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Das Glasherz

von

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Die Glasseele

 

 

„Du bist wirklich nah am Wasser gebaut.“

Ganz ohne Kommentar hätten sie sich an diesem Abend auch nicht voneinander trennen können; besonders da Nocturn lange gebraucht hatte, um sich wieder zu beruhigen. Erst als sie beide auf jeweils ihrer Seite des schwarzen Sofas saßen, kam er langsam wieder zur Ruhe, kam zu sich selbst. Youma grinste ein wenig über seinen eigenen neckischen Kommentar und nahm einen großen Schluck von seinem Kaffee; Nocturn hatte seinen eigenen bis jetzt unberührt gelassen, obwohl er eigentlich der Kaffee-Trinker von ihnen war. Aber Kaffee hatte einen starken, dominierenden Geschmack und Nocturn fürchtete, dass... wenn er ihn trank, das Gefühl der Nähe, die er gerade mit Youma geteilt hatte, getilgt werden würde, als wäre es nur eine Illusion gewesen, bloßes Wunschdenken – obwohl es niemals ein Wunschgedanke gewesen war, denn Nocturn wäre nie auf den Gedanken gekommen, so etwas mit Youma zu teilen. Niemals.  

„Ich bevorzuge die Formulierung, dass ich emotional bin – und daran sehe ich nichts Verwerfliches“, erwiderte Nocturn darum bemüht, normal zu klingen. Aber was war jetzt noch normal?

Youma lachte als Antwort. Er hatte an diesem Abend wirklich oft gelacht, viel gelächelt – es musste wirklich eine große Bürde von ihm gefallen sein, als die Allianz geglückt war.

 

Und das war es auch. Endlich war etwas gelungen; endlich war ein Plan in die Tat umgesetzt worden, war von keinen Unregelmäßigkeiten gestört oder gar zerstört worden. Die ganze Arbeit hatte sich ausgezahlt und es war sogar besser verlaufen, als Youma es zu hoffen gewagt hatte. Lacrimosa hatte recht gehabt und im Endeffekt war es sogar tatsächlich ein Stück weit Nocturns Verdienst, dass es so gut verlaufen war; es war eine gute Idee gewesen, auf dessen Gefühl zu vertrauen, anstatt dem Plan strikt zu folgen.

Sie hatten jetzt viel zu tun.

Aber nicht mehr an diesem Abend, weshalb Youma sich zu Nocturn herumwandte und ihm gerade eine „Gute Nacht“ wünschen wollte, als er dann jedoch plötzlich überrumpelt wurde.

 

„Ich will mehr.“

 

Sofort verschwanden alle strategischen Gedanken als Youmas Herz sich umgehend beschleunigte, denn er kannte diesen Tonfall, wusste, was diese Worte bedeuteten. Den Kaffee hatte Nocturn unberührt auf den Stubentisch gestellt, seine Augen leuchteten eigenartig im von gelb und lila geprägten Halbdunkel des Raumes und obwohl es dennoch relativ dunkel war, erkannte Youma deutlich, dass Nocturns Gesicht rot geworden war – oder immer noch war – und fast war ihm, als könnte er seinen Herzschlag hören, oder war es sein eigener?

„Nocturn, du... bist du dir... sicher, dass du das willst?“

Es gab dann kein Zurück mehr; unaufhaltsam kein Zurück mehr.

 

Nocturn war sich aber offensichtlich sicher und Youma hatte kurz bei all der schüchternen Röte und der verzagten Tränen fast vergessen, dass es sich bei Nocturn um einen Dämon handelte, welcher nicht nur gut kämpfen konnte, sondern auch recht schnell war.

Aber er stellte sich ungeschickt an – ja, woher sollte denn auch die Erfahrung kommen – und als Nocturn auf ihn zustürzte, um ein weiteres Mal diese ihm unbekannte Wärme zu verspüren, warf er Youma stattdessen zu Boden, da dieser mit der Hand weggerutscht war.

