The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 18: Sie sind nicht nur eine Legende ------------------------------------------- Glücklicherweise war Ferris als erstes wieder wach geworden, nicht nur vor Luan, auch die Sonne war noch nicht aufgegangen. Bald schon würde die nächtliche Dunkelheit draußen aber von den ersten Sonnenstrahlen des Morgens verscheucht werden, die das schwarze Nichts durch einen blauen Himmel ersetzen sollten, wie es Tag für Tag geschah. In dieser Nacht waren keine Sterne zu sehen gewesen, ob der neue Tag demnach wohl auch von grauen Wolken überdacht werden würde? In den letzten Jahren war Ferris jedenfalls schon öfters aufgefallen, dass die Sterne nachts an den Orten, wo Alpträume aktiv ihr Unwesen trieben, entweder nur rar vorhanden waren oder auch einfach komplett erloschen. Das wirkte stets wie eine Flucht vor dem Bösen, diese Theorie vertraten zumindest ein paar Traumbrecher. Einige alte Überlieferungen behaupteten, Sterne wären eng mit den Träumen verbunden und wenn das stimmte, war es nur natürlich, dass sie sich ins schwarze Nichts zurückzogen, um sich dort vor ihren Feinden zu verbergen. Ferris mochte diese Vorstellung irgendwie, weil er als Traumbrecher derjenige sein konnte, der die Alpträume vernichtete und die Sterne dadurch zurückholte. Nach so manchen Kämpfen hatte ihn das schon mehrmals zufrieden lächeln lassen, kaum dass er nach erfolgreicher Arbeit den ersten leuchtenden Punkt bemerken konnte, der in den Nachthimmel zurückgekehrt war. Jetzt waren sie aber noch alle fort, also konnte diese Stadt nicht sicher sein. Hier trieb sich ein Alptraum herum und dafür war er zusammen mit Luan hergeschickt worden. Viel Zeit bis zum Sonnenaufgang blieb ihm nicht mehr und sein Blick huschte vom Fenster rüber zu Luan, der noch tief und fest schlief. Sein Körper lag genau auf der richtigen Seite, so dass Ferris sein Gesicht sehen konnte. Es wirkte reichlich angespannt und seine Mimik war ein wenig verkrampft. Bei dem Anblick konnte Ferris sich gut denken, dass Luan sicher nicht gut schlief, er träumte ja auch nicht mehr, wofür er ihn nur bemitleiden konnte. Möglichst leise rutschte Ferris auf die andere Seite seines Bettes, wo sich eine unscheinbare Tüte befand, die er von Naola bekommen hatte und die er dort vorerst versteckt hielt, damit Luan sie nicht bemerkte. Für gewöhnlich neigte er nicht dazu, sich an fremden Taschen zu vergreifen, das Risiko wollte Ferris trotzdem nicht eingehen, weil es eine Überraschung bleiben sollte. In der Tüte ruhten nämlich eine Menge Süßigkeiten, auch die hatte Naola für ihn besorgt, bevor sie für ein Gespräch zu ihm gekommen war. Luan mochte Süßigkeiten, lieben traf es eigentlich noch viel besser. Damals, vor der Zeit, in der er eine Weile im Labor bei Vane verbringen musste, hatte er sie auf jeden Fall geliebt. Nur wenige wussten davon. Ob er sie auch heute noch liebte, konnte Ferris nicht mit Sicherheit sagen, aber er baute darauf, genau wie Naola es anscheinend tat, sonst hätte sie ihm diese Leckereien wohl nicht mitgebracht. Mit denen sollte er versuchen, seinen alten Freund aus Luan wieder herauszulocken, den Ferris so sehr vermisste. Darüber hatte er sich auch mit Naola unterhalten und da sie die Süßigkeiten noch vor ihrem Gespräch gekauft hatte, zeigte es deutlich, wie gut sie die beiden kannte. Neben dieser Tüte hatte sie ihm auch Bier mitgebracht, wie ein wahrer Kumpel eben. Kein Wunder, dass Ferris hinterher eingeschlafen war, nachdem er am meisten davon getrunken hatte. Wer hätte auch ahnen können, als Traumbrecher ausgerechnet in dieser Nacht von einem Alptraum befallen zu werden? Egal, jetzt hoffte er erst mal darauf, mit den Süßigkeiten etwas bei Luan bewirken zu können, doch er wollte ihm nicht gleich die ganze Tüte in die Hände drücken. Nicht nur, dass es einen etwas seltsamen Eindruck machen würde, es wäre vielleicht auch etwas zu viel auf einmal für Luan, wenn er von Ferris mit einer Tasche voller Süßigkeiten bedrängt wurde. Gut, dass sie beide erwachsen waren und Luan schon lange nicht mehr als Kind galt, sonst könnte man das auch schrecklich falsch deuten. Vorsichtig fischte Ferris also nach und nach einzelne Süßigkeiten aus der Tüte, um sie in seinen Hosentaschen verschwinden zu lassen, wo auch seine Uhr wieder verstaut worden war. Jedes Rascheln entlockte ihm innerlich einen Fluch und er hielt dann einige Male inne, um zu horchen, ob Luan von dem Geräusch geweckt worden war, aber es tat sich nichts. Aus Erfahrung wusste Ferris, was für einen leichten Schlaf Luan haben konnte. Nicht immer, dennoch konnten ihn manchmal schon die leisesten Atemlaute aufwecken. Gerade, als er sich dachte, dass er mit genug Süßigkeiten ausgestattet war, ertönte hinter ihm dann auf einmal doch eine Stimme, die sich sehr verschlafen anhörte. „Was machst du da?