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The last sealed Second

Diarium Fortunae
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Ein Kapitel, das nicht zwingend hätte sein müssen, ich aber unbedingt schreiben wollte. ♥ Außerdem dient es doch ganz gut dazu, Ferris' Zustand später besser zu verstehen. Komplett anzeigen

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Ich will leben!

Dunkelblaue Lichter jagten durch die Dunkelheit und zogen auf ihrem Weg feine Farblinien hinter sich her, die nach nicht mal einer Sekunde schon wieder restlos verblassten. Lediglich die leuchtenden Energiekugeln blieben bestehen und schossen geradewegs auf ihre Ziele zu, bei denen es sich jeweils um dürre, unmenschlich lange Arme handelte. Scheinbar unzählige von ihnen hatten sich ineinander zu einer einzigen Raupe verknotet, deren Füße aus den Fingern von Händen bestanden.

Zwar trafen die Energiekugeln allesamt ins Schwarze und sorgten dafür, dass sich einige Arme in weißen Traumsand auflösten, aber unter ihnen kamen nur jedes Mal weitere zum Vorschein. Es könnte tausende Schüsse benötigen, bis sich irgendwann endlich ein richtiges Loch durch diesen Körper zeigen würde. Noch dazu war dieses raupenähnliche Wesen sehr flink und sauste geschwind durch die Luft, was es schwierig machte, ein und dieselbe Stelle erneut zu erwischen.

„Scheiße“, zischte Ferris leise für sich.

Schwerelos flog er ebenfalls hoch oben über dem Boden herum, der schon längst nicht mehr zu sehen war. Unter ihm starrte nur noch ein pechschwarzer Schlund zurück und auch von den grauen Steinwänden fehlte hier jede Spur. Mit jedem Meter waren die Risse in ihnen größer geworden, bis das Gestein irgendwann einfach geendet hatte, durch einen sauberen Schnitt. Das sah beinahe so aus, als hätte Ferris einen Bereich verlassen und wäre in den nächsten Abschnitt vorgedrungen.

In diesem gab es auch mehrere Holztüren, doch anders als unten wurden sie nicht von rostigen Nägeln durchbohrt, sondern sie schwebten regungslos in unterschiedlichen Positionen an einer Stelle, umgeben von einer scheinbar endlos erscheinenden Schwärze. Dank seiner Taschenuhr war für Ferris jedoch in seiner erweiterten Sicht alles in hellblau ausgekleidet und das gleichmäßige Ticken sorgte dafür, dass die Stille ihn nicht erdrückte.

Unten hatte es für ihn keinen anderen Ausweg gegeben, zumindest sagte Ferris sich das, um sich diesem Wesen stellen zu können und seinen Mut zurückzugewinnen. Angst wäre hier fatal. Nach wie vor war er entschlossen, es seiner Geißel nicht so leicht zu machen und er dachte auch an Luan. Also ignorierte er den unangenehmen Schauer, der ihn beim Anblick dieses Feindes erfasste, und versuchte sich zu konzentrieren. Luan wäre sicher stolz auf ihn.

Er war dem bestialischen Grollen gefolgt, das von hier gekommen war und fand letztendlich diese Form aus Armen und Händen vor, die ziellos ihre Bahnen flog. Anscheinend beachtete das Wesen ihn nicht mal und flog weiter durch die Türen. Diese waren weitaus größer als gewöhnlich, vermutlich damit diese dicke, große Raupe durch sie hindurch passte. Außerdem war sie unglaublich lang und dadurch mit mehreren Türen auf einmal verbunden, wie ein Band. Nicht mal den Kopf hatte Ferris bis jetzt entdecken können, sollte es denn einen geben.

Wenn Luan doch nur hier wäre ...

Bestimmt könnte er besser analysieren, wie man diese Welt zerstörte, falls es sich hierbei überhaupt um eine richtige Schöpfer-Welt handelte, die wohl auch mit Schall verbunden sein musste. Jetzt gerade herrschte zwar Stille, aber das Grollen vor einer Weile hätte sonst nicht hier ertönen können. Irgendwie musste Ferris das Herzstück finden.

