Zwischenwelten von Minerva_Noctua (Ereri) ================================================================================ Kapitel 10: Sirenengeschrei --------------------------- Es roch nach alter rostiger Farbe und Getriebeöl. Sasha rümpfte wiederholt die Nase, während sie durch die Containerschluchten im Hamburger Hafen schlichen. Dank des Schutzhelms konnte sie sich leider nicht über die Nase reiben, was sie mit kleinen Seufzern kommentierte, die Mylius sich nach einer gewissen Zeit betont langsam umdrehen ließen. Daraufhin war erst einmal Ruhe, ehe sie wieder unbewusst damit anfing. So sehr sie Mylius als ihren Gruppenführer schätzte, einen bleibenden Eindruck von Autorität hinterließ er bei ihr anscheinend nicht. Und so lange die Kollegen sich nicht beschwerten, konnte die Belästigung via Funk nicht so arg sein. Flink und leise blieb Sasha hinter Mylius in der Nähe von Team Beta und wie es sich eingebürgert hatte begleitete Annie auf der anderen Seite des Hafens Team Alpha. Solche Containerhafen machten ihnen als Scharfschützen keinen sonderlichen Spaß. Es war unübersichtlich und sie konnten sich kein geeignetes Nest suchen und von dort aus in Position bringen. Stattdessen liefen sie nun wie Ratten durchs Labyrinth und versuchten die beiden Gruppen von hinten zu sichern. Schade, dass sie nicht, wie Connie vorgeschlagen hatte, auf die Container klettern und sich so langsam an den Frachter herantasten konnten. Dafür wäre Kletterausrüstung von Nöten gewesen und ja, sie hätten die Container womöglich beschädigt, aber immerhin hätten sie sich hinter den Fassaden verstecken können und nicht auf dem Präsentierteller serviert. Sie konnten sehen, wie die Arbeiter im Scheinwerferlicht die Kräne erklommen und hören, wie die Schiffsbesatzung irgendwelche Befehle und Obszönitäten den Leuten am Land zubrüllten. Sasha verstand leider kein Wort und nahm einfach an, dass sie in irgendeinen Dialekt sprachen, der ihr nicht geläufig war. Ihr Sprachtalent hielt sich im Gegensatz zu Mina in Grenzen. Sie konnte nur drei Sprachen fließend und verstand ein paar skandinavische Dialekte, ansonsten war sie ziemlich untalentiert. „Team Beta hier. Wir sind auf Position“, kam Erens Durchsage. „Verstanden. Team Alpha ist auch auf Position“, erwiderte Jean. „Auf mein Kommando vorrücken“, befahl Levi. Sie warteten nun darauf, dass die Beladung des Frachters begann, um im Lärm der Kräne näher heranzukommen und die Ablenkung der Arbeiter zu nutzen, um ein Schlupfloch auf den Frachter zu nutzen. Das Geräusch der Krangetriebe ließ Sasha innerlich zusammenzucken. Trotz der an sich leisen Motoren wurde der Hafen nun peu à peu vom Arbeitslärm der Maschinen erfüllt. Adrenalin schoss durch Sashas Adern noch ehe Levi das Kommando erteilte. Wie sie es schon hunderte Male geübt hatten, rückten sie leise und zügig vor und waren in keiner Zeit auf der Höhe der zu verschiffenden Baumaterialien. Alle bis auf Levi lagen mit den Gewehren im Anschlag auf dem Bauch, während der sich geschmeidig zwischen zwei Paletten mit etwas, das aussah wie Bestandteile von Brückenpfeilern, durchbewegte. „Team Alpha hier. Wir haben ein Problem. Der Frachter wird am Heck von bewaffneten Männern bewacht. Wir kommen nicht unauffällig näher heran, geschweige denn, dass wir eine der Zugänge aufs Schiff nutzen könnten“, berichtete Jean ernüchtert. „Dann wissen wir nun wenigstens, dass etwas faul ist“, funkte Eren dazwischen. Mit etwas scharfer Stimme - eindeutig wegen Erens unnötigem Kommentar - meldete sich Levi zu Wort: „Annie, kannst du die Männer ausschalten?“ „Nicht ohne Aufmerksamkeit zu erregen“, antwortete Annie und führte ihre Beobachtungen vorbeugend weiter aus, „Sie stehen in zivil im Abstand von 15 m am gesamten Frachter entlang.“ Sie hörten Levi daraufhin hörbar angepisst mit der Zunge schnalzen. Der Frachter war knapp 300 m lang und so viele Menschen konnten sie zu dritt nicht ausschalten, geschweige denn unauffällig genug, um eine Lücke zu schaffen, die zumindest den schnellsten von ihnen Zugang auf den Frachter ermöglichte. „Plan B“, befahl Levi nach kurzer Bedenkzeit, „Beeilung!“ Sofern ihr erster Einsatzplan nicht funktionierte, sie keinen direkten Zugang auf das Schiff fanden, sollten sie sich mit der Fracht reinschmuggeln. Zweifellos der schwieriger umzusetzende Plan, doch keineswegs außerhalb dessen, was ihnen bereits abverlangt worden war. Im Schneckentempo tasteten sie sich weiter voran und suchten nach geeigneten Baumaterialien, die ihnen Sichtschutz bieten und mit denen sie auf den Frachter gehoben werden konnten. Sie mussten sich ranhalten, damit der Beladungsvorgang nicht abgeschlossen wurde, ehe sie etwas gefunden hatten. „Vorsicht, Leute!“, warnte Marco, „Hunde! Da hat einer zwei Bluthunde!“ „Scheiße!“, fluchte Jean, „Zurück! Wir müssen eine andere Route finden. Team Beta kommen. Alles klar bei euch?“ „Team Beta hier. Weder Menschen noch Tiere in unmittelbarer Umgebung“, gab Eren durch. „In 50 m liegen lange Betonrohre aufgetürmt übereinander. Darin könnten wir uns verstecken“, erklärte Levi, der wieder vorgegangen war. „Bei uns sieht's schlecht aus, Sir“, meldete sich Jean wieder, „Wir müssen einen ziemlichen Umweg gehen und der Kran hier lädt nur Container aufs Schiff.“ „Handelt nach eurem Ermessen, Kirschstein“, ließ Levi ihnen freie Hand. „Wenn wir die Wärmebild-Masken hätten, würden wir uns leichter tun“, murmelte Armin. Viele schnaubten und summten zustimmend. Mit den Wärmebild-Masken könnten sie sich schneller fortbewegen, denn nur hochspezialisierte Kräfte besaßen Kleidung, die ihre thermische Strahlung nach außen hin abschirmte, was diese Technologie nutzlos machte. Die Hafenarbeiter und deren Hunde hatten sowas bestimmt nicht an. Leider waren die Wärmebild-Masken personalisiert, konnten also nicht ausgeliehen werden, weil sie sehr teuer waren und dummerweise war der Hersteller aufgrund Insolvenz nicht in der Lage gewesen ihren Satz rechtzeitig zu fertigen. Der Staat hatte wie so oft verpasst einen neuen Hersteller zu finden, der die Teile zu einem vertretbaren Preis lieferte. Plötzlich ertönte zu ihrer Rechten ein entferntes, aufgebrachtes Gebell und synchron dazu das Gefluche von Team Alpha. „Rückzug!“, befahl Jean dringlich, „Die Hunde haben unsere Witterung aufgenommen. Team Beta kommen. Wir kehren zum Checkpoint zurück.“ „Fuck!“, fluchte es unisono in ihren Ohren. „Annie, kommen“, meldete sich Mylius, „Kannst du zu uns aufschließen?“ „Annie hier. Unmöglich. Es sind fünf Hunde. Drei Männer verfolgen uns. Keine Bewachungslücke.“ „Der Kahn ist verdammt schwer bewacht“, kommentierte Ymir ihre Beobachtungen unnötigerweise, „Warum zum Henker ist das bisher niemandem aufgefallen?“ „Weil es halb sechs Uhr morgens und stockdunkel ist?“, schlug Sasha vor, „Außerdem werden sie sich schon genug offizielle Gründe dafür zurechtgelegt haben.“ Ymir summte zustimmend, während Levi sie anschnauzte. „Vorwärts!“ Nun kamen die Rohre in Sicht, von denen Levi gesprochen hatte. Als riesiges Dreieck ragten sie empor und boten in ihrem Durchmesser sicherlich genug Platz für eine sitzende Person. Sasha hatte keine Ahnung worin diese massiven Betonrohre verbaut werden sollten. Vielleicht bei einer Brücke? Das Hundegebell rückte näher. „Sasha, wir laufen den Hunden entgegen und lenken ihre Route um“, befahl Mylius und da keine Einwände von Levi kamen, wandten sie sich von der Gruppe ab und schritten langsam an den Containern entlang in Richtung Gebell. Es wäre schon ein Erfolg, wenn sie die Hunde davon abbrachten auch noch Team Beta zu behindern. Obwohl sie sich leise und routiniert fortbewegten, könnten sie die scharfen Sinne der Hunde nicht täuschen. Sowie sie drei Containerreihen zwischen sich und Team Beta gebracht hatten, schoss der erste Hund um die Ecke. Mit mehr Glück als Verstand gelang es Sasha sich rechtzeitig außer Sichtweite zu ducken und sprintete los, Mylius direkt neben ihr. Alarmiertes, wütendes Gebell erscholl hinter ihnen und ließ Sasha kalten Schweiß die Schläfe unter ihrem Helm hinab rinnen. Sie würde es nie zeigen oder gar laut aussprechen, doch sie hatte Angst. Angst vor Reißzähnen, die sich in ihr Fleisch gruben. Wie auf ein unsichtbares Signal hin bog Mylius in eine andere Containerreihe ein, während Sasha geradeaus weiter hetzte. Das Bellen endete so plötzlich, dass es schmerzte. Als wäre der Laut von einem schwarzen Loch verschluckt worden. Sasha musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Mylius das Tier erschossen hatte, sowie es die Abzweigung betrat. „Du Idiot!“, entfuhr es Sasha, „Wie kannst du den Hund erschießen?! Die sollen uns doch nicht bemerken! Wenn die den toten Hund finden, können wir den Frachter vergessen! Die räumen doch alles aus!“ „Ups.“ Sasha rannte zurück zum toten Hund und winkte Mylius herbei, der etwas betreten heran eilte. „Und nun?“ „Hinhocken“, befahl Sasha und gestikulierte Mylius unwirsch sich herumzudrehen. Der gehorchte irritiert. Die anderen Hunde konnten jeden Augenblick auftauchen. Zügig zog sie ein Seil aus einer Seitentasche und warf es Mylius um die Brust, wickelte es um seine Schultern und packte dann den großen braunen Hund. Mit brachialer Gewalt hievte sie das Tier auf Mylius’ Rücken, der überrascht schnaufte und beinahe nach vorn kippte. „Halt die Pfoten fest.“ Behände schlang sie das Seil um das Tier und fixierte es um Mylius’ Becken, dann zog sie Kabelbinder aus einer Hosentasche und befestigte damit die Pfoten am Seil. Zwar war Mylius groß und kräftig, dennoch ächzte er unter der Last des kräftigen Hundes, der sicherlich 40 kg wog. „Gut. Fertig. Jetzt kannst du weiter. Ich lenke die Hunde ab.“ Aufmunternd klopfte sie Mylius seitlich an den Arm. „Hat Sasha ihm gerade den Köter auf den Rücken geschnallt?“, ertönte Jeans Stimme ungläubig in ihren Ohren. „Den toten Köter…“, betonte Connie mit angewiderter Fassungslosigkeit. „Ich glaube schon…“, überlegte Reiner zurückhaltend. „Da bekommt die Wendung „doggy bag“ eine völlig neue Bedeutung“, scherzte Ymir. Verhaltenes Schmunzeln ertönte in ihren Ohren. „Ich brauch’ echt ein Foto! Hey, Sasha! Mach ein Foto!“ Erneut ertönte leises Gelächter. „Schnauze!“, herrschte Levi sie alle an. Nach einer kurzen Pause fügte er dann mit gewohnt ruhiger Tonlage hinzu: „Historia, hast du das gespeichert?“ „Ja, Sir! Ich hab gleich die Speicherfunktion der Kamera aktiviert, als Sasha zu Mylius zurückgerannt ist.“ Sie hatten die Videokameras in den Schutzhelmen schließlich nicht nur um den Einsatz live mitverfolgen zu können, sondern auch um wichtige Entwicklungen während dem Einsatz festzuhalten. Natürlich brauchte man jemanden wie Historia, der abschätzen konnte, welche Situationen eine Speicherung der Aufnahmen empfahlen. Daneben konnte jeder Polizist natürlich selbst die Speicherfunktion seiner Kameras aktivieren, wenn er es für Angebracht hielt. „Los lauf!