Persona: Shadows of Mirror von ShioChan (Kagami no Kage) ================================================================================ Kapitel 72: LXXII - Der geheimnisvolle Tempel --------------------------------------------- Samstag, 30.August 2015 Seufzend schlug Mirâ das vor sich liegende Buch zu und richtete ihren Blick dann auf das Fenster, während sie den Kopf auf ihrem rechten Arm abstützte. Kleine Rinnsale hatten sich an der glatten Oberfläche gebildet und sammelten nach und nach weitere Tropfen ein, die daran hafteten, während der Regen leise und stetig gegen die Scheibe und das Dach klopfte. In der Nacht war ein starkes Unwetter über die kleine Stadt gezogen und hatte Gewitter und Sturm mit sich gebracht. Die Gewitter waren mittlerweile weitergezogen, der Regen jedoch war geblieben und verwandelte die Landschaft in tristes Grau. Man hatte das Gefühl, als würde es an diesem Tag nicht mehr so richtig hell werden. Und Besserung war laut Wetterbericht erst am nächsten Tag zu erwarten. Ein erneutes Seufzen entwich der jungen Frau und sie schaute wieder auf das Buch mit dem blau-weißen Einband vor sich, welches mit einem Schmetterling verziert war. Nach langer Zeit hatte sie das schlechte Wetter genutzt, um endlich einmal weiterzulesen. Nicht ganz uneigennützig, denn sie hatte sich erhofft noch ein paar Informationen zu erhalten, um ihre aktuelle Situation weiter voranzutreiben. Doch leider vergebens. Zwar hatte sie das Buch nun beendet, aber viel mehr hatte sie nicht erfahren. Jedenfalls nichts, was ihr half. Amano-san war hauptsächlich noch etwas tiefer in die Bedeutung der Shadows und Personas eingegangen, aber das brachte Mirâ nicht weiter. Das letzte Kapitel war noch einmal etwas interessanter gewesen, da sich die Autorin darin mit dem Velvet Room beschäftigt hatte. Interessanterweise hatte die Oberschülerin darin erfahren, dass sich selbst dieser Raum seit der Zeit, als Amano-san eine Userin war, verändert hatte. Zu deren Zeit konnten alle User den Raum gleichermaßen betreten und nutzen, sowie mit Igor sprechen, was sich stark von dem jetzigen Velvet Room unterschied, den Mirâ kannte. Zwar hatte die Autorin keine Erklärung dafür, jedoch hatte sie beschrieben, dass seit einigen Jahren nur noch die Wild Card in der Lage war diesen Raum zu betreten. Zudem spiegelte der Raum nun das Herz der jeweiligen Wild Card wider. Diese Aussage hatte die junge Frau ins Grübeln gebracht. Ihr Velvet Room bestand aus vielen aneinandergereihten Spiegeln. Zudem erinnerte sie sich, dass sie sich am Anfang nicht darin erkennen konnte. Doch wieso? Was hatten Spiegel mit ihrem Herzen zu tun? Egal wie oft sie darüber nachdachte, sie fand keine Antwort. Jedoch war ihr aufgefallen, dass alles an ihrer Situation irgendetwas mit den reflektierenden Glasflächen zu tun hatte. Die Welt in die sie eintauchten, war eine gespiegelte Version der kleinen Stadt, in der sie jetzt lebte. Betreten und verlassen konnten sie die Spiegelwelt auch nur durch einen riesigen Spiegel. Außerdem wurde sie über einen solchen von einem schwarzen Wesen angegriffen, als sie neu nach Kagaminomachi gezogen waren. So waren wahrscheinlich auch die ganzen Opfer dieser verqueren Welt dorthin gelangt. Jedenfalls konnte sich Mirâ nichts anderes vorstellen, immerhin schienen die Spiegel das Tor zu sein. Zu guter Letzt fiel ihr noch Mika ein, mit welcher sie über ihren Standspiegel kommunizieren konnte, die diese merkwürde Welt jedoch nicht verlassen konnte. Ihre Gedanken blieben an der Blauhaarigen hängen und sie erinnerte sich an die Situation in Mikadtzuki-cho, wo sie auf den Geist eines kleinen Mädchens getroffen waren. Die kleine hieß ebenfalls Mika und sah ihrer kleinen Freundin sehr ähnlich. Auch wenn vieles dafürsprach, so wollte Mirâ nicht so wirklich daran glauben, dass es sich dabei auch um die Blauhaarige handelte. Wieso wusste sie jedoch selber nicht. Ob es der Gedanke war, dass es bedeuten würde, dass Mika bereits tot war und sie nur mit deren Geist sprach oder sie sich einfach nur wünschte, dass es nicht so war, wusste sie nicht. Trotzdem war ihr bewusst, dass die Arcana des kleinen Mädchens wie die Faust aufs Auge zu Ersterem passen würde. Sie blickte in ihren Spiegel, der aber nur die Einrichtung des Zimmers reflektierte. Wie gerne sie mit der Kleinen darüber gesprochen hätte, auch wenn sie etwas Angst vor dem Thema hatte, immerhin wusste sie nicht, wie Mika darauf reagieren würde. Aber auf kurz oder lang würde sie an dem Thema sowieso nicht vorbeikommen, sofern sich ihre Freundin demnächst noch einmal blicken ließ. Ein plötzlicher Windstoß ließ den Regen stark gegen ihr Fenster trommeln, woraufhin sie ihren Blick wieder auf dieses richtete. Noch einen kurzen Moment klatschte das Wasser gegen die Glasscheiben, bevor der Wind wieder etwas abflaute und dadurch auch das Trommeln nachließ. Wieder seufzte Mirâ, während sie aufstand und sich dann auf ihren Futon fallen ließ. Daraufhin entstand ein kleiner Luftzug, welcher einen Stapel von Papier aufwirbelte, den Mirâ vor ihrem Ausflug in die Ecke gelegt hatte, um ihn später auszusortieren. Dieser verteilte sich nun auf dem Fußboden. Zunge