Da er Traumzeit sparen wollte, schwebte er zu einer geschlossenen Tür rüber und stellte sich auf sie – sofort verblasste die dunkelblaue fließende Aura vorerst, die zuvor seinen Körper eingehüllt hatte. Ihm war schon aufgefallen, dass hinter den Türen lauter Spiegel verborgen lagen, durch die sich die Raupe irgendwie fortbewegte. Deshalb waren von ihrem Körper auch überall Teile zu sehen, nur von einem Anfang und dem Ende fehlte jede Spur. Vorerst versuchte Ferris weiterhin, das Ding mit seinen Kugeln abzuschießen. Immerhin führten laut Luan bewegliche Formen in Welten von Alpträumen oft zum Herzstück, aufgrund irgendeiner Symbolik.

Konzentriert zielte Ferris noch einmal und feuerte ein weiteres Mal Schüsse aus seiner Pistole ab. Blitzschnell fanden sie ihr Ziel und doch blieb dieses ebenfalls zu beweglich, weswegen die Kugeln völlig andere Arme trafen, woraus er sich aber nicht viel machte. Hauptsache er traf den Körper, von dem nur wieder ein wenig weißer Traumsand herab Richtung Boden rieselte. Ohne sich davon beirren zu lassen, bewegte die Raupe sich weiter.

„Mann, beachte mich doch mal!“, seufzte Ferris genervt.

Ihm war selbst bewusst, wie das klang. Gerade weil Energiekugeln in solchen Welten keinen physischen Schaden anrichteten, wurde er nicht bemerkt und das war eigentlich gut so. Ohne Luan wusste er aber nicht, wonach genau er Ausschau halten musste. Das Denken hatte stets er für sie beide übernommen und Ferris war besser darin zuzuschlagen. Luan war der Analytiker und Ferris der Schläger. Für eine ruhige Suche nach dem Herzstück hatte er zudem gar keine Zeit.

Erbärmlich.

Plötzlich musste er an die Worte dieser Geißel denken, wie sie sich über ihn lustig gemacht hatte. Wütend umklammerte er seine Pistole fester und knirschte mit den Zähnen. Ob sie Luan inzwischen schon längst die Spielregeln erklärte?

„Ach, scheiß drauf! Ich mache es auf meine Art, so wie immer!“

An dieser Raupe stimmte etwas nicht, darum behielt er sie als sein Primärziel im Blick. Umsonst fühlte er sich in ihrer Nähe sicher nicht unwohl und da die Arme sich auch zu Traumsand wandeln ließen, könnte dieses Gebilde an sich das Herzstück sein. Ein erstaunlich großes und ungewöhnliches, aber die Chance bestand durchaus.

Ferris löste eine Hand von der Waffe und das Ticken seiner Uhr wurde schlagartig lauter, weil er Gebrauch von seiner Traumzeit machte. Im nächsten Augenblick schleuderte er bereits mit flüssigen Bewegungen eine Wasserfontäne nach der anderen auf einige der Türen, die gerade von der Raupe benutzt wurden. Dort vereisten sie auf der Stelle, nur um eine Sekunde später auch schon mit einem lauten Klirren zu zersplittern und dadurch auch das Holz in Stücke zu reißen.

Zeitgleich erwachte aus dem Nichts abermals ein bestialisches Grollen zum Leben, das nicht nur sämtliche Türen in der Umgebung erzittern ließ. Auch sein Körper fing automatisch an zu zittern und ein kalter Schauer fuhr Ferris über den Rücken. Zwischen den funkelnden Eissplittern regneten auch Glasscherben von den Spiegeln herab, womit er einigen Teilen der Raupe ihren Weg abgeschnitten hatte, so wie es geplant war.

Panisch zappelten die voneinander gelösten Körperteile hilflos vor sich hin, verharrten jedoch schwebend in der Luft. Jetzt könnte Ferris sie mit einer gebündelten Energiekugel leicht auf einen Schlag erwischen und zielte bereits auf das erste Stück, doch ein Schuss blieb aus. Die ersten Scherben fielen an ihm vorbei, wodurch er sich in ihnen spiegelte. Ein seltsamer Druck entstand in seiner Brust.

Gerade, als er sich fragen wollte, was das zu bedeuten hatte, hörte er wieder etwas. Diesmal war es eine Stimme. Sie drang direkt in seinen Kopf hinein, während sein Blick sich wie versteinert auf seine Spiegelungen in den Scherben fixierte, die nach und nach allesamt vor ihm zum Stehen kamen, statt weiter hinabzufallen.

