The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 2: Wer bist du? ----------------------- „Was ist das nur“, sagte Ferris beflügelt, „für ein wunderschöner, neuer Morgen, findest du nicht auch?“ Luan schwieg und starrte ihn vorwurfsvoll an. „Und dann auch noch“, fuhr Ferris fort, „diese herrlich frische, klare Luft!“ Luans Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Blick durchbohrte ihn weiterhin. „Ich kann gar nicht sagen“, sprach Ferris unbeirrt weiter, „wann ich zuletzt den Sonnenaufgang miterleben durfte.“ Eine nachdenkliche Pause folgte, ehe er noch etwas hinzufügte. „Nein, ernsthaft. Ich hab den Sonnenaufgang schon ewig nicht mehr gesehen. Ich habe dauernd Damenbesuch und nie Zeit, ihn mir anzuschauen.“ Luans Blick verfinsterte sich noch mehr und er atmete schwer ein und aus. Dieses hohe Maß an Missmut konnte nicht mal mehr Ferris einfach ignorieren, wodurch sich sichtliche Nervosität in das breite Grinsen schlich, mit dem er erfolglos die Stimmung aufzubessern versuchte. Für einen Moment herrschte ein angespanntes Schweigen, bis Ferris endgültig in sich zusammenbrach und auch seinen Frust nicht mehr zurückhielt. „Boah, hör endlich auf damit, mich so anzustarren!“, keifte er Luan an und deutete Richtung Auto, das nach wie vor in dem Graben am Straßenrand feststeckte. „Du warst es doch, der dafür gesorgt hat, dass mein Baby nun dort festhängt und wir nicht mehr weiterkommen!“ „Falsch“, warf dieser mit erschreckender Überzeugung ein, hob dann auch seinen Arm und deutete mit dem Zeigefinger auf Ferris. Seine Mimik baute bereits eine undurchdringbare Mauer gegen jegliche Zweifel auf, noch bevor er den folgenden Satz sagte. „Du warst der Fahrer und hättest beinahe eine Frau überfahren, weil du unaufmerksam gewesen bist.“ Schweiß bildete sich auf der Stirn von Ferris. „Aber du hast letztendlich das Steuer umgerissen!“ „Ja, weil du nicht aufgepasst hast“, hielt Luan an seiner Meinung fest. Seine Stimme war so schneidend scharf, dass es einem die Kehle zuschnürte. „Du bist ein schlechter Fahrer. Es ist deine Schuld.“ „Ahhh!“, stöhnte Ferris verzweifelt und ließ den Kopf hängen. „ Schon gut, dann bin ich halt schuld. Zufrieden? Können wir das jetzt lassen und uns überlegen, wie wir hier wegkommen? Der Akku von meinem Handy hat schon Stunden vor diesem Unfall den Geist aufgegeben und du besitzt nicht mal eins.“ „Du hast das Problem verursacht, also wirst du dich auch um eine Lösung kümmern.“ Daran gab es für Luan nichts zu rütteln, egal wie sehr sich Ferris dagegen sträuben würde. Er ließ den Arm wieder sinken und seufzte genervt. Diese zeitliche Verzögerung passte ihm gar nicht, dadurch könnten sie wichtige Spuren an ihrem Zielort verpassen. Der Kampf gegen den Nachtmahr war sehr schnell vorbei gewesen, trotzdem saßen sie hier fest. Auf solche Hilfsmittel wie ein Auto angewiesen zu sein, war mehr als störend. Zusammen hatten sie vergeblich bis zum Einbruch des Morgens darauf gewartet, dass jemand anderes hier vorbeikam, den sie um Hilfe bitten könnten. Je heller es geworden war, desto mehr hatte Luan die Geduld verlassen, zumal der Tagesanbruch für ihn als Traumbrecher Schlafenszeit bedeutete. Falls es sich hierbei um eine dieser ausgestorbenen Landstraßen handelte, wo sich für gewöhnlich kein normaler Mensch hin verirrte, konnten sie hier so lange stehen, bis ihnen die Füße abfielen und es würde doch niemand auftauchen. Tagesanbruch hin oder her. „Oh Mann.