The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 14: Ich will die Wahrheit wissen ---------------------------------------- Vanes Gesang füllte den gesamten Raum aus und war wie ein wohltuender Regenschauer, der den Schmerz an den Stellen linderte, wo sich psychische Male in die Haut gebrannt hatten. Die Worte prasselten wirklich wie einzelne, unsichtbare Wassertropfen auf Luan nieder und drangen mühelos durch jegliche Kleidung sowie die schwarze Kruste hindurch, um sich dann wie eine heilende Salbe auf den Druckstellen zu verteilten. Wegen der Ablagerung auf seinem Körper konnte Vane nicht sehen, an welchen Stellen genau all die Male lagen, daher hatte Luan sich gar nicht erst ausziehen müssen, aber das wäre sowieso nicht nötig gewesen. Jedes gesungene Wort fand nämlich von ganz alleine den richtigen Weg zu den jeweiligen Zielpunkten, so ähnlich wie bei der Anziehungskraft von Magneten. Es handelte sich bei dem Lied wieder um eine ihm fremde Sprache, dieselbe, die zuvor Bernadette bei ihm angewandt hatte und die auch von Vane dazu genutzt worden war, um dieses Schlaflied vor dem Hotel zu singen. Obwohl Luan sie nach wie vor nicht verstand und ihm der Inhalt des Textes somit verschlossen blieb, konnte der diesmal einige Stellen herausfiltern, deren Bedeutung er anhand der mit ihnen verbundenen Stimmlage zu erahnen glaubte. Manche Passagen klangen verdächtig nach einem Befehl von Vane an seine eigene Prägung, nach einer Art Forderung etwas Bestimmtes zu tun. Jetzt gerade meinte er ein „Finde die Reue“ herauszuhören, das sich in die Ruhe und Reinheit des Liedes mischte. Ein neuer, frischer Regenschauer prasselte auf ihn nieder, fast glaubte Luan sogar tatsächlich kurzzeitig einen solchen hören zu können. Mit geschlossenen Augen lag er auf einem der Betten in seinem Hotelzimmer, in dem Vane schon seit einer Weile die Behandlung seiner psychischen Male in Angriff nahm. Vor Behandlungsbeginn hatte er Luan aber noch danach ausgefragt, ob er ihm nennen könnte, welche negativen Emotionen in seinen Geist gebrannt worden waren, angeblich weil es helfen würde ihn schneller von seinen Leiden zu befreien. Viel Konzentration und Mühe waren dafür nötig gewesen, da Luan zu dem Zeitpunkt noch sehr unter der Wirkung dieser Male gelitten hatte, doch es war ihm gelungen, Vane die gewünschte Information zu geben. Diese Antwort schien in der Tat geholfen zu haben, inzwischen fühlte Luan sich schon wesentlich besser und das nach nur wenigen Minuten. Nur noch ein einziges Mal war übrig, das Vane von ihm entfernen musste. Früher war er nicht so schnell darin gewesen wie heute, sein Können war in den letzten Jahren ordentlich gestiegen, er hatte zweifelsohne einiges an Erfahrung hinzu gewonnen. Na ja, verlor er sich in den Gedanken. Er musste das hier auch bestimmt schon sehr oft machen. An dieser Stelle wollte Luan lieber nicht an seine erste Begegnung mit einem Schall-Alptraum zurückdenken, zumal die Erinnerung ohnehin viel zu verschwommen war. Viel zu lange her. Also leerte er seinen Kopf und ließ die Behandlung weiter über sich ergehen. Wie zuvor drangen die nächsten, gesungenen Worte einfach durch das schwarze Hindernis hindurch, berührten das Reuesymbol in Form einer Druckstelle auf seiner Haut und vertrieben das Brennen, bildeten eine kühle Schicht über dem Mal. Schließlich änderte sich Vanes Stimmlage beim Singen wieder etwas und gab einen neuen Befehl durch, der ungefähr „Löse die Reue“ bedeuten könnte, wenn Luan es richtig einschätzte. Schon oft war er erstaunt darüber, was für eine Masse an Farben eine einzelne Stimme annehmen konnte. Egal, wie viele unterschiedliche Tonlagen