“ „Huh?“, reagierte Ferris sofort, statt erschrocken zusammenzuzucken oder gar zu erstarren, und warf einen Blick über die Schulter. Das Rascheln musste Luan letztendlich doch noch aufgeweckt haben, denn er richtete sich gerade im Bett auf und hielt sich dabei den Kopf. Wie gewohnt sah er furchtbar übermüdet aus und in seinen Augen schien der Grauton sich einige Flächen von dem Grün erobert zu haben, da sie etwas trostloser aussahen als sonst. Traumloser Schlaf musste wirklich ein Fluch sein, also versuchte Ferris ihm wenigstens das Aufwachen schöner zu gestalten. „Oh, du bist wach? Einen wunderschönen guten Morgen, Schlafmütze“, hieß Ferris ihn wieder in der Welt außerhalb des Schlafes willkommen und schenkte ihm ein freundschaftliches Lächeln. „Die Frage, ob du gut geschlafen hast, spare ich mir mal. Hey, wenigstens wachst du in guter Gesellschaft auf~.“ Ratlos und auch ein bisschen misstrauisch zog Luan die Augenbrauen zusammen, was ihm überhaupt nicht stand, aber Ferris hatte es längst aufgegeben, ihn darauf hinzuweisen. Offenbar hatte Luan nicht erwartet von ihm so herzlich begrüßt zu werden, was auch seiner Stimme zu entnehmen war, die vorsichtig in der Richtung nachhakte. „Du bist so gut gelaunt.“ „Bin ich das nicht immer?“, erwiderte Ferris sorglos und schob unauffällig die Tüte unter sein Bett, während er über die Schulter hinweg abwinkte. „Ich gebe zu, der Ausrutscher gestern nagt ein wenig an dem Prozentsatz, aber insgesamt betrachtet bin ich doch immer gut gelaunt.“ Laut Luans Aussagen, die er sich seit seiner Veränderung so oft anhören musste, dass er sie schon fast selbst glaubte. Seltsamerweise ritt er diesmal gar nicht darauf herum und wiederholte stattdessen nochmal seine erste Frage, nun schon etwas wacher, dafür verwundert. „Was machst du da?“ „Nichts“, log Ferris und da er wusste, wie schlecht er darin war, lachte er unschuldig. „Ich dachte nur, mir wäre etwas runtergefallen.“ „Ach so.“ Musste Luan erst noch richtig wach werden oder seit wann ließ er sich so leicht von einer Lüge überzeugen, die von Ferris kam? Erst als er auffallend schnell den Blick von ihm löste und dabei wie ein scheuer, verlorener Welpe wirkte, bemerkte Ferris, dass Luan etwas beschäftigte. Ein leichtes, kaum sichtbares Flackern hatte in seinen müden Augen gelegen. Natürlich konnte es nur mit einer Sache zusammenhängen und das war seine Vergangenheit, von der er Luan einen Teil gezeigt hatte. Dieses Ereignis musste auch für ihn eine neue Erfahrung gewesen sein, mit der er erst lernen musste richtig umzugehen. Kein Wunder also, dass er wie ein Welpe wirkte, der nicht so recht wusste, was er tun sollte, weil er noch zu unerfahren in dem Gebiet war. Vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass Luan seit kurzem allgemein ein wenig zugänglicher war als sonst. Genau genommen seit gestern, nachdem Vane mit ihm gesprochen hatte. Leider war Ferris viel zu spät aufgewacht und wusste nicht, worüber sie geredet hatten, was ihn sehr ärgerte. Nur die letzten Sätze konnte er belauschen, mehr nicht. Was auch immer passiert war, es trieb die Hoffnung, seinen alten Freund zurückzubekommen, weit in die Höhe. Nur war es womöglich ein Fehler gewesen, mit Luan eine Verbindung durchgeführt zu haben. Der Gedanke, dass Luan nur aus Mitleid so zugänglich geworden sein könnte, weil er von dem Alptraum einige Dinge über Ferris erfahren hatte, die er besser nicht gesehen hätte, waren wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Aus Verzweiflung heraus hatte Ferris zugestimmt, Luan seine Vergangenheit zu zeigen. Das Interesse von ihm daran war wie ein letzter Strohhalm gewesen, an den Ferris sich klammern musste. Jetzt war er unsicher, ob das eine gute Idee gewesen war oder nicht doch eher ein Fehler. Nicht nur, dass Luan nun viel zu viel wusste, Ferris hatte von dieser Verbindung überhaupt nichts gehabt. Normalerweise hätte er Zugriff auf die Gefühlsebene von ihm bekommen müssen, so wie Luan auch seine Emotionen übermittelt wurden, was aber umgekehrt nicht eingetroffen war – der Griff nach dem Strohhalm war also umsonst. Jeglicher Zugriff auf die Stimmungen des anderen war Ferris verwehrt worden, als gäbe es in Luan ein Sicherheitsnetz, das nichts mehr rein oder raus ließ. Vermutlich konnte er froh sein, wenigstens ein paar Gedanken von Luan mitbekommen zu haben. Solange Ferris nicht wusste, ob dieses plötzliche Interesse von Luan an ihm nur aus Mitgefühl oder ganz anderen Gründen stattfand, wollte er sich nicht umsonst Hoffnungen machen und hatte daher eine zweite Verbindung abgelehnt. Sonst würde er ihm auch den Rest zeigen, den Luan scheinbar so dringend sehen wollte, aber warum? Nein, ehe Ferris nicht genau wusste, was mit ihm los war, wollte er nicht vollständig seine Vergangenheit vor ihm entblößen. Schlimm genug, dass es schon zur Hälfte passiert war. „He, Luan“, sprach er ihn an, um seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. Nur träge wandte er den Kopf leicht in seine Richtung. „Hm?