Das Glasherz von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 8: La Médicine ----------------------     Nocturns Mantel hatte noch an der Garderobe gehangen, seine Sachen lagen in dem Gästezimmer und wenn Youma genauer nachdachte… hatte er, als er das Französisch erkannt hatte, gar keine männliche Stimme gehört. Was war nur in ihn gefahren? Und viel wichtiger: wo war er?   Verwirrt und schnell atmend blieb Youma auf der Dorfstraße stehen, sich zu beiden Seiten umsehend; teleportieren war immer noch nicht möglich; er musste also in der Nähe sein. Nur welche Richtung sollte Youma einschlagen, um ihn zu finden? Die Straßenlaternen gaben nicht viel Licht und der nun wieder stark fallende Schnee erschwerte Youmas Sicht… war Nocturn die Straße herunter oder hoch gegangen? Rein logisch betrachtet, wenn Nocturn das Dorf verlassen wollte, dann müsste er der Straße nach unten folgen… aber ein Gefühl sagte Youma, dass dem nicht so war und er begann, den Weg zum unheilschwangeren Haus zu nehmen, dabei so schnell rennend, wie er nur konnte; ob ihn dabei Menschen sahen und die Stirn runzelten war ihm egal. Er musste Nocturn finden, er musste ihn finden, er musste es---   Nocturn legte die Hand auf das vereiste Treppengeländer. Das eiserne Metall war eisig kalt, dennoch umklammerte er es mit seinen dürren Fingern und hielt auch einen Moment inne; erstarrt, als wäre er selbst für einen kurzen Moment vereist. Das Heben seines Kopfes war eine langsame Bewegung; seine von Schmerz und Müdigkeit getrübten Augen schweiften über die geschlossene Tür vor ihm, nach oben, doch er konnte nur unscharf die Konturen des Hauses ausmachen; zu stark war der Schneefall.    „Was mache ich hier… ich will doch gar nicht hier sein…“ Dennoch löste sich ganz automatisch seine Hand von dem Treppengeländer; sie streckte sich aus, er lehnte sich vor und berührte mit der empfindungslosen Hand die kalte Klinke der Tür. Er zögerte nicht; etwas in ihm hatte die Oberhand übernommen, hörte nicht auf irgendwelche Proteste – und schon stand die Tür offen; das Donnergrollen der Glocken brachte den Schnee zum Beben, Nocturn erschrak aber genauso wenig wie beim ersten Mal. Kaum hatte er einen Schritt über die Türschwelle getan, entstellte ein gepeinigtes Zucken sein blasses Gesicht---    „Was kommst du hier so rüpelhaft hereingestürmt, Junge? Im Haus wird nicht gerannt! Und zieh deine Schuhe aus…“   Sein Atem beschleunigte sich; er musste sich abstützen; seine Sicht verschwamm – aber dann übernahm sein Instinkt kurz wieder, seine Sicht kehrte zurück, wie auch sein Bewusstsein, denn er bemerkte, dass vor ihm, in dem langen roten Gang, jemand stand und deutlich spürte er auf einmal, wie diese Person ihn beobachtete.   „Willkommen Zuhause, mein Kleiner.“   Nocturn wusste schon, ehe er den Kopf hob, wer die Person war, die ihn freudig anlächelte, deren Lächeln aber absolut gar keine Wärme in ihm weckte oder gar ein erwiderndes Lächeln. Auch den Gruß ignorierte Nocturn und erwiderte stattdessen argwöhnisch:   „Wer bist du?“   Nathiel biss sich auf die Unterlippe, sah kurz wütend und verletzt aus und ein kurzes, aber starkes Zittern überspülte ihren Körper und ihre Stimme war heiser, als sie antwortete: „Karou-san hat also recht gehabt… ich hasse es, wenn er recht hat… Du hast sogar mich vergessen? Wie kannst du nur! Wo wir doch… so viel… teilen…“ Nocturn war offensichtlich noch zu geschwächt und sein Instinkt hatte noch nicht gänzlich zurückgefunden, denn er sah ihre Reaktion nicht kommen, weshalb er sie im ersten Moment nur schockiert ansah und nichts tat, als sie seinen rechten Arm plötzlich packte und seinen Ärmel hochriss, womit das geschah, was er absolut verabscheute – seine Narben wurden sichtbar.   „Aber dein Körper! Er kann mich nicht vergessen, unmöglich, niemals---“ Wie hypnotisiert starrte sie Nocturns Narben an; ihre Augen wurden kleiner, sie glühten förmlich, aber Nocturn riss seinen Arm aus ihrem Griff los, versuchte das unerklärliche Zittern in sich zu ignorieren, sowie das heftige Zusammenzucken, als die Frau seinen Arm berührt hatte… die immer stärker werdende Angst--- aber Angst? Wovor? Warum? Er konnte sich doch wehren; er konnte sich doch gegen alles wehren; was war mit seinem Körper los, warum fühlte er sich so gelähmt an? Er musste sich zusammenreißen, befahl er sich selbst, aber stattdessen starrten die beiden Dämonen sich nur an. Ihr Grinsen wurde langsam zu einem breiten Lächeln und ihre Stimme… ein hohes Flüstern… brachte sein Herz in Aufruhr; der Tonfall war es, nicht ihre Worte--- er kannte den Tonfall, er kannte ihn, nah an seinem Ohr, tief eindringend---   „Ich werde dir helfen, dich zu erinnern.“ „Nein, nein, das ist nicht…“ „An alles – es wird wehtun, aber ich bin ja für dich da!“   Zuerst verstand Nocturn nicht, was er sie da tun sah oder wofür das gut war; sie löste das Haarband, das ihren Zopf aufrecht hielt, ihre blauschwarzen Haare fielen herunter, sie schüttelte den Kopf hin und her und begann dann, beinahe gemütlich, alltäglich, leise summend, ihre Haare hochzustecken. Nocturn verstand immer noch nicht, wozu das gut sein sollte---- aber da durchfuhr ihn ein so heftiger Stoß, dass er rückwärts taumelte, wie von einer unsichtbaren Hand attackiert. Er stieß gegen die Fenster, konnte seine geweiteten Augen nicht von ihr abwenden, unterdrückte nur mit Müh und Not einen Schrei--- „Hihihhiihihihihihiiiiihihi, wie ich sehe, weckt dieses Aussehen etwas in dir?“ Sie grinste breit, mit weit nach oben gezogenen Mundwinkeln, was sie aber plötzlich zum Erstarren brachte: „Oh nein, oh nein, ich darf ja nicht lächeln; sie hat ja nie gelächelt…“ Sie ging nun auf ihn zu und man sah ihr tatsächlich deutlich an, dass sie ein Grinsen unterdrücken musste: „Sie war immer so streng; nie hat sie uns unseren Spaß gegönnt. Wir haben immer sehr unter ihr gelitten, erinnerst du dich?“ „Nein! Nein, nein, tue ich nicht!“ Aber das war gelogen, denn sein Körper zwang ihn dazu, sich zu erinnern; trotz allem Widerwillen war es ihm nicht möglich, seine bebenden Augen von der Person vor ihm abzuwenden und er spürte förmlich, wie etwas in ihm Risse bekam, dass etwas heraustrat wie Wasser in einem Becken, das einen Riss bekam--- „Dennoch hingen wir immer an ihr – wir konnten uns nicht abwenden, egal, wie streng sie war…“   Es stimmte. Sie war immer sehr streng gewesen.   Nein, ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht----   Sehr strikt. Konsequent. Sie hatte von den Gefühlsausbrüchen anderer gelernt, von ihnen Abstand genommen.   Ich kenne sie nicht, ich kenne sie nicht!   Sie strafte oft. Lohnte und lobte selten.   „Aber ihr Spielen…“ Nathiel konnte jetzt ein Lächeln unmöglich unterdrücken, als sie diese Reaktion hörte und sah, wie Nocturn den Kopf wieder hob. Er starrte mit verklärten Augen seine eigenen Hände an, jeden Widerstand aufgebend – die Erinnerungen waren zu stark, zu aufdringlich… „… ihr Spielen auf dem Flügel… ihre Melodien…. Ihre Finger auf den Tasten…“ Nathiel beobachtete aufmerksam, wie er, während er diese Worte wispelte, einen Schritt vor den anderen setzte. Sie wartete geduldig, beobachtete jede einzelne Bewegung von ihm; seine zaghaften Schritte vorwärts, als hätte er das Gehen verlernt, das kleine, zerbrechliche Lächeln auf seinem Gesicht. Sie nahm alles begierig in sich auf – genauso freudig, wie sie nun die Arme öffnete und Nocturn völlig widerstandslos in diese schloss. „Jetzt wird alles wieder gut. Alles wird wieder wie früher…“ Sie schlang ihre Arme fest um ihn und spürte, wie die Tränen in ihr aufkamen, als sie spürte, wie er seine dürren Arme ebenfalls um sie schlang. „… aber zuerst musst du jetzt artig sein. Du musst deine Medizin nehmen.