er schon von ihm gehört hatte, Vane schien niemals das Sortiment an Neuheiten auszugehen. Ähnlich wie bei einem Künstler, dem es nicht an Ideenreichtum und Schaffensdrang mangelte. Sofort spürte er, wie das Gefühl der Reue sich in ihm regte und dieses letzte bisschen Unkraut mit seinen Wurzeln aus dem Boden seines Inneren gerissen wurde. Ein kurzes Stechen folgte in der rechten Schulter, wo das Mal lag, danach wurde es geradezu gewaltsam von der Kraft, die in Vanes Stimme lag, aufgesogen. Eine Gewalt, die sich nicht schmerzhaft anfühlte, sondern nur ein Wegweiser für die Reue war, dass sie nicht länger in Luan bleiben konnte und gehen musste. So war es auch. Dieses Gefühl, das sich unerlaubt in ihm breitgemacht hatte, löste sich von ihm und ließ eine willkommene Leere zurück, in der nur noch Platz für seine eigenen Emotionen blieb. Wie es sein sollte. Langsam öffnete Luan die Augen, starrte erst an die Decke des Zimmers, drehte den Kopf aber gleich zur Seite und lenkte seinen Blick auf Vane, der neben ihm auf der Bettkante saß, die Augen fest auf den Punkt an seinem Körper gerichtet, an dem das letzte Mal lag. In einer Hand hielt er, wie immer, einen Kugelschreiber, damit er sich jederzeit Notizen machen konnte. Sein dazugehöriges Klemmbrett ruhte jedoch auf seinem Schoß und statt zu schreiben hatte er die Hand mit dem dafür nötigen Werkzeug auf dieser Unterlage abgelegt, während er in der anderen seine geöffnete Taschenuhr festhielt. Hätte Luan gerade Kontakt zu seiner eigenen, könnte er dank der Sicht auf Aureuph sehen, wie sich jetzt ein pechschwarzer Faden aus tausenden, feinen Sandkörnern von seiner rechten Schulter aus direkt zu der Uhr des Doktors zog, wo die Reue in diesem Zentrum der Energie vom Atemfluss spurlos vernichtet wurde, ohne dass die Pistole dafür notwendig war. Eine Besonderheit, zu der nur Schall-Prägungen fähig waren, weil sie mit ihrem Gesang Auswirkungen von feindlichen Fähigkeiten wie diese, zu denen die Beeinflussung von Emotionen zählten, locken und treiben konnten, wie sie wollten. Psychische Male wurden durch Schall verursacht und waren auch nur durch diesen wieder aufzuheben, gerade darum war es ja so tückisch für die meisten Traumbrecher, von solchen gebrandmarkt zu werden. Bestenfalls vermied man solche Treffer, es sei denn, diese Angriffe machten der Zielperson nicht so viel aus. Zur letzteren Sorte hatte Luan sich eigentlich auch gezählt. Knapp eine Minute später klappte Vane den Deckel der Taschenuhr wieder zu und ließ sie in einer Brusttasche seines weißen Kittels verschwinden. Noch eine weitere Minute verstrich, in der er das Lied mit einigen letzten Zeilen zu einem Ende führte und daraufhin verstummte. Im Raum blieb ein gewisses Echo von seinem Gesang zurück, dank dem die Atmosphäre nicht von Stille heimgesucht werden konnte, obwohl sie beide vorerst schwiegen. Natürlich widmete Vane sich als nächstes doch noch seinen Notizen, richtete den Blick auf die Akte am Klemmbrett und fing an zu schreiben. Genervt verzog Luan das Gesicht, als er dieses verhasste Geräusch vernahm und musste sich ein Seufzen verkneifen. Er schwenkte den Blick von Vane hinüber zu Ferris, der in dem anderen Bett im Zimmer lag und noch schlief, demnach war er also wirklich der Träumer gewesen, der von einem Alptraum befallen worden war. Bis zum Schluss hatte Luan das Gegenteil gehofft, so lächerlich seine Sturheit auch sein mochte. Ändern würde sich das wohl auch nicht so bald. Gleichmäßig hob und senkte sich der Brustkorb von Ferris, er wirkte ziemlich friedlich, dabei gingen die Eindrücke, die Luan in diesem Kampf von ihm gewonnen hatte, in eine ganz