“ „Lass uns alles, was die Verbindung angeht, vorerst vergessen, okay?“, schlug er vor und hatte sein Lächeln noch nicht verloren. „Konzentrieren wir uns auf unsere Mission, danach sehen wir weiter. Deal?“ Es war schwer einzuschätzen, was Luan über diesen Vorschlag dachte. Ein Schweigen folgte, das mit jeder Sekunde unerträglicher wurde, weil es sie voneinander trennte, noch mehr als vorher und das versetzte Ferris einen Stich in die Brust. Schließlich stimmte Luan dem aber mit einer knappen Erwiderung zu. „In Ordnung.“ Instinktiv glaubte Ferris, etwas tun zu müssen, damit klar wurde, dass er sich nicht noch mehr Abstand zu Luan wünschte. Also erhob er sich von seinem Bett und ging zu dem von Luan hinüber, um zum ersten Mal auszutesten, ob er noch auf Süßigkeiten reagierte. Dafür ließ er eine Hand in seine Hosentasche gleiten und zog ein Bonbon hervor, das in hellblaues Papier mit goldenen Punkten eingewickelt war. Mit dem tippte er Luan sacht gegen die Stirn. „Hier, als kleines Zeichen meiner Dankbarkeit“, schob er einen anderen Grund vor. „Du weißt schon, für die Rettung vor dem Alptraum.“ Noch hatte Luan nicht richtig erspähen können, womit Ferris ihm da gerade gegen die Stirn getippt hatte, weshalb er irritiert reagierte. „Du hast dich doch schon bedankt und ich sagte-“ „Ich weiß“, unterbrach er ihn. „Nimm es einfach~.“ Nach diesen Worten schnappte Ferris sich Luans Hand und gab ihm das Bonbon, das er daraufhin überrascht anstarrte. In seinem Gesicht regte sich tatsächlich genau das, was Ferris sehen wollte und er musste sich zusammenreißen, nicht vor Freude zu jubeln. Zwar mochte es nur für wenige Sekunden angehalten haben, aber es war Begeisterung, die das Grün in Luans Augen hatte leuchten lassen. Für einen kurzen Moment. „Hm“, gab Luan danach gedämpft von sich und nahm das Geschenk an, auch wenn er es nicht sagte – dafür steckte er sich das Bonbon in eine Manteltasche, wo er es sicher aufbewahren konnte. Damit gab Ferris sich zufrieden und wertete es als einen riesigen Erfolg, den er lieber nicht durch Scherze zerstören wollte, also kam er auf etwas anderes zu sprechen. „Ach, aber bevor wir uns anständig unserer Mission widmen können, hast du ja erst mal eine Verabredung mit Mara.“ „Es ist keine solche Verabredung, wie du glaubst“, widersprach Luan direkt ernst. „Außerdem glaube ich, dass sie vielleicht etwas mit der Mission zu tun hat.“ Nun hatte er Ferris' Neugier geweckt. „Wie kommst du denn darauf?“ „Weil seit ihrem Auftauchen langsam aber sicher ein richtiges Chaos entsteht.“ Ein schwerer Seufzer unterstrich, wie genervt Luan davon war. „So unkoordiniert haben wir noch nie gearbeitet.“ Erst wollte Ferris lachend abwehren und Luan sagen, dass er nur Gespenster sah, aber er dachte doch darüber nach. Als er sich mit Mara in diesem Zimmer alleine unterhalten hatte, war es ihr gelungen durch ein Wort seine alten Ängste zu wecken. Zufällig? Wäre es nur das, könnte man es in der Tat auf einen unglücklichen Zufall schieben, doch da hatte zu dem Zeitpunkt auch ein rötlicher Schimmer in ihren Augen gelegen, der von aggressiver Natur war. So wie bei einem Alptraum. Traumbrecher besaßen alle eine friedliche, bläuliche Aura in unterschiedlichen Tönen, Alpträume dagegen bestanden aus einer rötlichen Energie. Allerdings war Mara viel zu menschlich, nicht nur von ihrem Aussehen her. Ein Alptraum würde seinem Instinkt, dem Ruf nach Zerstörung, folgen, statt ein ruhiges Leben in einem Buchladen zu führen. Nun, wirklich ruhig konnte man auch Maras Alltag nicht bezeichnen, wenn man sich die letzten Tage von ihr betrachtete. „Du glaubst also, Mara verursacht Chaos?“ Ferris tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen die Schläfe, als er das fragte. „Das glaube ich, ja“, bestätigte Luan und fügte etwas hinzu, bei dem Ferris sehr hellhörig wurde. „Ich weiß schon mal, dass sie kein richtiger Mensch ist.“ „Nicht? Was ist sie dann?“ „Keine Ahnung, aber das will ich heute herausfinden, wenn ich mit ihr rede.“ Statt weiter nachzuhaken nickte Ferris verstehend. „Und woher weißt du, dass sie kein Mensch ist?