“ Schmollend vergrub Ferris die Hände in den Hosentaschen, wo er seine Uhr aufbewahrte, konzentrierte sich für eine Weile und seufzte dann ebenfalls genervt. „Prima, hätte das nächste Notfalltelefon nicht noch weiter weg sein können?“ Statt Mitleid zu zeigen, hob Luan eine Hand hinter den Rücken seines Kollegen und gab ihm einen kräftigen Schubs nach vorne. „Hör auf zu meckern und geh schon los, sonst wird es nur noch später.“ „Du hast leicht reden“, murmelte Ferris noch trotziger, nachdem er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. „Mist, ich hätte nicht so lange mit dieser einen Frau, Tesha, telefonieren sollen, dann könnte ich jetzt jemanden anrufen der uns hilft und würde es gemütlich angehen lassen.“ „Ich werde hier auf dich warten.“ „Klar, werter Herr. Mach du es dir ruhig bequem, während ich einen kleinen Spaziergang mache.“ „Ironie wird dir auch nicht dabei helfen, schneller zum Notfalltelefon zu kommen.“ „Ha, ha, ha“, reagierte Ferris trocken. Widerwillig setzte er sich in Bewegung und schlenderte die Straße entlang, um zu dem besagten Notfalltelefon zu gelangen. Bis Ferris aus seinem Sichtfeld verschwunden war, blickte Luan ihm hinterher und schaute im Anschluss in die andere Richtung, wo natürlich auch nichts zu sehen war. Kein Auto. Keine Menschenseele. Nichts, nur die Sonne, die immer weiter in den Himmel empor stieg und ihn noch müder werden ließ. Es gab gerade sowieso keine Aussicht auf Hilfe, also nutzte Luan die Gelegenheit, um nach der jungen Frau zu sehen, die er in der Nacht von dem Alptraum befreit hatte. Da das Auto in einer Schräglage stand, hatte er sie lieber etwas abseits ins hohe Gras gelegt, das links und rechts von der Straße weitläufig das Land auskleidete. Hinter diesen weiten Wiesen ragten Bäume in die Höhe, die zu einem großen Wald gehören mussten. Neben ihr angekommen ging er in die Knie und warf einen prüfenden Blick auf sie. Wie erwartet hatte sie keinerlei Verletzungen oder sonstige Schäden davongetragen und schlief seit der Vernichtung des Nachtmahrs friedlich. Ihr Atem war ruhig und gleichmäßig, also gab es keinerlei Grund zur Sorge. Sie zitterte nur hin und wieder, was wohl auf die Kälte der Nacht zurückzuführen war, die noch immer in der Luft lag und wogegen die Sonne bisher nur mäßigen Erfolg erzielt hatte. Grummelnd vergrub Luan das Gesicht im Kragen seines Mantels, den er ihr eigentlich längst als Decke hätte geben müssen, wenn er ein anständiger Kerl sein wollte. Allerdings konnte er das nicht tun, sonst würde er seinen Körper aufdecken und der Gedanke daran war ihm um einiges unangenehmer. Sollte sie sich eine Erkältung einfangen, würde sie das schon aushalten, immerhin war sie noch jung genug, vermutlich sogar fast so alt wie er. Lieber ließ er sich hinterher von ihr als schlechter Gentleman beschimpfen. Da er sie zuvor nicht genauer betrachtet hatte, sprang Luan nun etwas ins Auge, das ihn sofort misstrauisch werden ließ. „Hm?“ Ihr langes, schwarzes Haar war genauso zerzaust wie seines und eigentlich hätte er vermutet, dass es durch den unruhigen Schlaf in der Anfangsphase des Befalls durch den Nachtmahr zustande gekommen sein musste, aber etwas störte diesen Gedanken. Ihre Kleidung war von viel Staub bedeckt, ähnlich wie nach einem Frühjahrsputz in einem Haus, in dem seit Jahrzehnten keiner mehr für Ordnung gesorgt hatte. Außerdem waren ihre Sachen recht praktisch gehalten und sahen nicht danach aus, als hätte sie zuletzt geschlafen. Das würde jedoch bedeuten, der