No.6 Week von Lawlya (No.6 One-Shot Collection) ================================================================================ Kapitel 1: Sonntag, 08.06.14, Pre-Reunion ----------------------------------------- Basiert auf einem Prompt von otpprompts: Imagine person A of your OTP gets in a fight and is beaten badly. Person B comes across Person A, who has been left bruised and bloody. Person B insists on taking care of Person A even though Person A is trying to be tough, possibly to impress Person B. Als Shion von seiner Arbeit bei Inukashi in den kalten Untergrundraum, den er seit seiner Flucht aus No.6 sein Zuhause nannte, zurückkehrte, startete er wie immer zuerst den Kerosin-Heizer und ließ die Wärme sich ausbreiten, bevor er seinen Mantel ablegte und ein wenig schaudernd begann, das Abendessen vorzubereiten. Er würde Nezumi später hoffentlich mit einem warmen Zuhause und dem Geruch von Essen begrüßen können, wenn er nach einem langen Tag im Theater zurückkam. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln, während er das restliche Gemüse von gestern in mundgerechte Stücke schnitt und das Wasser auf dem Herd erhitzte. Als es zu kochen begann, schob Shion die Brocken mit dem Messer in den Topf und stellte die Flamme ein wenig herunter. Eigentlich würden sie noch Hühnchen oder etwas Ähnliches hinzugeben, um die Suppe ein wenig nahrhafter zu machen, doch das Fleisch war ihnen bereits gestern ausgegangen. Shion müsste morgen auf den Markt gehen und ihre Lebensmittel wieder aufstocken. Doch vorerst gab es nichts weiter für ihn zu tun, als sich die Zeit mit dem Buch, das er gestern Abend begonnen hatte, zu vertreiben und auf die Suppe Acht zu geben, damit sie nicht überkochte. Bis das Essen fertig war, müsste auch Nezumi zurück sein, also würde spätestens die sich öffnende Tür ihn für den Fall, dass er sich zu sehr in den Worten verlor, wieder in die Realität zurückholen. Shion wusste nicht genau, wie lange er in die Geschichte einer perfekten Gesellschaft – einer Gesellschaft, wie No.6 es gern behauptete zu sein, und das beunruhigte ihn ein wenig – vertieft war, doch das aufgeregte Schnattern einer ihrer kleinen Mitbewohner riss ihn aus seinen Gedanken. „Hamlet?“ Verwirrt sah Shion zu der weißen Maus auf, die sich auf beiden Hinterbeinen auf den Tisch gestellt hatte, um mit ihm wenigstens einigermaßen auf Augenhöhe zu sein. Dann flog sein Blick zum Herd. Wie lange kochte die Suppe schon? „Oh, Mist!“ Eilig markierte Shion die Stelle, an der er stehengeblieben war, und legte das Buch beiseite, bevor er aufsprang und zum Heizer hastete. Prüfend nahm er einen der bereitstehenden Löffel und rührte die durch die Kartoffeln etwas eingedickte Flüssigkeit um, stellte jedoch erleichtert fest, dass das Gemüse gar und das Abendessen nicht ruiniert war. Nur … Nezumi war noch immer nicht zurück ... Es war nicht unbedingt seine Art, sich zu verspäten. Vielleicht war er bei der Probe aufgehalten worden? Oder er hatte einen Umweg nehmen müssen – im West Block konnte man nie vorhersagen, wann ein handfester Streit ausbrach. Und entweder war man mitten drin und beeilte sich, aus der manchmal wortwörtlichen Schussbahn zu kommen, oder man tat alles, um dem Geschehen aus dem Weg zu gehen; es sei denn, es handelte sich um ein persönliches Anliegen. Man sollte sich in dieser Gegend nicht allzu sehr in die Angelegenheiten Fremder einmischen, zumindest das hatte Shion während seines kurzen Aufenthaltes hier gelernt. Nezumi wusste das besser als jeder andere, den Shion kannte – er hatte ihm immerhin beigebracht, diese Situationen einzuschätzen und sie zu vermeiden. Es würde ihm schon gut gehen … Mit diesem Gedanken drehte Shion die Flamme des Kerosin-Heizers herunter und ließ die Suppe auf niedriger Hitze weiterkochen. Das Gemüse sollte nicht vollkommen verkochen, während er auf Nezumis Rückkehr wartete; ganz davon abgesehen, dass er sich dessen Gezeter gar nicht erst vorstellen wollte, sollte das Gemüse zu Brei verkommen … Shion seufzte und sah entschuldigend zu den drei ungeduldigen Mäusen. „Dann muss das Abendessen wohl noch ein wenig warten, was?“ Als ihm aufgeregtes Fiepen und Schnattern entgegenflog, konnte Shion ein Lachen nicht zurückhalten. „Was schimpft ihr mit mir? Beschwert euch bei eurem Meister, wenn er endlich nach Hause kommt!“ Wie um ihm zuzustimmen, verstummten die drei fast augenblicklich und fügten sich in ihr Schicksal. Nezumi würde sich heute Abend wohl noch einiges anhören dürfen … Beim Gedanken an den anderen Jungen entwich Shion ein erneuter Seufzer. Ob es ihm wirklich gut ging? Aber was konnte er schon tun. Das letzte Mal, als er Hals über Kopf aus der Sicherheit ihres Versteckes gestürzt und Nezumi zu Hilfe geeilt war, hatte er nur Rüge dafür erhalten. Und es war wirklich nicht so, als hätte er Nezumi im Ernstfall wirklich unterstützen können. Eigentlich wäre er wohl eher eine Belastung. Und es war auch nicht so, als wüsste er überhaupt, wo er suchen sollte. Sein einziger Anhaltspunkt wäre das Theater, aber das hatte Nezumi sicher schon längst verlassen. Ein Nachteil daran, in einem Untergrundraum zu wohnen, war, dass man kaum die Zeit einschätzen konnte. Die einzigen, die irgendwie immer zu wissen schienen, wie spät es war, waren die drei Mäuse, also hatte Shion gelernt, die Uhrzeit anhand ihres Verhaltens zu ermitteln. Keine