“ Plötzlich verhärteten sich Luans Gesichtszüge. „Von Bernadette Maron. Sie ist die Eigentümerin des Buchladens, zu dem mich Mara gestern geführt hat.“ „Wow, wow, wow!“, brach es aufgeregt aus Ferris heraus und er beugte sich mit dem Oberkörper ein Stück zu Luan nach unten. „Du hast Detty getroffen? Awesome! Wie geht es ihr?“ Auf diese Worte hin folgte nur ein tadelnder Blick, den Ferris sofort verstand und sich räusperte, um seine Freude in Ernst umzuwandeln. Bernadette galt in Athamos als Verräterin, was er sehr bedauerte, weil sie dort lange Zeit die gute Seele der Einrichtung gewesen war und für jeden ein offenes Ohr gehabt hatte. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sie aus Böswilligkeit Verrat begangen hatte, für Luan war das aber ein sehr sensibles Thema. Ihr Verrat ging ihm äußers nahe, was Ferris verstehen konnte. Die beiden hatten damals eine Art familiäre Bindung miteinander besessen. Besser, er konzentrierte sich mehr auf die Aussage, dass Mara kein Mensch war. Was sollte sie sonst sein? Für einen gewöhnlichen Menschen war sie aber auch viel zu vollkommen von ihrem Aussehen her. Und dann war da noch ... „Ah, warte!“, stieß Ferris aus und eilte zu einem Mülleimer, der zwischen den beiden Betten an der Wand stand. Dort fand er auch problemlos das, wonach er suchte, da sonst noch nichts anderes weggeschmissen worden war. „Als du deine Zeit noch im Krankenwagen abgesessen hast, legte Mara sich hier ein wenig hin, um Schlaf nachzuholen und als ich mich ins Bett legte, nachdem ihr gegangen seid, habe ich das hier dort gefunden.“ Ein kleiner, roter Samen. Den hatte Ferris eine Weile betrachtet, als er ihn gefunden hatte und ihn dann weggeschmissen, weil er nichts damit anzufangen wusste. Seltsam war ihm das aber schon vorgekommen und jetzt, als er hörte, dass Mara kein Mensch sein sollte, konnte das doch etwas bedeuten. Überraschenderweise konnte Luan damit offensichtlich etwas anfangen, denn seine Augen weiteten sich, kaum dass Ferris ihm dieses geheimnisvolle Samenkorn zeigte. Zum ersten Mal sah er das nicht. „Genau so eins habe ich auch schon gefunden“, berichtete Luan und nahm den Gegenstand ungefragt an sich, da er ihn genauer anschauen wollte. „Nach dem Kampf mit dem Schöpfer-Alptraum, der einer neuen Gattung angehört. Als ich das Herz zerstörte, blieb auch so ein Samen zurück, statt eines Menschen.“ „Ich habe mich schon ein wenig gewundert“, gab Ferris zu und hob die Schultern. „Mir war es dann aber wichtiger, dass du versorgt wirst.“ Luan machte ihm daraus keinen Vorwurf, was ihn erleichterte. „Schon gut. Im Moment läuft eh alles sehr planlos.“ „Ich glaube nicht, dass mich das trösten sollte, aber ich fühle mich mal beruhigt.“ „Ich muss dringend mit Mara sprechen“, murmelte Luan vor sich hin und begutachtete noch immer das Samenkorn, das er in seiner Hand drehte. „Sie hängt irgendwie mit allem zusammen. Vielleicht sogar mit dieser Geißel.“ Ungläubig starrte Ferris ihn an. „Geißel?“ „Ich habe eine getroffen.“ Einen Atemzug lang hielt Luan inne, als müsste er sich überlegen, wie er am besten weitersprechen sollte. „Kurz bevor ich zu dir ins Hotel zurückkam. Sie hat jedenfalls von sich behauptet, eine zu sein.“ „Eine Geißel?“, sagte Ferris nochmal und musste nun amüsiert schmunzeln. „Also jetzt klingt das schon fast nach einer Verschwörungstheorie. Geißeln sind doch nur eine Legende.“ „Irrtum“, mischte sich eine dritte Stimme in das Gespräch mit ein. „Sie sind nicht nur eine Legende.“ Die Tür zum Zimmer war geöffnet worden und Vane betrat den Raum, wie üblich mit einem Gesichtsausdruck, vor dem man sich fürchten sollte, aber Ferris begrüßte ihn gleich mit einem Lächeln. „Auch Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Doc B.“ Der Doktor erwiderte den Gruß nur mit einem wortlosen Nicken und kam mit großen Schritten näher zu ihnen. Es erstaunte Ferris jedes Mal, wie es diesem riesigen Mann gelang sich trotz seiner Körpergröße nicht schwerfällig, sondern geschmeidig und flüssig zu bewegen. Sein Klemmbrett hatte Vane anscheinend im Hauptquartier zurückgelassen, er trug nämlich keins bei sich und das war ein ungewohntes Bild bei ihm. „Na endlich“, brummte Luan leise. Auch er stieg nun rasch aus dem Bett und stand kurz darauf aufrecht an der Seite von Ferris. „Pünktlichkeit kann man Ihnen nicht ankreiden, immerhin etwas.“ Vane schob seine Brille zurück an ihren richtigen Platz. „Ich sagte dir doch, dass ich morgens zurück sein werde. Nevin ließ sich schnell als Ersatz für mich einteilen und Bernard wird sich auch gut um die Patienten kümmern, während ich weg bin.“ „Schön zu wissen“, gab Luan in einem viel zu ernsten Ton von sich, aber Ferris konnte sich denken, dass es ironisch gemeint war und er sich in Wahrheit gar nicht für die Erfolge des Arztes interessierte. „Wie meinten Sie das gerade, dass Geißeln keine Legenden sind?