“, feuerte Sasha Mylius an, der schnaufend um Gleichgewicht rang und schweren Schrittes davon sprintete. Bei jedem Schritt warf es den Hund auf seinem Rücken wie eine Puppe hin und her. Sasha kam nicht umhin amüsiert zu schnauben. Der Anblick war einfach zu komisch. Ohne weiter Zeit zu verlieren lief sie in die Richtung der Hunde, klopfte einmal sachte an eine Containerwand und rannte anschließend so schnell sie konnte von Mylius und Team Beta davon. Sie hörte wie die Hunde die Verfolgung aufnahmen. Jetzt durfte sie nur keinem Menschen in die Arme laufen, sonst wäre der Einsatz ebenso für die Katz’. Schwer atmend und mit brennenden Muskeln sprintete sie durch die Containerschluchten raus aus dem Hafen. Gemächlich trat ein massiger brauner Hund mit gefletschten Zähnen mitten in ihren Weg. *~* Beinahe lautlos schlichen sie sich an die Betonrohre heran. Innerlich fluchte Eren über die verpasste Gelegenheit direkt auf den Frachter zu gelangen. Der Grad der Bewachung war in der Tat außergewöhnlich. Leider hatten sie wegen Levis bloßer Intuition, was die Relevanz dieser Fracht anging, keine große Auswahl an Einsatzmitteln bewilligt bekommen, sodass sie beispielsweise nicht auf Taucherausrüstung zurückgreifen konnten, um von der anderen Seite des Frachters unauffälliger einen Zugang suchen zu können. Voller Bewunderung blickte Eren in Levis Richtung, der bereits um die nächste Ecke gebogen war. Er hatte mit seiner Ahnung recht behalten. Mit äußerster Vorsicht versuchte Eren seine Gruppe möglichst schnell zu diesen dämlichen Rohren zu führen, die zwischen Kran und Frachter aufgetürmt lagen, was ein unbemerktes Vorankommen erschwerte. Glücklicherweise befand sich der Kran noch im Beladungsvorgang, ansonsten hätten sie den Einsatz abbrechen und zu einem weiteren Zugriff im Zielhafen ansetzen müssen. Sowie Eren ebenfalls um die Ecke bog, entdeckte er Levi am Rand der Containerschlucht kauern. Er wartete diesmal auf sie, sodass Eren zu ihm aufschloss, während Reiner, Berthold, Connie und Armin in den anschließenden Containergängen in Position gingen. „Sollen wir alle in die Rohre kriechen?“, fragte Eren skeptisch. Die Rohre waren zwar lang, aber auf diese Weise sechs Leute auf den Frachter zu schleusen, schien ihm ziemlich gewagt. Abgesehen davon mussten sie die freie Fläche zwischen Containerreihe und Rohrturm überbrücken und hoffen, dass man sie in dem schummrigen Licht der Betriebsbeleuchtung nicht entdeckte. „Nein“, erwiderte Levi, „Nur du, Connie, Armin und ich. Reiner, Berthold, teilt euch auf und sichert uns ab.“ „Verstanden, Sir“, ertönte es unisono. Nach kurzer Zeit gaben Reiner und Berthold durch, dass sie ihre Positionen eingenommen hatten und die Luft rein war. Eren spannte seine Muskeln an, um auf Levis Befehl hin die gut 10 m bis zu den Rohren zu sprinten, als das mechanische Geräusch des Krans ihn nach oben blicken ließ. Der Kran schwenkte in ihre Richtung und Eren hörte in diesem Moment auf zu denken. *~* Armin sah Eren bereits aus der Containerschlucht treten, als der Befehl kam vorzurücken. Beinahe gleichzeitig brüllte Reiner, dass sich Männer näherten. Er erstarrte, ob der widersprüchlichen Informationen. Er sah wie Eren geschickt hochsprang und in eines der Rohre kroch, dicht gefolgt von ihrem Vorgesetzten. Armin war davon überzeugt, dass sie ihnen nicht mehr folgen können würden. Aus dem Augenwinkel bemerkte er wie Connie nach vorne preschte. „Stopp! Connie! Zurück! Wir schaffen das nicht mehr!“ Connie verharrte kurz in der Bewegung, dann erscholl auch schon Levis Befehl. „Rückzug!“ Schwungvoll drehte sich Connie um und gab Gas zurück in die Containerschluchten. „Begebt euch zurück zum Checkpoint und berichtet den Leuten in Dover, dass sie sich bereit halten sollen. Und natürlich den anderen Wichsern von der GSG9 und GEG. Historia weiß schon, wen ich meine.“ „Verstanden, Sir“, brachte Armin unisono mit den anderen heraus und rannte die Containerschluchten entlang hinaus, betete, dass er ungesehen zum Checkpoint gelangte. Seine Gedanken überschlugen sich. Hoffentlich wurden Eren und Levi nicht entdeckt. Wenn es zwei schafften sich heil und erfolgreich aus dieser Situation zu lavieren, dann zweifellos diese Beiden. Der Gedanke beruhigte Armin ungemein. *~* Das Rohr bot gerade so genug Platz um sich gebeugt auf den Knien rutschend voran zu bewegen. Glücklicherweise waren die Rohre so lang, ansonsten wäre es unmöglich gewesen auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen sich hier zu verbergen. Eren hatte sich bereits seitlich gesetzt, um einen der Rohrausgänge mit dem Gewehr im Anschlag zu bewachen. Durch den Schutzhelm konnte er sein Gesicht leider nicht sehen, aber er hoffte, dass das Arschloch angemessen zerknirscht dreinschaute. „Was sollte das, Jäger“, knurrte Levi mit eisiger Stimme. „Es tut mir sehr leid“, sprudelte es aus Eren heraus, „Ich weiß, ich hätte auf den Befehl warten müssen, aber als sich der Kran anfing zu bewegen, hab ich einfach gehandelt...“ „Kein „Aber“, Jäger. Du hast zu warten bis du einen Befehl bekommst“, grollte Levi wütend, „Ich hätte den Befehl zum Rückzug geben können und was hättest du dann getan? Wie ein verdammtes Reh zum Abschuss auf dem Platz stehen?“ „Ich war-“ „Halt dein verdammtes Maul“, zischte Levi mit einer Wut im Bauch, wie er sie gegenüber Eren noch nicht empfunden hatte, „Sei froh, dass es hier so eng ist, sonst würdest du eine Tracht Prügel kriegen. Befehlsketten sind nicht dazu da, um dich zu schikanieren, sondern um Leben zu bewahren!“ Sowie die Worte seinen Mund verlassen hatten, zuckte Levi innerlich zusammen. Er sah einen strahlend jungen Erwin Smith vor sich Knien, der eben jene Worte eindringlich an ihn wandte, während er im Dreck vor einem Zuber saß und die stinkenden Klamotten der ganzen Truppe mit einer Bürste sauber schrubbte bis ihm die Hände bluteten. Auch er hatte sich nicht an die Befehlskette gehalten, obwohl er eine vollkommen korrekte Entscheidung getroffen und einen „Aufständischen“ hatte fassen können. Dafür ist er drakonisch bestraft worden, nachdem solcherlei Ungehorsam wiederholt bei ihm aufgetreten war. Früher hatte er Erwin einen mörderischen Blick zugeworfen und trotzig geschwiegen. Heute gab er denselben Stuss von sich. Er war damals keine 20 Jahre alt gewesen und hatte den Wahrheitsgehalt dieser Worte erst nach und nach erkannt. Eren war zwar viel älter und ein erfahrener Polizist, doch wie ihm damals fehlte ihm die Einsicht und das Vertrauen sich in Situationen wie diesen auf seinen Vorgesetzten zu verlassen und gegen sein Naturell passiv zu bleiben. Diese Parallele zwischen ihnen verblüffte Levi auf eigenartige Weise, wusste er doch um Erens Impulsivität und Handlungsweise. Nicht zuletzt hatte er ihn schließlich wegen seiner herausragenden Instinkte im Einsatz zum Gruppenführer bestimmt. Er hatte wohl seinen eigenen Einfluss auf Eren überschätzt. Er schien ihm nicht vollends zu vertrauen, denn Levi wusste, dass Eren ihn respektierte. Ausgerechnet mangelndes Vertrauen? Diese Erkenntnis versetzte ihm erschreckenderweise einen unangenehmen Stich. Die Gelegenheit sich wegen diesem unpassenden Gefühl zu schelten verstrich mit Erens Erwiderung. „Ich weiß. Ich habe nicht nachgedacht. Es tut mir leid.“ „Das wird seine Konsequenzen haben, wenn wir zurück sind.“ Eren neigte den Kopf in einer für ihn typischen betretenen Geste. „Ja, natürlich.“ „Oh, Jäger“, seufzte es grottentief via Funkgerät, „Wann denkst du denn schon mal nach?“ „Fresse, Pferdefresse“, schoss Eren zurück. „Beide Fresse“, befahl Levi, ehe Kirschstein zu einer Erwiderung ansetzen konnte, „Team Alpha Statusbericht.“ „Wir sind gerade beim Checkpoint angekommen“, berichtete Jean. „Team Beta ist auch gleich dort“, meldete sich Reiner zu Wort, „Der Rückzug verlief ohne Komplikationen, wenn man von Mylius absieht, der einen blutenden Kadaver mit sich herumschleppt.“ Einhelliges Schmunzeln und ein genervtes Schnaufen drang zu ihnen durch. „Das ist noch kein Kadaver“, keuchte Sasha plötzlich erschöpft. „Braus, Statusbericht.“ Ein theatralisches Seufzen ertönte am anderen Ende der Leitung, doch sie begann zu reden, bevor sich Levi genötigt fühlte sie zurechtzuweisen. „Ich bin in ca. zwölf Minuten beim Checkpoint. Ich musste einen Umweg machen und über Hunde springen. Keine nennenswerten körperlichen oder sonstigen Beeinträchtigungen.“ „Gut. Ihr kennt eure Befehle.“ „Ja, Sir!“, kam es unisono zurück. „Wir schon“, fügte Kirschstein hinzu und erntete ein aufgebrachtes Schnauben von Eren. Glücklicherweise nicht mehr, sonst hätte Levi ihn treten müssen. Die Stimmen der Hafenarbeiter ließ sie sich wieder ausschließlich auf die Rohrausgänge konzentrieren. Trotz des Tumultes mit den Hunden schienen die Arbeiter, die die Rohre frachtbereit machten, nichts zu ahnen. Sie sprachen irgendeinen furchtbaren Dialekt, den Levi kaum verstand. Zwar konnte Levi hören, wie welche auf die Betonrohre geklettert waren und der Kran wieder in die Gänge kam, doch zu keiner Zeit fühlte er sich bedroht. Wenn alles gut ging, würden sie mit dem Rohr auf das Schiff gehoben werden und dann zusehen, dass sie sich einen Zugang zu der Ladung suchten, um diese auf illegale Gegenstände zu untersuchen oder zumindest das Personal zu beobachten. Erst als die Rohre über ihnen Stück für Stück mit einem donnerartigen Krachen hochgehoben wurden, ergriff Levi wieder das Wort ohne auch nur einen Moment den Blick vom Ausgang abzuwenden. „Konntest du verstehen, wovon die gesprochen haben?“ Immerhin hatte Eren seine Jugend in Hamburg verbracht. „Ja, klar.“ „Muss ich dir alles aus der Nase ziehen?“, knurrte Levi ungeduldig. „Sie denken, dass wieder irgendwelche Sprayer auf dem Gelände waren. Ansonsten haben sie nur von der Arbeit, der Reeperbahn und schlecht kochenden Ehefrauen gesprochen. Hast du nichts verstanden?“ „Hätte ich sonst gefragt?“, Levi schnalzte verärgert mit der Zunge, „Was ist das für ein abgefuckter Dialekt?“ „Der ist nicht abgefuckt“, echauffierte sich Eren, „Das war Plattdeutsch und es ist gut, dass manche diesen Dialekt überhaupt noch sprechen. Dialekte werden ja allgemein leider eine Seltenheit.“ Levi konnte daran nichts schlimmes finden, aber er hatte keine Lust auf eine Diskussion über das Kulturgut regionaler Sprachgepflogenheiten und wollte Eren gar nicht erst animieren. Sie hörten wie die Männerstimmen immer näher kamen und schließlich das Betonrohr direkt über ihnen hochgehoben wurde. Anschließend begannen die Arbeiter Gurte und Ketten um ihr Rohr zu schlingen und am Haken der Hebevorrichtung des Krans zu befestigen. Zumindest schloss Levi dieses Vorgehen aus den Geräuschen um sie herum. Glücklicherweise kam keiner auf die Idee in das Rohr zu schauen. Dann begann sich das Rohr zu bewegen und Levi spannte umgehend jeden Muskel an, stemmte sich mit den Füßen gegen die Wand. Erens Schnaufen ließ ihn zu ihm blicken. Auch er stemmte sich gegen die Rohrwand, doch bei genauerem Hinsehen bemerkte er ein leichtes Zittern in Erens Beinen. Ein Ruck ging durchs Rohr und sie wurden hochgehoben. „Steck die Waffe ein“, befahl ihm Levi und schob seine eigene zurück ins Halfter an seinem Bein. Eren gehorchte und nutzte prompt die freien Hände um sich ebenfalls abzustützen. Levi machte das Schwanken und die leichte Schieflage des Rohrs nicht wirklich was aus. Der glatten Wände zum Trotz fühlte er sich sicher genug. Anders so Eren, der zunehmend hektisch atmete und begann nun sichtbar zu zittern. „Eren“, flüsterte Levi eindringlich, „Du musst dich beruhigen. Du hast genug Kraft, um dich abzustützen.“ Stockend atmete Eren aus. „Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was los ist.