andere Richtung. Im Moment war er aber einfach nur froh, dass es Ferris gut ging. Noch nie war Luan so erleichtert darüber, ein Opfer nach einem Kampf so friedlich schlafen zu sehen wie jetzt. Niemand würde darauf kommen, dass Ferris vor einer Weile noch einen Alptraum durchlebt und hier eine Auseinandersetzung mit einem übernatürlichen Wesen stattgefunden hatte. Das Loch in der Wand war nämlich von Naola längst wieder einwandfrei verschlossen worden, indem sie diese mit ihrer Schöpfer-Prägung und ein wenig Traumzeit wiederhergestellt hatte. Für kleine Spielereien konnte man Prägungen zwar jederzeit einsetzen, nur für solche Dinge oder gar um effektiven Schaden im Kampf anrichten zu können, musste man auch etwas Zeit von seinen sechs Stunden einbüßen. Anders hätte Ferris, dessen Schöpfungen auf alles ausgelegt war, was mit Wasser zu tun hatte, in ihrem ersten Kampf gegen eine unbekannte Gattung sicher keinen Eisregen oder diesen Schild heraufbeschwören können. Versuchte er etwas außerhalb dieses Bereiches zu schaffen, konnte er es im schlimmsten Falle nicht kontrollieren, es sei denn er hatte ausreichend dafür geübt. Naola schien auf jeden Fall ihren Handlungsbereich der Prägung ausgeweitet zu haben, da ihr Schwerpunkt als Schöpferin eigentlich bei Wind lag. All diese Gedanken über Prägungen führten Luan zu seiner eigenen. Vorsichtig hob er seinen rechten Arm ein Stück an und konnte das leichte Gewicht der sechs Klingen, die im Ruhemodus waren, zwar noch spüren, aber etwas war anders. Durch dieses Lied, das Vane für ihn gesungen hatte, als seine Ablagerung sich auszubreiten drohte, wurde nicht nur der Wachstum gestoppt, wofür Luan ihm durchaus dankbar war, auch der Kontakt zu seiner Atem-Prägung schien seitdem gestört zu sein. Sie war noch da, könnte genutzt werden, nur war der Zugriff auf einmal schwerer geworden. Komplizierter. Der Grund dafür war, dass er es kaum schaffte sein Innerstes mit den Klingen zu verketten, seine Empfindungen und Eindrücke mit ihnen zu teilen. Ihm gelang es nicht mal, irgendein vorhandenes Gefühl stark genug hervorzuheben, so dass er Kontakt zu seiner Prägung fand. Schuld war die besagte Atemhypnose, die von Ferris‘ Doppelgänger – auch hier weigerte Luan sich nach wie vor, an eine echte Geißel zu glauben – angesprochen worden war. Das Loch in dem Netz, durch das derart intensiv allerhand verloren geglaubte Emotionen geströmt war und von denen er sich förmlich überfallen gefühlt hatte, war wieder verschlossen. Von Vane, womit ihm etwas klargeworden war. „Sie waren das“, sagte Luan schließlich und brach das altbekannte Schweigen zwischen ihnen, hielt den Blick aber auf Ferris gerichtet. Ohne vom Klemmbrett aufzuschauen oder das Schreiben zu unterbrechen, antwortete Vane ihm: „Was genau meinst du?“ „Diese Atemhypnose“, sprach er es einfach direkt an, so vorwurfsvoll und missbilligend wie er nur konnte. „Sie waren das.“ „Du weißt es also“, erwiderte Vane bloß eintönig, Anzeichen eines schlechten Gewissens suchte man vergeblich. Ebenso wie eine Regung, an der man herausfinden könnte, was er dazu dachte. „Liegt das denn nicht nahe?“ „Sie leugnen es also nicht mal?“ „Wie gesagt, es liegt nahe. Wieso sollte ich also?“ Ja, es lag in der Tat sehr nahe und Luan ärgerte sich darüber, dass er nicht früher darauf gekommen war. Wie sollte er aber auch klar denken können, bei einem solchen Emotionsschub, wie er ihn erlebt hatte? Und doch war es ärgerlich sowie ein bisschen peinlich, erst jetzt darauf gekommen zu sein. Niemand anderes außer Vane konnte dafür in Frage kommen, immerhin hatte er damals allerhand Untersuchungen mit Luan angestellt, als er eine Zeit lang bei ihm im Labor leben musste, von denen er selbst gar nichts mitbekommen hatte. So etwas wie eine Atemhypnose war Luan bisher aber nie in den Sinn gekommen und Vane ging wohl etwas Ähnliches durch den Kopf, denn er hakte in dieser Richtung nach. „Früher oder später musste es rauskommen. Woher weißt du es? Hast du es selbst gemerkt?