The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 3: Irgendetwas stimmt nicht ----------------------------------- Luan und die Frau, deren Namen er noch nicht kannte, starrten sich gegenseitig schweigend an, für eine ganze Weile. Entweder wollte sie ihm einfach nicht antworten oder es lag daran, dass sie noch zu verwirrt dazu war. Jedenfalls verriet ihm das ihr Gesichtsausdruck, der eindeutig widerspiegelte, dass auch sie irgendetwas völlig aus der Bahn geworfen haben musste. Ob sie ebenfalls eine Art Erscheinung erlebt hatte, so wie er gerade eben? Selbst wenn es so war, konnte er sie jetzt noch nicht danach fragen, was genau sie denn gesehen hatte. Vielleicht war sie auch nur durcheinander, weil er plötzlich so erschrocken vor ihr zurückgewichen war, obwohl er wenige Sekunden zuvor noch unbedingt sein Eigentum wiederhaben wollte. Wie auf Stichwort wurde der Schmerz in seiner Brust stärker und in seinem Inneren breitete sich schleichend eine Kälte aus, die ihm den Atem zu rauben schien. Leider konnte Luan nicht verhindern, dass er deshalb anfing schwerer zu atmen, aber es gelang ihm ziemlich ruhig zu klingen, als er nochmal versuchte, die Frau mit einer neuen Frage anzusprechen. „Kann ich meine Taschenuhr zurückhaben?“ Sie stieß einen irritierten Laut aus und ihr Blick huschte kurz zu dem besagten Gegenstand in ihrer Hand. Ihre Verwirrung wurde noch größer, was er daran erkannte, wie sie ihn anschließend wieder anschaute und dabei ziemlich verloren aussah. Unsicher zog sie ihre Beine näher an ihren Körper und rutschte ein kleines Stück tiefer in den Kofferraum hinein, in den er sie vorhin fallen gelassen hatte. Wie ein hilfloser Welpe lag sie dort drin und wusste nicht wirklich wohin. Fast tat sie ihm ein bisschen leid, auch wenn sie vorhin versucht hatte ihn zu überfallen und dabei sogar an seinen wertvollsten Besitz gelangt war. Besonders letzteres ließ ihn dann doch eher nervös werden und verlangte etwas freundlich formulierten Nachdruck seinerseits. „Bitte“, fügte er eindringlich hinzu, ohne seine Ruhe zu verlieren. „Sie ist mir sehr wichtig.“ Zaghaft reagierte sie endlich auf seine Worte, indem sie etwas darauf erwiderte. „Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, es wäre besser für mich, sie dir nicht zurückzugeben.“ Diese Bemerkung ließ ihn schwermütig seufzen. An ihrem Misstrauen ihm gegenüber hatte sich also nichts geändert, dabei lag in ihrem Blick keinerlei Feindseligkeit mehr, die zeitgleich mit seinem Ärger durch die Erscheinung vorhin spurlos verschwunden war. Dafür herrsche jetzt Verwirrung, mit diesem Gefühl schien sie aber immerhin um einiges umgänglicher zu sein. Erst überlegte Luan, sie wieder zu Siezen, doch es erschien ihm besser beim Duzen zu bleiben. Schon allein weil sie es auch nicht anders tat. „Ich habe wirklich kein Interesse daran, dir etwas anzutun. Wenn ich das wollen würde, hätte ich viele Stunden Zeit dazu gehabt, das bereits zu erledigen, während du noch geschlafen hast.“ Die Vorstellung ließ sie das Gesicht verziehen und zu seinem Glück konterte sie nicht mit dem Argument, dass er einer von der Sorte sein könnte, die ihren Opfern am liebsten Leid zufügten während sie bei Bewusstsein waren. Stattdessen stellte sie eine Gegenfrage bezüglich seiner Taschenuhr. „Warum ist die so wichtig für dich?“ „Das ist schwer zu erklären.“ „Warum?“, hakte sie weiter nach. „Weil es privat ist.“ Der Schmerz in seiner Brust verstärkte sich, wodurch sich in seine folgenden Worte ein leichtes Zittern in seine Stimme schlich. „Ich bitte dich noch einmal: Gib sie mir zurück.