besonders zuverlässige Quelle, wenn man bedachte, dass sie sie nur zu Sonnenaufgang weckten und abends ihre Rationen einforderten … Mit einem erneuten Seufzen setzte sich Shion wieder auf den Boden, mit dem Rücken an ihr gemeinsames Bett gelehnt, und nahm das Buch erneut auf. Er versuchte, sich wieder auf die Worte auf den Seiten zu konzentrieren, ertappte sich selbst aber immer wieder dabei, wie er gedankenverloren auf die Tür starrte und darüber nachdachte, ob er nicht doch nach Nezumi suchen sollte. Das nach und nach eindringlicher werdende Fiepen der Mäuse gab ihm ebenfalls eine vage Vorstellung davon, wie spät es bereits war. Irgendwann wurde es so schlimm, dass er den Herd abstellte, um das Gemüse am Ende nicht doch noch zu verkochen, und Hamlet, Tsukiyo und Cravat mit ein paar Brotkrumen fütterte, damit sie endlich ein wenig Ruhe gaben und seine Nerven nicht noch weiter erregten. Als die drei fraßen, schaute er nachdenklich auf sie hinab. „Ich gehe ihn suchen …“, sagte Shion leise zu ihnen, woraufhin alle drei ihre kleinen Köpfchen hoben und ihn mit ihren Knopfaugen anstarrten. „Es ist spät und es ist nicht sicher draußen, allein. Es muss etwas passiert sein, oder?“ Er erhielt keine Antwort, aber die brauchte Shion auch nicht. Sein Entschluss stand fest. Mit eiligen Schritten ging er auf den Eingang zu, warf sich seinen Mantel über, den er unweit von ihr liegen gelassen hatte, und umfasste die Klinke. Als er die Tür gerade öffnen wollte, spürte er vier kleine Pfoten an dem Stoff nach oben klettern und entdeckte Cravat, der es sich auf seiner Schulter bequem gemacht hatte. „Du passt wohl auf, dass ich mich nicht im Dunkeln verlaufe?“ Die Maus fiepte einmal, wie zur Bestätigung. Und so sehr Shion auch wünschte, dass es ein Scherz seinerseits gewesen war – er war noch nie nachts allein durch den West Block gestrichen. Er fühlte sich sicherer mit jemandem an seiner Seite, der die Gegend wie seine Westentasche kannte. Und er zweifelte nicht einen Moment an Cravats Fähigkeiten, ihn zu notfalls zurück zu ihrem Versteck zu leiten. „Dann lass uns keine Zeit mehr verlieren!“ Er öffnete die Tür mit einen knarzenden Geräusch und verschloss sie sorgsam hinter sich, als Shion in seinen Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Erschrocken fuhr er zusammen und wirbelte herum, versuchte, die Dunkelheit zu durchleuchten und auszumachen, ob es ein obdachloser Bewohner des West Blocks geschafft hatte, die oberirdische Tür zu öffnen, doch entspannte sich sofort wieder, als er Inukashis Hund erkannte, der ihn jeden Tag bis zum Hotel und wieder zurück begleitete. „Du bist noch hier?“, fragte er verwundert, als die müden Augen ihn fixierten. Wie als Reaktion auf seine Stimme, winselte der Hund kurz und Shion konnte undeutlich ausmachen, wie er mit dem Schweif wedelte. Als würde er fragen, was er um diese Uhrzeit noch draußen wollte … „Nezumi ist noch nicht zurück und … ich mache mir Sorgen. Ich gehe ihn suchen.“ Kaum hatte Shion den Satz beendet, erhob sich Inukashis Bruder, streckte sich einmal gemächlich und trat ein paar Schritte auf ihn zu, während er ihn mit seinen großen braunen Augen erwartungsvoll ansah. Shion brauchte einen Moment, um zu begreifen, was der Hund ihm anbot. „Du … willst mir helfen?“ Als Antwort erhielt er ein enthusiastisches Bellen, was ihm ein erleichtertes Lächeln entlockte. „Danke.“ Inukashis Hunde waren fast allesamt außergewöhnlich intelligent und kannten sich ebenfalls gut in der Stadt aus. Ganz davon abgesehen, dass dieser spezielle Hund sowohl ihn als auch Nezumi schon oft genug gesehen hatte, um sie beide wahrscheinlich anhand ihres Geruches aufspüren zu können. Wenn er länger darüber nachdachte, war es fast unheimlich, dass Inukashi sich somit indirekt einen Weg erschlichen hatte, sowohl seinen eigenen als auch Nezumis Aufenthaltsort jederzeit relativ effizient bestimmen zu können … Wenn er jemals herausfinden sollte, dass Inukashi wirklich diese Absicht gehegt hatte, als er ihm seinen Bruder zur Seite gestellt hatte, würde Shion ihm nun wahrscheinlich danken. Doch für den Moment schüttelte er den Gedanken ab. Nezumi war wichtiger – egal, welche Mittel er dazu einsetzen musste, um ihn sicher wieder nach Hause zu bringen. Als Shion den geheimen Zugang zu ihrem Versteck öffnete, begrub er all diese aufwühlenden Gedanken und Gefühle und versuchte, sich mithilfe der kalten Nachtluft zu beruhigen, die ihm aufgrund der winterlichen Jahreszeit entgegenschlug. Shion zog die Schultern nach oben und vergrub sein Gesicht im Kragen seines Mantels, bevor er sich in Richtung der niedrigen und schiefstehenden Gebäude des West Blocks aufmachte. So unwahrscheinlich es auch sein mochte, dass Nezumi immer noch beim Theater war, es war sein einziger Anhaltspunkt, und Shion würde verdammt sein, bevor er ziellos die Gassen der Stadt durchsuchte und somit nur noch mehr Zeit verlor. Dass er so lange gezögert hatte, nach Nezumi zu suchen, was schon schlimm genug. Was auch immer geschehen war, es musste auf dem Weg vom Theater zu ihrem Unterschlupf passiert sein. Also würde er dort anfangen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Nezumi bevorzugt über die Marktstraße oder andere große Hauptstraßen gehen würde. Eve war beinahe eine Berühmtheit im West Block und somit war die Wahrscheinlichkeit, dass Nezumi erkannt