“ „Sie sind unglaublich“, merkte er verächtlich an, machte durch und durch von der negativen Seite dieses Wortes Gebrauch. „Verschweigen, nein, verheimlichen mir, was Sie mit mir angestellt haben und glauben dann noch, solche Fragen stellen zu dürfen?“ Vane bewies, wie unglaublich er war und überhörte diese Bemerkung gekonnt. „Hat es dir jemand gesagt?“ „Ja“, knurrte Luan schon fast und störte sich massiv daran, wie er mit ihm umging. Lust auf ein ewiges hin und her hatte er einfach nicht, mal wieder, also fügte er sich. Zumal sich ihm sonst das Bild aufzudrängen versuchte, in dem er noch auf der Straße vor dem Hotel in Vanes Armen lag und wie ein kleines Kind von ihm beruhigt wurde, obendrein hatte er ihn auch noch gerettet. Am schlimmsten war es, dass ihm sein Gewissen einreden wollte, dem Doktor gegenüber mehr Respekt zu zeigen. Die komplette Szene war ihm im Nachhinein ungeheuer peinlich, es ließ sich kaum in Worte fassen und darum musste sein unausgesprochener Dank genügen. Für einen Retter lasteten außerdem zu viele schwere Taten auf Vanes Schultern, um ihn als solchen anerkennen zu können. „Ich bezweifle aber, dass Sie mir abkaufen werden, wer mir das gesagt hat“, fügte Luan noch hinzu. „Wie kommst du darauf?“ „Weil ich es selbst kaum glauben kann.“ „Hm.“ Interesse wurde in Vane geweckt, der ausdauernd weiterschrieb. „Ich höre?“ „Eine Geißel.“ Das nervtötende Geräusch des Kugelschreibers, der über das Papier jagte, erstickte jäh. Nicht lange, nur für ein paar Sekunden vielleicht, dann kehrte es auch schon zurück. „Aha.“ „Dachte ich mir doch, dass Sie es auch nicht glauben.“ „Das habe ich nicht gesagt, oder?“, widersprach Vane ihm, mit Nachdruck in der Stimme. „Ich habe nur nicht damit gerechnet.“ Von dieser Bemerkung ließ Luan sich nicht erst ablenken und brachte die Unterhaltung zurück zu dem Thema, das ihn momentan mehr als nur beschäftigte. „Da Sie wissen wollten, woher ich von der Atemhypnose weiß, war es bestimmt nicht in Ihrem Sinne, dass ich jemals davon erfahren sollte, richtig?“ „Richtig.“ Derartige Bestätigung hatte er nicht erwartet, kam ihm jedoch gelegen. „Dann wissen Sie doch sicher auch, dass es nicht erlaubt ist, eine Atemhypnose an jemandem ohne dessen Einverständnis durchzuführen, oder?“, fragte Luan weiter und blieb durch den Anblick von Ferris einigermaßen ruhig, war nur leicht angespannt. „Selbstverständlich weiß ich das, aber“, Vane hielt beim Schreiben nochmal inne, „hätte ich um deine Erlaubnis gebeten, wäre die Antwort mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit nein gewesen.“ „Tausendprozentig.“ Liegend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Wieso haben Sie überhaupt eine Atemhypnose bei mir angewendet?“ Das Geräusch, wie Vanes Kugelschreiber über das Papier fuhr, setzte wieder ein. „Um deine Gefühle einzudämmen. Dazu ist diese Methode schließlich da.“ „Schon klar“, brummte Luan. „Aber aus welchem Anlass?“ Plötzlich versperrte ihm etwas die Sicht auf Ferris. Vane hatte abermals aufgehört zu schreiben und stützte sich mit der Hand direkt neben seinem Kissen ab, dadurch konnte er nur noch den weißen Stoff des Kittels an seinem Arm sehen. Höchst widerwillig legte er den Kopf ein wenig zurück, bis er sehen konnte, dass Vane sich leicht über ihn gebeugt hatte und mit einem ernsten Blick ansah, den Luan ebenso ernst erwiderte. Aufgrund seiner Größe war Vane noch immer weit genug mit dem Oberkörper von ihm entfernt, nicht mal sein langes Haar erreichte ihn ansatzweise. „So redselig heute?