“ Wie gewohnt blieb Vane ruhig und hielt dem feindseligen Blick stand, mit dem er von Luan durchbohrt wurde. „Ich meinte es genau so, wie ich es gesagt habe. Hast du noch nie davon gehört, dass in jeder Legende auch ein bisschen Wahrheit steckt?“ „Sie treiben das Spielchen also weiter?“ Angespannt atmete Luan schwer ein und aus. „Sie werden mir auch weiterhin nicht verraten, was Sie wissen?“ Zwischen den beiden herrschte eine noch größere Distanz als es bei Luan und Ferris der Fall war. Sobald sie aufeinander trafen stand die Atmosphäre förmlich unter Strom und Ferris wagte es nur selten, sich bei ihren Gesprächen einzumischen und blieb oft lieber still, lauschte dafür aber aufmerksam ihren Worten. Er hatte offenbar mehr verpasst, als ihm lieb war. Demnächst würde er sich nicht mehr so leicht von seinem Partner trennen lassen. „Nicht, bevor ich mit Bernadette gesprochen habe“, antwortete Vane, für den das etwas Selbstverständliches zu sein schien. „Du kennst den Weg, also werden wir zusammen hingehen.“ „Wir alle drei?“, wagte Ferris nun doch, sich zwischen die beiden zu drängen. Nochmal wollte er nicht zurückbleiben. „Natürlich“, bejahte Vane die Frage. „Ihr beide seid zu zweit für diese Mission hergeschickt worden, also gehen wir alle drei. Ich hatte Luan schon gesagt, dass ich meine Anwesenheit hier als nötig betrachte und werde euch von nun an unterstützen. Naola bleibt hier, ich war vorhin schon bei ihr und habe mit ihr gesprochen.“ Diese Aussicht passte Luan gar nicht, was er auch in seiner Mimik zeigte. „Sie meinen wohl eher, dass Sie uns rumkommandieren werden und Sie besonders mich nur im Auge behalten möchten.“ So schlecht fand Ferris es gar nicht, etwas Hilfe von Vane zu bekommen. Ihre Mission war bisher nicht gerade erfolgreich verlaufen und genau genommen kaum in die Gänge gekommen, da konnten sie eine solche Unterstützung gut brauchen. Nach Luans Sichtweise wirkte Vanes Anwesenheit aber wirklich irgendwie erdrückend, auch wenn da noch einige andere Faktoren mit einflossen, die seine Abneigung gegen den Arzt erklärten. In Vanes dunkelbraunen Augen lag etwas verborgen, das sich nicht deuten ließ, als er Luan prüfend musterte und dabei bemerkte, dass er etwas in der Hand halten musste, die er zur Faust geballt hatte – den Samen. Er streckte seine eigene aus und sprach mit veränderter Tonlage zu Luan. „Gib mir alle Samen, die du hast.“ Hatte Vane gelauscht oder wusste er, dass sie Samen besitzen mussten? Da er es mit seiner Schall-Prägung gesagt hatte und es ein Befehl war, dem Luan sich nicht widersetzen konnte, kramte er grummelnd in seinem Mantel nach einem zweiten Samen und übergab sie beide an Vane. Inzwischen war die Spannung in der Luft so stark, dass Ferris ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut zu spüren glaubte. „Lassen Sie mich raten: Sie wissen zufällig ganz genau, was es mit den Samen auf sich hat?“, murrte Luan genervt und sah Vane fordernd an, der sich davon aber nicht beeindrucken ließ. „Ja“, entgegnete der nur, ohne weitere Erklärungen. Zugegeben: Das machte nun auch Ferris misstrauisch. Ein bisschen. Immerhin war Vane ehrlich, was für Luan nur ein schwacher Trost sein dürfte und Ferris war dadurch auch nicht sonderlich schlauer, nahm es dennoch wesentlich gelassener hin. Hauptsache, sie würden alle zusammen gehen, mehr war für ihn nicht wichtig. Wer bescheiden war, bekam früher oder später dafür auch etwas zurück, zumindest versuchte er sich mit dieser Einstellung entspannt zu halten. Die beiden Samen ließ Vane in einer Seitentasche seines Kittels verschwinden und gab ihnen dann ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten. Dem gingen sie auch nach, wobei Luan einen unzufriedenen Laut von sich gab. Erst dachte Ferris daran, ihn damit zu trösten, dass er seine Verabredung mit Mara einhalten könnte, wenn Vane mit ihnen sowieso zu Bernadette wollte, nur würde das nicht viel bringen. Nicht, wenn Luan schon derart genervt von der Situation war. Eines konnte Ferris schon jetzt sagen: Wenn jemand wie Vane sie bei einer Mission unterstützen wollte, musste sich einiges hinter ihr verbergen, von dem sie noch nichts ahnten. Und das hatte etwas mit einer Geißel, einer Legende, zu tun? *** In Wahrheit hatte Vane Ferris vielleicht doch nur aus einem anderen, bestimmten Grund mitgenommen: Als Fahrer. Auch das nahm er aber recht gelassen hin und beschwerte sich nicht, darin war Luan schon gut genug, wie er fand. Nur war es ungewöhnlich, wie mühsam der sich mit jeglichen Kommentaren zurückhielt, die ausdrücken