“ Dass er Leid verspürte war ihr wohl nach seinen letzten Worten nicht entgangen, ihre Körperspannung ließ nach und ein überraschend mitfühlender Ausdruck gewann die Oberhand über sie. Ohne noch etwas dagegen zu sagen, rutschte sie zurück nach vorne und war schnell aus dem Kofferraum geklettert. Danach setzte sie vorsichtig den ersten Schritt in seine Richtung, als müsste sie sich doch dazu überwinden. Dennoch gelang es ihr, die wenigen Meter zwischen ihnen schrumpfen zu lassen und stand schließlich nur noch knapp einen Schritt entfernt vor ihm. Als sie ihre Hand mit der Taschenuhr zu ihm herunter streckte, schüttelte er den Kopf und deutete auf den Boden. „Leg sie ab, ich nehme sie mir dann.“ Noch verstand er nicht, wie diese Erscheinung zustande gekommen war oder was genau sie zu bedeuten hatte. Solange er nicht wusste, womit er es zu tun hatte, wollte er eine weitere Berührung zwischen ihm, der Frau und seiner Taschenuhr gleichzeitig lieber vermeiden. Sonderlich überrascht wirkte sie auf seine Bitte hin nicht, woraus er schloss, dass sie diese Vorgehensweise nur begrüßte. Auffallend behutsam legte sie die Uhr im hohen Gras ab und trat etwas zurück. Sofort streckte Luan seine Hand aus und nahm sie an sich, wodurch der Schmerz in seiner Brust auf der Stelle nachließ. Auch die Kälte zog sich gleich zurück, was ihn erleichtert aufatmen ließ. Sorgsam verstaute er seinen Besitz wieder in der Innentasche seines Mantels und nahm sich erst mal Zeit dazu die Knöpfe zu schließen, von denen die Übeltäterin, bei ihrem wilden Überfall vorhin, einige zu öffnen geschafft hatte. Hoffentlich hatte sie die schwarze Kruste auf seiner Haut nicht gesehen oder gar gespürt, während ihrer Suche nach einer Waffe. Anschließend stand er auf und zupfte auch noch den Rest seines Mantels anständig zurecht, bis er zufrieden war. Eigentlich hätte er einen guten Grund dazu gehabt, nichts weiter zu sagen, doch er wandte sich an die Frau, die ihn nur schweigend beobachtet hatte. „Danke, dass du sie mir zurückgegeben hast.“ Verunsichert nickte sie nur knapp und wich seinem Blick aus, indem sie zur Seite schielte. „Eigentlich hatte ich dich ja zuerst gefragt, aber ich bin Mara. Also mein Name ist Mara.“ Zwar kam es etwas verspätet, aber somit antwortete sie ihm also doch noch auf seine Frage. Nachdem das Problem mit seiner Taschenuhr doch recht schnell geregelt werden konnte, keimte in ihm jetzt natürlich mehr und mehr die Frage auf, warum er ausgerechnet über sie, Mara, eine Erscheinung von Estera gehabt hatte. Leider sagte ihm ihr Name überhaupt nichts, was ihn mehr verärgerte, als er selbst gedacht hätte. Das ließ er sich aber nicht anmerken. „Mara also“, wiederholte er ihren Namen. „Stimmt, ich habe mich dir gar nicht vorgestellt, als du nach dem Aufwachen gefragt hattest, wer ich bin. Mein Name ist Luan. Luan Howe.“ „Ah“, entgegnete sie und klang seltsamerweise sehr enttäuscht, als hätte sie sich was anderes erhofft. Rasch schob sie eine neue Frage hinterher, um von ihrer Reaktion abzulenken. „Ich lag also bewusstlos auf der Straße? Ist das wirklich wahr?