The last sealed Second von Platan (Diarium Fortunae) ================================================================================ Kapitel 1: Dafür wird meine Zeit immer reichen ---------------------------------------------- Jede kleinste Unebenheit auf der Straße ließ das Auto wie bei einem halben Erdbeben erzittern, was die Reise nicht gerade angenehmer machte. Besonders nicht für Luan, dem ein schwerer Seufzer nach dem anderen entglitt, sobald dieser alte Schrotthaufen wieder wild zu schaukeln begann und dadurch im Inneren alles kräftig durchgeschüttelt wurde. Ein Wunder, dass der Wagen noch nicht auseinandergefallen war, aber lange dürfte es mit Sicherheit nicht mehr dauern, wenn sein Freund und Arbeitskollege weiterhin so einen furchtbaren Fahrstil an den Tag legte wie jetzt. In diesem Moment bereute Luan es bitter, kein eigenes Auto mit dem dazugehörigen Führerschein zu besitzen. „Ich hätte doch den Zug nehmen sollen“, brummte Luan irgendwann vor sich hin. „Stell dich mal nicht so an“, sagte der Fahrer, Ferris, daraufhin entspannt. „So schlecht fahre ich nun auch nicht.“ Beinahe hätte ein weiteres, heftiges Ruckeln des Wagens dafür gesorgt, dass Luan mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe gestoßen wäre, doch er konnte sich noch rechtzeitig zurücklehnen. Vorwurfsvoll blickte er sogleich seitlich zu Ferris rüber, der bewusst den Blickkontakt zu ihm mied und so tat, als würde er konzentriert auf die Straße schauen, was er sonst eher selten tat. Erstaunlich, dass ein Unfall bisher noch nicht vorgekommen war, bei diesem nachlässigen Fahrverhalten. „Da muss ich dir zustimmen, denn schlecht ist bei weitem nicht der passende Ausdruck für das, was du als Fahrkunst bezeichnest“, meinte Luan ernst. Mit einem amüsierten Lachen versuchte Ferris, diesen Angriff zu kontern. „Das einzige Problem, das wir hier haben, bist du. Du bist eben doch nur eine Memme und verträgst das Autofahren allgemein nicht, gib es ruhig zu.“ „Natürlich“, antwortete er und behielt seinen ernsten Tonfall bei, obwohl es eigentlich ironisch von ihm gemeint war. „Genau das ist unser Problem.“ Nun musste auch Ferris seufzen und erwiderte vorsichtig Luans finsteren Blick, in dem sich all die Missmut gegenüber dem Fahrer widerspiegelte. Trotzdem funkelte wie immer jugendliche Energie und Lebensfreude in den braunen Augen von Ferris, von dem man meinen könnte, er wäre noch weit von seiner Volljährigkeit entfernt. Dabei hatte er in Wahrheit ein paar Jahre mehr als Luan auf dem Konto, der zwanzig Jahre alt war– offiziell gesehen. Die schulterlangen, schwarzen Haare hatte Ferris sich hinten zu einem kleinen Zopf zusammengebunden, wie üblich. Leider war der blaue Schimmer gerade nicht zu sehen, was daran lag, dass es mitten in der Nacht war. Nur im Sonnenlicht hob sich das Blau gut zwischen dem Schwarz hervor, wodurch ihn eine etwas geheimnisvolle Aura umgab, die überhaupt nicht zu ihm passte. Er war mehr der Typ, in dem man problemlos lesen konnte wie in einem offenen Buch. „Kannst du dich nicht einfach mal locker machen?“ Im Gegensatz zu Luan, war Ferris trotz der Beschwerde ihm gegenüber ziemlich gut gelaunt. „Es ist immer die gleiche Leier mit dir, egal mit welchen Mitteln wir unterwegs sind. Sei froh, dass ich mich überhaupt dazu bereit erklärt habe zu fahren und dich sogar noch mitnehme.“ „Und es ist auch immer die gleiche Leier mit dir“, gab Luan mürrisch zurück und wandte den Kopf zurück Richtung Fenster, um nach draußen zu schauen, auch wenn er in der Dunkelheit nicht viel zu sehen bekam. „Jedes Mal ziehst du dich an, als wären wir auf dem Weg zu einer Party. Wir müssen arbeiten und haben nicht vor, Frauen aufzureißen oder Spaß zu haben, von dem du jetzt schon, aus einem mir nicht nachvollziehbaren Grund, viel zu viel hast.