Blaue Haare sind unnatürlich, deswegen schauen dich auch alle so komisch an. Du musst sie dir färben.

Ich helfe dir beim Lernen, damit du gute Noten bekommst. Das ist sehr wichtig, also hör auf zu spielen.

Nein, such dir einen anständigen Job. Du willst doch nicht wieder komisch angeschaut werden, oder?

Muss man dir eigentlich alles sagen? Du bist so ein hoffnungsloser Fall, Ferris. Was würdest du ohne mich tun?

Cowen. Bei dieser Stimme handelte es sich um Cowen. Es waren Erinnerungen, die Ferris übermannten und seine Gefühle in einen Abgrund stoßen wollten. So weit durfte er es nicht kommen lassen. Mühevoll riss er seinen Blick von den Spiegelungen los und wechselte mit dem Lauf sein Ziel, um stattdessen die Scherben ins Visier zu nehmen. Hastig feuerte er mehrere Energiekugeln ab, doch sie wurden einfach von dem Glas verschluckt, ohne Schaden anzurichten.

Inzwischen schwebten die Glasscherben lauernd vor ihm und schienen langsam näherzukommen, was ihn zurückweichen ließ. Auf die Raupe konnte er gar nicht mehr achten, dafür machten ihn diese zerbrochenen Spiegel zu nervös. Die einzelnen Holzsplitter der Türen waren längst unaufhaltsam zu Boden gefallen.

„Dann eben anders“, murmelte er angespannt.

Genau wie vorhin wollte er die Scherben nochmal mit Wasser zu Eis erstarren und in noch kleinere Teile zersplittern lassen. Bevor er aber dazu kam, stieß ihn plötzlich etwas grob von der Tür hinunter, die er als Plattform genutzt hatte. Erst war er zu erschrocken, konnte sich aber nach wenigen Metern ausreichend fangen, um dank seiner Schöpfer-Prägung und Traumzeit wieder problemlos gegen die Schwerkraft anzukämpfen.

Über ihm hatten sich die verknoteten Arme von den Teilen, die er mit der Zerstörung der Türen aus ihrem Gesamtbild getrennt hatte, aus ihrer Formation als Raupe gelöst und huschten einzeln wild hin und her. Offenbar war er von diesen gerade heruntergestoßen worden. Aus einiger Entfernung betrachtet sah es aus wie lauter Bindfäden, die erst ziellos herumflogen, bis sie sich daran zu entsinnen schienen, was sie wollten: Die Scherben von den Spiegeln.

Zügig schnappten die Hände sich eine nach der anderen jeweils ein Bruchstück und fingen an, die Spiegel wieder zusammenzusetzen. Nicht mit Ferris. Auch er flog ihnen eilig entgegen und schoss dabei neue Energiekugeln ab, mit denen er die Arme vernichten wollte. Nur ließen die sich nicht mehr so leicht treffen und wehrten sich, indem sie jede Kugel mit einer simplen Handbewegung einfach von sich stießen. Danach sammelten sie weiter Scherben ein, als wäre nichts gewesen.

Irritiert hielt Ferris inne. „Was? Das soll wohl ein Scherz sein?“

Er wollte nicht glauben, dass seine Energiekugeln auf einmal nichts mehr bewirken konnten und setzte für einen weiteren Schuss an, sammelte all seine Konzentration zusammen. Schließlich feuerte er eine einzige, große Kugel ab, deren Licht die gesamte Umgebung in ein angenehm kühles Dunkelblau tauchte. Mit ihrem Ausmaß müsste sie mehrere Arme auf einmal erwischen – dachte er.

Anscheinend erkannten die Arme die Gefahr, flogen jedoch als Schwarm geradewegs auf das Geschoss zu und tauchten furchtlos in dieses ein. Bloß einen Atemzug später zerplatzte die Energiekugel auch schon geräuschlos und das dunkelblaue Leuchten verlor seinen Atem, somit kehrte Dunkelheit zurück. Fassungslos musste Ferris mit ansehen, wie die Arme ihn daraufhin weiter ignorierten und lieber ihrer Arbeit folgten.