schnalzend setzte sich die Oberschülerin wieder auf und verfluchte sich innerlich dafür, das ganze Papier nicht schon längst entsorgt zu haben. Genervt krabbelte sie zu dem verteilten Müll und wollte gerade nach einem Schriftstück greifen, als ihr ein Flyer auffiel, welcher neben ihrer sich aufstützenden Hand lag. Sie setzte sich zurück und griff nach dem Zettel, auf welchem in großen Schriftzeichen „Tsukinoyo“ stand. Es handelte sich dabei um einen Werbeflyer, welche in der Stadt verteilt wurden und den sie schon eine ganze Weile im Zimmer liegen hatte. Allerdings war es nicht die Aufschrift, die ihre Aufmerksamkeit erweckte, sondern das Design des Zettels. Auf diesem erkannte Mirâ neben der Überschrift die Umrisse eines Tempels, die in den Hintergrund gedruckt waren und mit diesem zu verschmelzen schienen. Gebannt starrte sie auf die Abbildung, während sich ganz langsam in ihr ein ungutes Gefühl breit machte. Sie erinnerte sich an ihre Visionen während des Festes und dass sie das erste Mal auftraten, als sie am Einkaufszentrum waren, wo einst ein alter Tempel stand. Der Tsukiyama Tempel! Wie von der Tarantel gestochen erhob sich die Oberschülerin und ließ dabei den Flyer fallen, bevor sie an ihren Schreibtisch zurückstürmte und den Laptop aufklappte, welcher bisher stumm auf der Arbeitsplatte lag. Doch noch bevor sie die Power-Taste bedienen konnte stoppte sie plötzlich, denn das beklemmende Gefühl wurde plötzlich wieder stärker. Zwar war es noch nicht so stark, wie bei ihren Visionen, jedoch reicht es aus, um sie an ihrem weiteren Handeln zu hindern. Langsam zog sie ihre Hand wieder zurück, welche noch immer über der Starttaste des kleinen Computers geschwebt hatte und legte sie sich an die Brust. Was sollte sie machen? Sie war sich sicher, dass sie endlich einen Anhaltspunkt gefunden hatte, der sie weiterbrachte und doch zögerte sie, weil sie Angst davor hatte wieder so einen Zusammenbruch zu erleiden, wie auf dem Tsukinoyo und während ihrem Ausflug. Was wenn ihr das bei ihrer Recherche wieder passierte? Dieses Mal war sie alleine und es war niemand bei ihr, der sie wieder zurückholen konnte. Sie dachte nach und blieb plötzlich an einem Gedanken hängen. Kurz biss sie sich auf die Unterlippe, bevor sich ihr Mund zu einem Strich formte und sie kurz darauf plötzlich nach ihrem Handy griff. Am frühen Nachmittag regnete es immer noch in Strömen. An die Wand hinter sich gelehnt hockte Hiroshi unter dem Vordach der Stadtbibliothek und starrte auf die grauen Wolken, welche sich über den Bergen, die die Stadt umgaben, sammelten und weiteren Regen brachten. Seinen Gedanken nachhängend dachte er an die Situation, welche ihn an diesen Ort geführt hatte und die alles andere als angenehm für ihn war. Noch vor etwas mehr als einer Stunde hatte er gemütlich auf seiner Couch vor dem Fernseher gesessen und eines seiner Videogames gespielt, bis plötzlich sein Handy geklingelt hatte. Genervt hatte er sein Spiel pausiert, nach seinem Smartphone gegriffen und abgenommen, weil er dachte, dass es sich wieder um Shuya handelte, der sich verlaufen hatte. Abwegig war dies keineswegs, immerhin war er bereits am Vortag für seinen besten Kumpel unterwegs gewesen, um diesen zu „retten“, weil er wieder nicht wusste, wo er überhaupt war. So hatte er nicht einmal mehr auf seinen Display geschaut, um zu überprüfen wer anrief, und nur genervt gefragt, wo sich sein vermeintlicher Kumpel nun schon wieder verlaufen hatte. Umso erstaunter war er, als sich am anderen Ende der Leitung nicht Gedachter meldete, sondern plötzlich Mirâs verunsichere Stimme erklang. Erschrocken wäre ihm beinahe das Telefon aus der Hand gefallen, als diese ihn fragte ob sie ungelegen anrufen würde, woraufhin er dann doch einmal einen kurzen Blick auf sein Display riskiert hatte, um sicherzugehen, dass es sich wirklich um die junge Frau handelte. Jedoch machte es die Situation für ihn nicht besser, als er feststellte, dass es wirklich Mirâs Nummer war, die auf seinem Handy angezeigt wurde. Peinlich berührt war er bereits dabei sich das nächste Mäuseloch zu suchen, um sich darin zu verkriechen. Wieso hatte er nicht vorher nochmal nachgeschaut? So durcheinander wie der junge Mann in diesem Moment war, vergaß er vollkommen auf die Frage der Violetthaarigen zu antworten. Erst als er erneut leise ihre Stimme vernahm, die nachfragte, ob alles in Ordnung sei, erwachte er aus seiner Starre. Dieses Mal schneller reagierend, hatte er sich sofort bei der Oberschülerin entschuldigt und ihr erklärt, dass das nicht an sie gerichtet war und er sie eigentlich nicht anschnauzen wollte. Hiroshi seufzte und ließ seinen Kopf sinken, während er sich den Nacken rieb. Wenn er nun an diese Situation zurückdachte, war es sogar noch peinlicher. Trotzdem war er nun hier und wartete auf eben jenes Mädchen, welches ihn so aus dem Konzept brachte. Dieses hatte ihn nach dieser peinlichen Szene um einen ungewöhnlichen Gefallen gebeten, durch welchen er nun hier war. Er hob leicht den Blick und starrte auf das Gras, welches vor der Bibliothek wuchs und vom Regen durchnässt war, während er an ihre Worte dachte, die ziemlich ernst klangen. Sie