“ „Oh, jetzt kommst du mir wieder mit dem Thema?“, schmunzelte Ferris, der sich von seinem Kameraden kein bisschen die Stimmung vermiesen ließ. „Was gibt es daran auszusetzen, sich ein bisschen schicker anzuziehen und auf eine nette Begegnung zu hoffen, während man geschäftlich unterwegs ist?“ „Es passt weder zu noch in unserer Arbeit.“ „Ach? Ein schwarzer Mantel aber schon, der alles von meinem prächtigen Astralkörper verdecken würde?“, ging er weiter darauf ein und lachte erneut. „Nein, danke. Das ist mir zu klischeehaft. Außerdem reicht es, wenn du schon damit rumläufst und den Menschen damit einen Haufen falscher Interpretationsmöglichkeiten bietest. Ich jedenfalls will den Leuten gefallen und sie nicht abschrecken, wenn ich schon unter ihnen bin.“ Schützend verschränkte Luan die Arme vor der Brust und rückte in seinem Sitz noch näher ans Fenster. „Du weißt als einer der wenigen ganz genau, warum ich einen Mantel trage, der alles von meinem Körper verdecken muss.“ „Ja schon, aber schwarz muss er nicht unbedingt sein, oder?“ Angeregt sprach Ferris weiter, ohne zu merken, dass sein Beifahrer sich diesem Thema nicht gern stellte. „Es müssen nicht gleich grelle Farben sein, die verabscheue ich auch, nur etwas Lebhafteres als schwarz eben. Braun zum Beispiel würde dir viel besser stehen und sieht nicht gleich nach Emo aus.“ Abgeneigt zogen sich Luans Augenbrauen zusammen. „Du hast wirklich zu viel Spaß.“ „Nein, ich bin nur sorglos. Riesengroßer Unterschied“, beteuerte Ferris sofort, woraufhin er mit den Schultern zuckte. „Nur weil wir uns auf dem Weg in eine Mission befinden, heißt das nicht, dass ich so ein langes Gesicht ziehen muss wie du und nur weil jemand viel lächelt oder sogar lacht, bedeutet das auch nicht gleich automatisch, derjenige hätte viel Spaß.“ „Hm“, gab Luan nur knapp von sich. „Davon mal abgesehen ist es noch dazu gar nicht so leicht, in deiner Gegenwart Spaß zu haben. Also, so richtig“, brachte er seine Erklärung zu einem Ende, hing dann aber doch noch eine Kleinigkeit hinten dran und klang bei dieser Bemerkung leicht frustriert. „Was echt schade ist.“ „Hm.“ Luan gab sich nicht die Mühe, das Gespräch noch länger weiterzuführen und starrte längst abwesend aus dem Fenster, wie er es zuvor die ganze Zeit über getan hatte. Auch Ferris schien das Gespräch für beendet zu halten und kaum dass sie nicht mehr miteinander sprachen, verschlechterte sich sein Fahrstil auch schon schlagartig. Während sie geredet hatten, war er sogar teilweise recht annehmbar gefahren. Dieser Kerl konnte offensichtlich besser steuern, solange es etwas gab, was ihn davon ablenkte sich zu sehr auf die Straße konzentrieren zu können. Wie lange Luan dem wohl noch ausgesetzt sein würde? Sie befanden sich schon seit Stunden auf einer verlassenen Landstraße, die nicht enden wollte. Weit und breit gab es, bis auf die Scheinwerfer des Wagens, keine einzige Lichtquelle, nur tiefe, erdrückende Dunkelheit oder schemenhafte Andeutungen von hohen Bäumen in der Ferne. Hinzu kam, abgesehen vom Geräusch des Motors, die Stille, durch die zusätzlich eine Atmosphäre entstand, deren Beschaffenheit dieser kalten Herbstnacht gerecht wurde. Ein bisschen war Luan froh darüber, dass das Autoradio von dieser Karre vor etlichen Zeiten schon den Geist aufgegeben hatte, auch wenn Ferris mit Musik sicher etwas besser fahren würde. Ihr Zielort war noch weit entfernt, was Luans Laune in vielerlei Hinsicht tiefer in den Boden stampfte. Am schlimmsten war die Aussicht auf einen Ganzkörpermuskelkater, sollten