“ Das war schlecht. Wenn Eren den Halt verlor, würde er vermutlich zu Tode stürzen. Er musste ihm unbedingt die Angst nehmen. Kurzentschlossen öffnete er sein Visier, sodass Eren seine Mimik sehen konnte. „Mach dein Visier auf“, flüsterte er. Mit geöffnetem Helm funktionierte die Schallisolierung natürlich nicht mehr und sie liefen mit jedem Wort Gefahr gehört zu werden. Fahrig fuhr Eren mit den Fingern den Helm entlang bis er den richtigen Knopf ertastet hatte. Das Visier öffnete sich und machte Levis Blick auf ein ungewöhnlich blasses Gesicht frei. Noch ehe er ein weiteres Wort an ihn richten konnte, schwang das Rohr plötzlich zur Seite. Erschrocken stemmte sich Levi gegen die Wände und beobachtete wie Eren sich zitternd ebenfalls abstützte und glücklicherweise sicheren Halt fand. Dann kippte das Rohr beinahe senkrecht nach unten und Eren begann langsam abzurutschen. Hinab zu dem vom Scheinwerferlicht grell erhellten Ende. *~* Der junge Mann stand auf dem Dach des Hochhauses, in dem sich sein Büro wie viele hundert andere befand. Er kam stets dort hinauf, wenn er nachdenken musste und sich wenige Minuten Ruhe stahl. Er war sehr müde. Die Arbeit forderte bereits ihren Tribut, raubte ihm den Schlaf und jegliche Zeit für die Kleinigkeiten im Leben, die ihm noch Freude bereiteten. Jetzt zehrten auch noch familiäre Sorgen an seinen Nerven. Sein kleines dummes Brüderchen. Er wusste es doch nicht besser. Er würde dieses Jahr nicht überleben. Er musste ihn irgendwie retten. Nur wie? Verzweifelt rieb er sich über das Gesicht. Da stand er also mit seinen knapp 30 Jahren und seinem 1.600 €-Anzug und fühlte sich, als hätte er in seinem Leben bereits jetzt unwiderruflich versagt. Er hob den Kopf und sah über die Dächer der Stadt und die vereinzelten Lichter in den angrenzenden Bürotürmen. Es dämmerte bereits. Er war nicht der einzige, der sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte. Für was? Noch mehr Geld? Seinen Vater? Für sich tat er das jedenfalls nicht mehr. *~* Levis Gedanken rissen abrupt ab und sein Körper bewegte sich wie von selbst. Von dem einen auf den anderen Moment fand er sich an Eren gepresst wieder, um sich mit ihm zusammen in diesem Rohr zu verkeilen. Und es funktionierte. Eren rutschte nicht weiter hinab in Richtung sicheren Tod. Nach der ersten Überraschung passte sich Eren an die neue Situation an, streckte das rechte Bein, auf dem Levi quasi saß, durch, sodass er sich auf der gegenüberliegenden Wand abstützte und wand seinen rechten Arm unter Levis Achsel durch und presste die Handfläche gegen den Beton, um auch ihn zumindest mit einem Körperteil vorm freien Absturz zu bewahren. Nun konnte Levi auch spüren, wie stark Eren zitterte und drückte sich unwillkürlich noch ein wenig näher. Er bildete sich ein zu bemerken wie Eren sich unter ihm ein wenig beruhigte. Plötzlich hielt der Kran in der Bewegung inne und ließ das Rohr in die andere Richtung kippen. Mit viel Kraft mussten sie sich gegen die unpraktisch runden Wände drücken, um nicht doch noch den Halt zu verlieren. Levi hatte nicht mit einer solch rauen Verladung gerechnet und war im Moment froh, dass er sich nicht um Armin und Connie sorgen musste. Glücklicherweise pendelte sich das Rohr in der Horizontalen ein und wurde langsam wieder heruntergelassen und von den Schiffsarbeitern in Empfang genommen. Auch diese interessierten sich nur dafür die Halterungen zu lösen und auf das nächste Rohr zu warten. Obwohl der ganze Verladevorgang keine fünf Minuten gedauert hatte, fühlte sich Levi als hätten sie bereits Stunden hier drin gesessen. Eren atmete tief durch und entspannte sich mit einem Mal, was Levi auf ihn runter blicken ließ. Ihre Gesichter trennte knapp zwei Handbreit; eine Tatsache, die Levi auf einmal unpassend bewusst wurde. Doch erst als sie hörten und spürten wie die Arbeiter das nächste Rohr über ihnen abluden, flüsterte Levi ihm zu. „Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich meinen, du hättest Höhenangst.“ Erschöpft begegnete Eren seinen Augen. „Tut mir leid“, wisperte er betreten, „Ich weiß nicht, warum mir das plötzlich so eine Angst gemacht hat.“ „Anscheinend muss ich dich wie einen Hund durch solche Röhren schicken.“ Zugegeben, selbst in Levis Ohren klang dieser Satz vorwurfsvoll und kühl, umso überraschter war er über das leichte Schmunzeln auf Erens Lippen. „Wenn diese Röhren gute 30 m überm Boden so furchtbar hin- und herschaukeln, könnte es sogar etwas bringen“, entgegnete Eren mit neckisch funkelnden Augen, doch Levi stimmten seine Worte nachdenklich. Er musste Erens Schwächen kennen, wenn er ihn richtig einsetzen können wollte. Und bis heute hatte er gedacht auch alle relevanten Schwachstellen erkannt und ausgelotet zu haben. Was war also der Auslöser für Erens unerwartete Angst? Er hatte weder Höhen- noch Platzangst und lebensgefährliche Situationen stets mutig gemeistert... „Warst du je in einer ähnlichen Situation?“, hakte er darum nach. Eren überlegte mit gerunzelter Stirn kurz, ehe er den Kopf bedauernd schüttelte. „Vermutlich ist es die Hilflosigkeit und mangelnde Kontrolle.“ „Du bist weder das eine noch fehlt dir das andere. Du stützt dich doch ab.“ „Die glatten Wände…“, versuchte Eren sichtlich ratlos seine Reaktion zu erklären. Es nützte nichts weiter darüber zu reden. Sie waren auf dem Schiff, das Rohr würde vorerst nicht mehr bewegt werden. Sie mussten sich um das Hier und Jetzt kümmern und das hieß sich wieder auf ihre eigene Verteidigung zu konzentrieren. Langsam begann sich Levi von Eren zu lösen, der sich sofort zurückzog. Dennoch blieben sie direkt gegenüber voreinander sitzen und mit ihren Beinen leicht verkeilt. Auf der einen Seite war der Ausgang dunkel, schien von den Containern versperrt. „Bewach den Ausgang.“ Levi kroch zu dem dunklen Ende und fand seine Vermutung bestätigt. Eine Containerreihe schloss einen halben Meter von den Betonrohren entfernt an. Zwar konnte sich da einer mit viel Mühe durchdrücken, es war aber eher unwahrscheinlich, dass sich das jemand antat, solange sie nicht entdeckt wurden. Und selbst dann war diese Enge ungünstig für einen Zugriff. Beruhigt robbte er zurück und setzte sich wieder direkt vor Eren, der bereits seine Waffe in den Händen hielt. „Es dürfte reichen nur den vorderen Ausgang im Auge zu behalten.“ Eren nickte mit einem für diese Situation lächerlich entschlossenen Blick. Im Moment geschah nicht viel. Die Arbeiter beluden noch das Schiff und bevor sie die Anker gelichtet und eine gute halbe Stunde auf See waren, würden sie bloß dumm aus dem Rohr schauen. Vermutlich wollte Eren mit seinem übertrieben anmutenden Ernst bloß seine vorherige Schwäche wett machen. So oder so konnte es Levi gleich sein. Hauptsache sie wurden nicht entdeckt und konnten sich später etwas umsehen. Mit einem Handzeichen bedeutete er Eren, dass sie vorgehen sollten und kroch Richtung Ausgang. Etwa fünf Meter vorm Ende blieb er liegen und zog seine Waffe, um wie ein Scharfschütze auf der Lauer auf die Dinge zu warten, die da kommen mochten. Eren hielt leicht hinter ihm an, was Levi genervt dazu veranlasste neben sich zu tippen. Umgehend gehorchte Eren, sodass sie press an press nebeneinander lagen. Bei Erens ständiger Distanzlosigkeit konnte Levi nicht anders als sich leicht über seine jetzigen Allüren zu ärgern. Es dauerte noch eine geschlagene Stunde bis die Anker gelichtet wurden. Sie verweilten regungslos, während in der Zwischenzeit eine weiße Plane über die Betonrohre gelegt und am Schiffsboden mit Haken befestigt wurde. Dadurch waren sie nun vollkommen vor den Augen der Besatzung verborgen, sodass sie die Waffen vorerst griffbereit wegstecken konnten. Von Historia und den anderen erhielten sie lediglich kurze Statusberichte. Immerhin konnten sie den Einsatz für einen gehörigen Empfang im Hafen von Dover zügig in die Wege leiten, es fehlte nur noch der Startschuss. An der Genehmigung für einen Luftzugriff waren sie zwar noch dran, aber allzu lange konnte auch das nicht mehr dauern. Erwin würde den Vorgang schon zu beschleunigen wissen. Wenn sie den Wisch hatten, würde sich Levi um einiges wohler fühlen aus diesem verflixten Rohr zu kriechen und sich auf dem Kahn umzusehen. Ohne Aussicht auf eine Luftrettung überlegte er es sich zweimal, ob er sich mit Eren, in der Gewissheit keinen Fluchtweg im Notfall parat zu haben, hinaus wagte. Es war schweinekalt und sollten sie ins Meer springen müssen, würden sie bei den kalten Temperaturen nicht lange durchhalten; erfrieren oder ertrinken. Ein erneutes Zittern durchfuhr Eren und riss Levi aus seinen Gedanken. Er warf einen verdrossenen Blick zu ihm, betrachtete sein stoisch geradeaus gerichtetes Profil. „Was?“ „Kalt“, nuschelte er, was Levi mit einem ungehaltenen Schnauben zur Kenntnis nahm. „Ich kann auch nichts dafür“, verteidigte sich Eren murrend. „Wie ein Hundebaby“, flüsterte Levi, dennoch hörte er leises Schmunzeln von ihrem Team, das jedes ihrer Worte über Funk mitverfolgen konnte. Allein die Tatsache, dass die Kameras ausgeschaltet waren, ließ ihnen ein Quäntchen Privatsphäre. Eren fühlte sich sichtlich gedemütigt und versuchte vergeblich ein wenig von ihm wegzurücken. Die runden Wände ließen kaum Raum zum Ausweichen, sodass er prompt wieder an Levis Seite rutschte. Erens Benehmen amüsierte ihn klammheimlich. Levi konnte jedoch nicht abstreiten, dass es trotz der Plane eisig durch das Rohr zog und der Beton, auf dem sie bäuchlings lagen, widerlich kalt war und auch seine Glieder immer schwerer zu werden schienen. Mit der Zeit hatte ihre isolierende Einsatzkleidung versagt, da diese nicht für so lange Bewegungslosigkeit konzipiert worden war. Für solche Situationen wurden typischerweise nur die Scharfschützen entsprechend ausgerüstet. Unwillkürlich fragte er sich, ob er Erens anerzogene Unsicherheit durch seine Kommentare nicht befeuerte. Läge einer seiner anderen Untergebenen hier, würde er das Zittern ignorieren oder versuchen ihre Situation irgendwie zu verbessern. Er durfte Eren nicht mehr oder weniger abverlangen und schon gar nicht aufgrund seines „Sonderwissens“ in Wunden bohren. Resignierend fasste Levi einen Entschluss und drehte sich auf die Seite. „Komm. Noch müssen wir warten.“ Eren schielte befremdet zu ihm. Er schien den Wink mit dem Zaunpfahl nicht zu verstehen, sodass Levi ihn etwas grob an der Schulter packte und ihn zu sich zog. Zwar lag Eren noch auf dem Bauch und konnte deswegen kaum von ihm herumgezogen werden, jedoch begriff er immerhin, was Levi von ihm wollte und drehte sich ebenfalls auf die Seite. Kaum hatte er den linken Arm gehoben, schmiegte sich Eren an ihn als sei diese Geste vollkommen alltäglich. Trotz der Nähe, die in den letzten Wochen zwischen ihnen entstanden war, kam das so überraschend, dass Levi der Atem stockte und ihm kurz schwindlig vor kribbelnder Aufregung wurde. Fuck. Das war schlecht. Plötzlich nahm er den Körper an seinem überdeutlich wahr. Erens Kopf lag direkt unter seinem Kinn und durch ihre Schutzhelme war es etwas unbequem, viel weniger intim, dafür hielt Eren ihn allerdings mit beiden Armen fest, hatte tatsächlich einen Arm unter ihm durchgezwängt und wenn Levi so zurückdachte, stellte er erschüttert fest, dass er seine Hüfte automatisch angehoben hatte, um es ihm zu erleichtern. Levi wusste nicht wohin mit sich und merkte wie sein rechter Arm unentschlossen über Eren schwebte. Ausatmend ließ er den Arm sinken und umfasste Erens Schulter, ließ seine flache Hand zwischen seinen Schulterblättern ruhen. War es gefährlich hier so zu liegen? Nein, war es nicht, konstatierte er. Beide kämen sie sofort an ihre Maschinengewehre heran, die auf ihren Oberschenkeln seitlich im Halfter steckten. Levi wusste, dass sein Reaktionsvermögen ausreichte und hatte genug Erfahrung mit Eren, um davon überzeugt zu sein, dass auch er schnell genug einsatzbereit sein würde. Wenn er sich nur nicht zu sehr ablenken ließ. Levi musste sich arg zusammenreißen. Wieso hatte er diesen Unsinn nochmal angeleiert? Weil sie froren, Eren zitterte? Levi zumindest wurde allmählich sehr warm und er bemerkte wie der Körper in seinen Armen langsam aufhörte zu zittern. Der Einsatzkleidung zum Trotz empfand er diese Umarmung als viel zu intensiv. Er wollte sich gar nicht ausmalen wie er in dieser Situation mit weniger Kleidungsschichten auf Eren reagieren würde. Das nächste Mal sollte er sein Hirn einschalten, bevor er auf so eine Idee kam. Vor allem nachdem er keine Minute zuvor beschlossen hatte Eren nicht anders zu behandeln als die anderen. Hätte er einen anderen Untergebenen in den Arm genommen, um sich wieder aufzuwärmen? Sicherlich. In der Arktis. Kurz vorm Kältetod. Innerlich seufzend schloss Levi kurz die Augen, sammelte sich und reckte den Hals wieder zum Ausgang. Die weiße Plane