Nachtmahr hätte sie im wachen Zustand befallen, was völlig unmöglich war. Menschen mussten schlafen und sich bereits in einer Traumphase befinden, erst dann konnten Alpträume aktiv werden. Entweder sorgte seine Müdigkeit nur dafür, dass er gerade zu weit dachte oder irgendetwas stimmte mit der Frau nicht, doch letzteres hätte er wohl längst wahrgenommen. Er beschloss trotzdem, es einfach sicherheitshalber auszutesten, dann hätte er Gewissheit darüber, ob er nach all der Zeit schon zu angespannt war und in allem Hinweise auf Unstimmigkeiten zu sehen glaubte oder sein Misstrauen berechtigt war. Also streckte er eine Hand nach ihr aus und legte sie auf die Herzseite ihrer Brust. Dort ließ er sie für eine Weile ruhen, aber er spürte nichts. Sein Körper gab keinerlei Reaktion von sich. Erleichtert atmete er aus. „Ich bin wohl nur überarbeitet.“ „Was tun Sie da?!“, schnitt eine andere Stimme plötzlich wie ein Schwert die Stille entzwei. Augenblicklich wurden all seine Glieder schwer wie Blei. Zögernd neigte er den Kopf ein kleines Stück zur Seite und erstarrte zu Stein, als er in das schockierte, blaue Augenpaar jener Frau blickte, die vorhin noch seelenruhig zu schlafen schien. Dummerweise sah er in diesem Moment leider nicht wie ein Held aus, von dem sie in der Nacht gerettet worden war. Zu spät wurde Luan bewusst, wie furchtbar falsch die Lage seiner Hand für Außenstehende aussah und er hätte alles dafür gegeben, jetzt in irgendein Loch versinken zu können. Offenbar stand sie noch ein bisschen neben sich, sonst hätte sie bestimmt längst eine Reaktion gezeigt. Bevor es dazu kommen konnte, wollte Luan wenigstens versuchen sich zu erklären und zog rasch seine Hand zurück. „Bitte, regen Sie sich nicht auf. Das ist nicht so, wie Sie gerade denken.“ „Ach ja?!“, erwiderte sie, zu recht, zweifelnd und rutschte erst mal hastig von ihm weg. „Was wollten Sie denn dann tun?!“ Luan hob beschwichtigend die Hände. „Ich wollte nur prüfen, ob Sie in Ordnung sind.“ „In Ordnung im Sinne von Gesundheit oder nicht doch eher von sexueller Belästigung?!“ „Es ging mir nur um Ihre Gesundheit, ich schwöre es.“ „Das kann ja jetzt jeder behaupten! Wer sind Sie überhaupt?!“ Nervös huschte ihr Blick kurz in sämtliche Richtungen. „Und wo bin ich?!“ „Schon gut, ich erkläre Ihnen alles, aber beruhigen Sie sich“, versuchte Luan weiterhin, möglichst höflich zu bleiben und ihren schlechten Eindruck über ihn nicht noch mehr anzuheizen. Viel lieber würde er gegen eine Geißel, die mächtigste Form aller Alpträume, kämpfen, wenn er dafür dieses peinliche Ereignis ungeschehen machen könnte. „Sie haben bewusstlos mitten auf der Straße gelegen und wir waren dazu gezwungen, mit unserem Wagen auszuweichen, deshalb steckt er jetzt dort drüben im Graben fest. Mein Freund ist losgegangen, um Hilfe zu holen. Ich habe Sie nur von der Straße hierher getragen, damit Sie in Sicherheit sind, mehr nicht.“ Natürlich glaubte sie ihm die Geschichte nicht auf Anhieb, sondern behielt ihn skeptisch im Auge. Begutachtete ihn sogar einmal von oben bis unten, ehe sie auf seine Erklärung etwas sagte. „Sie sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus, in diesem Aufzug. Wie soll ich Ihnen so Glauben schenken?