hatte ihn gebeten sich mit ihr an der Stadtbibliothek zu treffen. Wofür genau wollte sie ihm jedoch erst vor Ort erklären und nicht am Telefon. Er fragte sich, worum es wohl gehen würde, doch musste sich noch gedulden. Die Hoffnung, dass Mirâ einfach nur Zeit mit ihm verbringen wollte, hatte er im Keim wieder erstickt. Viel mehr kam ihm der Gedanke, dass die junge Frau vielleicht etwas herausgefunden hatte, was sie nachprüfen wollte. Immerhin legte das einen Besuch der Bibliothek nahe. Jedoch fragte er sich, wieso dann gerade er ihr helfen sollte. Mirâ hätte die Chance nutzen und Masaru um seine Hilfe bitten können. Immerhin wäre das die Gelegenheit für sie gewesen, mit dem Älteren alleine zu sein. „Oh man…“, erneut rieb er sich im Nacken und senkte den Blick, um so seine Gedanken wieder zu verdrängen. Immerhin sollte er froh sein, dass er etwas Zeit mit der jungen Frau verbringen konnte, wenn auch nur als Freunde. Er war sich sicher, würde ihn Akane so sehen, sie hätte ihm sofort eine gescheuert und mit ihm geschimpft. Doch was sollte er machen? Solange Mirâ glücklich werden würde, machte es ihm nichts aus. Egal mit wem sie am Ende zusammenkam. Jedenfalls redete er sich das immer noch ein und verdrängte dabei wieder einmal seine aufkeimende Eifersucht. Das Geräusch platschender Schritte auf dem nassen Asphalt ließ ihn aufschauen, woraufhin er Mirâ erblickte, die, geschützt von ihrem roten Regenschirm, eiligen Schrittes auf ihn zugelaufen kam. Nicht einmal eine Minute später stand sie außer Atem neben ihm. „Entschuldige bitte die Verspätung. Ich musste Junko noch zu einer Freundin begleiten und hatte vergessen dir zu schreiben.“, entschuldigte sie sich anschließend. Beschwichtigend hob der Blonde die Hand: „Schon okay. Außerdem bin ich derjenige, der sich für die Aktion von vorhin bei dir entschuldigen muss.“ Überrascht sah die junge Frau ihn an, doch schüttelte dann den Kopf und begann damit ihren Regenschirm zusammenzuklappen und auszuschütteln: „Nein, schon gut. Ich war nur etwas erschrocken, aber du hast es ja nicht mit Absicht gemacht. Das kann passieren.“ Sie schloss nun endgültig ihren Schirm und lächelte den jungen Mann breit an, woraufhin ihm leichte Röte ins Gesicht stieg. Schnell wandte er den Blick ab und kratzte sich im Nacken: „Trotzdem. Ich hätte vorher mal schauen sollen, wer anruft. Aber nachdem mich Shuya gestern wegen seiner schlechten Orientierung quer durch die Stadt gejagt hat, dachte ich, er hat sich schon wieder verlaufen.“ Die Violetthaarige kicherte: „Ihr seid wirklich gute Freunde.“ „Naja…“, so wirklich wusste der junge Mann nichts drauf zu entgegnen, weshalb er das Thema wechselte und zum eigentlichen Punkt kam, „Aber sag, worum geht’s eigentlich? Du klangst am Telefon so ernst. Scheint also wichtig zu sein, wenn das heute noch erledigt werden muss.“ „Ja also…“, begann die junge Frau, „Ich wollte etwas über den Tsukiyama Tempel in Erfahrung bringen.“ „Aha? Und wieso?“, hakte der Blonde nach. Mirâ schwieg kurz und überlegte, wie sie das erklären sollte. Immerhin hatte sie selber keine wirkliche Erklärung dafür. Eigentlich waren es nur diese Visionen, die sie das denken ließen. Diese wollte sie aber unter keinen Umständen erwähnen. Sie wollte ihren Freunden und insbesondere ihm keine Sorgen machen. Nicht solange sie nicht wusste, wieso sie diese Bilder sah. Auch wenn sie dafür ihre Freunde anlügen musste. Sie wusste, dass es falsch war, trotzdem hatte sie ihre Entscheidung diesbezüglich getroffen und würde diese vorerst auch nicht ändern. „Ich habe das Gefühl, dass dieser Tempel uns weiterhelfen könnte in Bezug auf die Spiegelwelt. Frag mich bitte nicht wieso. Ich kann es selber nicht erklären. Es ist nur so ein Gefühl.“, versuchte sie um den heißen Brei herumzureden. Hiroshi zog die Augenbraue hoch und Mirâ hatte das Gefühl, als würde ihr Kumpel sie durchschauen und wissen, dass sie nicht ganz die Wahrheit sagte. Jedoch sprach er das Thema nicht weiter an. Stattdessen legte er den Kopf schief und sah sie anschließend grinsend an: „Okay. Aber sag, wäre Masaru da nicht besser geeignet gewesen als ich? Versteh mich nicht falsch. Ich freue mich, dass du mich gefragt hast und helfe dir auch wirklich gern, aber das wäre doch deine Chance gewesen. Außerdem weiß er sicher mehr über den Tempel als ich. Auch seine Eltern könnten dir sicher mehr Informationen geben.“ Innerhalb eines Wimpernschlags hatte sich Mirâs Gesicht in eine überreife Tomate verwandelt, sodass es ihre Augen zu verschlucken drohte, während sie gleichzeitig einen kleinen Stich in ihrem Herzen spürte. Schnell wandte sie den Blick ab und suchte nach einer plausiblen Ausrede, denn die Wahrheit konnte sie dem jungen Mann unmöglich sagen. Denn eigentlich hatte sie gerade ihn um diesen Gefallen gebeten, weil er bisher derjenige war, der sie aus ihrer Schockstarre zurückholen konnte. Nicht einmal Masarus Stimme war in Mikadzuki-chô zu ihr durchgedrungen, als sie wieder in einer dieser Visionen gefangen war. Nur Hiroshi war dazu in der Lage gewesen. Wieso das so war wusste sie nicht, aber es wiegte sie in Sicherheit zu wissen, dass er in ihrer Nähe war, wenn sie recherchierten. Doch das konnte sie ihm nicht sagen. Das würde er vollkommen falsch verstehen. Außerdem war es ihr zu peinlich das offen auszusprechen. Die Oberschülerin kaute auf ihrer Unterlippe herum, bis ihr eine doch eher einfallslose Ausrede einfiel: „Naja… ich weiß nicht genau wieso, aber du warst mir zu Erst in den Sinn gekommen. Vielleicht weil wir uns nach dem Konzert das erste Mal über diesen Tempel unterhalten hatten.