Bald war der erste Spiegel aus den Einzelteilen zusammengesetzt und die Risse wuchsen wie durch Zauberei zusammen, um wie zuvor eine Einheit zu bilden. Aus der Schwärze unter ihm rasten einige Holzsplitter empor, die ihren alten Platz um dieses Glas herum wieder einnehmen wollten. Typisch Schöpfer-Welt: Hier ließ sich nichts so leicht zerstören, solange das Herzstück noch lebte und das konnte nur diese Raupe sein.

Wie sollte er sie nur komplett zerstören, wenn seine Energie nicht ausreichte? In der Ferne zogen andere Teile des ellenlangen Körpers noch seelenruhig ihre Bahnen durch die restlichen Türen, zwischendurch tauchten hier und da nur mal ein paar Lücken auf. Bestimmt könnte es ein Kinderspiel sein, wäre seine Energie einfach nur wirkungsvoller. Lief das hier letztendlich genauso ab, wie bei dem anderen Alptraum im Wald? Dort hatte erst Luans Energiekugel etwas bewirkt.

Vielleicht hing es von der Intensität der Helligkeit ab, wie stark oder schwach ein Traumbrecher war. Könnte doch möglich sein, so genau wusste es ja niemand. War das Blau hell, besaß die Energie womöglich eine größere Wirkung als ein dunkler Farbton, so wie bei ihm. Dunkelblau kennzeichnete ihn garantiert als Schwächling aus.

Vielleicht bin ich wirklich nur erbärmlich ...

Wie auf Stichwort drang ein weiteres Mal Cowens Stimme in seinen Kopf ein und sagte ihm, dass er alleine völlig unfähig war. Nutzlos und hoffnungslos. In seinem alten Leben kam er nicht ohne Cowen zurecht und jetzt war es Luan, den er brauchte, wenn er erfolgreich sein wollte. Kopfschüttelnd versuchte Ferris diese Stimme loszuwerden, was natürlich nichts brachte.

Um ihn herum hatten sich Glasscherben versammelt, die noch nicht von den Händen eingesammelt worden waren und kreisten ihn ein. Lauernd, wie gerade eben. Seine Spiegelungen starrten ihn von allen Seiten her verzweifelt an, egal wie klein oder verzerrt sie aufgrund von Rissen auch aussahen. Was wollten diese verdammten Spiegel nur von ihm?

„Verschwindet!“, stieß Ferris laut aus und wollte zurückweichen, aber das war zwecklos.

Allmählich fing Cowens Stimme an einzelne Sätze zu wiederholen und sich zu überlagern, wodurch der Eindruck entstand, ein ganzer Chor redete auf ihn ein. Mitten unter ihnen kristallisierte sich allerdings eine andere heraus. Eine Stimme, deren Besitzer Ferris selbst war und ihn an einen Zeitpunkt aus seinem Leben erinnerte, kurz bevor ...

Ohne dich hat es keinen Sinn“, hörte er sich selbst leblos sagen. „Ich hasse dich, aber ohne dich komme ich nicht zurecht. Wie soll ich ohne dich leben?

„Nein.“

Ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll.

„Nein ...“

Oder was ich jetzt noch erreichen soll.

„Das ist ...“

Wozu bin ich überhaupt noch da?

Lange her. Das war lange her und spielte keine Rolle mehr. Wieso schmerzte es dann so sehr in der Brust? Ein kaltes Gefühl breitete sich dort aus und das Ticken seiner Uhr verlor ihren gleichmäßigen Klang, wurde kraftlos und hörte sich kränklich an. Selbst als die Hände sich nach einer Weile auch die Scherben holten, von denen Ferris bedrängt wurde, legte seine bedrückte Stimmung sich nicht. Was, wenn doch alles sinnlos war?

Unaufhaltsam tickte seine Uhr weiter und weiter, obwohl sie sich längst selbst abschalten sollte, so schlecht wie er sich fühlte. Allerdings lebte in ihm auch gerade keine Angst. Nein, es fühlte sich so wie damals an, am Ende seines Lebens. Bevor er starb und als Traumbrecher zurückkam.