flatterte im Wind und bis auf das Dröhnen der Schiffsmotoren drang kein Laut zu ihnen. Und heute früh hatte er sich noch vorgenommen sich von Eren emotional fernzuhalten, um sein unpassendes Verhalten von gestern mit anderen Taten möglichst ungeschehen zu machen. Oh, wie dumm und naiv das von ihm gewesen war. *~* Allmählich kehrte die Wärme in seine steifen Glieder zurück und machte die unsägliche Wartezeit erträglich. Obwohl er sich für seine bisherige Leistung bei diesem Einsatz in Grund und Boden schämen sollte, waren im Augenblick dennoch sämtliche selbstkritischen Gedanken verstummt. Zurück blieb die Entschlossenheit Levi nicht weiter zur Last zu fallen und die Leistung zu erbringen, für die er eingestellt worden war. Zuversichtlich hob Eren vorsichtig den Kopf und löste sich leicht von Levi, sodass er sich mit dem Ellenbogen abstützten konnte ohne seine Hände vollkommen von ihm zu lösen. Überdeutlich bemerkte er wie Levis Finger nur nachlässig an seiner Seite herab rutschten. Als sich ihre Augen begegneten, fühlte er sich auf irritierende Art und Weise wie elektrisiert oder eher magnetisiert. Er hörte seine Umgebung - alles - sah jedoch nur Levis Augen, die ihm bis auf die Seele zu blicken schienen. Es war einer der seltenen Momente, in denen sich das Licht nicht in seinen Augen spiegelte und er ganz genau erkennen konnte, dass sie nicht grau, sondern tiefblau waren. Dunkel wie die Tiefsee und genauso undurchschaubar; zumindest war Eren unfähig eine einzelne Emotion herauszulesen. Wie von selbst bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen und er hauchte Levi ein stummes „Danke“ entgegen. Warum sprach er den Dank nicht laut aus? Weil die Situation zu privat und unprofessionell für die Ohren ihrer Kameraden war? Levis Ausdruck veränderte sich und obwohl Eren weit davon entfernt war Levis Gedanken zu erraten, beschleunigte sich sein Herzschlag. Überschäumender Wagemut überkam ihn und der Wunsch Levi verschiedene Reaktionen zu entlocken ließ ihn tief durchatmen. Dieser alberne Impuls war vollkommen fehl am Platz. „Wann sollen wir uns umsehen?“, wisperte Eren, um seine Gedanken wieder zu ordnen. Levi kniff die Augen leicht zusammen. Ein sanfter Atemzug streifte Erens Wange. „Komm.“ Sie lösten sich voneinander und drehten sich wieder auf den Bauch, als wäre es völlig normal sich in die Arme seines Vorgesetzten zu werfen, um sich zu wärmen. Eren konnte sich nur wundern, warum Levi es ihm angeboten hatte, nahm jedoch an, dass der Zweck schlicht die Mittel heiligte und zwei Eiszapfen nicht mit Agilität glänzen konnten. Langsam krochen sie auf den Ellenbogen und Knien bis zur Plane vor. Sie war ungefähr zwei Meter unterhalb ihres Rohrs am Boden verhakt worden, was sie nur dank der schrägen Abspannung erkennen konnten. Nach oben und zu den Seiten hin konnten sie leider bloß schätzen, wie viele Rohre über und neben ihrem aufgestapelt lagen. Levi warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu, der Eren nicken ließ, bevor er das Visier wieder schloss und ein mattschwarzes Spezialglas sein Gesicht vollkommen verbarg. Eren tat es ihm gleich und stellte die Frage, die wohl beide gleichermaßen interessierte. „Historia, kommen. Wurde der Luftzugriff genehmigt?“ „Marco ist noch am Verhandeln. Sie stellen sich stur, weil sie Angst haben, dass die Presse Wind bekommen könnte und bei einem Fehlschlag die Bevölkerung nur weiter verunsichert. Aber Marco scheint sie allmählich weich zu kochen. General Smith ist ebenfalls dran.“ „Scheiß Bürokraten“, fluchte Levi neben ihm, „Historia, wie lange dauert es bis wir in Dover ankommen?“ „Die berechnete Fahrtdauer beträgt ohne Zwischenfälle noch 76 Minuten.“ „Verstanden. Wir werden uns auf dem Schiff umsehen. Schickt uns den Heli, sobald ihr die Genehmigung habt.“ „Verstanden, Sir.“ Levi nickte ihm zu und sie überbrückten den letzten Meter bis zur Kante. *~* Genervt schnalzte Jean mit der Zunge und verschränkte missgelaunt die Arme vor der Brust. „Was heißt da, wir können nicht auf die Satellitendaten zugreifen? Unsere Leute sind auf diesem Schiff und-“ „Nur weil euer Schirmherr so auf die Kacke haut, heißt das nicht, dass ihr unser Spielzeug bei jedem Fingerschnippen mitverwenden könnt, “, unterbrach ihn der Geheimdienstmitarbeiter schroff, „Die Polizei und das Militär haben genug eigene Aufklärungstechnologie und was habt ihr schon vorzuweisen?“ „Muss ich die Sachlage für Sie etwa buchstabieren?“, knurrte Jean und musste sich fest an seinen Geduldsfaden klammern. „Die GEG unterstützt eure Einheit bereits zu Genüge und ich kann euch nicht einfach den Zugriff auf hochsensibles Datenmaterial gestatten. Das geht einfach nicht.“ „Und was, wenn auf dem Schiff Waffen für die nächsten Anschläge transportiert werden? Wollen Sie verantwortlich für weitere hunderte Tote sein?“ „Ich bitte Sie, Herr Kirschstein. Was ist das denn für eine Argumentation? Der Frachter wird von uns überwacht und in Dover mit uns und der GSG9 gefilzt. Dafür braucht ihr nicht auch noch Zugriff auf unsere Satelliten.“ Jean kam nicht weiter. Er konnte nicht von der GEG verlangen ihnen die Zugriffsschlüssel zu geben und stand schön doof da, wenn er zugeben musste, dass die Polizei mit veralteter Technologie arbeitete und der Militärsatellit zu ungünstig stand, um die Bildqualität zu liefern, die sie im Moment in der geografischen Region brauchten. „Euer Satellit ist der Einzige, der momentan die Bilder liefern kann, die wir zur Beobachtung brauchen“, erklärte Jean und blickte dem dunkelhaarigen Mann nachdrücklich in die braunen, sturen Augen. „So viel Vertrauen müssen Sie der GEG schon entgegen bringen, Herr Kirschstein. Wir haben ein Auge auf den Frachter und eure Leute, sollten sie sich im Freien aufhalten“, sprach der Mann mit etwas milderem Ton beschwichtigend. Jean hasste es die Kontrolle abgeben zu müssen. Er hasste es blind zu sein. Historia und Hannah beobachteten den Einsatz zwar zumindest über die BodyCams, sollten Eren und Rivaille die Rohre verlassen, aber sie konnten sie nicht vor Gefahren warnen, die ihnen Satellitenbilder offenbaren könnten. Der GEG vertraute Jean in diesem Fall herzlich wenig. Der Geheimdienst stand in ungeheuerer Kritik wegen der nicht vorhergesehenen Anschläge und ihrer schlechten Aufklärungsarbeit, da kam eine umstrittene Einheit wie die ESE ihnen wie eine Ohrfeige vom Verteidigungsminister höchstpersönlich vor. Sie hatten sicherlich noch viele eigene Kriegsschauplätze, die der ESE verborgen blieben und die für die GEG sicherlich wichtiger erschienen, als ein suspekter Frachter mit einem klaren Zielhafen. Von den internen Konkurrenzkämpfen ganz zu schweigen. Der Sicherheitsapparat musste definitiv reformiert werden, doch diese Erkenntnis brachte Jean in dieser Situation natürlich nicht weiter. „Jean! Wir haben die Freigabe für den Helikopter und können jetzt mit dem Jet nach Dover fliegen“, rief ihm Marco zu, der zuvor am Telefon gehangen und mit Gott weiß wem herumdiskutiert hatte. Aufatmend strich sich Jean durch die Haare. „Immerhin etwas.“ „Wir passen schon auf eure Leute auf“, versprach der Geheimdienstmitarbeiter versöhnlich. „Sie tun es nicht und Ihren Kollegen sind die meinen wohl kaum wichtig genug“, erwiderte Jean hart und ließ den indignierten Mann in dem modrigen Keller der baufälligen Bar auf der Reeperbahn stehen. Wenn man wollte, dass etwas erledigt wurde, musste man es selbst tun. Und sie taten nichts. *~* Die Nachricht, dass sie die Freigabe für den Luftzugriff bekommen hatten, beruhigte Eren ein wenig, während er mit Levi durch die Containerreihen schlich. So gut die Überwachung des Schiffes im Hafen gewesen war, so nachlässig wurde sie nun gehandhabt. Es gab weder Überwachungskameras noch Wachleute auf der Ladefläche, sehr zu ihrer Erleichterung. Natürlich würde es schwieriger werden, sobald sie das Schiffsinnere betraten, daran hatte Eren keinen Zweifel. Sie hatten die Qual der Wahl. Bei dieser Unmenge an Containern schien selbst Levi unschlüssig, welchen sie als erstes öffnen sollten. „Lass uns halt einfach irgendwo anfangen“, schlug Eren vor und deutete auf einen schmutzigroten Container direkt neben ihnen. Er erntete daraufhin ein resignierendes Schnauben und einen mit Sicherheit genervt dreinschauenden Levi, der Dietrich und ein Mini-Decodiergerät hervorzog. „Dann lass uns mal nach der Büchse der Pandora suchen.“ *** Nach einer knappen halben Stunde hatten sie 24 Container geöffnet und lediglich gewöhnliche Waren gefunden. Die Zeit lief ihnen davon und sie wollten sich zum Ende der Fahrt noch in das Schiffsinnere wagen. Levi verschloss sorgfältig einen zuvor inspizierten Container mit verpackten Metallwaren, ehe er sich an Eren wandte. „Wir sollten uns einen Eingang zu den unteren Decks suchen. Das hier ist uferlos.“ „Verstanden.“ Hintereinander schlichen sie die Containerreihe entlang Richtung Achtern, wo sich die Steuerzentrale und die Türen ins Schiffsinnere befanden. Ein Geräusch, wie aus einem Radio ließ Eren innehalten. „Stopp.“ Levi erstarrte alarmiert. „Ich höre etwas“, erklärte Eren schnell, „Es könnte aus diesem Container kommen.“ Eren senkte seine Waffe und trat direkt vor den Container, lauschte. Da war es wieder! Wie Gemurmel drangen Laute aus diesem Container. Levi trat neben ihn. „Ich höre es auch. Sind das...?“ Eine rhythmisches Raunen drang aus dem Container und jagte ihnen eine Gänsehaut ein. „Gelächter?“, beendete Eren Levis Gedanken und starrte auf die rostigblaue Farbe der Containerwand. Da waren Menschen drin. „Den Lauten nach zu urteilen handelt es sich nicht um den üblichen Menschenhandel.“ „Es könnten illegale Arbeiter sein.“ Solche wurden oft genug aufgegriffen und Eren wusste nicht ob er hoffen oder befürchten wollte oder sollte, dass sie eine größere Entdeckung gemacht hatten. „Diese Container kommen von überall her und werden im Zweifel bis an den Arsch der Welt transportiert“, wandte Levi ein, „Da kann alles drin sein, aber bis Dover ist es zu riskant reinzusehen.“ „Ja.“ Eren nahm eine kugelschreiberähnliche Sprühflasche aus einer der Beckengürteltaschen und markierte den Container mit einem transparenten Schaum, der von Wärmebildkameras als tiefroten Fleck erkannt werden würde. Wortlos wandten sie sich von dem Container ab und setzten ihren Weg bedächtig fort. Sie brauchten ihre Entdeckung nicht zusätzlich zu kommunizieren, sowohl die BodyCam als auch die in ihrem Schutzhelm war aktiviert. Historia und Hannah wussten wie sie die neuen Informationen auszuwerten hatten. Sie gelangen problemlos bis zu der letzten Containerreihe vor den Aufbauten und den einzigen Zugängen, die sie ohne weitere Ausrüstung verwenden konnten. Connie hätte Seile und Haken mit sich geführt, mit denen sie sich von der Reling aus seitlich am Schiff einen Zugang hätten suchen können. Eren war hingegen mit mehr Waffen ausgestattet. Ein Gewehr, zwei Pistolen und fünf verschiedene Messer, die er hoffentlich nicht einsetzen musste. Gemeinsam schlichen sie möglichst weit nach rechts, so dass sie zwar noch Schutz zwischen den eng stehenden Containern fanden, jedoch nicht sofort von der Kommandobrücke aus zu entdecken waren. „Warum zögerst du?“, rutschte es Eren heraus, als er Levis abwartende Haltung sah und zuckte peinlich berührt zusammen, wie ihm seine unqualifizierte Bemerkung bewusst wurde. So durfte er nicht mit seinem Vorgesetzten sprechen. So konnte er nur mit seinem Freund sprechen. Levi überging diesen Fehltritt glücklicherweise und blieb sachlich. „Wenn wir durch diese Tür gehen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis uns Kameras oder Wachleute entdecken. Wir könnten warten und den Kahn im Hafen mit Unterstützung filzen.“ Er war also tatsächlich unentschlossen. „Wozu haben wir das Schiff denn sonst betreten?