“ „Ich habe keinen Grund zu lügen“, sagte er, mit einer überzeugenden Stimmlage. In seinem Beruf zählte es zur Normalität den Opfern von Alpträumen die Wahrheit zu verschweigen, da die Existenz von Traumbrechern für Menschen geheim bleiben musste. Nach all der Zeit hatte Luan also kein Problem mehr damit jemanden anzulügen und fühlte sich schon lange nicht mehr schlecht deswegen. Würden die Leute wissen, dass manche von ihren Alpträumen wirklich gefährliche Ausmaße annehmen konnten, würde keiner mehr ruhig schlafen können, geschweige denn wollen. Zu seiner Überraschung nahm Mara ihm seine Bestätigung diesmal ziemlich schnell ab, denn sie nickte verstehend. Das war fast schon zu auffällig im Vergleich dazu wie misstrauisch sie vor wenigen Augenblicken noch gewesen war, demnach musste sie auch etwas gesehen haben, genau wie er. Nur was? Es wäre der perfekte Zeitpunkt, um sie danach zu fragen. Er konnte sich aber nicht dazu überwinden. Ihm schwirrte selbst noch die ganze Zeit das Gesicht von Estera im Kopf herum, das er gesehen hatte. Ein Gesicht, von dem er schon angefangen hatte zu glauben es nicht noch einmal wiederzusehen. Estera, eine Person, die ihm sehr viel bedeutete. Es war, als würden sich vor seinem geistigen Auge die zahlreichen Fetzen eines zerrissenen, alten Fotos langsam wieder zusammensetzen. Die Risse in dem Bild ließen einen klaren Blick auf diese Erinnerung aber nicht zu, obwohl er sie doch gerade eben so deutlich vor sich gesehen und sogar ihre Stimme gehört hatte. „Dann muss ich wohl schlafgewandelt sein“, riss ihn Mara mit dieser Aussage aus seinen Gedanken. Etwas zu ernst ging Luan darauf ein. „Passiert dir das öfter?“ „Was?“ „Dass du schlafwandelst. Noch dazu so weit weg, die nächste Ortschaft ist ein ganzes Stück entfernt.“ Auf einmal sah sie ihn mit einem Ausdruck an, den er nur schwer deuten konnte. Eine Mischung aus Verzweiflung und Hoffnung, gepaart mit etwas anderem. Irgendwie bekam Luan das ungute Gefühl, dass dieses Etwas mit ihm im Zusammenhang stand, denn sobald Mara drohte halbwegs Augenkontakt mit ihm herzustellen, schaute sie rasch wieder woanders hin. Ich muss sie fragen, was sie gesehen hat, schoss es ihm durch den Kopf. Ich muss sie fragen. Stattdessen griff er jedoch auf das zurück, was er zuletzt gesagt hatte und stellte eine völlig andere Frage. „Oder wohnst du irgendwo in der Nähe? Gibt es hier ein Haus, das abseits der Straße liegt?“ „Nein, ich wohne in Limbten.“ Limbten. Das war der Ort, zu dem Ferris sie beide fahren sollte. Spätestens jetzt glaubte Luan nicht mehr daran, dass dieses Treffen mit Mara reiner Zufall gewesen war. Möglicherweise war sie sogar der Grund dafür, wegen dem es die Mission überhaupt gab, zu der man zwei Traumbrecher losgeschickt hatte. Trotzdem spürte er in ihrer Gegenwart immer noch keine Gefahr und er hatte es sogar durch eine Berührung geprüft. Sie nach ihrem Teil der Erscheinung zu fragen, blieb zunächst der einzige Weg in diesem Fall vorwärts zu kommen. Aber er fragte sie nicht danach. „Dann hast du doch eine recht weite Strecke zurückgelegt. Wir waren auf dem Weg dorthin, also bietet es sich erst recht an, dich mitzunehmen. Das wäre sowieso die nächste Ortschaft.“ „In Ordnung“, stimmt sie leise zu. „Gut, aber wie gesagt, das kann noch eine Weile dauern. Mein Freund ist noch nicht lange weg, also müssen wir erst mal warten.“ „Verstehe.“ Obwohl ihre Verhaltensveränderung auffällig war, machte es die Sache doch einfacher, dass sie nun dazu bereit war sich von ihnen nach Hause bringen zu lassen. Luan ließ kurz von ihr ab und holte die Decke, die er bei dem kleinen Zwischenfall mit ihr auf den Boden fallen gelassen hatte. Damit sollte auch das Problem mit der Kälte vorerst gelöst sein. „Hier.“ Er reichte ihr die Decke. „Die sollte gegen die Kälte helfen, sofern es dich nicht stört, dass sie schon etwas ... mitgenommen ist.