und aufgehalten werden würde auf überfüllten Straßen sehr viel höher. Andererseits mied er die kleinen, uneinsichtigen Gassen, weil sie perfekte Schlupfwinkel für Diebe boten. Das war es, was Nezumi ihm immer eingebläut hatte. So widersprüchlich Nezumi manchmal war, er hatte einen unübertrefflichen Sinn für die Gefahren um ihn herum und wie er sie erfolgreich umgehen konnte. Also gab es nach Shions Wissen nicht allzu viele Routen, die er vom Theater aus hätte nehmen können – wenn er nicht hinterrücks in einer Gasse erstochen und ausgeraubt worden war. Shion stockte kurz, als der Gedanke wie aus dem Nichts in seinem Kopf auftauchte. Was, wenn Nezumi wirklich etwas Schlimmes passiert war? Was, wenn er ihn nie wieder sehen würde? Was, wenn er nicht stark genug gewesen war, um zu überleben? Shion müsste alleine weiterleben … Hier … Konnte er das überhaupt? Ohne Nezumi weiterleben? Oder würde er ganz einfach seinen Verstand verlieren? Ohne Nezumi, der ihn auf dem Boden der Tatsachen hielt und seine Augen immer und immer wieder für die Grausamkeiten der Welt öffnete? Ohne Nezumi, der ihm im selben Atemzug Trost und Halt spendete? Wie sollte er jemals – Das Wimmern des Hundes neben ihm riss ihn wieder zurück in die Realität. Es war angsteinflößend, was für dunkle Gefühle der Gedanke an eine Welt ohne Nezumi in ihm wachrief. Als könne er die ganze Welt nicht ertragen, wenn Nezumi nicht in ihr lebte, irgendwo da draußen … Er schüttelte vehement den Kopf, um seinen Verstand wieder zu klären. Er musste Nezumi finden. Um jeden Preis. Egal, was er vorfinden würde. Gleichgültig, was mit ihm geschehen würde. Und obwohl er jede erdenkliche Hilfe hatte, die er sich wünschen konnte – es war einfach nicht genug; niemals genug. „Entschuldige. Lass uns weitersuchen, okay?“, flüsterte Shion und wollte schon mit schnellen Schritten weiter in Richtung Theater gehen – bloß weg von dem Ort der schwarzen Gedanken –, als er aus den Augenwinkeln sah, wie sein Begleiter plötzlich die Ohren spitzte und die Nase in die Luft hielt. Shion stockte der Atem, als er sich sofort wieder zu ihm umwandte und das stetige Zucken der Nostrilen beobachtete, während sich die Ohren aufgeregt in eine neue Richtung ausrichteten. Hatte er Witterung aufgenommen? Oder etwas gehört? Bevor Shion ein Wort herausbringen konnte, schoss die schlanke Silhouette plötzlich nach vorne und folgte der kleinen Straße, bevor sie abrupt in eine enge Gasse abbog. Erst als der Hund lautstark zu bellen begann, rannte Shion ihm hinterher und stieß fast mit der Wand zusammen, als er stolpernd die Ecke umrundete. „Was ist?! Hast du was –“, Shion stoppte, als er sah, was der Hund wimmernd hinter einem großen Stapel Altholz beschnupperte. „Nezumi!“ Die in sich zusammengesunkene Gestalt zuckte zusammen, bevor sie leise seinen Namen murmelte – als würde sie gar nicht wirklich ihn erkennen, sondern nur seine Stimme, vielleicht sogar nur die besorgten Worte, und sie seinem Namen zuordnen. Nezumis Stimme klang rau, angespannt und ausgelaugt – Shion weigerte sich, sie als schwach zu bezeichnen –, als würde er schon länger hier in der Kälte sitzen und immer wieder kurz das Bewusstsein verlieren. Das hier war seine Schuld. Wäre er doch nur früher auf die Suche nach Nezumi gegangen! Shion konnte den Schmerz in seiner Brust bei Nezumis Anblick kaum ertragen und spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen und er unwillkürlich die Zähne zusammenbiss, bevor er sich zwang, sich wieder zu beruhigen und eine ruhige Fassade zu bewahren. Er konnte sich jetzt nicht in seinen eigenen Gefühlen verlieren. Er musste Nezumi helfen und ihn in Sicherheit bringen; und es würde nicht helfen, ihn in seinem angeschlagenen Zustand möglicherweise noch weiter zu beunruhigen und aufzuregen, sollte er Shions aufgewühltes Wesen bemerken. Hastig kniete er sich vor Nezumi und stillte das Zittern in seinen Händen, bevor er sanft seine Schultern umfasste. „Nezumi?“ Seine Stimme bebte und verriet seine Bemühungen. Shion war nicht sicher, ob es eine gute Idee war, Nezumi mit seiner Stimme und seiner Berührung zurück ins Bewusstsein zu zwingen, doch wenn er weiterhin so apathisch bliebe, wusste er, dass er wohl über kurz oder lang selbst in Panik verfallen würde. Er musste einfach wissen, ob es ihm gut ging … Als sich Nezumis geschlossene Lider öffneten und die silbernen Iriden enthüllten, wurde die Welle der Erleichterung, die Shion durchflutete, schnell von einem Gefühl des Fallens abgelöst. Ohne zu zögern warf sich Nezumi mit seinem Gewicht nach vorne und brachte Shion so aus dem Gleichgewicht, der hilflos mit dem anderen Jungen auf ihm auf den Rücken fiel. Noch im selben Moment legten sich Nezumis Hände um seinen Hals und schüttelten in der Bewegung Shions leichten Griff um seine Schultern ab. Shion versuchte gar nicht erst, sich gegen Nezumi zu wehren. Es hätte wahrscheinlich nicht einmal dann einen Sinn gehabt, wenn er nicht vollkommen erstarrt gewesen wäre, als er in dem Licht der Sterne und des halbvollen Mondes Nezumis Gesicht genauer betrachten konnte. Seine linke Wange hatte einen ungesunden blaugrünen Farbton angenommen, zweifellos hervorgerufen durch einen Schlag auf den Wangenknochen. Wahrscheinlich von einer Faust, auch, wenn Shion sich nicht sicher war, als er kleine Schürfwunden zwischen den violetten Verfärbungen und an seinem Kinn entdeckte. Nezumis Braue war mit getrocknetem Blut bedeckt, wahrscheinlich von einer Wunde an seiner Stirn und er konnte leicht rötliche Male an seinem Hals ausmachen, die für Shion deutlich genug nach Fingern und einer Hand aussahen. „W-Was …?