würden, wie hoch das Maß war, in dem ihn Vanes Anwesenheit störte. Sicher wollte Luan nur nicht riskieren von diesem Fall abgezogen zu werden, wozu der Arzt in der Lage wäre. Direkt vor dem Buchladen konnte Ferris nicht parken, also hatte er einige Straßen weiter den Wagen abgestellt und sie mussten noch ein Stück zu ihrem Ziel laufen. Naola musste ihre schöpferischen Fähigkeiten benutzt haben, anders könnte Ferris sich nicht erklären, wieso sein Wagen wieder wie neu aussah, obwohl er wegen dem Ausweichmanöver vornüber in einem Graben gelandet war. Sie war diejenige gewesen, die sein Auto geholt hatte, also musste sie es gewesen sein. Selbst das Radio funktionierte wieder, wofür er sich beim nächsten Mal unbedingt ganz besonders bei ihr bedanken musste. Am besten bei ihrem Date. Die Packung Kaugummi hatte Ferris sich ebenfalls endlich aus dem Wagen gesichert und wirkte äußerst zufrieden, während sie zum Buchladen gingen. Im Gegensatz zu Luan wartete er einfach ab, was als nächstes auf ihn zukommen würde und warum Vane zu Bernadette wollte, da es ihm nichts bringen würde, sich im Vorfeld den Kopf zu zerbrechen. Am Tage waren sie außerdem vor weiteren Angriffen durch Alpträume geschützt, also gab es für einige Stunden keinen Grund sich wegen Feinden verrückt zu machen. Dachte er. Dummerweise hatte er nicht ins Auge gefasst, dass es noch dunkel war und die Morgendämmerung gerade erst einsetzte, als sie den Buchladen betraten. Schon als Ferris den ersten Schritt über die Türschwelle ins Innere des Geschäfts gesetzt hatte, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er fühlte sich unwohl, geradezu bedroht von etwas, dem er keinen Namen geben konnte, weil er nicht wusste, was genau es überhaupt war. Unruhig ließ er den Blick durch den Verkaufsbereich schweifen und verlangsamte sein Tempo etwas, Luan und Vane dagegen liefen unbeirrt weiter, zu einer weiteren Tür in den hinteren Bereich. Alles wirkte recht normal, abgesehen davon, dass dieser Buchladen eher an einen Kramladen erinnerte, bei all den Gegenständen. Irgendwie kam es ihm persönlich sogar mehr wie eine Art Festung vor, vom Gefühl her. Es war still, mit Ausnahme von den dumpfen Geräuschen, für die ihre eigenen Schritte verantwortlich waren. Still und dunkel. Genau, das war es. Dunkelheit. Noch war die Sonne nicht aufgegangen und niemand hielt es für nötig den Lichtschalter zu betätigen, weil sie daran gewohnt waren, nachts zu jagen. Traumbrecher störten sich nicht an Dunkelheit, aber die Schatten, die hier den Boden samt Wänden und die Decke einnahmen, wirkten bedrohlich auf Ferris. Wie lauernde, hungernde Bestien, von denen er verschlungen werden könnte, sollte er nur eine unbedachte Bewegung tun. Diese Dunkelheit ... Sie kommt mir bekannt vor. Jemand tippte von hinten auf seine Schulter und flüsterte ihm unheilvoll ins Ohr. „Klopf, klopf. Einen wunderschönen guten Morgen, Ferris.“ Das konnte nicht sein. Diese Stimme klang haargenau wie seine eigene, er selbst hatte aber nichts gesagt, keinen einzigen Ton. Aus Reflex fuhr er sofort herum und spannte seinen Körper an, als er in das Gesicht einer Person blickte, die wie sein Zwilling aussah. Sein Herz setzte für einige Takte aus. „W-Was?“, brachte er nur schwer hervor. Sein Spiegelbild deutete ein boshaftes Grinsen an. „Owww, wie gemein von dir. Da lebten wir so lange zusammen in einem Körper und dann erkennst du mich nicht mal wieder.“ Von dem, was sein vermeintlicher Zwilling sagte, verstand Ferris kein Wort und kam auch nicht mehr dazu, etwas darauf zu erwidern. Unter ihm ruhten dunkle Schatten, sie waren überall im Einkaufsbereich des Ladens und so konnte er ihnen gar nicht entkommen. Nur flüchtig nahm Ferris noch wahr, wie sich jenseits der Schaufenster am Horizont langsam ein goldenes Licht in den Himmel erhob, leider zu spät. Der komplette Raum drehte sich auf einmal geschwind um die eigene Achse und diese Bewegung löste einen Druck in seinen Körper aus, der sich durch sämtliche Nervenbahnen zog. Sein Gleichgewicht ging ihm verloren, er schwankte haltlos hin und her, drohte zu stürzen und doch lösten sich trotz dieser Drehung seine Füße nicht vom Boden. Vor seinen Augen verwischte sich die Umgebung zu einem verworrenen Strudel und ließ kurzzeitig Übelkeit in ihm aufsteigen. Heftig blinzelte Ferris mit den Augen, bis sein Sichtfeld jäh an Schärfe zurückgewann. Erschrocken atmete er mehrmals tief durch und rang noch um sein Gleichgewicht, als er sich hektisch umsah. Ausnahmslos jeder hätte es erkannt: Ferris befand sich nicht mehr in der Realität. Hierbei handelte es sich um ein bizarres Gesicht des Buchladens, fast als hätte diese Drehung ihn