“, stellte Vane fest. Den Augenkontakt brach Luan nach dieser Frage auch schon ab, um zur Seite zu schielen. „Und? Kommt selbst bei mir mal vor. Wundert Sie das etwa wirklich?“ „Hm.“ Nachdenklich musterte Vane ihn, was Luan merkte, ohne ihn dafür anschauen zu müssen und er ließ ihn einfach machen. Was auch immer der Doktor bei ihm zu finden hoffte, war ihm egal, solange er irgendwann seine Frage beantwortete. Dieser stummen Forderung kam Vane dann auch nach. „Der Anlass dafür hängt mit dem Problem zusammen, das ich erst vor einigen Stunden bei dir festgestellt habe.“ Für einen Atemzug lang blieb Luan die Luft weg und seine Augen weiteten sich, als er das hörte, ehe er aber etwas darauf sagen konnte, übernahm Vane weiterhin das Sprechen: „Letztes Mal wolltest du es nicht wissen. Wie sieht es jetzt aus?“ Richtig, er hatte es letztes Mal abgelehnt, eine Antwort darauf zu erhalten, was bei ihm festgestellt worden war, obwohl es ihn interessierte. Er hatte sich einfach nicht getraut. Warum genau eigentlich? Er konnte sich nur daran erinnern, dass Vane diesbezüglich ungewohnt sorgsam geklungen und es ihn verunsichert hatte, aber das konnte nicht der Grund gewesen sein. Gab es überhaupt einen? Erst jetzt, als er genauer darüber nachdachte, merkte er, dass er sein eigenes Handeln nicht nachvollziehen konnte. Wenigstens konnte er die Gelegenheit ergreifen und die Antwort doch noch in Erfahrung bringen. Entschlossen stellte er sich dem Blick von Vane wieder, der nichts von seinem Ernst verloren hatte. Diesmal fiel Luans Antwort anders aus. „Ich will es wissen. Sagen Sie es mir.“ Verborgen in den dunkelbraunen Tiefen von Vanes Augen flackerte etwas auf und erlosch kurz danach auch schon so schnell, wie es angefangen hatte zu leuchten, so dass Luan nicht einschätzen konnte was es zu bedeuten hatte. War es so etwas wie eine Vorahnung gewesen, die sich bei ihm erfüllt hatte? Jedenfalls mischte sich ab hier eindeutig Sorge in seine Stimme, versuchte, sich hinter der Kälte zu verstecken. „Dachte ich mir.“ Luan verstand nicht, was er meinte. „Wie bitte?“ „Ich dachte mir, dass du jetzt gewillt sein würdest, die Antwort zu erfahren.“ Normalerweise müsste Vane sich nun seinem Klemmbrett zuwenden und etwas notieren, so wie Luan es von ihm gewohnt war, aber das geschah nicht. Weiterhin verharrte er in dieser Position, versperrte ihm mit dem Arm die Sicht auf Ferris und behielt ihn ziemlich genau im Auge, achtete auf jede kleine Bewegung oder Geste, sobald Luan sie in irgendeiner Form zeigte und es selbst sicher nicht mal merkte. Automatisch drückte er sich mit Kopf und Oberkörper tiefer ins Kissen sowie die Matratze hinein, wollte dem Doktor ausweichen, was in dieser Lage nicht funktionierte. Etwas stimmte nicht, das war offensichtlich. Bis auf weiteres versuchte Luan trotzdem an seine Antwort zu kommen und sich nicht zu sehr von diesem Verhalten verunsichern zu lassen, so wie letztes Mal. „Schön, dann sagen Sie es mir jetzt auch.“ „Das hat keine Eile“, lehnte Vane ab und stellte seinerseits eine neue Frage: „Bernadette Maron hat versucht die Atemhypnose bei dir zu brechen, liege ich da richtig?“ Klang vielmehr nach einer Feststellung, von der er bereits felsenfest überzeugt war und sich nur noch eine letzte Zustimmung von ihm holen wollte – oder was für ein Spiel trieb dieser Kerl hier gerade? Wäre Luan nicht so überrascht davon, dass Vane der Name von Bernadette so selbstverständlich über die Lippen kam, hätte er empört nachgehakt, wieso er ihm seine Antwort verweigerte und davon ablenkte. Jetzt richtete sich seine Aufmerksamkeit jedoch erst für einen kurzen Augenblick auf das aktuelle Thema. „Woher wissen Sie das?