“ „Weil du nicht gehorcht hast“, erwiderte Levi scharf. „Und wo läge der Unterschied, wenn wir Connie und Armin noch dabei hätten?“ Gut, das gehörte sicherlich auch nicht zu den Einwänden, die man seinem Vorgesetzten gegenüber während eines Einsatzes entgegenbringen sollte. „Eren“, warnte Levi ihn und rollte das „R“ dabei auf seine eigentümliche Weise, die Eren jedesmal eine Gänsehaut bescherte. Meistens vor Angst. Kurz spielte Eren mit dem Gedanken sich zu entschuldigen, verwarf ihn jedoch schnell wieder. Es hätte seinen Fauxpas bloß zementiert. Also schwieg er betreten. „Historia, wie schnell kann der Helikopter hier sein?“ „Ähm, bei eurer jetzigen Position bräuchte er 16 Minuten, aber mit jeder Seemeile, die ihr zurücklegt, sind es 30 Sekunden weniger.“ „Warum braucht der solange?“ „Der Helikopter steht noch in Kingston bei London.“ „Wer auch immer dieses Drecksteil steuert, soll seinen Arsch reinschwingen und nach Dover fliegen. Wir gehen rein und brauchen einen Heli der gottverdammt nochmal in unter zehn Minuten unsere Ärsche einsammeln kann.“ „Verstanden, Sir.“, bestätigte Historia ein wenig atemlos. Dann wandte sich Levi ihm zu. „Wie wir es geübt haben.“ „Ja, Sir“, nickte Eren entschlossen. Solche Einsätze hatten sie in ihrer Ausbildung bis zum Kotzen durchexerziert. *~* Fließend und schnell wie der fliegende Schatten eines Raubvogels rückte Levi vorwärts, gedeckt von Eren und schlüpfte im Licht der Schiffsbeleuchtung zu einer der seitlichen Türen. Unverschlossen und unbewacht. Weder Wachleute waren auszumachen noch begann der in seiner Brusttasche installierte CamDetector zu vibrieren. Natürlich konnte das Gerät nicht alle Signale von versteckten Kameras empfangen, da die Kräfte der Polizei selten so fix arbeiteten wie ihre kriminellen Gegenspieler. Wer etwas wollte, bekam es in der Regel auch. Ihre Ausrüstung war nichtsdestotrotz geeignet ungefähr 95% der Kamerasignale auf der Welt zu empfangen und dem Träger rechtzeitig mittels verschiedenen Vibrationsmustern die Entfernung zu der nächsten Kamera anzugeben. Schritt für Schritt tastete sich Levi in dem spärlich beleuchteten Korridor vorwärts, wohl wissend, dass sich Eren fünf Schritte rechts hinter ihm befand. Das Bauchgefühl sagte Levi, dass sie im Unterdeck mit ihrer Suche beginnen sollten und suchte schnurstracks den Weg über eine schmale Treppe hinab. Brr Brr Brr Als der CamDetector anschlug, fühlte er sich in seiner Ahnung bestätigt und ließ den Zugang zum Zwischendeck hinter sich. Außer dem eintönigen Dröhnen der Schiffsmotoren war kein einziges Geräusch zu vernehmen. Brrr Brrr Brrr Sie kamen dem überwachten Abschnitt immer näher und als Levi am Treppenabsatz zum Eingang des Unterdecks standen, atmete er tief durch. Ohne Aufforderung überreichte Eren ihm eine kleine transparente Kugel. Dieses unscheinbare Miststück brauchte Levi sich bloß auf Höhe des CamDetectors an die Brust zu halten und sie speicherte in ihrem Inneren bis zu zwölf verschiedene Signale, wandelte diese um und störte das Bild der Kameras für drei bis sechs Sekunden - die am weitesten entfernte Kamera am längsten. Dumm wurde es bloß, wenn mehr als zwölf Kameras einen bestimmten Raum überwachten, das war jedoch sehr selten und nur ein Problem in Banken, Museen oder Regierungssitzen. Orte, an denen sich viele Menschen aufhielten und einige davon mit der falschen Intention. Sowie Levi die Türe zum Unterdeck öffnete, wurde die Warnung des CamDetectors noch nachdrücklicher, verstummte einen Moment später jedoch, als die Kugel schwungvoll und leise wie eine Acrylglasmurmel den Gang entlang rollte. Zügig drang er mit Eren in den Gang vor und hielten nach den Kameras Ausschau, fand auf die Schnelle jedoch nichts und hastete zu der nächstgelegenen Türe, bei der der CamDetector nicht anschlug. Eren öffnete diese und fand einen Abstellraum vor. Doch ihnen blieb keine Zeit woanders hinzurennen, bevor die Störung aufhörte, also biss Levi die Zähne zusammen und schob sich mit Eren in den kleinen dunklen Raum. Keine Sekunde zu spät, wie sie die Dauervibration ihrer Detektoren wissen ließ, als sie wie die gepanzerten Sardinen aneinandergequetscht in diesem Witz von einer Kammer standen. Wortlos kramte Eren eine weitere Kugel, die intern liebevoll als Mätressenbooster bezeichnet wurde, heraus und drückte sie Levi in die Hand. „Kannst du das nicht selber machen?“ „Ich dachte, du willst wieder?“ „Tch.“ „Soweit ich mich erinnere führt der rechte Gang zu zwei größeren Räumen.“ So wusste es Levi auch. Er nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass sich Eren den Bauplan des Schiffes gut gemerkt zu haben schien. Während der Ausbildung hatte es ihm stets große Mühe bereitet sich Pläne detailliert einzuprägen. „Ja, wir gehen dorthin“, Levi hielt sich die Kugel an die Brust, „Los geht’s.“ Wieder öffnete Levi die Türe einen Spalt breit und ließ die daumennagelgroße Kugel den Gang hinunterrollen. Die Vibrationen hörten auf und sie liefen zügig und vorsichtig weiter, sammelten die beiden Kugeln flink auf, bogen rechts ab und schlugen den Mann nieder, der ihnen entgegenkam. *~* „Wie läuft’s?“, erkundigte sich Jean bei Historia, nachdem er dafür gesorgt hatte, dass sich jeder von seiner und Erens Gruppe einen Müsliriegel zwischen die Kiemen geschoben hatte. Sie flogen mit ihrem Jet gerade nach Dover und wer wusste schon, wann der heutige Tag endete. Sie sah nicht von ihren Monitoren auf, als sie trocken erwiderte: „Gut, sie haben gerade zwei Männer bewusstlos geschlagen und es wohl rechtzeitig in einen unbewachten Lagerraum geschafft.“ „Was?!“ Entsetzt und mit großen Augen stellte sich Jean neben Historia und blickte auf die Monitorwand, auf der vier Bildschirme gerade aktiv waren. Levis und Erens Körper- und Helmkameras zeigten einen schlecht belichteten Raum mit Lagerregalen, Paletten und Metallkisten. „Du hast die Action eben verpasst“, grinste Historia hämisch. „Du bist der Teufel“, erkannte Jean ungläubig, „Wie kannst du hier so regungslos sitzen, wenn dort die Hölle losbricht?“ Historia warf ihm kurz einen verständnislosen Blick zu. „Es ist alles in bester Ordnung.“ „Hn.“ Hart klopfte ihm plötzlich eine Hand auf die Schulter und Ymir lachte ihm ins Ohr. „Das ist halt kein Job für schwache Nerven, Kirschstein.“ „Was-!“ „Ruhe!“, raunte ihnen Historia streng zu, „Ich muss mich konzentrieren.“ Peinlich berührt zuckte Jean zusammen und auch Ymir ließ mit einem betretenen Grinsen von ihm ab und setzte sich still neben Historia. Zu dritt starrten sie nun auf die Monitore und beobachteten ihren Boss und Eren dabei, wie sie sich wohl auf die zweite Ebene eines der Lageregale hievten. Jean fand es schwer ihren Bewegungen mittels der Kameras zu folgen und verstand, warum sich Historia konzentrieren musste. Ihm wurde nach zwei Minuten bereits leicht schummrig und war dankbar, dass er außer bei seiner SEK-Ausbildung nie länger diesen Job machen musste. „Kannst du für uns laut schalten?“, flüsterte Ymir und bekam, mit einem Knopfdruck und mahnenden Blick still zu sein, was sie wollte. Eren und der Boss waren gerade dabei eine dieser Metallkisten zu knacken und schienen ziemlich ungemütlich auf den Balken des Lagerregals zu hocken. Man hörte nur ihren etwas angestrengten Atem, was der ganzen Sache den Eindruck eines Videogames verlieh. Der Deckel sprang auf und sie hörten simultan ein Schnauben und ein scharfes Lufteinziehen. Jean kniff die Augen zusammen, um in diesem miserablen Licht etwas erkennen zu können und stockte überrascht. „Sind das-?“ „Historia, kommen“, ertönte Levis Stimme, „Standen Handgranaten und Maschinengewehre auf der Warenliste unseres rechtschaffenen Bauunternehmers?“ „Nein, Sir. Ich gebe die Informationen weiter. Laut Satellit hat sich eure Fahrtgeschwindigkeit verringert. Es sind dadurch noch ungefähr 38 Minuten bis zur Ankunft.“ „Verstanden. Wir machen uns auf den Weg hier raus.“ „Ja. Sir.“ Daraufhin begann Historia etwas frenetisch in das vor ihr liegende Tablet zu tippen. Ymir schaute ihr mit neugierig zusammengezogenen Augenbrauen über die Schulter. „Menschenschmuggel?“ „Was?“, fragte Jean leise nach und starrte mit kugelrunden Augen zu den beiden Frauen. „In einem der Container waren Menschen zu hören“, erklärte Historia kurz angebunden. Jean sparte sich eine Erwiderung und wandte sich wieder den Monitoren zu, als sich in dem Moment ihre restlichen Kameraden zu ihnen gesellten und sich von Jean im Flüsterton erzählen ließen, was bisher geschehen war. Inzwischen flohen Levi und Eren in fließender Professionalität durch die Gänge Richtung Oberdeck. *~* Bis auf die zwei Wachmänner, die sie niedergeschlagen, geknebelt und im letzten Eck des Lagerraumes hingelegt hatten, kamen sie ohne Zwischenfälle voran. Zwar konnten sie nicht sagen, ob es sich bei den geschmuggelten Waren und Menschen bisher um die übliche Kriminalität handelte oder sie dem Terrorismus dienen sollten, dennoch war der Einsatz ein Erfolg. Man fand nicht jeden Tag, nicht einmal monatlich eine illegale Lieferung diesen Kalibers, geschweige denn im Frachter eines wohlhabenden Bauunternehmers. Eren konnte nicht anders als Levi bewundernd zu betrachten, als sie vor der Türe zum Außendeck standen. Mit diesen spärlichen Hinweisen hätte keiner sonst gearbeitet. Levis Intuition war einzigartig. Ganz langsam drückte Levi den Hebel herunter und die schwere Türe auf, Eren deckte ihn von der Seite, da sah er eine Menschenansammlung auf dem Platz zwischen ihnen und den Containern und ließ sie postwendend wieder zufallen. Sie wandten sich zueinander. Auch ohne Levis Gesicht erkennen zu können, sah er den angepisst-nüchternen Blick vor seinem inneren Auge. „Ich glaube, es waren mehr als zwanzig“, flüsterte Eren. „Es waren auch mehr als dreißig. Auf der anderen Seite standen auch noch welche.“ „Wir sollten uns hier irgendwo verstecken.“ „Ja“, nickte Levi und ging voraus den Korridor entlang, als es auf einmal metallisch knallte und laute Stimmen vor ihnen erschollen. Sie erstarrten, sich wohl bewusst, dass sie nicht zur nächsten Türe gelangen würden, ohne ihrer Gesellschaft in die Arme zu laufen, die jeden Augenblick um die Ecke kommen und sie entdecken würde. Eren entriegelte simultan mit Levi seine Pistole und schritt auf die Leuten zu, die um die Ecke kamen. „Historia, Luftzugriff.“ „Ja, Sir!“ Als die Leute um die Ecke bogen, verstummten die Gespräche abrupt, Verständnislosigkeit und Verwirrung schlug ihnen entgegen. Dieser winzige Moment, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören können, reichte Levi um vorzustürmen und einen der Männer niederzuschlagen. „Auf den Boden!“, brüllte Eren, „Auf den Boden oder ich schieße!