“ „Besser, als zu frieren“, meinte sie und griff ohne Scheu nach dem ranzigen, knallroten Stoff. Nachdem Mara sich komplett in die Decke eingewickelt hatte, standen sie beide einfach nur da, ohne etwas zu sagen. Ähnlich wie vor wenigen Minuten, als sie sich bloß schweigend angestarrt hatten, nur richtete sie ihren Blick nun stur auf den Boden. Eigentlich wäre es auch jetzt der perfekte Zeitpunkt gewesen, ihr endlich die Frage zu stellen, aber er drückte sich weiterhin davor, indem er sich irgendwann direkt neben dem Auto ins Gras setzte und sich dort mit dem Rücken anlehnte. Daran nahm Mara sich ein Beispiel, nur dass sie genau auf der anderen Seite des Wagens Platz nahm und dort blieb. Die angespannte Stimmung zwischen ihnen gefiel Luan nicht. Zu allem Überfluss kam ihm das Bildnis von Estera wieder in den Sinn, wo es mehr und mehr für ein ordentliches Durcheinander sorgte. Kein Wunder, dass er sich bald schon ein weiteres Mal in geistige Abwesenheit verlor und ziellos in den leicht bewölkten, inzwischen hellblauen Himmel blickte. Etwas später schloss er dann die Augen, für den Versuch sich zu entspannen, was nicht gerade mit Erfolg gekrönt war. Luan glaubte, nur für knapp eine Minute die Augen geschlossen zu haben, doch als er sie wieder öffnete, hatte sich das Farbenspiel des Himmels vollkommen verändert. Die Sonne sank, umgeben von einem wolkenlosen, orangeroten Meer, langsam in die Tiefe hinab. Dabei hatte er mit Ferris nur wenige Augenblicke zuvor noch den Sonnenaufgang erlebt, was nur bedeuten konnte, dass er eingeschlafen sein musste. „Verdammt“, brummte er, total verschlafen. Nach diesem nicht eingeplanten und doch recht langen Schläfchen fühlte er sich nun noch erschöpfter als vorher. Von Entspannung keine Spur. Die Müdigkeit steckte ihm geradezu in den Knochen, wodurch er anfangs etwas länger brauchte, um wieder einigermaßen klar im Kopf zu werden. Träge tastete er nach seiner Uhr in der Innentasche seines Mantels und atmete schwer aus, kaum dass er sie von außen durch den Stoff hindurch fühlte. „Traumloser Schlaf ist ein Fluch.“ Danach stand er keuchend auf und fühlte sich gleich mehr als hundert Jahre älter, so schwerfällig wie er auf die Beine kam. Obwohl sich seine Glieder noch sehr schlaff anfühlten, ging er sofort um das Auto herum auf die andere Seite und war beruhigt, als er sah, dass Mara noch da war. Eingekuschelt in der Decke lag sie seitlich auf dem Boden, mit den Rücken dicht am Auto liegend. Auch sie war eingeschlafen und befand sich offensichtlich noch tief im Traumland. Noch einmal wollte er es lieber nicht wagen sie anzufassen, falls sie doch nicht so fest schlief, wie es für ihn aussah. Anschließend begab Luan sich zurück auf die Straße, wo er am Rand stehen blieb und in die Richtung schaute, die Ferris am Morgen eingeschlagen hatte. Dass er noch nicht zurückgekehrt war, nach all den Stunden, sollte für ihn kein Grund zur Sorge darstellen. Immerhin könnte der Schlaf genauso gut über Ferris eingebrochen sein und ihn dazu bewegt haben, sich ebenfalls unterwegs hinzulegen. Sicherheitshalber sollte Luan sich aber vergewissern, ob bei seinem Kollegen alles in Ordnung war, deshalb holte er seine Taschenuhr aus dem Mantel und ließ sie in seiner Handfläche ruhen. Sogleich legte sich ein hellblauer Farbschleier über die Landschaft, durch den er jede noch so kleine Unebenheit problemlos wahrnehmen konnte. Konzentriert folgte er mit seinem Blick der Straße, bis er irgendwann durch eine Art Sog seinen Körper zu verlassen schien und im Geiste mit rasender Geschwindigkeit den kompletten Weg überflog. Es fühlte sich stets wie eine Achterbahnfahrt an, daran konnte sich Luan noch nie gewöhnen. Nur ein paar Sekunden später kam er beim Notfalltelefon an, zu dem Ferris gehen sollte, aber von ihm fehlte jede