“, wollte Luan wissen und wurde von Misstrauen gepackt. Auch hierauf wollte Vane ihm keine richtige Antwort geben. „Das ist auch nur etwas, das nahe liegt.“ „Für mich nicht, also antworten Sie mir endlich anständig, wenn ich Sie was frage.“ „Beenden wir das Gespräch“, wich er erneut aus und gab sich nicht mal die Mühe eine bessere Ausweichmöglichkeit zu suchen, sich vor den Antworten zu drücken. Er zog sich bereits in eine aufrecht sitzende Position zurück, gab somit den Blick auf Ferris wieder frei und beschäftigte sich lieber damit, neue Notizen in die Akte zu schreiben, die er auf dem Klemmbrett vor sich hatte – mit Sicherheit Luans Akte. „Ich habe alle Male entfernt, aber auch du solltest dich jetzt ausruhen. Schlaf am besten, morgen sehen wir weiter.“ Mit auch meinte er Naola, die in einem der Nachbarräume auf dem Flur dieses Stockwerkes ebenfalls ein Zimmer gemietet hatte, weil sie von Ferris zu einem Date eingeladen worden war und sich deshalb kurzerhand Urlaub gönnte, den Vane ihr sogar angeblich bewilligt hatte. Zumindest war ihm das von ihr erzählt worden, kurz bevor sie sich zum Schlafen in ihr eigenes Zimmer zurückgezogen hatte, um der Bettruhe nachzukommen, die ihr von Vane verordnet worden war und sobald er ihr etwas sagte, tat sie es auch sofort. Als seine Assistentin musste sie das wohl auch, wobei sie aber stets Freude daran hatte, weil sie gern für diesen Mann arbeitete – unverständlich für Luan. Der wollte jedenfalls nicht gehorsam nachgeben und sich zum Schlafen hinlegen. Erst war Vane ihm noch ein paar Antworten schuldig, das ließ er ihn auch wissen und wurde sogar allmählich lauter, weil ihn Ungeduld zu plagen anfing. „Ich werde garantiert nicht schlafen! Antworten Sie mir gefälligst! Und was heißt hier wir?!“ „Reg dich nicht so auf, das bekommt dir nicht gut.“ „Weichen Sie mir nicht dauernd aus!“ Weiterhin schenkte Vane seinen Forderungen keinerlei Beachtung, realisierte sie sicherlich, aber ging nicht darauf ein. Als er schließlich seine letzten Worte niedergeschrieben hatte und aufstand, um zu gehen, war Luan völlig fassungslos darüber. Stellte er für diesen Mann etwa nur so etwas wie eine Figur in seinem Spiel dar, deren Handlungen alleine er bestimmte und mit der er umspringen konnte wie er wollte? Genau so kam Luan sich vor. Nichts, was neu für ihn war, in der Vergangenheit hatte Vane sich schon oft über seinen Willen hinweg gesetzt, doch irgendwann war das Fass auch mal endgültig übergelaufen. „Ich werde diese Nacht noch einmal zum Hauptquartier zurückkehren“, erklärte Vane und hielt ihm den Rücken zugedreht. Abwesend blickte er auf das Klemmbrett in seiner Hand, vermutlich um alle Notizen vorsichtshalber rasch zu überfliegen und tippte sich mit dem Kugelschreiber in der anderen gegen das Kinn. „Da es so aussieht, als wäre meine Anwesenheit hier etwas länger von Nöten, werde ich für einen Ersatz sorgen müssen, der mich solange vertritt, damit ich nicht immer hin und her wechseln muss. Ist auch besser für meine Patienten.“ Ratlos starrte Luan ihn an und richtete sich endlich im Bett auf. „Könnten Sie mal Klartext mit mir reden?“ „Das tue ich doch gerade“, beruhigte er ihn, sah im Gegensatz zu ihm scheinbar das Problem nicht oder war nur sehr gut darin es zu ignorieren und wiederholte stattdessen, was er vorhin gesagt hatte, nur etwas anders formuliert. „Ich werde für eine Nacht weg sein, um mich nach einem Ersatz für die Krankenstation umzusehen. Morgen früh komme ich wieder, schlaf dich bis dahin aus und bleib hier.