“ Du musst deine Medizin nehmen. Diese Worte hallten wieder in den Ohren Nocturns, dessen Gesicht halb verborgen war durch ihre feste Umarmung - Du musst deine Medizin nehmen. Er musste artig sein… er wollte nicht… die Medizin war schrecklich. Er mochte diese Worte nicht. Deren Abfolge mochte er nicht. Den Tonfall mochte er nicht. Die Medizin mochte er nicht. Er wollte nicht artig sein.   „Wenn ich artig bin… wenn ich die Medizin nehme… Spielen wir dann danach…?“     „Ohja!“ Nathiel kicherte über Nocturns Kopf hinweg, was er nicht bemerkte, zu fern war er jeglicher Realität; in heller Vorfreude sprach er plötzlich von Melodien, welche sie spielen würden, ob sie wieder sein Lieblingslied spielen würde… „Ohja, ohja, wir werden spielen.“ Voller Sehnsucht betrachtete sie seine Medizin; auf die er gar nicht achtete, weil sie nicht zu seinem Traumbild gehörte, nicht zu diesem passte – eine helle, purpurfarbene Kugel, die Nathiels Hand zum Leuchten brachte. Ein Versuch. Wie Karou es nennen würde. Ein Versuch. „Und jetzt sei artig und mach den Mund weeeeeiiiiit auf, damit wir gleich, hihihi, spielen können.“        Wieder im Wald angekommen verlangsamte Youma seine Schritte, sich sorgfältig umsehend, was hier leichter war, da die Baumkronen nicht viel Schnee hindurchließen und seine Sinne als Wächter der Dunkelheit damit uneingeschränkt waren. Aber egal in welche Richtung er sah, egal wie tief seine sich nun im Dämonenmodus befindenden Augen in die Dunkelheit hinein drangen, nirgends sah er jemanden. War er schon beim Haus angekommen? Aber warum? Was wollte er da, wenn er ihn doch angefleht hatte, ihn wegzubringen?   Youma wollte gerade wieder anfangen zu rennen, da blieb er auf der Stelle stehen - hinter ihm stand jemand.   Die Hand angriffsbereit an seinem Glöckchen wandte Youma sich herum - und war kurz überrascht über die Person, die er da vor sich stehen sah. „Na-Nathiel-san? Was… was machen Sie denn hier?“ Noch bevor er seine Verwunderung zum Ausdruck gebracht hatte, verstand er schon - schwarze Haare, rote Augen; Nathiel war ihre Verfolgerin; aber… wieso?  „Oh, Sie erinnern sich an mich?“ Ihre roten Lippen verformten sich zu einem schmalen Lächeln, welches die glasklaren Worte einrahmte: „Das hatte ich eigentlich nicht erwartet. Aber ich fühle mich natürlich sehr geschmeichelt, dass so ein attraktiver Dämon sich an mich erinnern kann.“ Sie lächelte immer noch, nur unterbrochen von einem kurzen Kichern, das Youma durch Mark und Bein ging - sonderlich geschmeichelt fühlte er sich auch nicht. „Was tun Sie hier, Nathiel-san?“ Sie löste ihre roten Augen nun von ihm und sah mit in den Nacken gelegten Kopf in den Wald hinein: „Eine schöne Gegend, nicht wahr, Youma-san? Und ein so schönes Haus; so viele schöne Erinnerungen… es hat lange gedauert, bis mein Kleiner Nachhause zurückgekehrt ist. Viel zu lange.“ Lächeln wandte sie sich wieder zu ihm herum; ein seeliges Lächeln, voller Glück und sehnsüchtiger Vorfreude: „Er will endlich wieder mit mir spielen, endlich. Endlich!“     Jede einzelne Stufe knatschte unter Nocturns Füssen. Sie knatschten lauter als früher; die Zeit war daran Schuld… ja… die Zeit… Sein Körper fühlte sich eigenartig an… seine Augen brannten… seine Sicht verschwamm immer wieder… das war die Medizin. Er hatte sie genommen. Sie war anders als sonst gewesen. Ein anderer Geschmack. Eine andere Konsistenz. Aber bald durfte er wieder mit ihr spielen. Er musste nur noch… musste nur noch… Er öffnete die Tür zu dem Zimmer, in das er eigentlich nicht durfte. Sie war nie abgeschlossen gewesen, aber weil sie ihm gesagt hatte, dass er den Raum nicht betreten durfte, hatte er es nie getan. Man hielt sich an ihre Vorschriften.   „…es tut mir leid…“ Entschuldigte Nocturn sich mit leiser, zitternder Stimme bei dem ehemaligen Besitzer des Zimmers und bei ihr, weil er ihr Verbot missachtet hatte. Er ging zum Fenster, zum darunter stehenden Stativ, zur Halterung, die schon so lange leer gewesen war. Aber dann erwachte der letzte Rest von Nocturns Bewusstsein:  „Was…was tue ich denn hier…?