Ein dumpfer Schmerz am Hinterkopf teilte Youma mit, dass er beim Sturz die Tischkante gestreift hatte, was Nocturn allerdings nicht aufgefallen war; er war bereits zu sehr in deren Kuss versunken und auch Youma gab sich nun nach der ersten Überraschung dem wohltuenden Gefühl hin, ihm dabei die Haare zärtlich aus dem Gesicht streifend und es war ihm, als könnte er Nocturn während des Küssens lächeln spüren.

 

Aber wenn er dahin wollte, wo Youma sich sicher war, dass er sie hinführen wollte, dann stellte er sich ungeschickt an – aber gut, vielleicht wusste er es auch einfach nicht besser, wusste nicht, dass es noch eine andere Art des Küssens gab---

„Nocturn“, stieß Youma ein wenig atemringend hervor, nachdem er das Abbrechen des Kusses forciert hatte.

„Blue, er... er könnte jeden Moment zurückkommen. Es ist schon spät.“ Youma sah Nocturn deutlich an, dass er überrascht war, Blues Namen zu hören und er schien ihm auch nicht folgen zu können.

„Ja. Ja - und?“

„Ja, willst du denn, dass er uns ... so sieht?“, antwortete der Untenliegende eine Spur verärgert, deutlich röter werdend und da Nocturn ihm immer noch nicht folgen konnte, formulierte er seine Bitte anders:

„Versuch mit deinem Gedankenlesen darauf zu achten und sag Bescheid, wenn er sich nähert.“

„Ja – ja, von mir aus, aber wies-“

 

Weiter kam Nocturn nicht, denn Youma wollte nicht länger warten. Um einiges geübter schlang Youma den einen Arm um Nocturns Nacken und küsste ihn abermals, ehe er den anderen Arm um dessen Hüfte legte, um ihn zu sich herunter zu drücken – wie schmal er war! Kurz schoss Youma der Gedanke durch den Kopf, das ganze doch lieber abzubrechen; er würde Nocturn noch kaputt machen, so dünn und zerbrechlich wie er war... nein, er würde aufpassen, würde auf ihn Acht geben. Er war es nicht, der diese gläserne Existenz zerstören würde und er würde auch nicht zulassen, dass andere es taten.

 

Huh? Woher kam dieser Gedanke so plötzlich? Woher kam dessen Stärke, dessen Zuversicht?

 

Genau wie Youma es vermutet hatte, hatte Nocturn tatsächlich nicht gewusst, dass es noch andere Arten des Küssens gab – obwohl er selbst die Augen geschlossen hielt, spürte er regelrecht, wie Nocturn sie überrascht wieder öffnete. Aber er wehrte es nicht ab; war nur kurz in die Defensive gegangen, ehe er Youma gewähren ließ und sich ebenfalls langsam lernend vortastete.

Aber dann kam der Abbruch.

 

Youma hatte seine Hand unter Nocturns langes – ihm war vorher noch nie aufgefallen, wie lang es eigentlich war – Oberteil geschoben, flüchtig und nur für einen kurzen Augenblick seine Haut berührt, als Nocturn sich abrupt und wie auf Knopfdruck von Youmas Lippen löste, indem er den Kopf hochriss.

„Was... was tust du da?“ Youma verstand nicht, warum er abbrach; war es nicht ganz klar, was er vorhatte?

„...Du hast zu viel an“, erwiderte er errötet, aber mit leichter Ärgernis in der Stimme, denn er mochte es nicht, über solche Dinge zu reden; sie auszusprechen gehörte sich nicht. Aber er schien es tun zu müssen, denn Nocturns Gesicht zeigte heillose Verwirrung.

„Ich komme an nichts heran, wenn du dich hinter so viele Kleidungsschichten verbirgst.“ Weiterhin Verwunderung.

„Du kommst an nichts...“

Dann kam die Erkenntnis.

 

Nocturn sprang hoch, schockiert, verärgert - und... angeekelt? – und entfernte sich umgehend von dem ziemlich überrumpelten Youma, welcher überhaupt nicht verstand, was gerade geschah.