In seiner Abwesenheit bemerkte er nicht, wie letztendlich einige der Hände auch nach ihm griffen und sie ihn mit sich zogen, gefährlich nahe zu den anderen, die sich zu einem neuen Körperteil der Raupe zusammenknoteten. Wollten sie ihn etwa mit einflechten? Irgendwie war ihm das ziemlich egal, was sollte er schon dagegen tun? Erschöpft schloss er die Augen.

Es hat keinen Sinn. Luan hat nicht mal gemerkt, dass ich weg bin.

Die ersten Arme schlangen sich schon um seinen Körper, als er in der Nähe eine Stimme hörte, deren Ursprung weder bei Cowen lag noch bei ihm selbst. Sie hatte einen unschuldigen, naiven Klang. Das war ...

„Luan?“

Träge öffnete er die Augen und fand sich mitten in dem Geflecht aus Armen wieder, das sich noch richtig zusammenschließen musste. Vor ihm, einige Meter entfernt, schwebte eine Tür von normaler Größe, eingehüllt von einem schwachen, hellblauen Leuchten. Sie wirkte zwischen den anderen fehl am Platze, dabei gehörte sie von der Art her doch dazu. Von dort drang immer noch Luans Stimme leise zu ihm, aus einer Zeit, als er noch anders war.

„Luan.“

Ferris wollte zu der Tür, aber die Hände hielten ihn fest und die ersten Arme nahmen ihm die Sicht, weil sie sich über ihn legten. Erst das machte ihm bewusst, was hier geschah. In seinem Inneren breitete sich der Wunsch aus, Luans Stimme zu folgen und dafür musste er hier raus. In seiner Hand hielt er noch die Pistole fest umklammert, also hatte er doch noch nicht aufgegeben.

„Lasst mich hier aus!“

Noch hörte sich das Ticken seiner Uhr kränklich an, aber sie half ihm dennoch dabei, einen Schild um sich herum zu schaffen, mit dem er diese aufdringlichen Körperteile wegdrückte. Auch die, die ihn noch festhielten, mussten irgendwann loslassen, als der Druck zu mächtig wurde. Schließlich weitete sich der Schild dann explosionsartig aus und sorgte dafür, dass dieses Gebilde aus Armen auseinander gerissen wurde, ehe sie sich vollständig zusammenschließen konnten.

Mit seiner wiedererlangten Freiheit flog Ferris sofort zielgerichtet auf die Tür zu und wagte nicht mal zu blinzeln, damit sie auch ja nicht verschwand. Dort angekommen, drückte er hastig die Klinke nach unten und riss die Tür auf. Dahinter lag noch ein Spiegel, durch den er nicht sich selbst sehen konnte, dafür aber Luan und die Geißel – sie sah nun etwas anders aus. Die beiden standen sich gegenüber und waren in ein Gespräch vertieft, doch es drangen nur Stimmen aus der Vergangenheit in ihn ein.

Du musst dich nicht verstellen, um mein Freund zu sein. Ich mag dich so, wie du bist.

Ansprüche? Warum sollte ich Ansprüche haben, damit du mir gefällst?

Fang doch einfach ein neues Leben an, dann brauchst du die alten Ketten nicht mehr.

Zögerlich legte Ferris eine Hand auf das Glas. In diesem Moment zuckte Luan kurz zusammen und blickte sich um. Ob er ihn gespürt hatte? Kaum hatte er sich in Gedanken diese Frage gestellt, zog Luan das Bonbon aus seiner Manteltasche, das er von Ferris im Hotel bekommen hatte. Also dachte er auch jetzt noch an ihn.

Hinter Ferris bauten sich die Arme, von denen er sich befreit hatte, derweil zu einer bedrohlichen Wand auf und streckten die Hände nach ihm aus. Dem schenkte Ferris keine Beachtung, trotz der Tatsache, dass sie in ihm nach wie vor einen unangenehmen Schauer auslösten, den er nun wenigstens verstehen konnte. Er fing an, die Symbolik hinter ihnen zu verstehen.