Spur, er befand sich auf jeden Fall nicht mehr auf der Straße. An der Stelle, wo das besagte Telefon stand, war die Straße beidseitig von einem dichten Wald eingeschlossen, den Luan ebenfalls grob durchforstete. Geschwind schlängelte er sich um unzählige, dicke Baumstämme herum, die sich bei seinem Tempo zu dünnen Streichhölzern verzerrten. Aufmerksam versuchte er Bewegungen auszumachen, die wellenförmige Störungen auf der hellblauen Ebene verursachen würden, aber es war verdächtig still. Zu still für einen so dichten Wald, in dem sich zumindest einige Tiere regen sollten. Schließlich zwang ein äußerst penetrantes Pochen hinter der rechten Schläfe ihn dazu, diesen Ausflug abzubrechen. Mit dem nächsten Augenschlag kehrte er auch schon in die normale Sicht zurück und rieb mit dem Zeigefinger vorsichtig über die Stelle, wo das Pochen gleich nachließ, ohne zu einem Schmerz ausgeweitet zu sein. Die Nutzung dieser verbesserten Sicht war noch nie seine Stärke gewesen. Generell waren alle Fähigkeiten, die einem Traumbrecher durch seine Taschenuhr verliehen wurden, für ihn nicht mehr so leicht zu handhaben. Sicherlich lag es daran, dass seine Traumzeit schon vor langer Zeit eingefroren war. Exakt eine Sekunde vor Ablauf der sechs Stunden, was sich bis heute niemand erklären konnte und er hatte längst aufgegeben, nach einer Antwort zu suchen. „Ich kann Ferris nicht finden“, sagte er nachdenklich zu sich selbst. „Irgendetwas stimmt nicht.“ Ferris mochte ein Chaot sein, doch er würde niemals einfach so vom Erdboden verschwinden. Wie konnte diese Mission nur schon so sehr aus dem Ruder laufen, noch bevor sie überhaupt am Zielort angekommen waren? So etwas war bisher noch nie vorgekommen. „Ist Ferris dein Freund, der Hilfe holen sollte?“ Angespannt sah Luan über die Schulter und erblickte Mara. So fest konnte sie also wirklich nicht geschlafen haben, wie er wieder dachte, wenn sie nun wach war. Müde rieb sie sich die Augen und blieb mit etwas Abstand neben ihm stehen, wo sie nur kurz einen Blick in beide Richtungen der Straße riskierte. „Er ist ganz schön lange unterwegs, es wird bald dunkel sein.“ „Ist mir nicht entgangen“, erwiderte Luan und ließ seine Taschenuhr lieber zurück in den Mantel verschwinden. „Ich werde losgehen und nach ihm sehen. Vielleicht hat ihn etwas aufgehalten.“ „Ich komme mit!“, schoss es sofort aus ihr heraus, was ihn leicht überrascht zusammenzucken ließ. „Das halte ich für keine gute Idee, du solltest hier beim Auto bleiben. Wir werden dich dann abholen.“ Entweder hatte Mara sich in ihrer Verhaltensweise im Schlaf ein weiteres Mal verändert oder sie besaß von Natur aus ein ziemlich wechselhaftes Wesen, denn auf einmal suchte sie nahezu seinen Blickkontakt. Ein entschlossenes Flackern in ihren Augen warnte ihn davor, sie besser nicht nochmal zurückzuweisen, was durch ihre erschreckend ernste Miene nochmal zusätzlich verstärkt wurde. „Ich sagte, ich komme mit“, forderte sie nun nachdrücklich. „Selbst wenn ich wollte, kann ich dich nicht mehr aus den Augen lassen.“ Verwirrung brach über Luan ein. „Wie bitte?“ „Du hast mich schon verstanden.