sie überhaupt heil ankommen und Ferris den Wagen nicht vorher noch in eine Grube lenken. Zuzutrauen wäre es ihm. Ein flüchtiger Blick in sein eigenes, blasses Spiegelbild in der Fensterscheibe verriet ihm, dass er ziemlich schrecklich aussah. Müdigkeit quoll förmlich aus seinen graugrünen Augen hervor und sein dunkelbraunes, kurzes Haar war ziemlich zerzaust. Normalerweise legte er viel Wert darauf, dass es gepflegt aussah und ordentlich saß. Wer ohne jegliche Vorwarnung aus dem Schlaf gerissen und direkt zu einer neuen Mission gescheucht wurde, konnte aber wohl nur in etwa so aussehen. Nicht mal Vorbereitungszeit hatten sie ihm gelassen, so dass nur schnell die nötigsten Dinge eingesteckt werden konnten. Ferris sah wesentlich frischer und vor allem erholt aus. Soweit Luan sich entsinnen konnte, war dessen letzte Mission auch schon eine Weile her und er hatte eine lange Zeit am Stück im Hauptquartier verbracht, wo er sich der Aufgabe widmete, das weibliche Personal näher unter die Lupe zu nehmen. Dagegen hatte Luan erst vor kurzem mehrere Aufträge hintereinander erledigt und wenigstens ein bisschen Erholung gebrauchen können. Nur weil er von allen am längsten dabei war, diese Arbeit zu machen, war er nicht aus Stein. Allerdings wussten seine Arbeitgeber ganz genau, dass er niemals eine Mission ablehnte, egal wann und unter welchen Umständen oder wie klein sie auch war und das wurde andauernd ausgenutzt. Manchmal, aber nur manchmal, strapazierte das doch seine Nerven. Diesmal, so wurde es ihm angekündigt, sollte es sich jedoch angeblich um einen großen und vor allem gefährlichen Einsatz handeln. Aus diesem Grund war ihm auch Ferris als Partner an die Seite gestellt worden, was nicht unüblich war. Je nach Gewicht und Größe der Gefahr, wurden sie oft nur in Paaren losgeschickt. Inzwischen störte sich Luan nicht mehr daran, da er bereits genug zusammen mit Ferris erlebt und sich so an ihn gewöhnt hatte, obwohl der, seiner Meinung nach, einen anstrengenden Charakter besaß. Am liebsten arbeitete er allein. „Scheiße“, warf Ferris plötzlich in die Stille zwischen ihnen und schaltete das kleine Lämpchen im Auto ein, was nur spärlich den Innenraum erhellte. Luans Spiegelbild in der Fensterscheibe war nun wesentlich besser zu erkennen und er spürte auf einmal ein unangenehmes Kribbeln an seinem Hals, das sich langsam über seinen restlichen Körper ausbreitete. Automatisch griff er mit einer Hand nach dem hohen Kragen seines Mantels, zog diesen ein Stück zur Seite und legte eine Art schwarze Kruste auf der Haut frei, die er sonst stets vor neugierigen Blicken verborgen hielt. Diese dunkle Schicht umklammerte flammenförmig seinen Hals und zog sich über die Haut hinweg nach unten, wo sie wieder unter der Kleidung verschwand. Das Kribbeln wurde mit jeder Sekunde stärker. „Es ist einer in der Nähe“, flüsterte Luan angespannt. „Ausgerechnet jetzt.“ Kaum löste sich der Griff von seinem Mantelkragen, begann der Wagen erneut so heftig zu ruckeln, dass er diesmal doch mit der Stirn voraus gegen die Fensterscheibe knallte. Zähneknirschend strich er nur kurz mit der Hand über die Stelle und drehte sich wieder verärgert zu Ferris. Der suchte eifrig irgendetwas im Fußraum des Autos, während sie gerade vollkommen blind durch die Gegend fuhren. Über Schmerzen konnte Luan nicht klagen, schließlich hatte dieser Stoß bei ihm keinerlei Spuren hinterlassen, aber es ging ihm auch mehr ums Prinzip. „Darf man erfahren, wonach du so dringend suchen musst, dass du dafür nicht mal mehr den kläglichen Rest deiner Aufmerksamkeit auf die Straße richtest?!