auf die Schattenseite versetzt. So war es zweifelsohne auch und es war nicht der Raum, der sich gedreht hatte, die Schatten mussten ihn verschlungen haben. Also war diese Befürchtung wahr geworden. Anstelle von Bücherregalen füllten nun zahlreiche hölzerne Türen den Raum, von denen jeweils mehrere ungleichmäßig aneinander gereiht standen und mit riesigen, rostigen Nägeln durchbohrt worden waren, damit sie zusammengehalten wurden, um einen Block zu bilden. Von diesen Blöcken wurden die Schränke ersetzt und sie sahen sehr demoliert aus. Überall standen die stumpfen Spitzen der Nägel hervor und an den meisten von ihnen klebte eine rote, dickflüssige Farbe, was nur Blut sein konnte. Frisches und auch getrocknetes Blut, das den Geruch von Eisen übermächtig werden ließ. Graue, nackte Steinwände waren von tiefen Rissen durchzogen und türmten sich in eine endlos weite Höhe hinauf, da es keine Decke gab. Nur ein schwarzes Nichts, bei dem man jegliches Leuchten vergeblich suchte, ähnlich wie in einer sternenlosen Nacht. Dort oben mochte nichts zu sehen sein, aber etwas jagte Ferris einen Schauer über den Rücken. Etwas beobachtete ihn von dort oben – oder waren es die vielen Augenpaare hinter den Wänden, die ihn durch die Risse hindurch mit starren Blicken fixierten? Unter Ferris bestand der Boden dagegen gänzlich aus Wasser und ließ durch seine Durchsichtigkeit den Blick auf das reale Ich des Buchladens zu, wo noch immer sein Zwilling stand. Ihre Füße berührten sich augenscheinlich, weil sie exakt an der gleichen Stelle standen, aber das täuschte. Weiter könnte Ferris gerade kaum von der Realität entfernt sein und das spürte er, in jeder Faser seines Körpers. Mit einem belustigten Schmunzeln blickte sein Ebenbild in der realen Welt auf ihn hinab, genau wie Ferris es gerade tat, nur musste er übermäßig schockiert aussehen, wie ihm die folgenden Worte des anderen verrieten: „Zu schade, dass du dein Gesicht jetzt nicht sehen kannst. Du hast noch nie so köstlich ausgesehen.“ Sprachlos lenkte Ferris den Blick hilfesuchend über den Boden, in der Hoffnung Luan oder Vane entdecken zu können, sie schienen aber längst in den nächsten Raum weitergegangen zu sein. Ohne ihn. „Keine Angst, mein lieber Ferris“, versuchte sein Zwilling ihn zu beruhigen und kniete sich auf den Boden, damit er ihm näher war. „Ich lasse dich hier nicht unwissend zurück. Wir haben so eine enge Verbindung, da halte ich es für fair, dich aufzuklären, was hier überhaupt los ist.“ Das Abbild von Ferris sprach zu ihm, ohne die Lippen dabei zu bewegen, was die Gesamtsituation noch unheimlicher machte. Ausgerechnet er war als Traumbrecher nicht sonderlich gut darin, Angst zu unterdrücken, sobald sie ihn erst mal gepackt hatte und in dem Fall war es längst passiert. „Ich weiß nicht mal, wer du bist“, hörte er sich selbst mit kratziger, nervöser Stimme sagen. Ein theatralisches Seufzen sollte ihm vermitteln, wie gekränkt der andere sich von dieser Aussage fühlte. „Machen wir es kurz und schmerzlos: Ich bin deine Geißel~.“ „Meine ... meine Geißel?“ „Wunderbar, du bist noch dazu in der Lage richtig zuzuhören“, lobte sein Zwilling ihn mit falschem Stolz. „Das erstaunt mich sehr. Du hast es ja nicht mal mitbekommen, wie ich mich von dir getrennt hatte.“ Unwillkürlich schlang Ferris die Arme um sich und schüttelte den Kopf, in dem seine Gedanken sich verzweifelte Gefechte lieferten, auf der Suche nach einer Antwort. Nach wie vor verstand er nicht so recht, was hier vor sich ging und wieso weder Luan noch Vane seine Abwesenheit bemerkten. Aufgrund der Angst, wegen der seine Glieder sich schwer wie Blei anfühlten, konnte er nicht mal seine Fähigkeiten als Traumbrecher nutzen. Diese sichtbare Hilflosigkeit sprang auch seinem Spiegelbild, der Geißel auf der anderen Seite ins Auge. „Oh Mann, du bist ein genauso erbärmlicher Anblick wie Luan. Ich würde mich fragen, wie ihr bisher eure Begegnungen mit Alpträumen überleben konntet, aber ich war ja in dir ständig dabei. Luan hat wahrlich Glück, dass du ihn so sehr magst und ich dazu geneigt bin fair mit ihm zu spielen, sonst wäre das hier viel zu schnell vorbei, was langweilig wäre.“ „Ein Spiel?“ Bevor Ferris weitersprechen konnte, musste er schlucken, denn seine Kehle war trocken geworden. „Was für ein Spiel?“ „Ein schönes Spiel.“ Mehr sagte die Geißel nicht dazu und stellte sich wieder aufrecht hin. „Letztes Mal ist Luan mir abgehauen, bevor ich ihm die Spielregeln erklären konnte, wegen dir. Deshalb musste ich dich diesmal vorher aus dem Weg räumen, damit ich mir auch seiner Aufmerksamkeit sicher sein kann. Bis dahin musst du wohl oder übel dort bleiben, wo du jetzt bist.