“ Innerlich hörte Luan schon wie Ferris sich selbst dafür feierte, mit der Meinung über diesen Mantel voll ins Schwarze getroffen zu haben. Dem konnte er nicht mal etwas entgegen setzen, denn sie hatten beide recht, aber in der Nacht waren dunkle Farben, besonders schwarz, eben am Unauffälligsten. Was konnte er dafür, dass viele hauptsächlich negative Eigenschaften mit dieser Farbe und langen Mänteln in Verbindung brachten? „Ein Gentleman sind Sie auf jeden Fall nicht“, urteilte sie und schlang die Arme um sich, weil ihr ziemlich kalt zu sein schien. Mit der Beschwerde hatte Luan ohnehin schon gerechnet, also fiel es ihm nicht schwer, ihr eine passende Lüge aufzutischen. „Tut mir leid, mir ist selbst kalt.“ Sprachlos starrte sie ihn mit großen Augen an, bis sie ihren Blick zögerlich abwandte und ihn erneut durch die Umgebung schweifen ließ. Verständlicherweise brauchte sie etwas Zeit, um sich zu sammeln, also drängte er sich ihr nicht weiter auf, indem er schwieg. Er war froh genug, dass sie nicht kreischend aufgesprungen war und ängstlich die Flucht ergriffen hatte. In dieser verlassenen Gegend wollte er nur ungern jemanden allein zurücklassen, erst recht keine junge Frau. Am Ende würde sonst doch noch einer über sie herfallen, möglicherweise sogar Ferris. Irgendwann landete ihre Aufmerksamkeit dann wieder bei ihm und er konnte ihre Feindseligkeit förmlich spüren. „Ob Ihre Geschichte nun wahr ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber wagen Sie es ja nicht, mir noch einmal zu nah zu kommen.“ „Das werde ich nicht“, versicherte er. Inzwischen hatte er sich richtig ins Gras gesetzt und wagte es kaum, sich zu bewegen. „Haben Sie ein Handy dabei, mit dem Sie jemanden anrufen könnten, der Sie von hier abholen kann?“ „Nein, so einen Schrott will und brauche ich nicht!“, antwortete sie barsch, dann schüttelte sie verwirrt den Kopf. „Selbst wenn ich eins hätte, wäre es sinnlos. Ich weiß sowieso nicht, wo ich bin.“ „Das wäre kein Problem, ich könnte es Ihnen sagen.“ Dafür erntete er nur einen giftigen Blick von ihr und ihm wurde klar, dass er sich nicht mehr aus der Position eines Perversen oder gar Entführers befreien konnte, in die er von ihr ohne Zweifel gesteckt worden war. Statt dieses Problem zu ignorieren, versuchte er weiter, mit ihr zu reden. „Dann müssen wir zusammen auf meinen Freund warten, bis er wiederkommt. Wir nehmen Sie dann bis in die nächste Stadt mit, dort findet sich sicher ein Telefon, das Sie benutzen können.“ Dieses Angebot missfiel ihr eindeutig, ihr Blick wurde nämlich nochmal um einiges abweisender. Ferris hatte recht, manche Frauen konnten in der Tat anstrengender sein als der Kampf gegen Alpträume. Langsam fühlte Luan sich geradezu von ihren Augen brutal erdolcht. Glücklicherweise hatte er sonst mit den meisten Opfern nach der Arbeit gar keinen Kontakt mehr, so dass er sich in solchen Situation eher selten bis gar nicht wiederfand. Obgleich er es selbst besser wusste, störte es ihn gewaltig, von ihr wie ein gemeingefährlicher Verbrecher betrachtet zu werden. Zwar mochte alles dafür sprechen, aber irgendwie musste er dieses Missverständnis doch aus der Welt schaffen können, ohne gleich alles über seinen Beruf preiszugeben. Die Frau zittere immer noch vor Kälte und das brachte ihn dazu, etwas zu versuchen. Möglichst vorsichtig stand er auf, ohne dabei zu gehetzt oder verdächtig zu wirken. Wie erwartet wurde sie noch nervöser und blinzelte nicht mal mehr, aus Angst, sie könnte irgendeinen Schritt von ihm verpassen. „Ich werde kurz zum Wagen rübergehen und mal im Kofferraum nachschauen, ob sich dort vielleicht irgendwas finden lässt, das Sie gegen die Kälte schützen kann“, rechtfertigte er es, aufgestanden zu sein. Kam ihm schon reichlich traurig vor, sich erklären zu müssen. „Meinen Mantel kann ich Ihnen nicht geben, aber ich versuche, was anderes zu finden.