“ Für sie schien das Gespräch damit beendet zu sein, da sie an ihm vorbei stampfte und ihr Gesicht in der Decke vergrub, in die sie noch eingewickelt war. Mit kleinen Schritten betrat sie die Straße, wo sie nach ein paar Metern in der Mitte stehen blieb und darauf wartete, dass er vorging, um den Weg zu weisen. Zwar blieb er verwirrt, was ihre Aussage von eben anging, aber setzte sich dann doch lieber in Bewegung und folgte der Straße Richtung Notfalltelefon. Schon allein um Ferris zu finden hatte er keine Zeit jetzt mit ihr zu diskutieren. Hoffentlich würde Luan ihn schnell finden. Zum ersten Mal in seiner gesamten Laufbahn als Traumbrecher hätte er von Ferris nämlich jetzt gut einen Rat zum Thema Frauen gebrauchen können. Oft hatte der zwar schon in manchen Gesprächen erwähnt, wie launisch Frauen sein konnten, doch mit Mara machte er gerade eine persönliche Erfahrung, auf die er gern verzichtet hätte. *** Links und rechts türmten sich die Bäume des Waldes zu riesigen Gestalten auf, deren Äste sich über die Straße hinweg verzweigten, als würden sie einander die Hände reichen und dadurch absichtlich die Sicht auf den Himmel verdecken wollen. Mittlerweile war es zudem auch schon so dunkel geworden, dass selbst Luan Mühe hatte, ohne Taschenuhr richtig sehen zu können. Normalerweise hatte man als Traumbrecher damit keine Probleme. Durch die Schatten des dichten Geästs über ihnen, von denen der Weg quasi verschlungen wurde, gewann die Dunkelheit um sie herum noch mehr an Stärke. Sie hatten das Notfalltelefon noch nicht erreicht und seit ihrem Aufbruch beide abermals gezeigt, wie gut sie das Schweigen beherrschten. Langsam wurde Mara aber unruhig, was Luan daran merkte, dass sie ihm nach und nach näher kam, statt weiterhin Abstand zu halten – obwohl sie ihm am Morgen noch gesagt hatte, er sollte ihr nicht mehr zu nahe kommen. Die Dunkelheit behagte ihr wohl nicht, was ihn nicht verwunderte. Viele Menschen fürchteten sich vor dem Unbekannten. Als sie sich aber schließlich an seinem rechten Arm festklammerte, war seine Grenze deutlich überschritten. „Hör mal, ich bin nicht der Typ für enge Kontakte.“ „Wie bitte?“, kam es nun verwirrt von ihr. „Ich kann deine Körperwärme spüren, was bedeutet, dass du mir eindeutig zu nah bist.“ „Oh, ach so ...“ Eher zögerlich ließ sie ihn los und nahm wieder etwas mehr Abstand ein. Fast hätte Luan gesagt, dass er wusste, sie hätte besser beim Auto bleiben sollen, doch das wäre nicht hilfreich gewesen. Also beschloss er, ihr lieber Mut zu machen. „Solange du der Dunkelheit keinen Anlass dazu gibst, kann sie dir auch nichts anhaben.“ Da sie darauf nichts sagte, fügte er dem noch etwas hinzu. „Ich meine, dass du dich nicht vor der Dunkelheit fürchten musst.“ „Ich habe keine Angst“, flüsterte sie, als wollte sie nicht von den falschen Personen gehört werden. „Nicht vor der Dunkelheit.“ „Nicht? Wovor denn dann?“ „Das ist schwer zu erklären.“ „Warum?“ „Weil es privat ist.“ Natürlich bemerkte er sofort worauf sie hinauswollte, immerhin hatten sie dieses Gespräch am Morgen schon in Bezug auf seine Taschenuhr geführt. „Ich werde dir auch jetzt nicht sagen, warum sie mir wichtig ist.“ „Schade.“ Er hörte ihre Enttäuschung heraus, doch das hinderte sie scheinbar nicht daran, das Gespräch aufrecht zu erhalten. „Darf ich dir denn eine andere Frage stellen?“ „Kommt darauf an, was für eine.“ Während sie sich unterhielten liefen sie weiter die Straße entlang, auch wenn Luan inzwischen kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte und mehr erahnen musste, wo er hintrat. Am liebsten hätte er längst seine Taschenuhr herausgeholt, aber da Mara noch immer in Erfahrung bringen wollte, warum sie ihm so wichtig war, sollte er diese Neugier nicht noch weiter nähren. Es war ohnehin erstaunlich, dass sie angeblich keine Angst vor der Dunkelheit hatte. Er selbst als Traumbrecher war es gewohnt, ständig nachts unterwegs zu sein und störte sich nicht mehr so sehr daran. Bestimmt hatte sie es nur so daher gesagt, sich nicht zu fürchten. Was sollte sonst der Grund dafür sein, dass sie eben vor lauter Unruhe seine Nähe gesucht hatte? „Kennst du jemanden, der Bernadette heißt?