„Oh mein Gott!“, entfuhr es Nocturn aufgebracht, sich rückwärts stolpernd von Youma entfernend:

„Oh mein Gott – du... du willst Sex!“

„Nenn es doch nicht so schamlos beim Namen! Und sowieso – du wolltest es, du hast gesagt, du willst „mehr“!“

„Ja, aber doch nicht das! Ich wollte mehr, mehr fühlen – ich wollte, dass du mich noch einmal küsst und noch einmal, damit ich die Wärme besser in mir speichern kann, ich sie nicht vergesse, um mir sicher zu sein, dass es keine Illusion war, dass ich es mir nicht eingebildet habe...“ Er war an der von Youma am weitesten entfernten Wand angelangt. Er stieß mit dem Rücken gegen diese und bemerkte somit, dass er sich nicht weiter von ihm entfernen konnte und während Youma sich nun stirnrunzelnd aufsetzte, verschränkte Nocturn in stärkster Abwehr seine Arme vor seiner Brust.

Youma grummelte etwas und musste sich zurückhalten, nicht zu fluchen; es war also ein Missverständnis, ein überaus, überaus peinliches, aber ein Missverständnis, gut – aber Nocturns sehr heftige Reaktion beleidigte ihn dennoch. Vor ein paar Sekunden noch war er so...erpicht darauf gewesen, das Erlebnis zu intensivieren und jetzt war Youma sich sicher, dass er Ekel in Nocturns blassem Gesicht sah. Warum? Und da war mehr, da war ... regelrecht Angst.

„Mein Gott, Nocturn, man sollte meinen, du hättest noch nie ...“ Und dann überkam ihn die Erkenntnis; sie traf den Sensenmann so heftig, dass er sich am liebsten die Hand gegen die Stirn geworfen hätte, weil er vorher noch nie darauf gekommen war. Er war mit seiner Sexualität aufgewachsen; er und Silence hatten sie zusammen erforscht – sie war immer ein Teil seines Lebens gewesen und sie war ihm so natürlich, dass er nie auch nur einen Augenblick darüber nachgedacht hatte, dass Nocturn – der immerhin älter und auch dämonischer war als er – noch nie ...

 

„Du hast noch nie mit jemandem das Bett geteilt. Du besitzt deine Unschuld noch.“ Youma erwartete, dass Nocturn rot werden würde, aber das tat er nicht. Er war nach wie vor blass.

„Ja, ich habe noch nie Sex gehabt und es interessiert mich auch ni...“

„Aber natürlich, warum bin ich selbst noch nie darauf gekommen, es ist doch so deutlich! – Und nenn es nicht beim Namen, das ist unverschämt und gehört sich nicht – ich meine, mit wem hättest du auch? Ich muss zugeben, ich dachte immer, du hättest White-san vergewaltigt...“

Wie bitte---?!“

„... immerhin hätte sie sich dir nicht freiwillig gefügt und bei deiner starken Obsession bin ich einfach davon ausgegangen. Aber nun ist mir klar, dass das ein wahrer Fehlgedanke war. Mein Gott, das erklärt so einiges!“

„Und dich wollte ich küssen ...“ Nocturn seufzte wütend und himmelte aufgebend mit den Augen, ehe er sich wieder an Youma richtete, welcher ganz begeistert war von seiner Erkenntnis.

„Am liebsten würde ich die Erinnerungen von uns beiden löschen, aber das kann ich ja leider nicht. Also lass uns uns darauf einigen, dass wir es einfach vergessen. Es ist nichts passiert. Gar nichts.“ Das brachte Youma dazu, aufzuwachen, aber er hatte scheinbar den Sinn hinter Nocturns Worten nicht ganz verstanden.

„Willst du denn gar nicht wissen, wie es ist?“

„Nein.“

„Du hast nur Angst, das ist beim ersten Mal normal, aber das brauchst du nicht zu haben. Ich werde auf dich aufpassen.“ Jetzt wurde Nocturn rot, allerdings aus Ärgernis, statt aus Scham.

Danke, aber ich verzichte.“ Aber so schnell gab Youma nicht auf: er verstand nicht, konnte nicht verstehen, warum Nocturn sich so sträubte, wenn er ihm doch offensichtlich nicht abgeneigt war – wo also war das Problem? Glaubte Nocturn ihm etwa nicht? Oder ging es ihm um etwas anderes... er hatte erst abwehrend reagiert, als Youma seine Haut ...