“ Von ihr kam kein Kommentar zu seinem Vorhaben, was er als eine Art Erlaubnis wertete, sich bewegen zu dürfen, ohne dass sie ausrasten würde. Sachte setzte er einen Schritt vor den anderen und näherte sich mehr als gemächlich dem Auto, während sie jede einzelne Regung von ihm zu analysieren versuchte. Ihr Misstrauen erdrückte ihn wie eine große Flutwelle. Eine gefühlte Ewigkeit später stand er dann endlich am Kofferraum, den er problemlos von außen öffnen konnte. Ein Geruch kam ihm entgegen, den er noch nie zuvor wahrgenommen hatte und auch keine richtige Beschreibung dafür finden konnte. Viel bewahrte Ferris nicht dort drin auf, doch als Luan direkt eine Decke ins Auge fiel, machte er sich auch nicht die Mühe, das restliche Innenleben des Kofferraums zu erkunden. Dabei könnten nur verstörende Erkenntnisse ans Tageslicht kommen, von denen er sich besser fernhielt. Also griff er gezielt nach dem ranzig aussehenden Stück Stoff und verzog das Gesicht, wenn er nur halbwegs daran dachte, wozu Ferris diese Decke schon benutzt haben könnte. Hinter ihm ertönte auf einmal ein lauter Kampfschrei. Nicht mal einen Atemzug später sprang ihm jemand stürmisch auf den Rücken und wollte mit dieser verzweifelt waghalsigen Aktion mit Sicherheit dafür sorgen, dass er sein Gleichgewicht verlor. Zwar war Luan durchaus überrascht, schwankte jedoch kein bisschen, was der Täterin einen leisen Fluch entlockte. Planlos klammerte sie sich mit den Armen um seinen Hals fest, weil sie offensichtlich nicht daran dachte so leicht aufzugeben. „Sagen Sie mal“, kam es ungläubig in einer ruhigen Stimmlage von Luan, der nicht wusste, wie er am besten reagieren sollte, „versuchen Sie etwa gerade, mich zu überfallen?“ „Mach dich nicht lustig über mich!“, schrie die Frau auf seinem Rücken und fühlte sich von ihm gedemütigt. So sehr, dass sie sogar darauf verzichtete, ihn noch länger zu Siezen. „Ich traue dir kein Stück über den Weg! Wer weiß, ob du nicht in Wahrheit eine Waffe aus der Karre holen willst, um mich damit zu erschießen?! Aber eins sage ich dir, ich werde mich wehren!“ „Warum sollte ich Sie erschießen?“ „Bisher spricht alles dafür!“ Ob ihr Verhalten mutig oder dumm war, darüber konnte man streiten. Wäre er doch ein perverser Verbrecher, hätte sie nun ihr Todesurteil erst recht unterschrieben, statt genau das zu verhindern. Aber auch seine Geduld war begrenzt, besonders weil er Körperkontakt zu anderen Leuten hasste. Zu seinem Leidwesen trieb ein Teil in Luan ihn anhaltend dazu, seinen Stand bei ihr ins richtige Licht rücken zu müssen, darum sollte er freundlich bleiben. „Selbst wenn ich wollte, könnte ich Sie nicht erschießen, weil ich keine Waffe besitze.“ Zumindest nicht die Art von Waffe, von der sie sprach. „Würden Sie mich also bitte loslassen?“ „Ich merke es, wenn jemand lügt!“, gab sie nicht nach. „Hast du sie etwa schon in den Mantel gesteckt?!