“, stellte sie schließlich ihre neue Frage. Augenblicklich blieb Luan wie versteinert stehen und Mara merkte es erst, als sie fast gegen ihn lief. Es war nicht ihre Frage, die seine Beine gerade an den Boden ketteten, wie man hätte annehmen können. Nein, es war vielmehr so, dass sich etwas um seine Füße geklammert hatte und ihn mit einem kräftigen Griff festhielt. Bevor Luan nach seiner Taschenuhr greifen konnte, um für bessere Sicht zu sorgen, klärte die sich plötzlich von ganz alleine. Wie durch Geisterhand hellte die Dunkelheit sich gerade so weit auf, dass man seine Umgebung erkennen konnte. Im Augenwinkel bemerkte er wie Mara bereits entsetzt zurückwich und auch er konnte nicht anders, als innerlich einen Fluch auszusprechen. Der Asphalt der Straße unter ihren Füßen hatte sich verändert. Er bestand nun aus hunderten, hölzernen Händen, die allesamt ineinander verflochten waren und deren unnatürlich langgezogenen Arme die neuen Wurzeln der umliegenden Bäume bildeten. Einige von diesen Wurzeln schlangen sich, wie bei einer Umarmung, um deren Stämme herum, wo sie sich dann mit den Fingern tief ins Holz bohrten. In den Stämmen selbst klafften jeweils zwei hohle, schwarze Löcher, von denen man angestarrt zu werden schien. Die Blätter der Baumkronen besaßen zwar noch ihr herbstliches Rot, nur tropfte hier und da mal was von dieser Farbe herunter und diese einzelnen Tropfen schwebten ruhig in der Luft, ohne jemals den Boden zu berühren. Dann war da noch diese Stille. Eine erdrückende Stille begleitete dieses Szenario und Luan ahnte, selbst wenn er etwas sagen würde, dass kein einziger Ton aus seiner Kehle mehr käme. Dieses unheimlich malerische Werk war zweifelsohne durch einen Schöpfer entstanden. Dazu zählten jene Alpträume, deren Fähigkeiten sich allein auf künstlerischem Wege zeigten. Sie konnten also jede Umgebung beliebig umgestalten und nur durch Gegenstände agieren, dafür waren sie nicht in der Lage persönlich Gewalt anzuwenden und Töne zu erschaffen oder in ihrer Welt zuzulassen. Deshalb war auch keinerlei Laut von Mara zu hören, deren Mund sich für einen Schrei öffnete, als auch sie von den Händen gepackt wurde, die sich von dem Rest aus dem Boden losgelöst hatten. Da auch sie hier war, wusste Luan genau, welcher Art dieser Alptraum angehören musste, in den sie zweifellos geraten waren. Sollte Ferris ebenfalls wie sie von diesem Gegner in seine Welt gefangen genommen worden sein, war es kein Wunder, dass er ihn nicht mehr auffinden konnte. Zielstrebig holte Luan seine Taschenuhr hervor und wandte sich an Mara, deren Name sich auf seinen Lippen formte, ohne dass er zu hören war. Verängstigt wedelte sie mit den Armen, um ihr Gleichgewicht nicht zu verlieren und starrte erst schockiert auf die Hände, von denen sie festgehalten wurde. Danach sah sie hilfesuchend zu Luan, der ihr gleich seine freie Hand reichte. In ihrem Blick lag Schrecken und Ratlosigkeit, doch alles, was er tun konnte, war sie zu beruhigen, indem er Entschlossenheit zeigte und damit ausdrücken wollte, dass sie ihm vertrauen musste. Aus diesem Grund dachte er auch nicht darüber nach, ob sie eine weitere Erscheinung heimsuchen könnte, sobald sie seine Hand nahm. Ohne lange zu zögern streckte sie auch ihre Hand nach seiner aus und als sie sich berührten, ließ Luan den Deckel seiner Uhr aufspringen, aus deren Inneren wieder ein grelles, weißes Licht wie loderndes Feuer hervortrat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)