“ Kurz herrschte Stille, in welcher die junge Frau deutlich ihren Herzschlag hören konnte, bevor Hiroshi verstehend nickte: „So ist das. Ich verstehe. Na dann lass uns reingehen und mal schauen, was wir finden.“ Er zwinkerte der Violetthaarigen zu, welche lächelnd nickte und dann gemeinsam mit ihm die Bibliothek betrat: „Vielen Dank für deine Hilfe, Hiroshi-kun.“ Ganz im Gegensatz zu der durch den Regen aufkommenden schwülwarmen Luft draußen, war es im inneren angenehm klimatisiert. Sofort stieg den beiden Oberschülern der Geruch von bedrucktem Papier in die Nase, der so typisch für eine große Ansammlung von Büchern war. Trotz der vielen vollgestopften Regale wirkte das riesige Rondell nicht beengend oder überfüllt, da die großen Fenster, welche das Gebäude fast vollständig umgaben, sehr viel Licht hineinließen. In den tiefen Fensterbrettern lagen bequeme große Kissen, die zum Hinsetzen und Verweilen einluden, während in der Mitte des Raumes eine Fläche ohne Regale war. In dieser standen mehrere Tische, die teilweise sogar abgetrennt waren, sodass man auch in Ruhe daran lernen oder lesen konnte. Umrundet wurde diese freie Fläche von zwei Treppen, die rechts und links hinauf auf eine Art riesige Terrasse führten, auf welcher weitere Bücherregale standen. Als Mirâ ihren Blick nach links richtete erkannte sie einen langen Schalter, an welchem drei Mitarbeiter saßen und über denen jeweils ein Schild hing. „Abgabe“, „Ausleihen“ und „Info“ standen auf diesen und wiesen darauf hin, wofür sie vorgesehen waren. Hiroshi führte die junge Frau tiefer in den Saal hinein, während diese sich noch immer umsah. Obwohl die Bibliothek an diesem Tag sehr gut besucht war, herrschte hier eine angenehme Stille, welche maximal durch leises Husten gestört wurde. Schließlich ließen sie sich an einem Tich in einer ungestörten Ecke nieder. „Also… wo fangen wir an?“, fragte Hiroshi leise. Überrascht sah Mirâ den Blonden an und schwieg, während sich ihre Lippen zu einem Strich formten. Darüber hatte sie sich gar keine Gedanken gemacht. Sich selbst dafür scheltend, dass sie den jungen Mann unvorbereitet hierher bestellt hatte, wandte sie leicht den Blick ab. „Tja…“, begann sie schließlich, „Ehrlich gesagt bin ich vollkommen planlos hergekommen.“ Ein überraschter Blick Hiroshis traf sie, woraufhin sie ihr Gesicht in ihren Händen vergrub. Das war ihr doch ziemlich peinlich. Der Blonde jedoch lachte plötzlich leise, woraufhin sie wieder vorsichtig mit gerötetem Gesicht aufschaute. „Ach je. Dabei klang es am Telefon so wichtig.“, meinte er anschließend und sah sich dann um. Kurz darauf klopfte er der jungen Frau vorsichtig auf die Schulter und stand auf: „Ich hab eine Idee. Warte kurz.“ Die Oberschülerin folgte ihm mit ihrem Blick, während er zu dem langen Tresen hinüberging und dort mit einer jungen Frau sprach. Erleichtert atmete sie auf, als ihr ein riesiger Stein vom Herzen fiel. Sie hatte schon Angst, dass ihr Kumpel sauer auf sie sein würde, weil sie ihn so aus heiterem Himmel bei diesem Wetter herbestellt hatte und dann selber unvorbereitet kam. Umso erleichterter war sie darüber, dass der junge Mann es so locker aufnahm. Sie senkte den Blick und starrte auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Wenn sie so darüber nachdachte, dann hatte der junge Mann bisher immer für sie Verständnis gezeigt und war nie wütend geworden, selbst wenn ihr mal Fehler unterlaufen waren. Bei der Sache mit Kyo hatte er sie sogar gegenüber Masaru und Kuraiko verteidigt und versucht die Situation zu entschärfen. Und in Mikadzuki-chô hatte er sich mit dem älteren Schüler angelegt, als dieser böse darüber war, dass sie ihre Zusammenbrüche verheimlichte. Eigentlich war der Blonde bisher immer für sie da gewesen, egal in welcher Situation und das, obwohl er ja selber Probleme zuhause hatte. Langsam legte die Violetthaarige ihre Hand an ihre Brust, als sie merkte wie ihr Herz begann schneller zu schlagen, je länger sie darüber nachdachte. Doch noch bevor sie sich in diesen Gedanken weiter verlieren konnte, schrak sie auf, als neben ihr ein Schatten erschien und kurz darauf mehrere Bücher auf den Tisch gelegt wurden. Etwas erschrocken blickte sie auf und in die blauen Augen von Hiroshi, welcher sie überrascht ansah. „Hab ich dich erschreckt? Entschuldige. Das war nicht meine Absicht.