“ Es waren sechs. Sechs hochgewachsene, kräftige Männer, denen der Befehl scheißegal war und ebenfalls ihre Handfeuerwaffen zückten. Levi schlug einen weiteren Mann bewusstlos, entwaffnete den Dritten, doch dann musste Eren schießen. Der Mann jaulte auf, als die Patrone sein Handgelenk durchdrang, ehe Levi ihn mit einem Handkantenschlag an die Halsschlagader zum Schweigen brachte. Nummer Vier zielte unterdessen auf Eren, verfehlte jedoch knapp, da er sich rechtzeitig duckte und ebenfalls nach vorne stürmte. Gekonnt schoss Eren Nummer Fünf in den Unterarm, sodass dieser die Waffe fallen ließ, bevor er ihn mit einem saftigen Kinnhaken bewusstlos schlug. Während dessen verpasste Levi dem Kerl, der auf Eren geschossen hatte, einen Fausthieb in den Solar Plexus und an die Schläfe, sodass Eren ungestört den Letzten entwaffnen und niederstrecken konnte. Soweit so gut. Plötzlich ließ sie der ohrenbetäubende Lärm einer Sirene zusammenzucken und den Gang hinunter starren, wo ein junger Mann den Daumen an einen roten Notknopf gedrückt hielt und ihnen mit offenem Mund und großen, verängstigten Augen entgegenblickte. Eren schoss ihm ohne zu zögern in den Unterschenkel und Levi schlug ihn wie die anderen mit einem Tritt in den Magen und Fausthieb K.O.. Weitere, gehetzte Stimmen erfüllten daraufhin den Gang wie eine Scharr aufgescheuchter Gänse und kamen ihnen zweifellos näher, vereitelten somit jeglichen Versuch sich einen Weg ins Schiffsinnere zu bahnen und dort verborgen auszuharren. Postwendend machten sie kehrt, tauschten ihre Pistolen mit Maschinengewehren aus und sprinteten bereit zum Kampf hinaus auf das Deck, wo sie sofort entdeckt und in Empfang genommen wurden. *~* Sie brodelte innerlich vor Wut. Schon wieder wurde sie eingespannt, musste sich quasi nackt ausziehen und Drecksarbeit für einen Mann erledigen, den sie verabscheute. Doch er war ihr Vater, hatte ihr Studium bezahlt und für ihre erste Anstellung gesorgt. Sie hatte tun und lassen können was sie wollte und nun war die Zeit gekommen die Schulden zu begleichen. Sie konnte nicht anders als ihm gehorchen, denn sie wusste ganz genau, dass ihn nur die Tatsache, dass sie seine Tochter war, davon abhielt ihr die gleiche Behandlung zuteil werden zu lassen wie jenen, die gewöhnlich seine Aufträge ausführten und versagten. Sie wollte nicht herausfinden, wie lange sie die Blutsverwandtschaft vor seinem Jähzorn bewahrte, sollte sie nicht bald Ergebnisse präsentieren. *~* Blei lag in der Luft. Zwar war das Zeitalter der Bleikugeln lange vorüber, doch das umschrieb den einzigen Eindruck, den Eren gewinnen konnte, noch ehe sein Verstand, allein auf Überleben getrimmt, ihn in gut eingeübte Handlungsmuster zurückfallen ließ. Er hielt das Maschinengewehr mit einer antrainierten Gelassenheit und schoss ohne zu zögern und zielsicher jedem, der ihm zugewandt war, direkt in die Brust. Gemeinsam mit Levi versuchte er zu den Containern zu gelangen als böte ihnen dieses Labyrinth den nötigen Schutz. Eren bemerkte nur am Rande wie Levi einem Schützen nach dem Anderen in den Kopf oder Hals schoss und ihm folgte, sprintete hingegen zielgerichtet die letzten Meter bis in eine der Containergassen und hechtete aus der direkten Schusslinie. Er rannte zwischen die Containertürme und bog ein paar Mal ab, bevor er es wagte hinter sich zu blicken. In dem Moment wirbelte Levi herum, drehte ihm den Rücken zu, deckte ihn. Schwer atmend und Rücken an Rücken stehend lauschte Eren und beobachtete ihre Umgebung. Keiner von ihnen schien wie durch ein Wunder verletzt worden zu sein und falls Levi angeschossen worden war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. „Eckstein! Eckstein! Alles muss versteckt sein!“, brüllte es plötzlich aus einem Megafon und ließ Eren jäh schaudern. Levi bemerkte seine Reaktion. „Hast du genug Munition?“ „Ja.“ „Reling und baden. Wenn wir nicht so weit kommen, werden wir uns durchkämpfen.“ Levis Stimme klang völlig ruhig und eben. Eren schluckte. „Verstanden.“ „Eckstein! Eckstein! Alles muss versteckt sein! Wir kommen!“ Eren biss die Zähne zusammen, knirschte ob des bösartigen Singsangs der jungenhaften Männerstimme und stellte beiläufig fest, dass das Sirenengeheul aufgehört hatte. Keine Sekunde später rannte Levi in Richtung Bordaußenwand, fest entschlossen mit der schweren Ausrüstung in die eisige Nordsee zu springen, als ein Schuss ihn nur knapp am Kopf verfehlte und sie schlitternd zum Stehen kamen. Eine mit schwarzen Tüchern vermummte Gestalt mit bösen kleinen Augen durchbohrte sie, hielt den Finger am Abzug der Pistole und schrie erstickt, als Eren ihr in die Schulter schoss. Er war Sasha nie dankbarer für die Extrastunden bei den Schießständen gewesen. Ohne weiter Zeit zu verlieren sprintete Levi los. Beinahe hatten sie die Steuerbordseite erreicht, nur noch bis zum Ende dieser Containerreihe! Auf einmal strauchelte Levi. Eren konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren und stürzte über ihn, fing sich zwar schnell wieder, doch es war zu spät. Zwei schwer bewaffnete Männer versperrten ihnen den letzten Fluchtweg. Man hatte sie von beiden Seiten zwischen den Containern gestellt. „Was seid denn ihr für Arschlöcher?“ „Der Chef will sie lebend.“ „Sind das kack Polypen?“ „Zumindest von der Ausrüstung her.“ „Was is’n das für'n Symbol?“ Eren hörte Levi sehr schwer atmen, hatte jedoch keine Zeit gehabt seinen Zustand zu überprüfen, bevor sie sich wieder Rücken an Rücken stellten, um sich zumindest ein wenig schützen zu können. Vermutlich wurde er von einer Kugel in die Schutzweste getroffen. Nicht tödlich, aber nichtsdestotrotz ziemlich schmerzhaft. „Los! Gewehre fallen lassen!“, befahl einer der Männer und fuchtelte mit der Waffe herum, „Oder wollt ihr ein paar Löcher in den Beinen haben?“ Levi drückte sich fester an Erens Rücken. Er war etwas unschlüssig, ob es das Signal zum Angriff oder einstweiligen Aufgabe war. Daher erwiderte er den Druck. Eine Frage. Levi reagierte nicht, also ließ er das Maschinengewehr sinken. „So ist's brav. Los! Fallenlassen!“ Unwillig ließ er die Waffe auf den Boden klacken und kickte sie mit dem Fuß von sich weg. „Gut. Und nun die anderen Waffen.“ Eren entfernte wohlweislich nur, was von außen problemlos erkennbar war und behielt zwei Messer für sich. Eines im Stiefel und ein kleines Mehrzweckmesser in der verborgenen Ärmeltasche seiner Einsatzkleidung. Sollten sie ihn ruhig untersuchen und seine Kleidung zerschneiden. „Los vorwärts!“ Mit den Gewehren im Anschlag drängten die Männer sie den Gang zurück auf den Platz vor den Aufbauten. Eren schielte zu Levi, der nun neben ihm ging und immer noch schwer atmete. Die Kugel musste ihn an einer sehr ungünstigen Stelle erwischt haben, um ihm so zu schaffen zu machen. „Der Helikopter ist in neun Minuten da“, flüsterte Historia dringlich, als seien die Schutzhelme nicht fast schalldicht und ihre Stimme in ihren Ohren ohnehin nicht von außen zu vernehmen. Neun Minuten war viel zu lang. Es musste etwas schief gelaufen sein. Nachfragen brachte sie in dieser prekären Situation allerdings kein Stück weiter, also schwiegen sie und ließen sich in eine im Kreis stehende Gruppe führen. „Willkommen! Willkommen!“, erscholl eine androgyne Stimme im Singsang, wurde dann tödlich ernst, „Ich kann mich nicht erinnern euch Zwei eingeladen zu haben.“ Vor ihnen stand ein elegant gekleideter schlanker Mann mit einer weiß-goldenen venezianischen Maske. Mit einer wischenden Handbewegung gab er seinen Leuten einen Befehl. „Runter mit den Helmen“, forderte einer der Männer sie barsch auf und kam drohend auf sie zu. Levi fasste nach dem Verschluss seines Helms und Eren tat es ihm gleich. Die Schutzhelme saßen fest wie die an den Raumanzügen und ließen sich etwas umständlich öffnen. Mit einem Klack entriegelten sie sich und sie zogen sie von ihren Köpfen. „Wen haben wir denn da“, raunte der mutmaßliche Anführer, „Den Drachentöter und einen Schönling. Ich habe gehört, dass sich der Drachentöter neuerdings Sozialprojekten annimmt.“ Dann wandte er sich mit ausladender Geste seinen Leuten zu. „Darf ich vorstellen? Die Europäische Spezialeinheit. Bestehend aus zwei Wichsern auf einem Schiff und x Wichsern am anderen Ende der Audio- und Videoüberwachung.“ Seine Männer lachten. „Sagt“, fuhr er mit widerlich süßlicher Stimme fort, „Seid ihr die Einzigen an Bord oder treiben sich noch mehr von euch hier herum wie dreckige kleine Ratten?“ „Wir sind allein“, erwiderte Levi ruhig als spräche er über das Wetter. Der Anführer nickte. „Ich glaube dir. Meine Männer durchsuchen trotzdem das Schiff.“ Plötzlich ertönte das Geräusch von mehreren Außenbordmotoren, die sich allmählich entfernten. Eren hoffte, dass sie via Satellit herausfanden, was es damit auf sich hatte. „Woher wusstet ihr, dass es sich bei diesem Schiff nicht um einen üblichen Handelsfrachter handelt?“ „Intuition.“ Diese Antwort schien den Anführer zu erzürnen. „Ich wiederhole mich: Woher wusstet ihr von diesem Frachter?“ „Intuition“, beharrte Levi scheinbar gelassen, „Wenn du von mir weißt, sind dir sicherlich auch meine Methoden bekannt.“ Der Anführer taxierte Levi schweigend. Man hätte die Anspannung in diesem Moment mit einem Messer schneiden können. Sie zerbröselte wie trockener Sand, als der Anführer hörbar ausatmete und schmunzelte. „Dem kann ich nicht widersprechen. Trotzdem wird eure Anwesenheit für einige Menschen fatal enden. Wie fühlt sich frisches Blut an deinen Händen an, hm Drachentöter?“ Levis Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen. „Vielversprechend.“ Der Anführer brach in schallendes Gelächter aus. Ein Seitenblick von Levi gepaart mit der Verlagerung seines Körpergewichts auf sein linkes Bein gab Eren das Signal loszuschlagen. Unerwartet, kraftvoll und schnell schlugen sie ihre unmittelbaren „Geiselnehmer“ brutal bewusstlos, nahmen ihre Maschinenpistolen an sich, deckten sich gegenseitig und begannen wahllos um sich zu schießen, noch bevor die wenigen, überrascht-ungenauen Gegenschüsse einen von ihnen verletzen konnten. Eren sah nicht wie Menschen starben, nur wie sich ihre Gegner dezimierten. Mit jedem, der fiel, wurde es ein Stück sicherer für sie, stiegen ihre Überlebenschancen. Erst als keiner mehr stand und alles andere aus der Schusslinie gesprungen war, hielten sie mit dem Beschuss inne. Der Anführer hatte sich ebenfalls verkrochen und obwohl alles den Atem anzuhalten schien, konnte die Situation nicht gefährlicher werden. Ihre Helme lagen auf dem Boden, die Köpfe waren ungeschützt, die Patronen gingen ihnen aus und sie standen mitten auf dem Deck, Flucht unmöglich. In den Containerschluchten verbargen sich ihre Gegner. Eren schob seine Ferse ein wenig nach hinten bis er Levis berührte, der den Druck erwiderte. „Helm“, zischte Levi und Eren ließ buchstäblich die Waffe fallen, um ihre Helme aufzusammeln, erst seinen aufzusetzen und Levis vor dessen Füße abzulegen. Dann tauschten sie die Rollen, sodass wenigstens ihre Köpfe wieder vor einfachem Beschuss geschützt war. „Erschießt sie“, kreischte der Anführer keine Sekunde später wie ein betrunkener Papagei und die Hölle brach ein weiteres Mal los. Rücken an Rücken drehten sie sich langsam im Kreis Richtung der Container, schützten sich durch gezielte Schüsse, doch ihre Munition ging rasant zur Neige. Dann hörte er das leere Klacken von Levis Maschinengewehr, wusste, dass er sie beide lange genug decken musste, um Levi den Zugang zu einer anderen Waffe zu ermöglichen. Eren konnte mit keinem besseren Mann in dieser Zwickmühle stecken. Levi bewegte sich schnell und präzise, fand eine Pistole neben einem erschossenen Mann und nutzte diese sofort, um ihre Gegner an gezielten Schüssen zu hindern. „Container!“, befahl Levi und Eren versuchte zielstrebig Schritt für Schritt zurückzuweichen. Es waren bewaffnete Männer in den Containerschluchten, doch deren Angriff war leichter einzuschätzen. Eren deckte Levi von hinten, aber seine Munition war am Ende. „Ich habe nur noch zwei Schuss!“ Ohne Vorwarnung hechtete Levi an seine Seite und prallte mit dem Rücken hart gegen das Wellblech eines Containers. „Fuck!“ Gemeinsam liefen sie in einen der Gänge, Levi schwerfällig. „Wurdest du angeschossen?“ „Streifschuss in die Wade. Kein Problem.“ Eren beließ es dabei und ließ die Maschinenpistole fallen. „Ich habe nur noch zwei Messer.“ „Nutzlos. Wir müssen uns Waffen besorgen.