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Das Glasherz

von

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Le Passage

 

Youma wusste nicht, wie lange er schon gerannt war – er wusste nur, dass er nicht aufhören durfte zu rennen. Er hätte fliegen können, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er das genauso wenig tun durfte wie anhalten. Er musste immer weiter und weiter rennen, tief in die Dunkelheit hinein, die nicht einmal von seinen Fähigkeiten als Wächter der Dunkelheit durchdrungen werden konnte.

Es gab kein Licht. Keine Veränderung in dieser Dunkelheit.

Nur das Knacken und Klirren des Glases – manchmal von fern, manchmal erstaunlich nahe, aber es zog sich immer wieder zurück und ließ Youma vorankommen; wo auch immer er im Endeffekt landen würde.

 

Und dann kam es.

 

Der eiskalte Schreck hätte Youma beinahe dazu gebracht, stehen zu bleiben, aber er konnte sich gerade noch dazu zwingen, weiter zu rennen – die bereits gewohnten Geräusche des brechenden Glases wurden unwirklich; vorhanden, ja, aber sie schoben sich in den Hintergrund, denn etwas Anderes drängte sich auf:

 

Ein hohes, markerschütterndes Lachen.

 

Youma wusste nicht, wo es herkam; es schien von überall her zu stammen – war die Quelle vor ihm, hinter ihm? Welchem Geschlecht gehörte diese Stimme an? Wem gehörte sie?

 

Weiter, weiter – er musste weiterrennen, er durfte nicht anhalten, durfte sich nicht umdrehen, obwohl er sich eigentlich sichergehen wollte, dass die Quelle der Stimme nicht hinter ihm war.

Was war das nur für ein schreckliches Lachen? Und warum hatte Youma das Gefühl, dass es nicht nur aus einem Munde stammte... sondern aus zwei?

 

Es schien näher zu kommen – Angstschweiß lief seinen Rücken herunter, renn weiter, renn weiter, renn, renn, renn, nicht zurückblicken, nicht zurückblicken---

 

Das Rennen fiel ihm immer schwerer; es war, als würde irgendetwas ihn behindern, ihn festhalten – und da spürte er es: Risse taten sich unter seinen Füßen auf. Aber nein, nein. Nocturn würde ihn nicht fallen lassen!

 

Jetzt hörte Youma es ganz deutlich; das Glas hinter ihm zerbröselte und das Gefühl, in seinem Vorankommen behindert zu werden, nahm Gestalt an; es kam ihm so vor, als würden viele, viele Hände nach ihm greifen, ihn zurückziehen wollen ---

 

Aber er kam näher. Er musste nicht mehr lange aushalten, sich nicht mehr wehren. Hier und dort tauchten graue Schatten auf und da! Ein Licht! Es flackerte, fast wie eine alte Leinwand es tat beim Wiedergeben eines alten Filmes; es war nicht vor ihm, eher links von ihm, er rannte daran vorbei, an diesem Licht, dieser kleinen Lichtgestalt – war das vielleicht White?

 

Das einzige, was Youma hören konnte, war das schreckliche Lachen und das drohende Geräusch des zerbrechenden Glases, aber es war ihm, als würde die kleine White etwas sagen; sie streckte die Hand aus, zeigte sich besorgt. Licht erstrahlte, dann wieder Dunkelheit. Youma sah sich bewegende Schatten; es schneite,  kleine, magere Kinderhände, die sich nach etwas ausstreckten... Die Tasten eines Klaviers, das eilige Vorbeihuschen der Treppenstufen, als sie strauchelnd erklommen wurden. Das Kind versteckte sich, wollte weg, es versteckte sich im Schrank, schloss die Tür, krümmte sich zusammen --- das Lachen nahm zu, wurde höher und höher--- die Hengdi; die zitternden Kinderhände nahmen sie entgegen, ein Geschenk? Oder ein Erbe?

 

Das Lachen drohte Youmas Kopf zu sprengen---

 

Die Kinderhände waren keine Kinderhände mehr; sie waren größer geworden, hatten ihre Unschuld verloren; die schwarze Flüssigkeit auf ihnen war Blut und die Körper unter seinen Händen waren leblos, tot, gemordet von ihm. Das Zittern seiner Hände stammte nicht von Abscheu, es entstammte Ekstase. 

 

---- Die vielen Hände packten ihn. Youma geriet nun selbst ins Straucheln;  sie zogen an seinen Haaren, zerrten an seiner Kleidung, umklammerten seine Füße --- Youma rutschte aus, stürzte, streckte die Hand vor---

 

Das Glas brach.

 

„NOCTURN!“

 

Das Lachen verstummte augenblicklich und Youma spürte, dass seine Hände Halt fanden, an dem er sich hochziehen konnte, ohne dass ihn noch irgendetwas behinderte. Plötzlich war alles ruhig; nur Youmas Pusten und Stöhnen und seine Erleichterung waren noch zu hören, als er sich hochzog:

„Meine... meine Güte, du... hast echt einen Hang zum...Dramatischen...“

 

Natürlich musste er sich erst einmal beschweren, aber in Wirklichkeit war er unheimlich erleichtert, angekommen zu sein. Er war nun in Nocturns Unterbewusstsein. Das wusste er, denn die Szene hatte sich nun wieder geändert.

Er kniete hinter dem Gartentor auf dem kleinen Weg, der zu Nocturns ehemaligem Zuhause führte. Auch hier war alles grau und trübe, aber der Garten war nun gepflegt, der Postkasten noch nicht verrostet und der  Eingang war vom Schnee gesäubert. Youma war alleine, aber er hörte das Spielen eines Klaviers aus dem Haus.    

 

Ehe er zum Haus ging, nahm er noch einen weiteren tiefen Atemzug und stand dann schon vor der nun polierten Haustür, sich auf das schreckliche Donnergrollen gefasst machend – das folgte auch sofort, aber die Person, die ihm die Tür öffnete, erschreckte ihn mehr als das Läuten der Glocken.

 

Vor ihm stand Nathiel.

 

„Was gucken Sie mich denn so überrascht an? Glauben Sie etwa, Sie sind der Einzige, der auf die Idee kommt, ihn zu berühren? Jetzt sind wir alle hier.“

 

Und dann lachte sie. 



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