 

Und plötzlich durchspülte Youma die eiskalte Erkenntnis.

Nocturns Narben. Seine Abwehr. Dass er ihn sofort angegriffen hatte, nur weil Youma sich über ihn gebeugt hatte... seine Skepsis, sein Ekel, seine Angst.

 

Youmas Lächeln war dahin, er verbarg seinen Mund nun hinter seiner Hand, um ein Aufkeuchen zu unterdrücken. Aber warum schockierte ihn diese Erkenntnis, von welcher er sich sicher war, dass sie wahr war? Vergewaltigung war normal in der Dämonenwelt; es war nichts Ungewöhnliches. Nocturn war nicht der einzige, der vergewaltigt worden war – man musste sich nur lange genug in Lerenien-Sei aufhalten, dann würde man schon schnell ein Kind finden, welches Rettung vor einem sexuellen Übergriff benötigte. Aber waren diese Narben auf seinem Körper auch normal? Es war lange her, dass Youma sie bei Nocturns Wiederbelebung gesehen hatte, aber er erinnerte sich noch deutlich daran, wie überrascht er über die Menge und deren systematischen Platzierung gewesen war.

 

„Nocturn... kann es sein, dass du... vergewaltigt worden bist?“ Youma wusste, dass er die Frage eigentlich nicht stellen brauchte oder durfte – war das nicht ein Thema, über welches man nicht reden wollte, welches man tief in sich vergrub? Aber es war ihm ein Bedürfnis, es auszusprechen, wirkliche Gewissheit zu bekommen... auch wenn das wahrscheinlich egoistisch war.

Nocturn jedoch blieb ruhig. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum; nur seine Zornesröte verschwand.

„Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass ich mich an nichts vor meinem 17. Lebensjahr erinnern kann – ich erinnere mich also nicht an irgendeine Vergewaltigung. Aber ja, ich habe auch schon mal darüber nachgedacht, ob ich es vor meinem 17. Lebensjahr mal wurde. Kann sein. Weiß ich nicht. Und ich will es auch gar nicht wissen.“ Kurz hatte Nocturn weggesehen, hatte aus dem Fenster gesehen, seinen Blick in dem nächtlichen Leuchten des Eiffelturmes verloren.

„Fakt ist – und ich weiß, das kannst du dir schwer vorstellen, ich erwarte es auch nicht – dass ich nie Lust nach sexuellem Verkehr verspürt habe. Menschen nennen das asexuell. Die Dämonen haben viele weitere, weniger schmeichelhafte Worte dafür. Es wäre also für unsere Pläne gut, wenn du es für dich behältst. Sexualität und Macht gehen in Enfer einfach zu sehr Hand in Hand... hm? Was siehst du mich denn so mitleidig an?“ Überrascht über Nocturns Worte schreckte Youma auf; hatte er ihn mitleidig angesehen? Wahrscheinlich; er spürte auf jeden Fall das Mitleid in sich hochkommen.

„Das ist keine Krankheit, Youma.“ Der Angesprochene deutete ein nachdenkliches, nicht unbedingt verständnisvolles Nicken an, doch sagte vorerst nichts.

 

„...es tut mir leid. Das alles. Es war nicht meine Absicht, dass du dich unwohl fühlen musst.“ Sie waren sich jetzt wieder näher; das Wohnzimmer lag nicht mehr zwischen ihnen, denn Youma war auf ihn zugegangen – allerdings sehr langsam, als wäre Nocturn ein schreckhaftes Tier, das bei einer zu hastigen Bewegung verschwinden könnte. Nocturn ergriff allerdings nicht die Flucht; er stand immer noch an der Wand, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt.  

Er antwortete nicht sofort.

Seine Augen drifteten zuerst wieder an einen Youma nicht zugänglichen Ort.

Er war stehen geblieben und sah nun förmlich dabei zu, wie Nocturn langsam röter wurde.