“ Leider war an ihre nicht heranzukommen gewesen, immerhin hatte Levi es versucht. Sie eilten den Gang entlang. Hörten Gebrüll und gezischte Befehle, schwere Stiefel auf dem Deck und den Containerdächern. „Knapp vier Minuten“, informierte sie Historia mit kühler Professionalität. Wenn sie es doch nur schafften von diesem Frachter zu springen oder zumindest so lange durch die Gänge zu fliehen bis sie Unterstützung bekamen. Wie konnten sie in diese beschissene Situation geraten, ärgerte sich Eren und biss knirschend die Zähne zusammen. Levi folgte ihm tapfer als sei er unverletzt, doch als sie an einer Ecke kurz inne hielten, sah Eren wie das Blut aus einer tiefen Wunde unterhalb von Levis rechtem Knie quoll und schluckte besorgt. Zwischen all der gehetzten Angst und notwendigen Gefühlskälte, verkrampfte sich Erens Magen in brennender Entschlossenheit Levi zu beschützen. Er verließ sich zu sehr auf seine Fähigkeiten, nun war Eren dran zu zeigen, dass er verdammt nochmal eine Kraft war, mit der gerechnet werden musste. *~* Levi hatte bereits unzählige Situationen wie diese hinter sich und wusste ihr Glück zu schätzen. Ein angeschossenes Bein war lächerlich in Anbetracht des Kreuzfeuers, aus dem sie entkommen waren. Es war immer wieder erstaunlich wie lähmend der Überraschungseffekt auf einen Menschen wirken konnte und natürlich die augenscheinliche Unerfahrenheit der Schützen. Das waren nicht die Terroristen, die sie suchten. Das waren bezahlte Bodyguards und sonstige Handlanger, die schmutzige Geschäfte gewöhnt waren. Normale Kriminelle und nicht die hochkarätigen Wichser, die Europa in Angst und Schrecken versetzten. Die Maske war eindeutig für die Geschehnisse auf dem Kahn verantwortlich, doch Levi kannte Männer wie ihn. Männer, die eine Show um ihre Person machten. Kein respektabler Terrorist hätte das nötig. Das hatte zwei Dinge zur Folge, doch um die konnte sich Levi zu einem anderen Zeitpunkt Gedanken machen. Vorzugsweise an einem Besprechungstisch mit einer heißen Tasse Tee in der Hand und das beruhigende Gewusel seiner bei ihm sitzenden Kameraden um ihn herum. Levi konnte sich in den Arsch beißen, dass er es nicht geschafft hatte an noch mehr Waffen zu kommen. Nun trugen sie umsonst Magazine bei sich und Levis angeeignete Pistole hatte noch einen einzigen Schuss übrig. Lächerlich. Eine Patrone schlug unweit von Levis Kopf ein und brachte sie dazu weiter zu rennen. Eren ließ sie wie ein Hase Haken schlagen, doch ihre Route zur Reling war trotzdem zu offensichtlich. Männer standen auf den Containern am Rande des Kahns und warteten auf sie. Ihnen blieb nichts anderes übrig als weiter Haken zu schlagen. „Da sind sie!“, brüllte einer und sogleich wurde ihr Fluchtweg mit einigen Schüssen bestimmt. Beiden war bewusst, dass sie nun zielgerichtet die Gänge entlanggetrieben wurden, doch was sollten sie schon dagegen unternehmen? Mit ihren verbliebenen Messern auf sie werfen? Levi konnte mit der Pistole einem vielleicht die Nase brechen, aber mehr Schaden konnte er damit nicht nach Abgabe des letzten Schusses anrichten. Und letzte Schüsse hob man sich auf. Das wusste er aus eigener, schmerzvoller Erfahrung nur zu gut. Sie sahen das Ende des Ganges vor sich und bald würden sie wieder auf dem Präsentierteller stehen. Ein Plan musste her. Leider war Levi in solchen Situationen unglaublich unkreativ. Er handelte nach Gefühl und mit brachialer Gewalt, wenn zurechtgelegte Pläne ausliefen oder scheiterten. In akuter Lebensgefahr Strategien entwickeln zu können, gehörte nicht zu seinen Stärken und war Genies wie Erwin oder Hanji vorbehalten. Vielleicht konnte Armin eines Tages ihrem Beispiel folgen. Vielleicht. „Wir brauchen Waffen“, keuchte Eren überflüssigerweise als könne Levi sich welche aus der Nase ziehen. Plötzlich tauchte ein Mann vor ihnen auf dem Containerdach auf und zielte mit seiner Maschinenpistole auf ihn. Kaum hatte er erfolglos drei Schüsse auf sie abgefeuert, sackte er Tod zusammen und stürzte vor ihnen in den Gang. Dafür hatte Levi also den letzten Schuss aufgehoben. Mit abgeklärter Zielstrebigkeit nahm Eren die Maschinenpistole an sich und Levi fand zwei Reihenfeuerpistolen in Gürtel- und Wadenhalfter. Lucky motherfucker. „Der Helikopter ist fast da. Zwischen den Containern kann er euch nicht aufgabeln!“, informierte sie Historia. „Why the fuck not?“, Levi hatte die schlechte Angewohnheit bei Stress ins Englische zurückzufallen. Es war seine erste Fremdsprache und mittlerweile beherrschte er sie besser als seine Muttersprache. „Es ist zu eng und unübersichtlich.“ „Was für ein Relikt holt uns denn?“, zischte Levi wütend. „Ein Rettungshubschrauber mit einem Sanitäter und zwei GSG9’lern.“ Levi sparte sich die Frage, warum zur Hölle kein Polizei- oder Militärhubschrauber auf dem Weg zu ihnen war. Er hörte Eren aufgebracht schnaufen. Selten zornig knirschte Levi mit den Zähnen. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Gebrüll und Schüsse ließ sie mit den Waffen im Anschlag aus dem Containergang sprinten, hinaus aufs Deck. Sie wurden erwartet. Levi spürte wie ihn Kugeln in der Brust und am Rücken trafen, die ihn ohne kugelsichere Rumpfbekleidung sofort getötet hätten. Er stolperte ein paar Schritte und brach in einen Hustenanfall aus, doch selbst mit tränenden Augen machte er den gegnerischen Schützen zu schaffen. Den Rest hielt Eren erfolgreich auf Abstand. Mitten auf dem Deck, nicht weit von ihrer vorherigen Ausgangsposition vor den Aufbauten, hielten sie Rücken an Rücken inne. Sie waren umzingelt, doch keiner traute sich als erstes das Feuer zu eröffnen. „Worauf wartet ihr?“, kreischte die Maske, „Erschießt sie!“ Keuchend versuchte Levi die Schmerzen in Brust und Rücken zu verdrängen und hoffte, dass Eren mehr Glück gehabt hatte. Eine erneute Feuersalve brach über sie ein. Diesmal wurde auf ihre Köpfe und Beine gezielt, sodass sie sich gezwungen sahen auszuweichen und einzeln gegen die Schützen vorzugehen. Levi traf zielsicher, tötete nicht jeden, doch schaltete sie aus. Er betete, dass Eren sich ebensogut wehren konnte und knurrte bedrohlich bei jedem Gegner, der ihn davon abhielt Erens Wohlbefinden zu überprüfen. Ich muss ihm vertrauen, schallte es durch Levis Kopf, du musst ihm vertrauen. Vor seinem inneren Auge blitzte das Bild auf, wie Eren sich in diesem elendigen Rohr zitternd an ihn presste. Unvorhergesehen, ja. Trotzdem. Vertraue ihm! Durch die Ablenkung reagierte Levi einen Bruchteil zu langsam und kassierte einen Kopfschuss, der im Helm steckenblieb und einen Kurzschluss auslöste. Mit einem wütenden Schrei löste er den Helm und schmiss ihn mit voller Wucht nach dem Schützen, der sich sichtlich erschrocken duckte. Dass Levi dabei kurz unbewaffnet war, weil er beide Hände zum Abnehmen des Helmes brauchte, gereichte ihm glücklicherweise nicht zum Nachteil. Doch nun war sein Kopf die Zielscheibe Nr. 1 und die scheiß Munition ging schon wieder aus. Eine weitere Kugel streifte ihn - diesmal am linken Oberschenkel - und brachte ihn zum Einknicken. Auf einem Knie hockte er auf dem Deck und wunderte sich wie lange dieser verfickte Heli noch brauchen würde, um sie aus diesem Shitfest herauszuholen. Levi konnte nicht ewig einen auf James Bond machen. Ein unbarmherziges Klacken ließ ihn die eine Pistole wegschmeißen und seinen Herzschlag bis in den Hals spüren. Wo war dieser Heli? Vermutlich würde er ihn nicht einmal hören, wenn er über seinem Kopf kreiste, so dröhnend rauschte das Blut in seinen Ohren. Er war praktisch taub und sah nur den nächsten Menschen, den er töten musste, um zu überleben. Dieser Tunnelblick war es, der ihn den einen Scharfschützen übersehen ließ. Ein gewaltiger Ruck von seitlich hinten, ließ ihn zu Boden stürzen und schmerzhaft seitlich mit dem Kopf aufschlagen. Noch ehe er sich aufraffen und die Benommenheit wegblinzeln konnte, vernahm er einen Schrei, der ihm durch Mark und Bein ging. *~* Ihre ganze Einheit zog scharf die Luft ein, als Eren wie ein wildes Tier vor Schmerz aufbrüllte und sie durch die BodyCams sahen, wie er sich am Boden wand. Armin hatte sich die Hände vor den Mund geschlagen und starrte schockiert auf die sich abspielenden Ereignisse, denen er gänzlich machtlos gegenüberstand. Levi war sofort aufgesprungen und vor Eren geeilt, um ihn vor weiteren Angriffen zu schützen. Wie ein Berserker schoss er um sich und hatte doch keine Chance. Wenn Armin richtig mitgezählt hatte - und das tat er so gut wie immer - hatte Levi nur noch vier Schuss. Er fand den mutmaßlichen Scharfschützen und traf ihn an der Schutzmaske. Drei. Ein weiterer Schuss, um einen weiteren Schützen auf Abstand zu halten. Zwei. Ein Mann sackte in sich zusammen. Eins. Ein weiterer, um Eren vor einem Angreifer von hinten zu beschützen. Ein Klacken ließ Levi fluchen und sie hart schlucken. Bitte Gott, bitte, betete Armin inständig und musste sich zusammenreißen die Augen nicht panisch zu schließen. Hart schlug ihm das Herz bis zum Hals. „Der Helikopter ist da“, durchbrach Historia mit lauter und klarer Stimme die ungläubige Stille und tatsächlich. Sie hörten dumpf das Geräusch der Rotoren. Die GSG9'ler schienen von dem Helikopter aus zu schießen und verschafften Levi damit genug Zeit, um sich Eren zuzuwenden. Er trug immer noch seine Schutzmaske, doch das Visier war offen, die Maske seitlich von einem Streifschuss beschädigt. Er schien bewusstlos geworden zu sein. Kein gutes Zeichen. Dann verstanden sie auch warum. Durch die Kamera sahen sie fassungslos, wie sich Schutzkleidung und Haut zu einer schwarzbraunen, schmierigen Masse vermengt hatten. Mina schluchzte entsetzt auf. Es war das Letzte, das Armin hörte. Er verfiel in eine jähe Angststarre. Nur ein Gedanke schallte glasklar durch seinen Kopf, verschlang jegliche Sinneswahrnehmung wie ein schwarzes Loch. Er durfte Eren nicht verlieren. Eren musste leben. Er konnte nicht alle Beide verlieren. Mikasas komatöser Zustand war bereits kaum zu ertragen, doch Eren? Armin wusste, dass er daran zerbrechen würde. Erst Jeans Zischen neben ihm ließ Armin aufschrecken und wieder die Entwicklungen auf den Bildschirmen mitverfolgen. Levi hatte Erens Weste aufgeschnitten und die verflüssigten Kleidungsfetzen entfernt. Erens Brustkorb war auf der linken Seite von einer aggressiven Substanz zerfressen worden, der tatsächliche Schaden nicht abzuschätzen. Als Levi kurz seine Hände hochhielt, sahen sie, dass sich die Substanz selbst bei der kurzen Berührung durch seine Handschuhe gefressen hatte. Mit was auch immer der Scharfschütze geschossen hatte, es hatte Alptraumcharakter. Dann sahen sie wie der Sanitäter eine Liege herunterließ und Levi sich beeilte Eren darauf zu heben und zu fixieren, ehe er selbst in eine Schlaufe schlüpfte, die an der Liege hing. Sowie Eren und Levi in der Luft waren, schwenkte der Helikopter nach Backbord und flog übers Meer aus Schussweite. Erst dann wurden Eren und Levi hochgezogen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Bitte lass Eren leben! *~* Als Hanjis Mobiltelefon wenig später klingelte und sie den Namen des Anrufers auf dem Display sah, wusste sie, dass etwas schreckliches passiert sein musste. *~* Der Polizeihubschrauber, der sie ursprünglich abholen sollte, war 34 Minuten später vor Ort. Der Frachter wurde von einer GSG9-Einheit und Team Alpha gestürmt und die Besatzung dingfest gemacht. Der Mann mit der venezianischen Maske und der Scharfschütze mit dem unbekannten Geschoss waren nicht auffindbar. Die Rettungsboote fehlten genauso wie die Menschen in den Containern. Nur die Waffen befanden sich im Lagerraum. Zumindest berichtete Historia pflichtbewusst davon via Ohrmikro und hielt Stellung, während Team Beta und ihre Präzisionsschützen im Gang des Brüssler Militärkrankenhauses saßen und auf Neuigkeiten zu Erens Gesundheitszustand warteten. Levi lehnte gefühlt seit Stunden an der kahlen Wand und harrte stoisch aus. Er hatte sämtliche Gefühle beiseite geschoben und versuchte sich nicht zu sehr auf seine brennenden Hände und das Schwindelgefühl zu konzentrieren. Die Substanz musste giftig gewesen sein, doch ohne genaue Analyse konnte kein Gegengift generiert werden. Eigentlich müsste er allein schon wegen der Streifschüsse und Hämatome an Brust und Rücken in einem Krankenbett liegen und sich behandeln lassen. „Sir?