“, lächelte er anschließend lieb und unterbrach somit den Blickkontakt zwischen ihnen. Einen Moment später saß er wieder neben der jungen Frau, welche verwundert über die Bücher blickte, die er kurz zuvor vor sie gelegt hatte. Vorsichtig nahm ihr Kumpel den Stapel auseinander und verteilte die Bücher auf dem Tisch, während er erklärte worum es sich bei diesen handelte. Das erste Buch, ein ziemlich dicker Wälzer, war die aktuelle Stadtchronik, in welcher die Geschichte Kagaminomachis niedergeschrieben war. Das zweite Buch war wesentlich dünner und auf dem Einband stand „Die Tempel Kagaminomachis“. Hiroshi erklärte, dass in diesem Buch wohl alle Tempel der Stadt eingetragen seien, auch jene, die es schon lange nicht mehr gab. Mirâ erinnerte dieses Buch eher an einen Stadtführer, aber sie sagte nichts dazu, sondern blickte auf das letzte Buch, welches von der Stärke her irgendwo zwischen dem Ersten und dem Zweiten lag. „Das ist ein Buch über die alten ansässigen Familien der Stadt, zu denen wohl auch die Tsukiyamas gehören.“, sagte der Blonde, „Ich hab an der Info direkt nach dem Tempel gefragt. Die junge Frau dort schien ziemlich erstaunt darüber, dass ich gerade etwas über diesen Tempel wissen wollte. Aber sie hat mir trotzdem freundlicherweise erzählt in welchen Büchern etwas darüber stehen könnte. Und wo ich diese finde.“ „Cool.“, war das einzige, was der Violetthaarigen dazu einfiel. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie Hiroshi die Bücher herausgesucht hatte. Wieder einmal war sie so sehr in Gedanken versunken gewesen, dass ihr das Wesentlichste gar nicht aufgefallen war. Schnell schüttelte sie leicht den Kopf, als sie bemerkte, dass sie wieder drohte abzudriften. Als sie den irritierten Blick Hiroshis bemerkte, lächelte sie jedoch nur und griff sich das Buch mit der Auflistung der Tempel der Stadt. „Dann fange ich hiermit an.“, sagte sie und öffnete das Buch. Auch das Gesicht des Blonden umspielte nun ein Lächeln, während er sich die dicke Stadtchronik schnappte und sie aufschlug. Daraufhin wurde es still zwischen den beiden, während jeder in den vor sich liegenden Text vertieft war und nach Hinweisen suchte. Das Buch, welches sich Mirâ gegriffen hatte, entpuppte sich letzten Endes wirklich mehr als Reiseführer, anstatt einer informativen Quelle. Zwar stand der Tsukiyama Tempel noch darin, jedoch nichts Wichtiges darüber. Jedenfalls nichts, was Mirâ weiterbrachte. Eigentlich erzählte das Buch nur, wo dieser Tempel einst stand, welche Gottheit dort verehrt wurde und dass er im Jahr 2008 abgerissen wurde, um Platz für das heutige Einkaufszentrum zu schaffen. Seufzend schloss sie letzten Endes das Buch wieder und wollte schon nach dem Buch mit den alten Familien greifen, als der junge Mann neben ihr plötzlich aufschreckte und somit ihre Aufmerksamkeit weckte. „Ich hab etwas.“, sagte er plötzlich etwas zu laut, woraufhin aus Richtung des Empfangs ein langgezogenes „shhhhh“ kam. Erschrocken über sich selbst zog der Blonde kurz den Kopf ein und riskierte einen Blick über seine Schulter, bevor er sich wieder Mirâ zuwandte, welche ihn überrascht ansah. Daraufhin schob er der jungen Frau das Buch zu und zeigte auf die Seite die er aufgeschlagen hatte. Die Violetthaarige zog das Buch noch etwas zu sich, um besser sehen zu können, was ihr Kumpel meinte, woraufhin sie ein altes Foto erblickte, das den Tempel zeigte. Ein kalter Schauer lief ihr plötzlich über den Rücken, als sie bemerkte, dass es genau dieses Gebäude war, welches sie während des Tsukinoyos in ihrer Vision gesehen hatte. Ein Frösteln ging durch ihre Glieder, während schon wieder diese unsägliche Panik in ihr aufstieg, die sie die letzten Male schon einmal in ihre Gewalt genommen hatte. Was war das nur? Wieso überkam sie immer diese Angst, wenn sie den Tempel erblickte oder auch nur daran dachte oder sprach? Wieso sah sie diese Visionen? Sie konnte den Tsukiyama Tempel doch gar nicht kennen, immerhin lebte sie erst einige Monate hier. Andererseits war sie sich aber auch sicher, dass es genau dieser Tempel war, den sie in ihren Visionen gesehen hatte. Zwar sahen sich die alten traditionellen Gotteshäuser alle sehr ähnlich, jedoch hatte auch jeder seine Eigenheiten. Das machte die junge Frau so sicher, dass es sich dabei genau um diesen hier handeln musste. Doch wieso? Mirâ drohte wieder von der Panik vollkommen eingenommen zu werden, als sie plötzlich einen angenehm süßlichen Duft vernahm, der sie wieder in das Hierund Jetzt zurückholte. Leicht erschrocken sah sie auf und lief sogleich rot an, als sie nur weniger Zentimeter von sich entfernt Hiroshis Gesicht erblickte. Dieser war von seinem Stuhl aufgestanden und hatte sich neben sie gestellt, um so wieder besser in das Buch blicken zu können. Sein Blick war auf das Bild in dem Buch gerichtet, weshalb er ihre Reaktion zum Glück gar nicht wahrnahm. Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Seite und bemerkte dann auch, dass es noch einen Text dazu gab. Schnell versuchte sie sich auf diesen zu konzentrieren, jedoch fiel ihr das in dieser Situation ziemlich schwer. Noch immer glühte ihr Gesicht und ihr Herzschlag raste förmlich, während sie hoffte das der Blonde es nicht bemerkte. Sie schluckte, während sie auf den Text starrte und ihn doch nicht verstand. Plötzlich setzte sich Hiroshi und nahm somit wieder Abstand von der jungen Frau: „Hm…“ Grübelnd legte er sich die Finger ans Kinn und schien in seinen Gedanken versunken, woraufhin Mirâ ihre Chance nutze den Text nun endlich selber zu lesen. „Der Tsukiyama Tempel war einst das älteste Gebäude in der Stadt und wurde im Jahr 1565 errichtet. Seine Gründer, der Tsukiyama Clan, entstammte dem Samejima Clan, dessen Tempel in Gyakuten-maru zu finden ist, welches als Ursprung von Kagaminomachi gilt.