 

„Das Küssen... das Küssen mochte ich. Das mochte ich sehr. Beide... Varianten.“

 

Youma wollte gerade erleichtert aufatmen – wenigstens war nicht alles für ihn unangenehm gewesen – doch wurde von Nocturn abgelenkt, der sich nun endlich von der Wand löste und auf seinen Partner zuging. Erst kurz vor ihm blieb Nocturn stehen und einen Augenblick lang – vielleicht auch mehrere Minuten – waren sie in die unterschiedlichen Augen ihres Gegenübers vertieft, als sähen sie sie zum ersten Mal.

Und ganz plötzlich, als hätten sie etwas gesagt, anstatt sich nur in den Augen des anderen zu verlieren, legte Youma die Arme um Nocturns Hüfte und Nocturn seine um Youmas.

 

Stirn und Stirn berührten sich, die schwarzen Haare vermischten sich und es wurde still.

 

Bis Nocturns stille, fast geflüsterte Worte das einstimmige Schweigen brachen.

„Wir können uns auf einen... Kompromiss einigen.“ Youma bewegte kurz lächelnd den Kopf von der einen Seite zur anderen.

„Es ist schon gut, Nocturn.“

„Ich meine es ernst.“ Dass er das tatsächlich meinte, verstand Youma auf einmal, als er in den Augen Nocturns wieder etwas aufleuchten sah; ein kleines, flackerndes Licht, versteckt in dem roten Meer seiner alles durchbohrenden Augen.

„Wenn wir es tun – und ich sage jetzt mit Absicht nicht das Wort, denn das magst du ja nicht – dann verlange ich...“ Seine Entschlossenheit kam ins Wanken, seine schüchterne Unerfahrenheit kam wieder zum Vorschein, aber Youma zeigte Geduld:

„... dass du mich die ganze Zeit ansiehst und mich dabei...“ Seine Stimme brach ab; seine Augen flüchteten kurz wieder – war er schon immer so liebenswert gewesen? Gott, was dachte er hier eigentlich... das war doch Nocturn…

„... küsst. Und nur zum Luftholen aufhörst.“ Das brachte Youma zum Grinsen. Er konnte gar nicht anders.

„Das klingt wie eine Kampfbedingung.“ Auch Nocturn musste grinsen:

„Was für eine unromantische Formulierung – und das von jemandenm wie dir!“

„Wer von uns hat denn mit den Bedingungen angefangen ...“

 

 

Die weitaus größte Hürde waren Nocturns Kleider – beziehungsweise ihn dazu zu bringen, aus diesen heraus zu kommen. Zuerst hatte er sich den langen Rollkragenpullover selbst ausziehen wollen, dann entschied er sich um, woraufhin sein Selbstbewusstsein so sehr zusammenzubröseln schien, dass Youma ihn schon dazu zwingen wollte, das ganze abzubrechen, da er es nicht ertrug, Nocturn so klein und ängstlich zu sehen – es war so gar nicht er... oder doch? Gehörten all diese wahrlich sehr unschönen Narben zu ihm wie seine Skeletthände zu ihm gehörten, zu diesem emotionalen Dämon, der an seiner Schulter geweint hatte, zu dem gleichen Dämon, der boshaft über das Leid anderer lachen konnte, es liebend gerne mit großer Verspieltheit und Kreativität selbst verbreitete? Gehörte all das zu ihm, war all das das Wesen, dass er seinen Partner nannte, das Wesen, mit dem er diese Intimität teilte... war all das Nocturn?

 

Es war Youma ein dringendes Bedürfnis, seine vorigen Aktionen wieder gut zu machen, denn er wollte, dass Nocturn sich mit ihm sicher fühlte – immer wenn er zurückzuckte, das kleinste Anzeichen von Angst zeigte, war Youma da, um ihn zu beruhigen, ihm zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, dass er nicht vor Nocturns dürrem Körper zurückschauderte und die Narben ihn nicht abstießen – und dass er ihm nicht wehtun wollte. Es war ein kompliziertes Unterfangen – aber als sie in der Morgendämmerung erschöpft atmend nebeneinander auf dem warmen Teppichfußboden lagen, da wurde Youma bewusst, dass er es selten so intensiv erlebt hatte.