“ „Sehen Sie mich an!“, rief Luan ungehalten und konnte seine Stimme kaum noch im Zaum halten. Zu seiner Erleichterung erzielte er damit einen kleinen Erfolg, denn Vane drehte sich tatsächlich zu ihm um, ließ die Hand mit dem Kugelschreiber in die Seitentasche seines Kittels sinken und den anderen Arm mit dem Klemmbrett am Körper runter hängen. „Schon gut, ich höre dir zu, also beruhig dich.“ „Wie soll man sich denn beruhigen, wenn Sie solche Spielchen mit einem treiben?!“ Angespannt vergrub Luan eine Hand in seinen Haaren und kümmerte sich gerade nicht darum, dass er damit seine Frisur ruinieren könnte. Das war sie gewiss sowieso bereits. Seine Augen suchten den Blickkontakt zu ihm und verlangten geradezu nach Erklärungen. „Macht Ihnen das hier so viel Spaß, ja? Was verstecken Sie vor mir? Ich habe wirklich genug davon, reden Sie endlich. Ich will die Wahrheit wissen!“ Im nächsten Moment zeigte Vane eine Seite, die Luan total aus seiner Wut riss. Die gesamte Körperhaltung von ihm veränderte sich, wurde etwas schlapper, allein das war schon ungewöhnlich genug, aber was sich in seinem Gesicht abspielte, ließ das schlechte Bild, das er über diesen Arzt hatte, wie einen Spiegel in sich zusammenbrechen, hinter dem das wahre Ich zum Vorschein kam. Ein Glanz entfaltete sich in seinen Augen, der eine Traurigkeit offenbarte, wie Luan es ihm nie zugetraut hätte. Alles an Vane wirkte auf einmal traurig und er zog die Augenbrauen zusammen, als würde ihn irgendwas schmerzen, wenn er Luan ansah. Sogar die Klangfarbe seiner Stimme war anders, nicht mehr von einer distanzierten Kälte begleitet, eher verzweifelt. „Eindeutig zu instabil“, flüsterte Vane vor sich hin, doch das Echo seiner Stimme prallte von den Wänden ab, spielte eine deprimierende Melodie, wie auf einem Klavier. Trug die Worte zu Luan. „Was hat sie sich dabei gedacht?“ Vane zog die Hand wieder aus der Seitentasche hervor, ohne den Kugelschreiber, streckte sie nach Luan aus, bis er seinen Kopf erreichte und sie behutsam auf seinem Haar ablegen konnte. Da er noch immer direkt seitlich neben dem Bett stand, war die Entfernung zwischen ihnen nicht allzu groß, durch diese Berührung fühlte Luan sich ihm aber wesentlich näher. Er war wie versteinert von der Gefühlswandlung, die Vane ihm hier zeigte und konnte nicht beurteilen, ob sie echt oder nur meisterhaft gespielt war. Ausgehend von der Berührung seiner Hand, die auf seinem Kopf verweilte und ihn kein bisschen störte, wollte er ausnahmsweise gar nicht daran zweifeln, dass es echt war. „Mit der Wahrheit würde ich dir keinen Gefallen tun, also behalte ich sie lieber für mich“, begründete Vane sein Handeln ruhig. Viel zu ruhig und einfühlsam, er war gar nicht wiederzuerkennen. „Ich verstehe, dass du Antworten willst, aber heute ist viel passiert. Lass uns morgen sehen, wie es weitergehen soll, in Ordnung?“ Zu eingenommen von seiner Offenheit, mit der er ihm entgegentrat, nickte Luan nur stumm. Noch länger in Unwissenheit verbringen zu müssen passte ihm gar nicht, aber er konnte Vane gerade nichts mehr entgegen bringen, solange er so zu ihm war und ihn damit in jeglicher Form entwaffnete. Dankbar nickte Vane ebenfalls und zog seine Hand zurück. Nur einen Wimpernschlag später fing Luan an zu frieren und wurde sich erst da bewusst, wie viel Wärme diese Berührung ihm gegeben hatte. „Ich gehe jetzt“, kündigte er an und wandte sich von ihm ab. „Bleib hier und ruh dich aus.