“, erfuhr sie darin. Auch welche Größe das Gelände eins hatte, sowie welche Gottheit hier verehrt wurde, konnte sie aus dem Text entnehmen. Dazu einige Legenden, welche man sich über den Tempel erzählte und die sie eher beiläufig interessierten. Eine dieser Legenden jedoch erweckte nun doch wieder ihre Aufmerksamkeit: „Es begab sich, dass einer der Gründerväter in einer Vollmondnacht einen dunklen Schatten in seinem Spiegel sah, welcher ihn beobachtete. Der Mönch tat dies zu Beginn als Einbildung ab, doch wollte es genauer wissen. So trat er an den Spiegel heran, um nachzusehen, worum es sich bei dem Wesen handelte. Plötzlich jedoch erschien eine Hand, packte den Mann am Bein und versuchte ihn in den Spiegel zu ziehen. Ängstlich wehrte sich der Mönch und entkam so nur knapp seinem Schicksal. Der Schatten verschwand daraufhin und der Mann verhüllte den Spiegel mit einem Tuch, sodass er nicht mehr hineinsehen konnte. Als er dieses Ereignis am nächsten Tag den anderen Mönchen erzählte glaubten sie ihm kein Wort und lachten ihn aus. Doch bald darauf, zur nächsten Vollmondnacht geschah es erneut. Dieses Mal war es ein anderes Mitglied des Clans, welches nur knapp dem Wesen entkam. So kam es, dass die Mönche dem Mann doch glaubten und sie beschlossen diesem Schatten Herr zu werden. So erschufen sie ein Ritual, dass immer an Vollmondnächten ausgeübt wurde, um so das Wesen zu vertreiben. Daraufhin ward dieses nie wiedergesehen. In heutiger Zeit wird dieses Ritual nur noch einmal im Jahr ausgetragen. Immer in der ersten Vollmondnacht im August, in welcher auch das Tsukinoyo stattfindet.“ „Das klingt wie das Spiegelspiel.“, sagte Mirâ aufgeregt. Hiroshi setzte sich wieder bequem hin: „Ja dachte ich mir auch. Es klingt schon sehr ähnlich der Situation, als du das erste Mal auf den Shadow getroffen bist. Auch wenn es nur eine Legende ist… aber es klingt, als wäre etwas Ähnliches wie jetzt schon einmal passiert.“ „Mit dem Unterschied, dass das Tsukinoyo es nicht aufhalten konnte.“, meinte die junge Frau mit gesenktem Kopf. Irgendwas an diesem Text kam ihr merkwürdig vor. Ihr war so, als hätte sie diese Legende schon einmal gehört. Weit in der Vergangenheit, sodass sie sie schon wieder vergessen hatte. Allerdings konnte sie sich nicht vorstellen, wo sie diese Sage gehört haben sollte, immerhin war es eine aus dieser Stadt, in welcher sie gerade einmal ein paar Monate lebte. „Urgh…“, ihr Kopf schmerzte plötzlich, weshalb sie ihre kühle Hand an die Stirn legte. „Alles in Ordnung?“, hörte sie Hiroshis Stimme, „Geht es dir nicht gut? Warte ich hole dir etwas zu trinken.“ Daraufhin war der junge Mann in Richtung Eingangsbereich verschwunden, wo Mirâ beim Eintreten mehrere Getränkeautomaten gesehen hatte. Sie zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz durch ihren Kopf ging und sie fragte sich, wieso es ihr plötzlich wieder so schlecht ging. Vorsichtig hob sie wieder den Blick, woraufhin ihr eine weitere Textzeile auffiel, welche ganz am Ende der Seite stand: „Aufgrund mehrerer Schicksalsschläge im Tsukiyama Clan wurde der Tempel im Jahr 2000 verlassen und zerfiel zusehends. 2008 musste er aufgrund eines Vorfalls abgerissen werden, um so die Sicherheit der Allgemeinheit zu gewähren.“ „Stimmt… von diesem Vorfall hatte Hiroshi-kun erzählt.“, ging der jungen Frau durch den Kopf, bevor sie erneut zusammenzuckte: „Argh!“ Etwas Kaltes berührte ihre Stirn und vertrieb den Schmerz in ihrem Kopf. Erleichtert atmete sie auf und hob wieder den Blick, sodass sie auf Hiroshi schaute, welcher ihr wieder gegenübersaß und ihr eine kalte Flasche an die Stirn hielt. Sich bei ihm bedankend, nahm Mirâ ihm diese ab und drehte sie auf, bevor sie einen Schluck daraus nahm. „Es gab leider nur stilles Wasser, aber das sollte erstmal helfen.“, meinte der Blonde daraufhin und blickte sie dann besorgt an, „Mirâ, du machst mir langsam Sorgen. Erst diese Schwächeanfälle, dann die Übelkeit und nun diese Kopfschmerzen. Du solltest damit zum Arzt gehen.“ Die Oberschülerin nickte zaghaft, versuchte jedoch den jungen Mann zu beruhigen, indem sie ihm wieder erklärte, dass die Sommerhitze ihr einfach nicht guttat. Ein Blick in sein Gesicht verriet ihr, dass er ihr nicht wirklich Glauben schenken wollte. Verübeln konnte sie es ihm nicht. Sie würde immerhin auch nicht anders reagieren, wenn es einem ihrer Freunde genauso ergehen würde wie ihr. Trotzdem wollte sie ihm keine weiteren Sorgen machen, zumal sie ja selber nicht wusste, wieso ihr das ständig passierte. Hiroshi stand plötzlich auf und ließ somit auch die junge Frau wieder aufschauen: „Lass uns für heute Schluss machen. Okay? Ich bringe schnell die Bücher zurück.