“ Luan bekam nicht mal die Zeit, darauf etwas zu sagen, da sie auch schon einen Arm von seinem Hals löste und mit der Hand anfing, hektisch seinen Mantel zu durchsuchen. Wie eine wilde Furie zerrte sie an seinem Kleidungsstück herum. Für einen gewöhnlichen Menschen fand er sie wahrlich mutig, aber es änderte nichts daran, dass ihr versuchter Angriff gegen ihn auch gleichzeitig dumm blieb. Selbst wenn er verdächtig aussah, hatte er ihr ja gar nichts angetan. Wäre er nicht so gehemmt von dem Gedanken, sich nicht unnötig noch unbeliebter zu machen, hätte er sie ohne zu zögern abgeworfen und keine Rücksicht mehr auf sie genommen. Seine Geduld sollte sich aber letztendlich doch noch vollständig in Luft auflösen, ihre Hand gelangte nämlich in die Innentasche, wo er seine Taschenuhr aufbewahrte. Schlagartig fuhr ein kalter Schauer über seinen gesamten Körper, kaum dass ihre Fingerspitzen den Gegenstand berührt hatten. „FASS DAS NICHT AN!“ Grob packte er sie an dem Arm, mit dem sie sich noch an seinem Hals festklammerte und riss sie von seinem Rücken runter nach vorne, wo er sie einfach in den Kofferraum fallen ließ. Dennoch war es ihr irgendwie gelungen, seine Taschenuhr zu fassen zu kriegen, die sie nun fest in ihrer Hand hielt. Wie besessen war sein Blick einzig und allein auf dieses wertvolle Gut gerichtet, wodurch er überhaupt nicht mitbekam, wie geistesabwesend sie diesen Gegenstand ebenfalls anstarrte. „Gib die mir sofort zurück!“, forderte er wütend. Zielgerichtet raste seine Hand wortwörtlich auf ihre zu und umschloss diese samt Taschenuhr komplett. Genau in dieser Sekunde sprang der Deckel der Uhr zwischen ihren Händen ein kleines Stück auf, woraufhin sie beide von einem gleißenden, weißen Licht eingehüllt wurden, das ihn blendete. Für einige weitere Sekunden konnte er nichts anderes als eine schneeweiße, flimmernde Leinwand vor seinen Augen sehen. Irgendwann hallte der Klang einer tickenden Uhr in seinen Ohren wider und mitten in diesem grellen, seltsamen Lichtspiel hob sich die Silhouette eines Menschen hervor. Eingeschlossen von diesem reinen Weiß, wirkte dieser unglaublich heilig, obwohl noch nicht zu erkennen war, um wen es sich handelte. Auf magische Weise nahm die Intensität des Lichtes ab, als wollte es respektvoll der Person Platz machen, die dadurch immer besser zu erkennen war. Es war eine Frau. Eine Frau mit blonden, langen Haaren und warmherzigen, grünen Augen. Jemand, den Luan sehr gut kannte und zuletzt vor einer langen Zeit gesehen hatte, bis sie voneinander getrennt worden waren. „Hallo, Luan“, grüßte sie ihn liebevoll und streckte ihre Hand nach ihm aus. „Lange nicht gesehen.“ „Estera“, sagte er, wie in Trance. Auch er streckte seine Hand aus, um ihre zu ergreifen. Als sie sich gegenseitig berührten, sah er mit dem nächsten Wimpernschlag wieder die Frau vor sich, die er in der Nacht vor dem Alptraum gerettet hatte. Alles andere von dieser geheimnisvollen Erscheinung war spurlos verschwunden. Das Licht. Das Ticken einer Uhr. Und auch Estera. Alles war so wie vorher. Erschrocken löste sich sein Griff von der Taschenuhr und der Hand dieser Frau. In ihm brauten sich innerhalb kürzester Zeit die verschiedensten Gefühle zu einem Sturm zusammen, von dem er erschlagen zu werden drohte. Leicht schwankend wich er zurück und brach nach wenigen Metern erschöpft zusammen, weil die Entfernung zu seiner Taschenuhr ein kaltes Stechen in seinem Herzen verursachte. Hatte er sich doch nicht geirrt? War sie wirklich ein normaler Mensch? Mit ihr stimmte doch etwas nicht. Auch sie schaute ihn ziemlich entgeistert an und regte sich nicht, blieb einfach im Kofferraum liegen, ohne etwas zu sagen. Deshalb musste wohl oder übel er sich zuerst dazu überwinden, eine Frage zu stellen, von denen zu diesem Zeitpunkt beide gleichzeitig heimgesucht wurden. „Wer bist du?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)