“, begann Shion, brach jedoch ab, als sich Nezumis Hände fester um seine Kehle schlossen und ihm die Luft nahmen. Einen Moment lang fragte Shion sich, ob Nezumi ihn vielleicht wirklich erwürgen würde, bevor er aus seinem Delirium erwachte. Doch dann setzte er sich auf, selbst nicht wirklich wissend, woher er die Kraft nahm, um sich gegen Nezumis zu wehren, der ihn mit aller Macht auf dem Boden halten wollte, und streckte seine Hand aus, sanft über die geschundene Wange streichelnd. „Wer?“, presste er scharf hervor, obwohl die Worte kaum Platz in seinem Hals fanden und nur röchelnd aus ihm herausbrachen. Plötzlich atmete der Körper über ihm hörbar auf und der Druck auf seinen Kehlkopf schwand. Dann schien alle restliche Energie Nezumi zu verlassen, als er sich kraftlos zur Seite fallen ließ. Bevor er den Boden berühren konnte, schlang Shion schützend seine Arme um ihn und zog ihn näher an sich. Für einen Moment befürchtete er, dass er ohnmächtig geworden war – er wäre niemals in der Lage, ihn den ganzen Weg zurück zu ihrem Versteck zu tragen –, doch als er Nezumis schweren Atem hörte und die nun viel wacheren silbernen Augen bemerkte, die fest auf ihn gerichtet waren, erstickte er ein erleichtertes Lachen. Shion konnte nicht anders, als sein Gesicht für einen Moment an Nezumis Hinterkopf zu lehnen und das Gefühl der weichen Haare auf seiner Haut zu genießen. Nezumi schüttelte ihn grummelnd ab, als er versuchte, sich aufzurichten und auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Shion wusste es besser, als der Versuchung nachzugeben, seine Arme nach ihm auszustrecken und ihm helfen zu wollen. Nezumi würde nur wertvolle Energie dafür verschwenden, ihn fortzustoßen. Trotzdem stolperte Shion eilig wieder auf seine Füße und blieb nahe bei ihm. Er würde nicht zulassen, dass Nezumi sich bei einem Sturz noch mehr verletzte. Er konnte lediglich die Blessuren an seinem Hals und seinem Gesicht sehen; er hatte keinen Schimmer, wie es unter seiner Kleidung aussehen mochte. Soviel er wusste, konnte Nezumi durchaus geprellte oder sogar gebrochene Knochen davongetragen haben. Und er würde verdammt sein, wenn er zulassen würde, dass Nezumi sich in seinem Stolz weiter schadete – sogar, wenn er selbst dafür ein paar Prellungen davontragen müsste. Als Nezumi sich schweren Atems aufgerichtet hatte und wieder einigermaßen sicher auf seinen Beinen stand, während er sich schwer an der Hauswand neben ihm abstützte, konnte Shion die Worte, die ihm auf der Zunge brannten, nicht mehr im Zaum halten. „Was ist passiert?“ Er war darauf vorbereitet gewesen, ignoriert zu werden oder eine spottende Bemerkung über seine Neugierde zu erhalten – vielleicht sogar dazu aufgefordert zu werden, seinen eigenen Kopf zu benutzen, wie es Nezumi so oft von ihm verlangte –, aber nicht auf das barsche „Geht dich nichts an!“, das ihm in der kalten Luft entgegenschlug wie ein starker Wind und ihn ebenso frösteln ließ. „Aber …“, bevor er den Satz beenden konnte, stieß sich Nezumi von der Wand ab und ging unter Shions zunehmend besorgtem Blick und mit unsicheren Schritten in Richtung ihres Zuhauses. Mit einem Kopfschütteln unterdrückte Shion jeden Gedanken daran, zu versuchen, Nezumi irgendwie verständlich zu machen, dass er sich nur sorgte, und folgte dem Schwarzhaarigen stillschweigend. Er war krank vor Sorge gewesen. Er hatte um Nezumi gefürchtet, hatte sogar kurz in Betracht gezogen, Nezumi wäre dort draußen auf den Straßen gestorben. Gestorben, während Shion sicher und gemütlich in ihrem kleinen Haus ihr Abendessen kochte und auf seine Rückkehr wartete. Ihm wurde übel, wenn er daran dachte. Wie viel Zeit er verschwendet hatte, einfach nur tatenlos herumzusitzen. Er hatte gedacht, er wäre über diese Passivität hinaus; hätte die Gewohnheit abgelegt, auf die Lösung eines Problems zu warten, anstatt sie selbst zu suchen … War er immer noch genauso schwach wie damals in No.6? Shion wusste, dass er keinen dieser Gedanken mit Nezumi teilen konnte. Er wollte nicht, dass er wusste, wie schwach Shion noch immer war, selbst nach all den Wochen hier im West Block, wenn er selbst sich mit Verletzungen durch die Straßen kämpfte, um sicher wieder nach Hause zu kommen. Wie könnte er ihn da noch mit seinen nutzlosen Gefühlen belasten? Plötzlich gaben Nezumis Beine für einen kurzen Moment unter ihm nach und ließen ihn straucheln. Shion war sofort bei ihm und schlang einen Arm um seinen Rücken, um ihn mit einem Griff unter seinen Achseln zu stützen. Doch bevor er auch nur versuchen konnte, Nezumi wieder nach oben zu hieven oder sein Gewicht ein wenig auf seinen eigenen Körper zu verlagern, spürte er, wie er von dem warmen Figur neben ihm fortgestoßen wurde und von der Kraft dahinter stolperte. Nezumi hatte selbst kaum Zeit, sich von dem Rückstoß zu erholen. „Ich kann sehr gut alleine gehen …“ Seine Stimme klang schwächer als zuvor, doch deswegen nicht weniger beißend. Wenn Shion versuchen sollte, ihm seine Hilfe aufzuzwingen, würde er wahrscheinlich alles nur noch schlimmer machen. Nezumi würde straucheln und kämpfen und Kräfte