“ Mehr als ein Nicken schaffte die Oberschülerin nicht mehr, bevor der Blond mit den Büchern davonstolziert war. Traurig sah sie ihm nach und entschuldigte sich im Stillen bei ihm. Sie wusste, dass sie ihm Unrecht tat, indem sie ihm einfach nicht die Wahrheit sagte, aber sie redete sich ein, dass es vorerst so das Beste war. Ein Tippen auf ihre Schulter ließ sie plötzlich aufschrecken und in ein violettes Auge blicken, das sie etwas erschrocken ansah. Das andere Auge war unter einer blonden Haarpracht versteckt. Mirâ blinzelte kurz und erkannte kurz darauf Shio, welche, ein Buch an die Brust gepresst, vor ihr stand und sie anlächelte. „A-ach du bist es, Shio. Du hast mich erschreckt.“, atmete die Violetthaarige erleichtert auf. Die Blond-schwarzhaarige klopfte sich leicht gegen die Stirn und streckte die Zunge raus: „Sorry. Das war nicht meine Absicht.“ Überrascht sah Mirâ ihre Freundin wieder an, als sie feststellte, dass ihr Japanisch wieder besser geworden war und nun schon fast fließend klang. Shio musste wirklich jeden Tag üben, damit sie die Sprache so schnell wieder lernen konnte. „Dein Japanisch ist wieder besser geworden.“, lobte sie die junge Frau, woraufhin diese nur zum Dank lächelte, „Bist du hier um zu lernen?“ Erneut nickte die Blond-schwarzhaarige: „Ja, gemeinsam mit Naru und Maria. Sie brauchten… help… ähm… Hilfe in Englisch.“ Mirâ legte den Kopf schief, als sie die Namen hörte, da sie ihr gänzlich unbekannt waren. Ihre Freundin schien dies zu bemerken und klopfte sich erneut kurz gegen die Stirn, bevor sie sich leicht umdrehte und auf zwei Mädchen zeigte, die etwas weiter entfernt an einem Tisch saßen und zu ihnen herübersahen. Als sie bemerkten, dass Shio sich zu ihnen drehte, schraken sie kurz auf, doch winkten dann freundlich. Eines der Mädchen hatte wie Mirâ dunkelviolette Haare, die sie zu zwei seitlichen Zöpfen geflochten hatte und ihr locker über die Schulter fielen. Die andere junge Frau hatte schwarze Haare mit blonden und blauen Strähnchen darin, bei welchen die Oberschülerin überlegte, ob diese natürlich oder gefärbt waren. Jedoch hakte sie nicht weiter nach, da sie wusste, dass es sie nichts anging. Während sie sich sicher war, die Violetthaarige schon einmal in der Schule gesehen zu haben, war ihr das schwarzhaarige Mädchen gänzlich unbekannt. Mirâ richtete den Blick wieder auf die junge Frau mit den violetten Augen, welche ihren Freundinnen noch einmal zulächelte und sich dann ebenfalls wieder an sie wendete: „Scheint, als hättest du schnell viele Freunde gefunden.“ Shio nickte: „Ja. Naru geht in meine Klasse. Sie hat mir am Anfang viel geholfen. Und Maria ist… ähm… die kleine Schwester von… my brothers best friend.“ Dieses Mal klatschte sie sich regelrecht die Hand gegen die Stirn, als ihr auffiel, dass sie wieder ins Englische verfallen war: „Warte… ähm… der beste Freund von meinem Bruder.“ „Richtig.“, lachte Mirâ, weil sie die Aktion schon etwas amüsant fand, „Aber ich hätte es auch so verstanden.“ Verlegen kratzte sich ihr Gegenüber im Nacken: „Gewohnheit. Mein Bruder… ähm… reagiert nicht mehr, wenn ich englisch spreche. Also… er kann sehr gut Englisch, aber er will, dass ich lerne wieder fließend japanisch zu sprechen. Deshalb…“ „Von der Methode hab ich mal gehört. Damit soll man Kinder animieren wirklich in der jeweiligen Sprache zu sprechen. Ich habe das von Familien gehört, die zweisprachig leben. Damit die Kinder lernen beide Sprachen zu beherrschen.“, erklärte die Violetthaarige. „Ja ich glaube, das ist diese Methode. Er zwingt auch immer Papa mit ihm japanisch zu sprechen.“, seufzte die Blond-schwarzhaarige, „Er ist ein echter Sturkopf. Aber ich bin froh, ihn zu haben.“ „Geschwister sind schon was Feines. Was? Wenn auch manchmal anstrengend.“, lachte Mirâ, woraufhin Shio nickte. „Sag mal. Hättest du Lust mich morgen zu besuchen? Eigentlich wollte ich dich die ganzen Sommerferien anschreiben, aber dann habe ich bemerkt, dass ich weder deine Nummer noch deine Chat-ID habe.“, meinte die junge Frau plötzlich. Erstaunt sah Mirâ sie an, doch lächelte dann und stimmte zu, während sie ihr Smartphone herauskramte, um kurz darauf mit ihrer Freundin die Nummern zu tauschen. Freudig nahm diese das Angebot an und versprach der Oberschülerin ihr am Abend eine Nachricht mit Zeit und Treffpunkt zu schreiben, bevor sie sich langsam von ihr verabschiedete und wieder zu ihren Freundinnen ging. Lächelnd sah Mirâ ihr nach. Dabei bemerkte sie nicht einmal, dass Hiroshi wieder neben sie getreten war. „War das nicht Hamasaki?“, fragte er plötzlich und ließ dabei die junge Frau erneut aufschrecken. „J-ja. Sie ist mit ihren Freundinnen hier und hat gelernt.“, erklärte sie anschließend. „Ach so. Jetzt wo du es sagst. Hab mich schon gewundert, was Haruna hier macht.“, murmelte der Blonde nur, woraufhin ihn die junge Frau fragend ansah, „Das Mädchen mit den lila Haaren… das ist Naru Haruna. Sie ist Kapitänin der Mädchen-Basketballmannschaft in unserer Schule. Ab und an spielen Shuya, Naoto und ich in der Pause gegen sie und ein paar andere aus den Clubs Basketball.“ „Ach so…“, nickte Mirâ, während sie merkte, wie ihr plötzlich leichter ums Herz wurde. Wieder hatte sie kurz das beklemmende Gefühl der Eifersucht eingenommen und sie schämte sich dafür, weil sie eigentlich auch keinen Grund darin sah. Immerhin war Hiroshi für sie nur ein guter Kumpel. Oder? „Lass uns gehen. Es wird langsam spät.