gewesen sein, könnte sie schnell verkümmern und sterben. Bei all der Traumzeit, die Bernadette einst geklaut und sich damit zur Verräterin gemacht hatte, ließ sich diese Option aber wohl eher ausschließen.

In Bernadette musste die Geißel mit der gewaltigen Ansammlung an Energie ordentlich gewachsen sein, also schlich sie jetzt irgendwo da draußen herum, oder auch hier drinnen, im Refugium. Vermutlich lebte sie auch nur noch dank dieser erhöhten Menge an Traumzeit, wodurch ein verstärkter Atemfluss geschaffen wurde, der ihren Geist zusammenhielt.

„Was denn?“

„Sag ihr bitte-“

Ein lauter Schmerzensschrei aus dem unteren Stockwerk unterbrach sie mitten im Satz: Ferris.

Natürlich war er auch hier, bestimmt versuchte seine Geißel ihn an diesem Ort zu brechen. Sie mussten sofort zu ihm und dem Jungen helfen. Auch Bernadette ging dieser Gedanke offenbar durch den Kopf, denn ihr Körper gewann einen Schub neuer Energie durch diese Entschlossenheit und sie konnten die Treppenstufen schneller hinter sich lassen.

Zielstrebig eilten sie nach unten, bis Vane plötzlich ein Gefühl packte, das ihn erst vor kurzem überhaupt hierher gebracht hatte. Der gesamte Ort drehte sich geschwind auf den Kopf, ohne dass sich seine Füße dabei vom Boden lösten, und die Schatten verschluckten ihn. Einen Wimpernschlag später fand er sich zwar am Fuße der Treppe wieder, aber er war zurück in der Realität. Sonnenlicht drang durch das kleine Fenster in diesen Zwischenraum hinein, der von hier weiter in die Küche führte.

Außer ihm war niemand hier. Bernadette musste allein zurückgeblieben sein.



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