“ Diese Worte hatte er mit einer Klangfarbe in der Stimme gesagt, die Luan zeigte, dass er trotz dieser Szene eben doch der alte Kontrolltyp blieb, denn Vane hatte soeben seine Schall-Prägung dazu genutzt, um ihn auf jeden Fall hier festzuhalten. Für gewöhnlich regte Luan sich darüber auf, sobald er diese Technik an ihm anwendete, diesmal konnte er nur die Augen verdrehen und mit dem Kopf schütteln. Sobald Vane es für nötig erachtete, konnte er mit seiner Prägung andere Leute wortwörtlich beeinflussen, indem er mit Hilfe seiner Stimme einen Befehl tief im Geist des anderen so fest verankerte, dass man sich nicht so leicht davon lösen konnte. Eine solche Anweisung hallte dauerhaft im Geiste wider, deswegen machte es kaum Sinn sich dagegen zu wehren und man kam dem lieber nach. Eine Art Manipulation sozusagen. „Athamos“, sprach Vane den Namen des Hauptquartiers laut und deutlich aus. Bloß Sekunden später dürfte es auch auf seinen Ruf reagiert haben, so dass genau vor ihm eine Art Tor auftauchte, das Luan ohne Taschenuhr nicht sehen konnte und somit tat sich für ihn gar nichts, aber er wusste es besser. Längst hatte Vane seine Uhr aus der Brusttasche geholt und sie sich um den Hals gelegt, wodurch es ihm möglich war zu sehen, was vor ihm geschah. Für Luan sah es so aus, als würde Vane sich mitten in seiner Bewegung in Luft auflösen, kaum dass er einen Schritt vorwärts machte und durch das Tor trat, das sich für ihn geöffnet hatte. Der Doktor war erst wenige Sekunden fort, doch auch der Durchgang zu Athamos dürfte wieder verschwunden sein. Athamos, so nannte sich das Hauptquartier der Traumbrecher und außer ihnen kannte den Namen auch niemand, zumindest sollte das bestenfalls so sein. Sobald man ihn nämlich laut aussprach, bildete sich aus dem Nichts heraus ein Tor vor dem jeweiligen Traumbrecher, durch das er hindurch schreiten und sich direkt im Hauptquartier wiederfinden konnte. Ohne eine Taschenuhr sollte man jedoch nie versuchen, durch das Tor zu gehen, da das Sicherheitsnetz sonst nicht viel von diesem Jemand übriglassen würde. Laut Gerüchten gab es sogar eine dritte Absicherung, von der bisher aber nie Gebrauch gemacht werden musste. Auf jeden Fall sprachen Traumbrecher untereinander deshalb in normalen Gesprächen nie den eigentlichen Namen aus, verwendeten stets die Umschreibung Hauptquartier oder Heim und vermieden ihn so lange, bis sie zurück nach Hause wollten. Auf anderem Wege kam man nur schwer dorthin. Dank dieser Reisemöglichkeit, mit der man jederzeit von allen Orten aus problemlos und gemütlich wieder nach Athamos gelangen konnte, war es Vane auch möglich gewesen, so fix hierher zu kommen, in beiden Fällen. Gedankenverloren starrte Luan auf die Stelle, an der Vane vorhin noch gestanden hatte und zuckte leicht zusammen, als plötzlich eine andere, ihm vertraute Stimme im Raum ertönte: „Ich hab den Doc noch nie so gesehen.“ Ferris war aufgewacht. Er saß, wie Luan, aufrecht im Bett und sah zu ihm herüber, trug ein amüsiertes Lächeln im Gesicht, wirkte aber ziemlich erschöpft. „Kam mir gerade vor, als hätte ein Vater zu seinem Sohn geredet.“ Vater und Sohn? Die Vorstellung schob Luan lieber gleich weit von sich und wollte Ferris gerade ansprechen, als der ihm mit einem Lachen zuvorkam und einfach weitersprach: „Das war irgendwie total niedlich~.“ „Du änderst dich wirklich nie, was? Kannst du dir solche Aussagen nicht einfach sparen?“, kommentierte Luan und konnte darüber nur seufzen. Schlimm genug, dass er hier festsaß, weil Vane ihm den Befehl dazu gegeben hatte. „Gut, dass du wach bist. Wir müssen dringend reden.“ „Reden, huh?“, wiederholte Ferris. Er lächelte bedrückt. „Das glaube ich auch.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)