„Ich halte noch immer an Cowen fest und bin an ihn gekettet“, sagte er für sich und hielt den Blick auf den Spiegel gerichtet, in dem er Luan sehen konnte. „Es ist okay, wenn ich nicht versuche daran zu denken, aber sobald ich mich wehre, merke ich, dass ich einfach nicht von ihm loskomme.“

Vorsichtig lehnte Ferris seine Stirn gegen das Glas vor sich, das eine wohltuende Kälte verströmte – anders als die in seiner Brust. Wenn das dort draußen seine Geißel war, saß er hier vielleicht auch in seinem Alptraum fest. Oder zumindest in einer Welt, wo man mit sich selbst konfrontiert wurde. Demnach bestand noch die Möglichkeit, dieses Spiel zu gewinnen.

Entschlossen fuhr er herum und starrte die Arme finster an. „Ich glaube, nein, ich weiß, dass ich dich nicht mehr brauche!“

Ein wenig unsicher wichen die Arme minimal zurück, als er sie so direkt ansprach. Eigentlich richtete er diese Worte mehr an Cowen, aber im Grunde auch zu sich selbst und dafür stand er dem richtigen Gesprächspartner gegenüber, der dem nichts entgegensetzen konnte. Immerhin konnten sie nur über die Spiegel sprechen und darin lag die Vergangenheit verschlossen.

„Ich brauche deine Kontrolle und Vorschriften nicht mehr!“, fuhr er fort. „Ich laufe nicht mehr weg! All den Schmerz und den Kummer brauche ich nicht mehr. Ich bin jetzt anders als früher. Ich will leben!“

Tatsächlich wichen die Arme respektvoll ein weiteres Stück zurück, noch waren sie aber nicht bereit, sich gänzlich abzuwenden. Kein Wunder, denn Ferris wehrte sich gerade gegen sie und das konnten sie wohl kaum auf sich sitzen lassen. Instinktiv streckte er die Pistole nach oben und sie zersplitterte in seiner Hand zu vielen, dunkelblau glühenden Teilen, die sich hinter seinem Rücken kreisförmig anordneten. Dort schlossen sie sich zu einer neuen Gestalt zusammen: Eine Art Zahnrad, das sich an seiner Körpergröße anpasste und sich zu drehen begann.

„Ich muss nicht perfekt sein“, stellte er klar und atmete kurz durch. „Ich kann selbst bestimmen, was ich sein will.“

Ferris brauchte keinen König mehr, der über ihn bestimmte und ihn leitete. Solange es Luan gab, konnte er frei sein und war nicht alleine. Das waren keine Ketten mehr.

Aus dem Ticken seiner Uhr war ein lautes Orchester geworden, um das Zahnrad in seinem Rücken anzutreiben und ihn stärker zu machen. Ab jetzt konnte er seine Schöpfer-Prägung wesentlich effektiver nutzen als vorher, weil sie direkt mit seiner Energie verbunden war. Dieser Zustand kostete eine Menge Zeit und wurde in der Regel nur im Notfall eingesetzt oder aus Verzweiflung. Das hier war genau der passende Moment dafür.

Es benötigte nur eine lockere Handbewegung und auf einen Schlag zersprang jede einzelne Tür mit einem lauten Knall, aus denen jeweils bläulich schillernde Eiskristalle aufgeblüht waren. Somit war die Kriegserklärung offiziell und die einzelnen Teile der Raupe lösten sich restlos auf. Sie alle verströmten nun eine so spürbare Aggression, dass sich ein rötlicher Schimmer in der Atmosphäre bildete. Wütend stürzten sich hunderte, wahrscheinlich tausende Hände mitsamt ihren langen Armen auf ihn.

„Ihr wollt spielen? Könnt ihr haben, aber ich hab nicht ewig Zeit.“

Genau genommen hatte er gar keine, daher sollte das hier auch nur ein kurzes Spiel werden. Kurz, aber wirkungsvoll. Bloß eine weitere Handbewegung genügte und die Eiskristalle, deren abruptes Wachstum die Türen zerstört hatte, lösten sich rasch in feinen Staub auf. Dieser mischte sich zwischen den rötlichen Schimmer in der Atmosphäre und ließ sie binnen weniger Sekunden gefrieren. Auch alles, was sich in ihr aufhielt.