 

Schweigend lagen sie nebeneinander, den Kopf zueinander gedreht, die Arme über Kreuz, wieder einfach nur ansehend.

 

Nocturn grinste, erschöpft, aber ziemlich erfreut, wie Youma erleichtert feststellte.

„Was hat uns da eigentlich geritten?“ Für ein Grinsen war Youma zu müde, er lächelte daher nur:

„Das weiß ich nicht.“

„Das ist wohl das Motto des Abends.“

„Es dämmert, Nocturn.“

„Na, dann eben des Tages.“

 

Eine Weile noch blieben sie liegen, bis Nocturn sie beide daran erinnerte, dass nicht Blue nun die Person war, die sie entdecken könnte, sondern Feullé, welche bald aufstehen würde. Dem konnte Youma nicht viel entgegensetzen, doch er hatte es nicht so eilig sich wieder anzuziehen wie Nocturn es hatte. Er setzte sich vorerst nur auf, genoss die ersten, zarten, Sonnenstrahlen des Tages auf seiner Haut und schloss kurz seine Augen – bis ein etwas schmerzhaft klingendes Stöhnen sie wieder dazu brachte, sich hastig zu öffnen.

 

„Habe ich dir doch wehgetan?“ Er war selbst kurz überrascht, wie besorgt seine Stimme klang, aber Nocturn reagierte auf diese Besorgnis mit unwirschen Worten, während er seine Kleidung umständlich zusammensammelte, da er dabei versuchte, so wenig wie möglich von seiner Haut sehen zu lassen:

Bon sang, Youma! Mir wurde einmal fast mein Arm abgerissen, Lerou wollte meine Beine brechen, White hat mir ihren Stab durch den Oberkörper gestoßen und ich habe so oft Lichtintus gehabt, dass ich es nicht mehr zählen kann.“ Er sah über seine spitze Schulter zu Youma und fügte mit einem sarkastischen Grinsen hinzu:

„Ich denke, ich überlebe es. Ich bin doch nicht aus Glas.“

 

Doch. Doch. Genau das war er.

 

Aber Youma sagte es nicht. Er himmelte mit einem leichten Lächeln mit den Augen, ehe er Nocturn seinen Rollkragenpullover zuwarf, den er mit den Füßen hätte heranfischen müssen. Dann zog auch er sich an – und das genau rechtzeitig, denn kaum, dass er sich angezogen hatte und er Nocturns Lippen noch einmal mit seinen berührt hatte, hörten beide, wie sich Feullés Zimmertür öffnete und wie sich ihre langsamen, kleinen Füßchen in Richtung Wohnzimmer bewegten, um wie jeden Morgen den Kaffee aufzusetzen.

 

Bon jour, Ma’Petit!“ Feullé verharrte sofort; sie errötete standardgemäß, als sie Nocturn sah, aber ihre müden Augen, aus denen sie gerade noch den Schlaf gewischt hatte, weiteten sich, als sie Youma und Nocturn beide im Wohnzimmer sah – und Youma schoss ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf: hatte sie es gemerkt? So schnell?! Oder wunderte sie sich nur darüber, dass Youma, der am längsten von allen schlief, schon wach war?

Was auch immer sie dachte, sie sprach es nicht aus. Sie ließ sich von Nocturn anstrahlen, sah immer wieder weg, weil ihre Röte einem direkten Blickkontakt nicht standhielt und ging dann ihrer morgendlichen Routine nach – allerdings kam es Youma so vor, als würde sie ein paar Blicke mehr als üblich Richtung Youma werfen.

 

Der Kaffee kochte, Feullé hatte sich ins Badezimmer begeben und Nocturn zog sich seine Stiefel an, um wie jeden Morgen seine Zeitung an der Metrostation Bir Hakeim zu holen. Und Youma hatte das Gefühl, als würde er einfach stillstehen. Sein Körper sowie seine Gedanken.

 

Bis Nocturn seine Gedanken schneller und brutaler wieder in Bewegung brachten, als ihm lieb war:   

„Was ist eigentlich mit Silence?“

„Mit...Silence?“, wiederholte Youma. Seine Stimme wurde heiser.