“ In der Stimme der Geißel lag ein Genuss, der Ferris den Atem raubte und er musste an Vanes Worte denken. Sie waren nicht nur eine Legende, das hier war nicht nur ein Traum. Luan hatte recht, was das Chaos anging. Wie bekämpfte man eine Legende? Hätte Ferris doch nur laut angemerkt, dass ihm etwas komisch vorgekommen war beim Betreten des Buchladens. Länger hielt ihr Gespräch nicht an, endlich kam nämlich einer der anderen in der Realität zurück und es war Luan, der die Geißel verwundert ansah. „Was ist, wo bleibst du denn?“ Von nun an wurde Ferris von der Geißel ignoriert, die sich lächelnd an seinen Freund wandte. „Sorry, ich habe mich nur ein wenig umgesehen. Ist ein netter Laden hier~.“ Genervt stieß Luan einen Seufzer aus. „Vane als Begleitung zu haben stört mich schon genug, also hör auf mit dem Unsinn. Wir sind nicht für eine Besichtigung hergekommen.“ „Ich weiß, ich weiß~.“ „Gut, dann komm.“ „Nein!“, schrie Ferris heiser und stürzte auf die Knie. „Fall nicht auf ihn rein, Luan! Du musst doch merken, dass ich das nicht bin! Du musst das doch merken!“ Sonst konnte Luan dank der Ablagerung auf seinem Körper auch stets alle möglichen Alpträume rechtzeitig aufspüren, waren Geißeln etwa anders? Schon dass sie sein Aussehen teilte und wie ein Mensch wirkte, bildete eine Eigenschaft, die er so von Alpträumen her nicht kannte. Auf keinen Fall durfte er es zulassen, dass die Geißel mit Luan mitging. Als er mit seinen Händen in das Wasser schlug, aus dem der Boden bestand, gingen sie nicht in der Flüssigkeit unter. Sie prallten gegen einen festen Widerstand und wurden auch nicht nass, so wie es eigentlich sein sollte. Dieses Wasser war nicht echt, nur eine Illusion. Nichts von dem, was er hier sah, war echt. Da draußen war die Realität, zu der Ferris keinen Kontakt mehr hatte und zusehen musste, wie die Geißel Luan zu der Tür in die hinteren Räume folgte. Kurz davor betätigte sie noch mit einer geschmeidigen, völlig unauffälligen Handbewegung den Lichtschalter neben der Tür und der Raum wurde in der Realität erhellt. Gleichzeitig löste sich das Wasser unter Ferris auf und nach einem einzigen Augenschlag blieb nur ein harter, steinerner Untergrund zurück, auf dem er nun hockte. Also bildete sich diese Wasseroberfläche nur, solange auf der anderen Seite Schatten existierten. Eine Geißel. Fassungslos ließ Ferris sich mit dem Oberkörper so weit vornüber sinken, bis seine Stirn den kalten Boden berührte. Meine Geißel. Hat das Hauptquartier davon gewusst? Oder war es nur Zufall gewesen, als man ihn zusammen mit Luan zu dieser Mission hierher geschickt hatte? Zusammen. Erneut war er von seinem Partner getrennt worden, auf eine völlig unerwartete Weise. Egal, wie erfahren Luan war, gegen eine Geißel hatte er noch nie gekämpft und er besaß nicht mal mehr Traumzeit. Wie sollte er ohne Ferris gegen diesen Feind angehen? Konnte er der Geißel Glauben schenken und darauf hoffen, dass sie nur mit ihm reden wollte? Er wollte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn die sogenannten Spielregeln erst mal geklärt waren. Luan musste unbedingt vorher bemerken, dass es sich bei der Geißel nicht um Ferris handelte, aber darauf konnte er nicht bauen. In den letzten Jahren war ihm immerhin auch nie aufgefallen, wie Ferris in Wirklichkeit war. Der alte Luan hätte es bestimmt erkannt, aber der jetzige war anders. Viel zu fremd und distanziert. Er würde nicht bemerken, wen er da vor sich hatte und war ohnehin gegenwärtig nur auf seinen Groll gegen Vane konzentriert. Vane. Ja, auf ihn könnte Ferris jetzt vielleicht noch bauen. Jemand, der etwas über Geißeln zu wissen schien, musste in dieser Lage doch helfen können. Irgendwer musste Ferris helfen. Und auch Luan. Ihm durfte nichts Schlimmes zustoßen, egal wie fremd sie sich geworden waren, für Ferris blieb er immer ein Freund. Der wichtigste von allen. Ein guter Kerl. Ein bestialisches Grollen über ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er bemühte sich, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Konzentriert versuchte er seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, damit er sich zur Wehr setzen könnte, sollte ihn hier etwas angreifen. Diese Schattenseite des Buchladens konnte nur durch die Fähigkeiten eines Schöpfers zustande gekommen sein und ähnelte den Welten eines Reinmahrs, da sie mit der Wirklichkeit verbunden war, also musste sie sich auch zerstören lassen können. Das mochte sein erster Kampf gegen eine Geißel sein, aber nicht gegen einen Alptraum. So leicht wollte er es der Geißel nicht machen, egal für wie erbärmlich sie ihn auch halten mochte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)