“ Seine Hände zitterten, bebten, Tränen brannten in seinen Augen, als er seine Hand über seinen Kopf nach hinten bog; so eine gewohnte Bewegung, weil dort seine Hengdi saß. „…nein, nein, das ist meine, warum löse ich sie; ich will doch jetzt gar nicht…“ Das bekannte Geräusch des leichten Klickens ertönte. Die Hengdi löste sich aus ihrer Halterung. Er musste sie abgeben, zurückgeben, sie gehörte ihm nicht…doch, doch, das tat sie, ohne sie war er nicht… war er nicht… Aber das ist das Mindeste. Das Mindeste, was er tun konnte... um sich zu... um zu... Nein! Nein! NEIN!     „Nun, er wird seine Gründe gehabt haben, diesen Ort zu meiden“, antwortete Youma herablassend, denn er war nicht gewillt, Nathiels komisches Spiel auch nur in irgendeiner Weise zu unterstützen, indem er auf ihre Worte einging. Diese Frau war ihm schon immer unheimlich vorgekommen und dass sie hier plötzlich auftauchte und sie offensichtlich schon eine Weile verfolgt hatte, machte den Eindruck, den er von ihr hatte, nicht gerade positiver. „Was wollen Sie eigentlich von Nocturn?“ „“Nocturn“?“, wiederholte sie leise und ihre Augen verengten sich dabei eine Spur, doch sie sah ihn dennoch nicht wieder an - sah sie in die Richtung des Hauses? „Sie benutzen also auch diesen beschämenden Namen…“ „Welchen Namen sollte ich denn sonst benutzen?“     Es sollte aufhören; er wollte das alles gar nicht sehen, er wollte sich nicht erinnern - diese Erinnerungen! Diese verfluchten Erinnerungen, das waren nicht seine! Sie waren nicht seine, er wollte sie nicht sehen, wollte nicht ihren Schmerz spüren, sie mussten verschwinden, alles musste verschwinden, alles; das Haus, jede Erinnerung, die sich damit verband, die ihn quälen wollte - er hielt es nicht aus, er hielt es nicht aus, aufhören, aufhören!   Er wollte diesen toten Körper im Schnee nicht sehen - aufhören---- Er wollte diese Frau nicht kennen - er kannte sie nicht, er kannte sie nicht---- Nicht wissen, nicht wissen, niemals wissen, wie sie gestorben war - es ging ihn nichts an, das alles… das alles berührte ihn nicht… aber dieser Schmerz, er zerriss ihn, er würde ihn in Stücke reißen… viele kleine Einzelteile, nie wieder zusammen----   „…Hilfe, Hilfe, irgendwer, hilf mir---- ich kann das nicht aushalten; irgendwer, Hilfe! Irgendwer, mach, dass es…es aufhört---- aufhören, AUFHÖREN!“   Youma wirbelte in die gleiche Richtung, in die Nathiel die ganze Zeit geblickt hatte, weshalb er nun nicht sah, dass sie erstaunt, aber auch überaus erfreut lächelte. Nur ihre Worte hörte er noch, ehe er losrannte: „Oho, mein Versuch ist gelungen! Karou-san wäre stolz auf mich!“   Youma sprang über den Zaun, landete auf den rutschigen Treppenstufen, riss die Eingangstür auf, achtete nicht auf das schier bebende Haus, stürzte die Treppe hoch und geriet dann doch ins Stocken.   Das gesamte Zimmer war in ein vibrierendes, purpurfarbenes, grell leuchtendes Licht getaucht - ein Licht, das von Nocturn ausging, der auf dem Boden in sich zusammen gekrampft kauerte, die Hände in seinen Kopf vergrabend; irgendetwas in schneller Hast vor sich hin redend - aber zugegeben, das war nicht das, was Youma im Moment am meisten schockierte - diese Magie--- das… das war keine dämonische Magie, das… sah aus wie, das fühlte sich an wie… die Magie eines Wächters?! Aber das… das konnte doch nicht sein, das konnte doch keine freigesetzte Illusionsmagie sein - doch nicht von Nocturn!   „Nocturn!“, schrie Youma, sich zu ihm vorkämpfend, den Arm dabei vor sein Gesicht haltend, denn das Licht blendete stark; es war schwer, voranzukommen, als würde ein Wirbelsturm in dem Zimmer toben, sich ausbreiten, alles verschlingen - war das wirklich Illusionsmagie?!   Wieder rief Youma seinen Namen - er streckte die Hand nach ihm aus, aber Nocturn hörte nichts, sah nichts--- und dann ergriff Youma Nocturns Schulter.                        Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)