erschöpfen, die er für den Heimweg brauchen würde. Also fand sich Shion seufzend mit Nezumis Dickkopf ab und behielt ihn stattdessen den Rest des Weges gut im Auge. Nach einer Weile beobachtete Shion, dass Nezumi begann, schwerer zu Atmen und sich hin und wieder die rechte Seite zu halten – als würden ihm beim Luftholen die Rippen schmerzen. Shion hoffte inständig, dass er Unrecht hatte. Rippenprellungen waren unangenehm, aber nicht lebensgefährlich, obwohl sie Nezumi wohl für einige Wochen beeinträchtigen würden. Ein Rippenbruch hingegen … Es war zu früh, um sich darüber zu sorgen. Er müsste Nezumis Brustkorb abtasten, um zu entscheiden, ob es sich um einen Bruch oder lediglich einen sehr schmerzhaften Bluterguss handelte, aber das würde er niemals zulassen. Shion musste wohl oder übel auf Nezumis eigenes Urteilsvermögen vertrauen. Er kannte sich am besten mit seinem eigenen Körper aus und wusste, wie viel er ertragen konnte … Und alles, was Shion noch wollte, war, Nezumis Schmerzen so erträglich wie möglich zu machen. Obwohl er seit dem Morgen schon nichts mehr gegessen hatte und hungrig nach Hause gekommen war, war ihm der Appetit vollkommen vergangen. Er bezweifelte, dass er bald zurückkommen würde – allein das Hämatom auf Nezumis Wange würde ihm vor Schuldgefühlen jedes Mal die Eingeweide abschnüren, wenn er ihn ansah. Was wäre, wenn er früher nach ihm gesucht hätte? Vielleicht hätte er ihn beschützen können? Shion versuchte, all diese Wenn und Abers tief in sich einzuschließen. Sie würden zu nichts führen. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern und es brachte nichts, darüber zu brüten, wenn er im Hier und Jetzt etwas für Nezumi tun konnte. Er war egoistisch genug, um sich zu wünschen, dass Nezumi ihm vertrauen und sich ihm öffnen würde, doch er war auch egoistisch genug, ihn notfalls selbst gegen seinen Willen zu beschützen und zu versorgen. Er konnte sich vorstellen, dass Nezumi ihm all diese Dinge übel nehmen könnte, doch war er selbst nicht ebenso selbstsüchtig? War es nicht selbstsüchtig, dass er verlangte, dass Shion in der Sicherheit ihres Versteckes blieb, während er sich in Gefahr brachte, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und so von ihm verlangte, seine Sorgen zu ersticken? War es nicht selbstsüchtig, sich nur auf sich selbst zu verlassen, wenn das eigene Leben für einen anderen Menschen derart wichtig wurde? War es nicht auch selbstsüchtig, ihm nur noch mehr Sorgen zu bereiten, indem er so abweisend und stur war? Shion bemerkte, wie die Steigung des Terrains langsam zunahm, was nur bedeuten konnte, dass sie bereits die unmittelbare Nähe ihres Versteckes erreicht hatten. Genauer gesagt den Hügel, den sie jeden Tag überwanden, um in den West Block zu kommen. Auch Nezumi schien die Veränderung der Bodenbeschaffenheit aufzufallen, denn er beschleunigte seine Schritte, was Shion mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. Er sollte sich besser nicht auf diese Weise überanstrengen. Doch bevor er seine Besorgnis äußern konnte, stockte der andere plötzlich in seinem Gang und presste wiederum eine Hand auf seine rechte Seite – dieses Mal deutlich fester als zuvor, als ob er seine Brustkorbbewegungen damit ausgleichen wollte. „Mist …“, wehte seine atemlose Stimme zu ihm herüber, während Nezumi leicht nach vorne sackte und sich mit seiner linken Hand auf seinem Knie abstützte. Shion schloss eilig zu ihm auf. „Geht es?“ Er wollte Nezumi eine Hand auf den Rücken legen und ihn stützen, hielt sich jedoch in letzter Sekunde davon ab, als dieser ihm einen wütenden Blick zuwarf. „Halb so wild!“ Der aggressive Tonfall erinnerte Shion an das Knurren eines verletzten Tieres, das in die Ecke gedrängt wurde und nicht mehr wusste, wohin es noch fliehen sollte. Er fand den Vergleich recht passend. Nezumi tendierte dazu, gewalttätig zu werden, wenn man ihn zu sehr bedrängte und ihm jede weitere Ausweichmöglichkeit nahm – diese Erfahrung hatte Shion schon mehrfach am eigenen Leib gemacht. Selbst, wenn sich seine Aggressivität nicht immer in körperlicher Gewalt äußerte ... Wie um sich seine eigenen Worte zu beweisen, zwang Nezumi sich augenblicklich, sich aufzurichten, als Shion einen Schritt zurücktrat, um ihm ein wenig Luft zum Atmen zu geben, und ging den Rest des Hügels so schnell hinauf, dass Shion hinter ihm herlaufen musste. Dennoch konnte er deutlich den unterdrückten Schmerz in Nezumis Gesichtszügen ausmachen. Warum nur war er so darauf versessen, sich nicht ein einziges Mal auf ihn zu stützen? Ging sein Wunsch nach Unabhängigkeit etwa wirklich so weit? Als sie endlich in die Sicherheit ihres Versteckes zurückkehrten, warf sich Nezumi ohne zu zögern auf ihr gemeinsames Bett, den Rücken Shion zugewandt, der ihn dabei beobachtete. Er war erstaunt gewesen, dass der andere es augenscheinlich ohne große Schwierigkeiten die Treppen hinuntergeschafft hatte, doch das schwere Heben und Senken seiner Schultern sprach eine andere Sprache. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass Shion sein Gesicht sah – was auch immer er dort verbergen mochte. Dennoch … die angespannte Haltung seines Körpers tat Shion schon beim bloßen Anblick weh und er zweifelte nicht daran, dass Nezumi immer noch seine Verletzungen spürte. Seufzend suchte Shion in den unteren Fächern der Bücherregale nach ihren Handtüchern und dem Erste-Hilfe-Kasten, aus dem er alle Mullbinden nahm, die er finden konnte. Dann holte er sich die Schüssel aus dem Bad, mit dem sie sich normalerweise vor dem Duschen abspülten, und ihren zweiten Kochtopf. Er packte alles zusammen, sodass er sich die Dinge unter einen Arm klemmen konnte und ging wieder nach oben an die frische Luft. Als er die Tür öffnete, konnte er hören, wie sich Nezumi auf dem Bett bewegte und leise etwas murmelte, das er nicht verstand, aber offensichtlich nicht die Kraft fand, sich aufzusetzen und nachzusehen, wohin Shion um diese Uhrzeit noch ging. Shion füllte den Kochtopf so gut er konnte mit dem wenigen sauberen Schnee, der vom letzten Wintersturm noch nicht getaut oder zu Matsch verkommen war, und deckte ihn mit den Handtüchern ab. Dann ging er zu der nahegelegenen Quelle, um die Schüssel mit dem eiskalten Wasser zu füllen und sie in den verbliebenen Platz im Topf auf das Handtuch zu stellen, nachdem er die Mullbinden in das Wasser getaucht hatte. Ächzend hob er alles zusammen mit beiden Händen hoch und wankte mit vorsichtigen Schritten zurück. Die oberirdische Tür gestaltete sich schwierig, da er keine Hand frei hatte, um den Schalter richtig zu betätigen, es aber schließlich irgendwie mit dem Ellenbogen schaffte, den losen Stein so weit in die Mauer hineinzudrücken, dass der Mechanismus auslöste. Die Treppe war nicht viel besser. Shion war es nicht gewohnt, Stufen hinabzusteigen, ohne zu sehen, wohin er trat, und wäre fast über seine eigenen Beine gestolpert, als er sich um eine verzählte und seine Füße ebenen Boden vorfanden. Er versuchte gar nicht erst, die Tür zu ihrem Wohnraum mit dem Topf in den Armen zu öffnen, sondern stellte ihn wohlweislich ab, bevor er die Klinke betätigte und die Behältnisse schließlich wieder aufnahm und hinüber zum Bett trug. Dann ging er zurück, um zu verhindern, dass die Kälte in den Raum kroch, obwohl bereits nichts mehr von der Wärme zurückgeblieben war, die er früher am Abend mit dem Kerosin-Heizer hier erzeugt hatte. Zumindest würde so der Schnee nicht allzu schnell schmelzen … Als Shion schließlich vor dem Bett zu stehen kam, seufzte er. Nezumi war eingeschlafen – und hatte sich über die ganze Matratze ausgestreckt. Er war es wahrscheinlich nicht anders gewohnt … Shion bezweifelte, dass es das erste Mal war, dass er in diesem Zustand nach Hause gekommen war; dafür war das Leben hier zu hart und die Menschen zu unerbittlich. Aber damals war er alleine gewesen – auf sich selbst gestellt und zu entkräftet, um sich um seine Wunden zu kümmern. Er würde mit Schmerzen in all seinen Gliedern und Muskeln aufwachen, wenn sie die Prellungen nicht angemessen kühlten. Obwohl Nezumi normalerweise nie ein besonders fester Schläfer war – fest genug, um nicht zu bemerken, wie er ihn oft im Schlaf trat oder aus dem Bett warf, wie Shion ihm manchmal vorhielt, wenn Nezumi sich darüber beschwerte, was für ein ahnungslos schutzloser Schläfer Shion war –, war er erschöpft genug, um nicht zu bemerken, wie Shion ihm langsam das Oberteil bis über die Brust hochschob. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er die dunklen Flecken und ausgedehnten Verfärbungen der Haut sah. Die rechte Rippengegend, der Bauch, die Brust und anscheinend selbst der linke Hüftknochen waren stark mitgenommen, doch zu seiner Erleichterung schien nichts gebrochen zu sein. Shion konnte bei dem bloßen Anblick von Nezumis Verletzungen die Tritte und Schläge spüren, die er seit seiner Flucht aus No.6 schon erhalten hatte. Die Schmerzen damals waren wahrscheinlich lachhaft gegen solche Prellungen. Sorgsam wickelte Shion etwas von dem mitgebrachten Schnee in eines der beiden Handtücher und legte die Eispackung dann langsam auf Nezumis Bauch. Der Schwarzhaarige war durch die plötzliche Kälte augenblicklich hellwach und setzte sich aus einem reinen Reflex heraus abrupt auf, bevor er mit einem schmerzvollen Stöhnen wieder zurück auf die Matratze sank. Shion ließ sich nicht beirren und legte mit ein paar schnellen Handgriffen die mit dem kalten Quellwasser getränkten Mullbinden auf die restlichen Prellungen sowie auf Nezumis Stirn. „Das ist verdammt kalt!“, brachte er schließlich unter klappernden Zähnen heraus und Shion konnte ein Zittern durch seinen Körper fahren sehen. „Das ist gegen die Blutergüsse. Und die Schmerzen sollten dadurch auch zurückgehen“, antwortete Shion, während er beiläufig auch das zweite Handtuch mit Eis füllte und es dann Nezumi entgegenhielt. „Hier, für dein Gesicht.“ Als Nezumi ihm die Kühlpackung abnahm, erhob sich Shion, um weitere Decken zu suchen, um seinen Körper warm zu halten. So gut Kühlung auch für derartige Verletzungen geeignet war, sie entzog Nezumi Körperwärme und unter keinen Umständen wollte Shion eine Erkältung riskieren. „Und das soll helfen?“, fragte Nezumi mit einem zweifelnden Tonfall und einem Gesichtsausdruck, den Shion sonst nur bei Kindern sah, die widerwillig von ihrer Mutter ein Pflaster auf ein blutendes Knie geklebt bekamen. Er lachte leise, bevor er dazu ansetzte, zu antworten: „Die Kälte bringt die verletzten und gesunden Blutgefäße um die Wunde dazu, sich zusammenzuziehen. Dadurch kann nicht so viel Blut unter die Haut austreten, was die Ausbreitung des Hämatoms in Grenzen hält.