Mitten in ihren Bewegungen erstarrten die Arme nun selbst zu Eis, einer nach dem anderen, während Ferris sich von seiner eigenen Aura aus dunkelblauer Energie schützen ließ, mit der er auch die Tür hinter sich einschloss. Still lag das Gemälde eines kalten, schönen Schlafes vor ihm und wirkte derart zerbrechlich, dass schon der leiseste Laut es in sich zusammenfallen lassen könnte. Also schnippte Ferris mit den Fingern und löste genau die Zerstörung aus, die er sehen wollte.

Nahezu synchron zersprangen die vor Kälte erstarrten Feinde und zurück blieb nur weißer Traumsand, reichlich davon. Wie ein heiliger Regen fiel er hinab in die Schwärze und ließ auch hier oben nichts weiter als eine weite Dunkelheit zurück, selbst der rötliche Schimmer verschwand. Wirklich alles hatte Ferris mit diesem Angriff erwischt, so großflächig konnte die Wirkung seiner Prägung sein. Einzig er selbst und die Tür, über die er Luan sehen konnte, waren noch übrig.

Zufrieden stemmte Ferris die Hände in die Hüften. „Tja, ich habe wohl gewonnen~.“

Lange hielt die Freude nicht an, denn ihm wurde schlagartig schwindelig und Schwäche überrumpelte seinen Körper. Deutlicher konnte er nicht daran erinnert werden, dass er soeben neben Zeit auch viel zu viel Energie verbraucht hatte. Sicher wäre Luan nun doch nicht stolz und eher wütend auf ihn, doch das war es Ferris wert gewesen. Dummerweise blieb diese Welt weiterhin existent, dafür hatte er einen wichtigen Kampf gewonnen. Oder?

Das Orchester aus seiner Uhr verstummte, als er den Sprungdeckel schloss und somit auch das Zahnrad wie üblich in einem grellen Lichtblitz verschwand. Am besten wagte Ferris erst mal keinen Blick auf die Zeit, die er verbraucht hatte, um sich nicht zu erschrecken. Wichtiger war immer noch, einen Ausgang zu finden – und nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Um noch schweben zu können, musste er die Zeit vorerst weiterlaufen lassen, aber es war nur noch ein leises, schwaches Ticken zu hören. Ferris drehte sich zurück zu der Tür, weil er Luan sehen wollte und hoffte, auf die Art Kraft tanken zu können. In seinem Inneren zog sich aber nur alles zusammen, kaum dass er sah, wie sein Freund soeben die Hand von der Geißel schüttelte. Was hatte das zu bedeuten? Zweifel überkamen ihn.

Du weißt doch, dass ich das nicht bin? Luan, weißt du es?

Aus den Tiefen der Dunkelheit war ein kaum vernehmbares Klirren zu hören. Metall. Es waren Ketten. Ein Echo, das ihn nur unterschwellig erreichte, sich aber langsam in seinen Geist fraß und die Zweifel nährte. Nein, Ferris hatte gewonnen. Jetzt sollte doch alles gut sein. Wäre da nur nicht dieses Bild von Luan und der Geißel ...

Auf einmal war ein Knacken zu hören. Nicht mal einen Herzschlag danach tauchten wie aus dem Nichts Risse in dem Spiegel auf, die sich wie ein kompliziertes Netz quer über das gesamte Glas zogen und keine Sicht mehr auf das Geschehen dahinter zuließen. Mitten in diesem Wirrwarr bildeten die kleinen Abgründe ein paar Worte, von denen Ferris förmlich angestarrt wurde. Vielmehr schienen sie direkt in ihn hinein zu flüstern:

Narr! Die Ketten sind noch da.

Aus einem Instinkt heraus wollte Ferris sich abwenden und abhauen, kam aber nur noch dazu, diesen Gedanken halbwegs zu spinnen. Splitter flogen ihm um die Ohren, als der Spiegel vor seinen Augen zerbrach und neue Hände kamen ihm entgegen. Sie packten sich seinen geschwächten Körper und rissen ihn mit sich durch die Tür, die sich selbstständig mit einem stummen Knall wieder schloss.

Das Ticken der Taschenuhr war nicht mehr zu hören.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Na? Wer hat bemerkt, dass ich Ferris' Charactersong hier eingebaut habe? :3
(Mehr schlecht als recht, aber ich liebe es. ♥)
Der Grund, warum Ferris am Ende doch noch verloren hat, lässt sich hier übrigens genau erkennen (hoffe ich?). Komplett anzeigen

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