“ „Ich suche die Packung Kaugummi, die ich an der Tankstelle gekauft hatte“, erklärte Ferris und suchte unbeirrt weiter. Nebenbei versuchte er mit nur einer Hand grob zu steuern. „Sehr männlich“, kommentierte Luan in einem ruppigen Ton und schüttelte den Kopf. „Du hast also kein Problem damit uns für eine Packung Kaugummi umzubringen.“ Ferris ließ dieser Kommentar absolut kalt. „Guter Witz.“ „Tu mir den Gefallen und beeil dich wenigstens.“ „Glaubst du etwa, ich hänge zum Spaß hier unten rum, vom dem ich, laut dir, so viel habe?“ „Das kann man bei dir nie so genau wissen“, sagte Luan, womit er das Thema auch beendete. Genervt ließ er sich im Sitz zurücksinken und wandte den Blick nach vorne auf die Straße. Das Kribbeln auf seiner Haut war exakt mit dem Stoß gegen die Fensterscheibe augenblicklich verschwunden, doch das stimmte ihn unruhig. Entweder war das, was für dieses juckende Gefühl gesorgt hatte, nur wieder zu weit weg oder jemand anderes hatte sich schon darum gekümmert, beide Optionen schloss er jedoch gleich aus. Länger musste er aber auch nicht grübeln, denn er sollte die Antwort schneller bekommen, als er dachte. Vor ihnen tauchte wie aus dem Nichts eine Gestalt im Licht der Scheinwerfer auf. Luans Augen weiteten sich. Er hatte keine einzige Sekunde Zeit genauer hinzuschauen, ob es sich um ein Tier, einen Menschen oder gar etwas anderes handelte, da sie es frontal über den Haufen fahren würden, wenn er nicht auf der Stelle etwas unternahm. „Pass auf!“, schrie er lauthals. So weit wie es der Gurt zuließ, beugte er sich zum Steuer rüber und packte es, um mit dem Wagen auszuweichen. Sofort schwenkte das Auto scharf zur Seite und schleuderte eher unkontrolliert über die Straße, bis es nur wenige Sekunden später dann verdächtig stark mit der Vorderseite absackte. Danach endete dieses eher unüberlegte Ausweichmanöver auch schon, denn sie steckten scheinbar irgendwo fest, so dass sie nicht mehr vom Fleck kamen. Ferris, der mit so einer Aktion überhaupt nicht gerechnet und sich auch nicht angeschnallt hatte, musste sich bei diesem kurzen, wilden Ritt mehr als nur einmal im Fußraum den Kopf gestoßen haben. Zumindest klang er nicht mehr sonderlich entspannt, als er sich wieder aufrichtete und Luan ohne zu zögern zur Rede stellte. „Verdammte Geißel!“, fluchte er und lenkte seinen Blick gleich ratlos zu Luan. „Was sollte das denn werden?! Ich glaube, du bist hier derjenige, der uns umbringen will!“ Er sah Ferris nicht mal an, als er ihm antwortete und sich bereits losschnallte. „Guter Witz.“ Danach richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Tür, die er auftreten musste, da sie bekanntlich dazu neigte ständig zu klemmen und er jetzt keine Zeit damit vergeuden wollte, sie möglichst sanft zu öffnen. Das passte dem Besitzer natürlich gar nicht. „Hey, du hast echt den Verstand verloren, was?!“, keifte er Luan an. „Sie mag nur noch ein Haufen Schrott sein, aber so behandelt man eine Lady nicht!“ Schweigend stieg er zügig aus dem Wagen aus, was bei Ferris für noch mehr Unverständnis sorgte. „Hallo?! Kannst du mir nicht wenigstens mal sagen, wo du hinwillst?! Luan!“ Sie waren durch dieses Ausweichmanöver von der Straße abgekommen und in eine Grube hineingefahren, die sich direkt am Rand befand, wie er beim aussteigen feststellen musste. Zielgerichtet bahnte er sich seinen Weg zurück auf die Landstraße, während Ferris in seinem Rücken pausenlos nach ihm rief, was er nicht weiter beachtete. Als Luan den ersten Schritt auf den harten Asphalt setzte, glitt seine Hand in eine Innentasche seines Mantels, wo er etwas hervorholte: Eine runde Taschenuhr mit Sprungdeckel, der noch geschlossen war. Eine schwarze, raue Schicht hatte sich über die