“ Als Nezumi ihn nur weiter ansah, ohne etwas zu erwidern, schüttelte Shion den Kopf. „Die Blutergüsse heilen schneller und es lindert die Schmerzen – ist das nicht genug?“ Nezumi zuckte die Achseln. „Meinem Gesicht wird es wohl nicht mehr viel helfen.“ Trotzdem machte er keine Anstalten, die Handtücher oder Mullbinden zu entfernen. Anscheinend schien selbst Nezumi zu bemerken, dass die Kälte ihm gut tat, obwohl er immer noch zitterte. Eilig breitete Shion die beiden einzigen Decken, die sie besaßen, über ihm aus und beugte sich vor, um sie ein wenig fester um Nezumis Körper zu legen, als er spürte, wie sie auf seiner Seite wieder angehoben und sein Handgelenk, mit dem er sich auf der Matratze abstützte, gepackt wurde. Mit einer schnellen Bewegung zog Nezumi ihn mit ins Bett und presste seinen Bauch gegen Shions Rücken, bevor er die Decken wieder über sie fallen ließ. „Wah, das ist kalt!“, rief er aus und versuchte instinktiv, sofort von der Kälte fortzukommen, die mit dem Wasser von Nezumis Mullbinden durch sein Shirt sickerte, doch Nezumis Arme wanden sich um seine Hüfte und seine Brust wie ein Schraubstock und hielten ihn effektiv an Ort und Stelle. Bevor er sich weiter beschweren und ihn auffordern konnte, ihn loszulassen, spürte Shion, wie Nezumi sein Gesicht in seinen Haaren vergrub und konnte ein schläfriges Murmeln ausmachen, das er fast überhört hätte: „Was denkst du, wessen Schuld es ist, dass mir jetzt so verflucht kalt ist?“ Verwundert hielt Shion inne und starrte abwesend auf die Kerosin-Lampe, die den Raum mit diffusem Licht versorgte, während er versuchte, das Gesagte zu verarbeiten. Dann spürte er, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. Jetzt wollte Nezumi seine Hilfe, ja? Kapitel 2: Mittwoch, 31.12.14, Silvester ---------------------------------------- Dieses Kapitel wurde für restructuralcommittee (tumblr) geschrieben. Die Lyrics, die ich hier benutze, stammen von der wunderbaren this-is-our-truth (tumblr). Vielen lieben Dank für diese wunderbaren Zeilen --- --- --- Nur noch fünf Minuten bis Mitternacht! Der Countdown ins Neue Jahr wird bald starten und Punkt zwölf Uhr soll das erste von der Stadtverwaltung organisierte– Shion wandte sich von dem Fernsehgerät ab, das in eine Ecke des Wohnzimmers geschoben worden war und leise für Hintergrundmusik gesorgt hatte, bevor das Silvesterprogramm unterbrochen worden war und seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. „Das Feuerwerk beginnt gleich“, unterbrach er das lebhafte Gespräch zwischen Inukashi und Rikiga, das fast den Fernseher übertönte und von Inukashis stetigem Gelächter sowie Rikigas empörten Rechtfertigungen gegenüber ihren neckenden Behauptungen über seine neue Zeitungsagentur begleitet wurde. Es war wohl tatsächlich nur der Lautstärke im Raum zu verdanken, dass der kleine Shionn auf ihrem Schoß nicht schon längst müde gegen ihren Arm gelehnt eingeschlafen war. Karan warf einen prüfenden Blick auf die Wanduhr in ihrer Nähe und erhob sich eilig. „Schon so spät? Die Zeit verfliegt einfach, wenn man so viele Leute im Haus hat“, lachte sie leise, bevor sie kurz in die Küche verschwand und schließlich mit einem Tablett wiederkam, auf dem die Pfannkuchen drapiert waren, die sie erst heute früh gebacken und im vorgeheizten Ofen warmgehalten hatte. Sie drängte sich zwischen ihren und Nezumis Stuhl, der ein wenig zur Seite rutschte, um ihr Platz zu machen, und stellte den Teller in die Mitte des Tisches, während sie sanft Nezumis Finger beiseite schlug, als er sich eines der runden Hefegebäcke nehmen wollte. „Au, hey!“, beschwerte er sich lautstark – lauter, als es nötig gewesen wäre; Shion kannte die kleinen Schläge seiner Mutter und obwohl sie bestimmt waren, waren sie nie schmerzhaft –, und warf Karan einen entrüsteten Blick zu. Obwohl sie Nezumi einen strengen Blick zuwarf und die Hände in ihre Seiten stemmte, erkannte Shion ein amüsiertes Funkeln in ihren Augen und lächelte unwillkürlich, als sie ihren Mund öffnete, um Nezumi zurechtzuweisen. Bevor sie dazu kam, lachte Inukashi gehässig und zog so Nezumis Aufmerksamkeit auf sich, als sie sich nach vorne lehnte und dabei Shionn fast von ihrem Schoß fiel. Im letzten Moment fing sie das müde Kind auf. „Die sind für nachher. So lange wirst du dich wohl noch gedulden können, oder? Du wirst noch ganz dick, wenn du zu viele von Karans Leckereien verdrückst.“ Ihr Lachen wurde nur noch lauter, als Nezumi tief in seiner Kehle grollte und die Arme verschränkte. Obwohl er Inukashi und Rikiga einen wütenden Blick zuwarf, als die beiden sich über ihn zu amüsieren schienen, richteten sich seine Augen doch nur kurz auf Karan, als auch sie in das Gelächter mit einfiel. Selbst Shion konnte ein leises Lachen nicht zurückhalten und erntete dafür einen warnenden Blick von Nezumi, doch als er leicht ihre Schultern aneinanderstieß, hörte er Nezumi leise seufzen. Sie wurden unterbrochen, als sich der Fernseher automatisch lauter schaltete, um den Beginn des Countdowns in einer Minute live zu übertragen. „Wir sollten uns wohl ein bisschen beeilen“, brummte Rikiga, als er seinen Stuhl zurückschob und sich erhob, während Inukashi sich an den mittlerweile in ihren Armen eingeschlafenen Shionn wandte. „Hey, Shionn. Aufwachen, es geht los“, schüttelte Inukashi den Kleinsten in ihrer Runde wieder ein wenig wach und als er sie mit verschlafenen Augen verwirrt ansah, hob sie ihn auf ihren Arm und stand ebenfalls auf. „Wo gehen wir denn hin, Mama?