„Ja, deiner Verlobten.“ Ein erstickter Schrei entfloh ihm, als er verstand, worauf Nocturn hinaus wollte und für einen Augenblick sah es so aus, als würde er sich am liebsten aus seiner eigenen Haut heraus teleportieren wollen.

„Oh Gott, Silence! Was habe ich...“ Ohne weitere Worte stürzte Youma in sein Zimmer und ließ Nocturn, welcher ihm halb lachend, halb seufzend hinterher sah, im Gang zurück.

 

 

Sollte er beleidigt sein?

Vielleicht.

Aber er war es nicht.

 

 
 

Denn jetzt kannte seine gläserne Seele das Gefühl, von jemandem berührt zu werden, der ihn nicht hasste.
 

 

 

        

 

 

    

 

  

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Tekuu
2014-11-16T11:50:06+00:00 16.11.2014 12:50
Die Bestätigung, dass jemand ihn wirklich mag, haut Nocturn so aus den Söckchen...verständlich, aber wirklich schön, wie deutlich du gemacht hast, dass so etwas wie ein Kuss für Nocturn viel bedeutungsschwangerer ist als für den Ottonormalcharakter uvu ♥ Ich finde es schön, wie viel Beachtung du den einzelnen "Schritten" gegeben hast, die sie sich annähern...das hat etwas sehr einfühlsames und wirkt nicht wie 0815-muss-sie-ins-Bett-kriegen uvub Sie gehen achtvoll miteinander um und besonders Youma muss sein ganzes Maß an Empathie aufbringen (WIE GUT, DASS WIR NICHT IN "DER PIANIST" SIND---), um Nocturn nicht zu verletzen oder zu verschrecken. Viele Autoren schrecken vor "Missverständnissen" während Miepszenen zurück und Nocturn und Youma hatten hier eine ganze Menge davon. Das fängt bei "Ich will mehr" an und hört eigentlich nirgends wirklich auf /O/ Und du "zeigst" diese awkwardness, was einen nah an die Charaktere ranbringt - man hat einfach das Gefühl, sie zu verstehen und ungeschönt dabei zu sein?? xDDD SOZUSAGEN!?!? Das hört sich im Kontext jetzt vielleicht falsch an, aber ich hoffe, du weißt, was ich meine OTL""""""

"Nocturn war sich aber offensichtlich sicher und Youma hatte kurz bei all der schüchternen Röte und der verzagten Tränen fast vergessen, dass es sich bei Nocturn um einen Dämon handelte, welcher nicht nur gut kämpfen konnte, sondern auch recht schnell war." - hehe ♥ >w</ Es ist auch toll, wie du immer wieder witzige Szenen und Unterhaltungen eingefügt hast, wie dass Youma plötzlich versteht, dass Nocturn mit White nichts in der Form geteilt hat und sich darüber so auslässt...was Nocturn damit quittiert, dass er so einen küssen wollte xD Es hat einfach etwas Herzliches und so "charakterliches" an sich, da merkt man einfach, dass es deine eigenen Charaktere sind und du sie ernst nimmst uvù Und das macht dieses Kapitel unglaublich sympathisch ♥♥♥
Von:  JunAkera
2014-07-07T09:17:17+00:00 07.07.2014 11:17
auch ein sehr schönes Kapitel *^*
ich hätte wahrlich nicht erwartet dass sie gleich intim werden... aber... es sind schließlich Dämonen >D
...und... d'aw >///<
es ist schrecklich das zu sagen aber.,.. Gott, ist Nocturn cute >3<
(das passt so überhaupt nicht... !! Nocturn und Süss in einem Satz Ö_Ö man möge mich schlagen!!)
aber OMG >3<

sehr schön beschrieben wie Youma auf Nocturn eingeht! Das gefällt mir glaub ich am meisten an dem Kapitel **
seine Gedanken wie er Nocturn helfen kann und wie er nicht weiß wie er sich genau verhalten soll, aber es ja eigentlich Nocturn recht machen wollte mit dem "will mehr" und es dann falsch verstanden hatte |D (d'awww~~)

echt toll *^*


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