“, meinte Hiroshi, woraufhin Mirâ nun nickte und sich ebenfalls erhob. Doch gerade, als sich beide auf den Weg machen wollten, klingelte das Handy der Violetthaarigen. Erschrocken hatte sie es schnell in ihren Rock eingewickelt, weil sie vergessen hatte den Ton auszuschalten und es nun laut vor sich hin schellte. Böse Blicke der Anwesenden trafen sie, weshalb sie sich beeilte aus dem Gebäude zu verschwinden. Draußen angelangt hatte das Klingeln bereits aufgehört. Irritiert blickte die junge Frau auf ihr Handy und war überrascht Matsurikas Nummer zu sehen. Bisher hatte die Jüngere sie noch nie angerufen, sondern nur Nachrichten geschickt. Ihr Chat ploppte plötzlich auf, weshalb die Violetthaarige beinahe erschrocken ihr Smartphone fallen ließ, es aber gerade so noch auffangen konnte. Auch diese Nachricht war von Matsruka und klang dringend. „Bitte ruf mich so schnell wie möglich an, Senpai!“, stand in der Nachricht. Mirâ hob eine Augenbraue und blickte kurz zu Hiroshi, welche neben ihr stand und die Nachricht ebenso gelesen hatte. Auch er wirkte ratlos und zuckte nur mit den Schultern. Die Violetthaarige zuckte ebenso kurz mit den Schultern und rief die Jüngere dann zurück. Es dauerte auch nur ein Freizeichen bis die Schwarzhaarige abnahm. „Senpai, ein Glück!“, sprach sie völlig aufgelöst ohne eine weitere Begrüßung. „Was ist denn passiert?“, fragte Mirâ irritiert. „Megumi ist verschwunden!“, kam eine ebenso aufgelöste Antwort zurück, „Sie wollte gestern etwas in der Schule im Kunstclub für das zweite Trimester vorbereiten. Heute waren wir verabredet, aber sie kam nicht und als ich bei ihren Eltern nachgefragt habe, wurde mir gesagt, dass sie gestern Abend nicht nachhause gekommen ist. Ihre Eltern haben auch schon überall nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Sie haben auch schon die Polizei verständigt, aber… ich mache mir solche Sorgen.“ Mit großen Augen sah Mirâ kurz zu Hiroshi, welcher sie nur fragend anschaute und wandte sich dann wieder an Matsurika: „Beruhige dich erst einmal, Matsurika. Wo bist du gerade?“ „An der Schule. Ich wollte schauen, ob ich einen Anhaltspunkt finde. In der Schule war sie gestern definitiv, weil ich sie noch herbegleitet habe. Ich hätte sie noch in den Clubraum begleiten sollen…“, kam es vom anderen Ende der Leitung. „Bleib dort. Wir kommen hin. Okay?“, damit hatte Mirâ aufgelegt, ihr Smartphone weggepackt und ihren Schirm aufgespannt. Gerade als sie los wollte hielt ihr Kumpel sie jedoch zurück: „Warte doch mal. Wohin kommen wir?“ „Zur Schule. Matsurika wartet dort. Megumi ist gestern Abend verschwunden.“, erklärte die Violetthaarige nur knapp und rannte dann los. „H-Hey warte!“, rief Hiroshi, während er seinen Schirm ebenfalls aufspannte und der jungen Frau folgte. Eine halbe Stunde später kamen beide Zweitklässler an der Jugoya High an und trafen vor dem Tor auf Matsurika. Diese war vollkommen durchnässt, obwohl der Regen schon eine ganze Weile aufgehört hatte, was den Älteren verriet, dass sie wirklich schon länger hier war. „Senpai!“, sofort als sie die beiden erblickt hatte, kam sie auf sie zu gerannt, „Ein Glück seid ihr da. Ich weiß nicht mehr was ich machen soll. Was soll ich nur tun?“ „Beruhige dich erst einmal.“, versuchte Mirâ die aufgebrachte Schülerin zu beruhigen, „Erzähl nochmal in Ruhe, was genau passiert ist.“ Matsurika atmete kurz durch, ehe sie versuchte ruhig weiterzusprechen: „A-also… gestern war ich schon mit Megumi unterwegs, als ihr einfiel, dass man mittlerweile schon wieder in die Schule kann und sie noch etwas für den Kunstclub vorbereiten wollte. Deshalb habe ich sie hierher begleitet und mich hier von ihr verabschiedet. Naja… u-und heute wollten wir uns wieder treffen, aber sie kam vorhin nicht. D-Deshalb habe ich bei ihr Zuhause angerufen, wo mir gesagt wurde, dass sie am Abend nicht nachhause gekommen war. Ich… ich mache mir solche Sorgen. Hätte ich sie doch nur weiter begleitet.“ Mirâ war etwas überrascht, da sie die Jüngere bisher noch nie so aufgelöst erlebt hatte. Nach den letzten Monaten hatte sie eigentlich immer das Gefühl gehabt, dass sich die Schwarzhaarige kaum Gedanken um die kleine Megumi machte. Nun musste sie jedoch feststellen, dass deren Freundschaft wohl doch tiefer war, als sie vermutet hatte. Matsurika machte sich ernsthafte Sorgen, um die Kleine, das merkte man ihr an. Beruhigend strich die Violetthaarige der Erstklässlerin über den Rücken und überlegte, wie sie ihr helfen konnten, während sie eine angenehme Wärme in ihrer Brust spürte. Zwar war sie so schnell wie möglich hierhergekommen, jedoch eher kopflos, denn eigentlich hatte sie keinen Plan, was sie tun sollte. „Oh nein…“, holte sie die Stimme von Hiroshi aus ihren Gedanken und ließ sie zu ihm schauen. Der junge Mann hatte sein Smartphone in der Hand, welches er ihr vorhielt. Darauf zu sehen war eine Art Mondkalender, welcher ihr plötzlich auch die Farbe aus dem Gesicht weichen ließ, als sie auf das Datum vom gestrigen Tag schaute. Hiroshi sprach letzten Endes aus, was sie nur mit Schrecken dachte: „Gestern hatten wir Vollmond.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)