“ Shion trat näher an die beiden heran und lehnte sich ein wenig herunter, um mit dem Kind auf einer Augenhöhe zu sein. „Du wolltest doch das Feuerwerk sehen, oder nicht?“, fragte er und als Shionn seine Worte vollständig registriert hatte, leuchteten seine Augen hellwach vor Aufregung. „Ja! Feuerwerk!“, jauchzte er vorfreudig und hüpfte in Inukashis Armen auf und ab, die Schwierigkeiten hatte, ihn noch festzuhalten. Shion lachte, als sie alle zusammen auf den Balkon seiner Mutter heraustraten. Es war das erste Neujahr, das sie alle zusammen feiern würden. Das erste neue Jahr, das er mit Nezumi hier in dem wiederaufgebauten No.6 verbringen würde. Shion war froh, dass das Komitee seine Idee, ein Feuerwerk zu veranstalten, so gut aufgenommen und auch umgesetzt hatte. Wenn er Shionns leuchtendes Gesicht sah, war das allein die zusätzliche Planungsarbeit schon wert gewesen. Und er war sicher nicht das einzige Kind, das sich auf die Lichter freute. Als hinter ihm im Fernseher der Countdown begann und er die Stimmen um sich herum in den Häusern bis nach draußen mitzählen hören konnte, sah Shion zu Nezumi. Er blickte bereits in den Himmel, als würde auch er das Feuerwerk kaum erwarten können, es aber besser überspielen als Shionn neben ihm, der ungeduldig zappelte und jauchzte, selbst als Inukashi ihn warnte, dass er noch fallen würde. Shion trat näher an ihn heran und streckte vorsichtig seine Hand aus, um Nezumis Finger leicht mit seinen zu berühren. Nezumi zuckte vor der Berührung zurück, doch als er zur Seite sah und Shion erkannte, lächelte er und verwob ihre Finger ineinander. Shion hörte hinter sich, wie Inukashi und Shionn begannen, den Countdown mitzuzählen, und übte einen leichten Druck auf Nezumis warme Hand aus, der beinahe sofort erwidert wurde. Er bemerkte, dass Rikiga bei der Fünf in das Zählen einstieg und sah erwartungsvoll hinauf zum Himmel, als er die letzten Zahlen flüsterte: „3, 2, 1 …“ Ein hohes, zischendes Geräusch hallte durch die Luft, bevor der erste Feuerwerkskörper mit einem lauten Knall begleitet von Shionns Freudenschrei explodierte. Lachend sah Shion zu dem Kleinen, der, erleuchtet von einem zweiten Feuerwerkskörper, aufgeregt die Hände in die Luft streckte und nach den bunten Sternen zu greifen schien. Inukashi hielt sich mit einer Hand am Geländer des Balkons fest, um das Gleichgewicht zu halten, während Shionn sich in ihrem Arm vorlehnte, so weit er konnte, und sie selbst sich das Feuerwerk mit einem glücklichen Lächeln ansah. A new year is dawning the wind is chill but the stars are shining bright Als sich Nezumis Stimme über den Lärm des Feuerwerks und Shionns Jauchzen erhob, stockte Shion der Atem. Er spürte, wie Karan hinter ihn trat und ihm eine Hand auf die Schulter legte, während er sich zu Nezumi umwandte und im wechselnden Licht des Feuerwerks beobachtete, wie er den Mund öffnete und die Töne in Form von weißem Nebel über seine Lippen fielen, den Blick immer noch gen Himmel gerichtet, die Hand locker um seine geschlossen. Come, come and join our song, let us begin this new year together with hope in our hearts tonight. Shion konnte seine Augen nicht mehr von ihm lösen, als er spürte, wie die Wärme ihrer verbundenen Hände seinen Arm hinaufzukriechen schien und ihn ausfüllte. Nezumis Profil wurde von den verschiedenen Farben der Feuerwerkskörper erleuchtet und nach jeder Dunkelheit schien es, als sähe er eine neue Facette derselben Person vor sich – ausgeleuchtet und enthüllt, für aller Augen da und im nächsten Moment doch so schnell wieder verschwunden, dass man meinen könnte, es wäre nur eine Illusion gewesen. Etwas nicht von dieser Welt. This is a time of celebration to bid the year farewell, the time has come to close the door where old memories dwell. Nezumis Stimme wurde lauter und hallte durch den Innenhof. Shion war sich nicht sicher, ob er das Geräusch der Feuerwerkskörper ausblendete oder Nezumi sie einfach komplett übertönte, so unwahrscheinlich das auch klang. Erst, als er Rikiga neben sich murmeln hörte, konnte er sich von Nezumis Anblick losreißen. „Typisch. Lockt mit seiner Stimme alle Menschen aus ihren Nestern.“ This is a time for memories, so hold your loved ones close to remember the journey so far, and look forward to those to come. Als Shion Rikigas Blick folgte, sah er, wie die Leute, die das Feuerwerk bisher nur durch geschlossene Fenster beobachtet hatten – wahrscheinlich, um sich über den Lärm hinweg trotzdem noch unterhalten zu können –, ihre Balkontüren öffneten und neugierig herausströmten, um Nezumi besser hören zu können. Shion lächelte und verstärkte unbewusst seinen Griff um Nezumis Hand, der den Druck ohne zu zögern erwiderte und sie ein wenig anhob. Er folgte der Bewegung und trat näher an Nezumi heran. Come, come and join our song, the winds of time have blown, another year has gone. Selbst Shionn war ruhig geworden und hörte Nezumi zu. Shion schloss die Augen, als er seinen Kopf auf Nezumis Schulter lehnte und sich von seiner Stimme voll und ganz einhüllen ließ; seine Atemzüge und die leichten Vibrationen seines Gesangs spürte. Tonight, we bid you farewell, and welcome a bright new future. Shion bildete sich ein, selbst Nezumis Herz hören zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)