silberne Verkleidung gelegt, mit der sie einst vollständig überzogen gewesen war. Innerhalb eines einzigen Wimpernschlages veränderte sich sein Sichtfeld, kaum dass er diesen Gegenstand berührt hatte. Über das undurchdringliche Schwarz der Nacht legte sich eine neue, sehr feine Ebene, die farblich ein ruhiges Hellblau bildete, dank dem er nun so gut sehen konnte wie am Tag. Selbst wenn das menschliche Auge sich nach einer Weile an die Dunkelheit zu gewöhnen vermochte, würde es bei weitem nicht den Radius ausschöpfen können, der ihm jetzt gegeben war. Somit war es ihm auch möglich mühelos die Gestalt auszumachen, die im Schutz der dunklen Nacht ohne Lichtquellen überhaupt nicht zu sehen war, als wäre sie gar nicht da. Nur wenige Meter entfernt stand sie noch regungslos mitten auf der Straße herum. Luan drosselte das Tempo und legte nun wesentlich langsamer die letzten paar Schritte zu der Gestalt bis zu dem Punkt zurück, an dem er gezwungen gewesen war das Steuer zu übernehmen. Unter seinen Füßen wurden jedes Mal Wellen ausgelöst, wenn er den Boden berührte, ähnlich wie auf einer Wasseroberfläche. Gleichmäßig weiteten sie sich zu großen Kreisen aus, bis sie wieder eins mit dem Hellblau wurden, das diese Ebene auskleidete. Mit etwas Abstand blieb er schließlich vor einer jungen Frau stehen, der sie diesen ungewollten Zwischenstopp zu verdanken hatten. In seiner Hand ruhte nach wie vor die Taschenuhr, die er fest umklammert hielt. Das Kribbeln auf seiner Haut war in ihrer Nähe sehr stark und aufdringlich, aber selbst ohne dieses Vorzeichen hätte er gewusst, dass es sich bei ihr um keinen Menschen handelte. Nicht nur um einen Menschen. Ein farblich aggressiver, rötlicher Rauch trat aus dem Inneren ihres Körpers hervor. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten ins Leere, bemerkten ihn nicht einmal. Ziellos stand sie einfach nur da, fast wie versteinert. Eine Puppe, deren Willen nicht mehr vorhanden war. „Bist du eigentlich taub oder wieso reagiert du nicht, wenn man dich ruft?“, wollte Ferris wissen, der ihm gefolgt war und neben ihm stehen blieb. In seiner Hand hielt auch er eine Taschenuhr, die noch komplett versilbert war. Den Deckel zierte als Gravur ein sichelförmiger Mond mit Verzierungen. Empört stemmte er eine Hand in die Hüfte, weil Luan ihm nicht auf Anhieb eine Antwort gab. „Bist du etwa so beleidigt wegen der Sache mit dem Mantel vorhin, dass du mich jetzt wie Luft behandelst oder was ist los?“ Wortlos nickte Luan Richtung Frau, um darauf aufmerksam zu machen, dass sie da war. Nur kurz schwenkte Ferris seinen Blick zu ihr und zeigte sich nicht sonderlich interessiert, reagierte sogar vielmehr ziemlich empört deswegen. „Ja, ein Nachtmahr, und? Willst du damit sagen, du hast meinen Wagen wegen eines lächerlichen Nachtmahrs in eine Grube gelenkt?“ „Du hättest sie fast überfahren.“ „Geht das schon wieder los?“, seufzte Ferris schwer und ließ den Kopf hängen. „Inzwischen müsste man dir diesbezüglich doch schon oft genug eine Predigt gehalten haben. Wir kümmern uns nicht um kleine Fische, ganz besonders dann nicht, wenn man eine Mission im Nacken sitzen hat.“ „Der Nachtmahr mag ein kleiner Fisch sein, aber er lässt die Frau unter einem solch schlimmen Traum leiden, dass sie bis hierher schlafgewandelt ist“, erwiderte Luan, zwar in einem ruhigen Ton, aber mit viel Druck und Verständnislosigkeit über das Verhalten von Ferris, auf dem er diese Stimmungen erbarmungslos niederprasseln ließ. „Und das ist dir egal? Hättest du sie lieber überfahren?“ „Natürlich nicht!“, verteidigte er sich und versuchte, die Situation zu beruhigen, bevor sie noch zu eisig zwischen ihnen werden konnte. „Ich bin froh, dass ich sie nicht überfahren habe. Aber es ist halt so, dass wir uns nicht um jeden dahergelaufenen Nachtmahr kümmern sollen, was ich auch nachvollziehen kann. Von denen gibt es so viele, dass uns dadurch die Zeit verloren gehen würde, uns um schwerwiegende Fälle zu kümmern, die großen Schaden an Massen und der Welt selbst anrichten.“ Nach diesen Worten ließ Luan für einen Moment von der Frau ab, damit er Ferris durch seinen Blick mit einem noch größeren Pfeil aus Unverständnis durchbohren konnte. Seine Gesichtszüge waren verhärtet und sein Körper sichtlich angespannt, was seinen Arbeitskollegen dazu veranlasste, ein Stück vor ihm zurückweichen. Ihm war anzusehen, dass er sich Mühe gab, ab hier besser den Mund zu halten, weil er sich seinen Partner nicht zum Feind machen wollte. Anschließend ließ Luan den Deckel seiner Taschenuhr aufspringen, woraufhin ein weißes, grelles Licht wie Feuer aus dem Inneren hervortrat und nur kurze Zeit später in tausende kleine Stücke zersplitterte. Eine Handfeuerwaffe kam aus diesem Licht zum Vorschein, die er rasch mit der freien Hand ergriff und den Lauf direkt auf die Frau richtete. Unverzüglich feuerte er einen Schuss ab, der geradewegs in ihre Stirn traf, aber ohne ihr eine sichtbare, körperliche Verletzung zuzufügen. Zeitgleich war ein schriller Schmerzensschrei zu hören, der durch die Umgebung hallte. Der Körper der jungen Frau verkrampfte sich, als der rötliche Rauch von einer Sekunde zur nächsten in Mengen aus ihrem Innersten verbannt wurde und nach draußen an die Oberfläche floh. „Um den kümmerst du dich aber allein, wenn der sich materialisiert hat“, warf Ferris zwischendrin ein. „Ich hab damit nichts zu tun, meine Verantwortung liegt woanders.“ „Nach meinem Wissen sind wir beide, auch du, Traumbrecher“, entgegnete Luan, ohne den Blick davon abzuwenden, wie sich der Rauch über ihnen am Himmel sammelte. „Wir jagen und vernichten Alpträume, Mahre, dazu zählt auch diese Form und demnach solltest du dich durchaus verantwortlich fühlen.“ Ferris musste wieder lachen, bloß trug es diesmal einen recht traurigen Charakter in sich. Dann hob er die Hand, in der er seine Taschenuhr hielt, um sie gut sichtbar hin und her zu schwenken. Obwohl Luan gar nicht hinsah, konnte er es sich denken, da jetzt ein Spruch folgen sollte, den er schon oft von vielen Traumbrechern zu hören bekommen hatte. „Tja, meiner Verantwortung sind leider zeitliche Grenzen gesetzt, die mich dazu bewegen, meine Kräfte nur für wichtige Fälle zu benutzen“, rechtfertigte Ferris sich. „Und auch wenn es dir nicht passt: Dir übrigens auch. Dem kannst du dich nicht ewig entziehen.“ Luan senkte den Kopf und konnte anhand der Wellenbewegungen auf dem Boden erkennen, dass Ferris wohl zu seinem Auto zurückging. Nachdenklich blickte er auf seine Taschenuhr in der einen Hand, deren Sprungdeckel noch immer weit geöffnet war: Die Zeiger bewegten sich nicht, die Zeit stand still. Danach sah er auf die Waffe in seiner anderen Hand und der Griff um diese verstärkte sich. Inzwischen hatte sich über ihm ein riesiger Schatten gebildet, dessen Klagelaute kaum zu überhören waren. Nicht mehr lange und der Nachtmahr müsste die Frau vollständig verlassen haben, so dass sie wieder einen friedlichen Schlaf finden konnte. „Egal, welche Sorte von Alpträumen, ich werde jeden einzelnen von ihnen jagen und vernichten“, sagte Luan für sich selbst. Entschlossenheit flackerte in seinen müden Augen. „Dafür wird meine Zeit immer reichen.“ Als der Schatten sich rachsüchtig auf ihn niederstürzte, sprang er ihm entgegen und eröffnete das Feuer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)