“ Benommen merkte Levi auf und sah in Sashas besorgtes Gesicht. „Sie sollten etwas trinken“, erklärte sie und hielt ihm ein Wasserflasche vor die Nase. Er fasste nach der Flasche, bemerkte, wie träge seine Bewegung war. Er konnte die Flasche kaum halten, als er ein paar Schlucke trank und gab sie ihr zurück, bevor er das Zittern seiner Finger nicht mehr unterdrücken konnte. „Wie geht es deinem Arm?“ „Das sind nur kleine Kratzer, alles in Ordnung“, grinste sie etwas verlegen und kratze sich an der Wange. Levi nickte. Es war typisch Sasha so nonchalant zu reagieren, nachdem sie von einem über 50 kg schweren Hund angefallen worden war. „Die Pressverbände müssten gewechselt werden“, flüsterte sie kleinlaut und betrachtete beunruhigt, wie sich der Stoff allmählich mit Blut vollsog. Sie wollte ihn genauso wie der Rest seiner Einheit in ein Krankenbett komplimentieren. Doch wider jedweder Vernunft blieb Levi wie angewurzelt stehen. „Das kann warten.“ Sasha nickte und ließ mit einem verunsicherten Lächeln von ihm ab. Er wusste, dass sie sich niemals gegen seine Befehle richten würde, egal was sie von ihnen hielt. Das hieß jedoch nicht, dass sie mit allem einverstanden war, was er von sich gab und sich ihren Widerwillen nicht anmerken ließ. Armin saß wie eine Statue auf einem der gepolsterten Edelstahlstühle, die Fäuste in die Hose gekrallt und apathisch vor sich hinstarrend. Levi konnte nur erahnen, welche Gedanken in seinem Kopf herumwirbelten und spürte, wie sich sein Magen erneut schmerzhaft zusammenzog und ein neuer Schwall Übelkeit über ihn hereinbrach. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie zuckten alle zusammen, als sich die elektronische Flügeltüre vor ihnen öffnete und sprangen alarmiert auf. Verängstigt hielten sie die Luft an, als Hanji in grünem OP-Kittel dahinter erschien und atmeten erleichtert aus, als sie ihr breites Grinsen sahen. Noch ehe jemand einen Ton hervorbrachte, hob sie ihre Hände hoch. „Lasst mich erzählen“, begann sie mit strenger Stimme und blickte durch ihre Reihe, Levi mit scheltend erhobener Augenbraue und Verständnis in den Augen, „Eren ist auf der Intensivstation und noch bewusstlos. Die Substanz hat sich in seine Haut gefressen, sodass wir ein gutes Stück davon transplantieren mussten. Vor eine größere Herausforderung hat uns die Vergiftung gestellt. Bei der Substanz handelt sich um ein Fluorwasserstoffsäure-Derivat, dass so noch nicht bekannt war. Glücklicherweise wirken dieselben Gegenmaßnahmen, sodass ich zuversichtlich bin, dass es bald bergauf geht. Die nächsten 24 Stunden werden uns zeigen, ob die Transplantation erfolgreich war und ob Eren wie erhofft auf die Entgiftung anspricht.“ „Kann er sterben?“, fragte Armin wie ein hilfloses Kind. Hanji legte ihre Hand beruhigend auf seine Schulter. „Wir haben Experten, die die Substanz weiterhin analysieren, doch bereits jetzt haben sie uns grünes Licht gegeben. Eren wird Zeit brauchen, aber es ist nicht zu erwarten, dass er an der Vergiftung stirbt. Es sieht soweit gut aus. Wir konnten ihn während der OP nicht in Vollnarkose versetzen, sodass er nun viel Ruhe braucht, um sich zu erholen.“ „Warum keine Vollnarkose?“, hakte Reiner verständnislos nach. „Bei Fluorwasserstoffsäurevergiftungen kann das zum Tode führen. Wir haben ihn lokal anästhesiert, aber er war ohnehin die meiste Zeit bewusstlos.“ „Was für eine Tierquälerei“, flüsterte Connie mit leidend verzogenem Gesicht. „Fluorwasserstoffsäure ist doch Flusssäure, oder?“, fragte Berthold. „Richtig“, nickte Hanji mit einem Lächeln, dann wandte sie ihre volle Aufmerksamkeit Levi zu, „Und du kommst jetzt mit mir mit.“ Sie nahm ihre Hand von einem sichtlich erleichterten, aber völlig erschöpften Armin und stand schneller vor ihm, als Levi schauen konnte. „Du bist ebenfalls vergiftet und ohne Behandlung stirbst du davon“, warf sie ihm streng vor, als verstünde er ihre Worte nur so plump. Er starrte böse zurück. Sie wusste ganz genau, dass er sich nicht gegen sie wehren würde. Jetzt konnte er gehen. Er wandte sich nochmal an seine Einheit. „Geht in die Militärpension vis à vis und erholt euch. Team Alpha und Historia sollen sich ebenfalls dort einquartieren. In meiner Abwesenheit leiten Jean, Mylius und Reiner die Einheit.“ „Ja, Sir“, ertönte es simultan. *** Hanji führte ihn in ein Behandlungszimmer und zog sich vor seinen Augen um. Wäre Levi in einer besseren Verfassung gewesen, hätte er sich über Hanjis unnatürliche Stille ausgelassen. Sie bedeutete ihm sich auf die Behandlungsliege zu setzen und schob ein Wägelchen vor ihn, setzte sich auf einen Hocker, desinfizierte sich die Hände und begann zwei Schälchen mit verschiedenen Lösungen aus den seitlichen Halterungen zu füllen. Anschließend zog sie sich Handschuhe über und hielt ihre Hände auffordernd vor ihn. „Was ist das?“, rümpfte Levi die Nase. „Lösungen, die deine Hände vor einer Hauttransplantation bewahren.“ Ohne weiter zu zögern hielt er seine Hände hin und ließ sie von Hanji in die Lösung tauchen. Levi zischte schmerzerfüllt und ärgerte sich über seine Empfindlichkeit. Er trug noch die Einsatzhandschuhe und erst als Hanji seine Hände mit professioneller Umsicht vollumfänglich mit der Lösung getränkt hatte, suchte sie Augenkontakt. „Ich werde mit einer Pinzette vorsichtig die Stofffetzen lösen un-“ „Mach einfach.“ Sein Ton war nicht unfreundlich, nur erschöpft. Hanji löste behutsam die Stofffetzen von der Wunde und zerschnitt danach seine Handschuhe. Sowie seine Hände frei waren, nahm sie die zweite Schüssel und tauchte seine Hände in die Flüssigkeit. Obschon Levi mit dem schlimmsten gerechnet hatte, prickelte es lediglich leicht brennend auf der Haut als befände sie sich in etwas zu heißem Wasser. „Lass die Hände ein paar Minuten da drin, ich hole derweil die Infusionen, um dich gegen die Vergiftung zu behandeln.“ Mit diesen Worten stand Hanji auf und entschwand für eine gefühlte Stunde. Erst schwere Rollen auf dem Boden kündigten ihre Rückkehr an. „Tauchst du mich in die Infusionen?“ Skeptisch beäugte Levi das große, inkubatorähnliche Gerät, das Hanji neben ihn gerollt hatte. „Damit sorgen wir dafür, dass sich deine Haut nicht weiter ablöst und schneller regeneriert.“ Sie nahm den großen Infusionsbeutel zur Hand, den sie über die Maschine gelegt hatte, befestigte ihn an einem Ständer und legte Levi einen Zugang im Arm. Er spürte das Piksen der Nadel kaum und war auch ansonsten zufrieden mit Hanjis Behandlung. Nachdem sie ihn an den Tropf gehängt hatte, desinfizierte sie die kleine Platzwunde an seinem Kopf, cremte seine verätzten Hände mit irgendeiner weißen, seltsam riechenden Pampe ein und steckte sie in den „Inkubator“. „Deine Hände müssen jetzt eine Stunde lang da drin bleiben, damit sich das tote Gewebe ablöst und sich eine Schicht neue Haut bilden kann.“ „Die Wunden heilen auch ohne dieses Ding“, rümpfte Levi die Nase. So lange hier festzusitzen schien ihm im Moment unerträglich. Hanji drückte einen Knopf, woraufhin sich das Behältnis mit einer schäumenden Flüssigkeit füllte. „Durch die Salbe und die Flüssigkeit wird deine Wundheilung gefördert, sodass du morgen mit Arbeitshandschuhen wieder ganz normal arbeiten kannst und übermorgen selbst feinmotorisch höchst anspruchsvolle Aufgaben erfüllen könntest. Modellsegelschiffe bauen oder Bomben entschärfen zum Beispiel.“ „Tch“, das war natürlich praktisch, „Wurde Eren auch in sowas gesteckt?“ „Nein, weil wir transplantieren mussten. Wenn er stabil ist, hat er aber auch noch das Vergnügen. Wenn alles gut läuft, ist er in sieben bis zehn Tagen wieder vollkommen einsatzbereit.“ „Wenn wir damals diese Technologien gehabt hätten…“ „Das ist immer so. In der Not beneidet man selbst die Person, die ein scharfes Messer bei sich trägt.“ „Ich habe dir immer gesagt, du sollst ein Schleifmesser mitnehmen.“ „Wenn ich all die Dinge mitnehmen würde, die du mir immer vorhältst, bräuchte ich fünf Lakaien oder drei Esel.“ „Zwei Esel könnten problemlos tragen, was fünf Menschen-“ „Oh nein!“, unterbrach ihn Hanji mit erhobenen Händen und einem Kopfschütteln, „Ich will drei Esel. Da kann ich das mit der Gewichtsverteilung besser managen.“ „Die Menschen dürfen schleppen, aber die Tiere müssen geschont werden?“ „Die Tiere beschweren sich nicht bei Überladung“, erwiderte sie todernst. „Hmph.“ Er hatte dieses verrückte Weib vermisst. „Hosen runter.“ „Das Thema hatten wir schon.“ „Ich muss deine Schusswunden behandeln.“ „Während ich mit den Händen in diesem Ding festsitze?“, schnalzte Levi genervt mit der Zunge. „Erst recht, wenn du mit den Händen festsitzt“, grinste sie diabolisch. „Soll ich mir die Hose mit Gedankenkraft abstreifen?“ Hanji starrte ihn mit großen Augen und zu einem stummen „Oh“ geformten Lippen an. „Ich bin dir behilflich“, strahlte sie keinen Moment später wie ein Honigkuchenpferd und sprang voller Tatendrang auf. „Nein“, raunte Levi kompromisslos. „Ich kann sie dir auch vom Leib schneiden“, grinste sie und zog eine Schere aus ihrem Kittel hervor, wie ein Straßengauner die gestohlenen Uhren. „Nein“, wiederholte Levi vehement. „Du hast doch Klamotten zum wechseln. Ich werde sie dir sogar bringen“, versuchte sie ihn zu bezirzen. „Nein.“ Hanji kam näher, die Schere erhoben, das Grinsen entschlossen und ignorant. „Tu es und ich trete dir so fest in den Arsch, dass du zehn Tage nicht mehr sitzen kannst.“ Hanji wusste aus leidlicher Erfahrung, dass Levi ihr nicht nur drohte. „Sei brav. Das ist nur zu deinem Besten“, fing sie etwas versöhnlicher an. Levi wusste in diesem Augenblick, dass sie nicht abzuhalten sein würde. Natürlich könnte er die Hände aus der Lösung reißen, doch letztlich wollte Hanji ihm nur Gutes. Eine halbe Stunde und einiges Gepöbel später saß Levi mit nackten Beinen und bis zu seinen Shorts hochgeschnittener Hose da. „Aww, Grumpy Cat“, erheiterte sich Hanji und verkniff sich sichtlich schallend aufzulachen. Levi versuchte Hanji mental zu erschlagen. „Ich hole jetzt deine Klamotten. Wenn ich wieder zurück bin, dürften deine Hände auch soweit sein“, versprach sie ihm mit einem aufmunternden Nicken und stakste mit laut knallender Türe davon. Hanji war wie ein Sturm, der vor dem Fenster tobte und Zweige und unbefestigte Gegenstände gegen die Fassade krachen ließ. Sobald sie fort und sich der Sturm gelegt hatte, blieb eine unnatürliche Stille und viel Unrat zurück. Levi stierte auf die zerschnittenen Überreste seiner Hose bis seine Sicht verschwamm. Die plötzliche Ruhe dröhnte in seinen Ohren und ließ Raum für jene Gedanken, die Hanjis Präsenz zuvor außer Reichweite geweht hatte. Angst war für Levi etwas, das stets unter der Oberfläche lauerte. Er war kein ängstlicher Mensch per se, doch ihm war wohl bewusst, wo Gefahren lauern konnten und welche davon ihm zum Nachteil gereichen konnten. Er verabscheute das Gefühl an sich. Wie sich die Angst um sein Innerstes schlang, hinein krallte und verbiss. Erinnerungen und Befürchtungen vermischten sich zu einem emotionalen Gewirr, das ihm die Luft abschnürte. Es kostete ihn viel Kraft mit rationalen Gedanken eine Struktur zu schaffen, die es zuließ, dass er den eisernen Griff der Angst lockerte. Der Einsatz war gut verlaufen. Sie hatten den Schmuggel von Waffen vereitelt, keiner seiner Leute war nachhaltig verletzt worden und ihre Einheit hatte gezeigt, dass sie in der Lage war ihren Beitrag zur Terrorismusbekämpfung zu leisten. Keiner hatte dieses Containerschiff auf dem Schirm gehabt, nur Levi hatte Lunte gerochen. So sehr Levi sich, das Schicksal und seine Leute auch lobte, Bilder gefallener Kameraden und das markerschütternde Schreien von Eren ließen ihm übel werden und zittrig durchatmen. Kein Wunder, dass der Junge so geschrien hatte, wenn sich diese Säure durch seine Haut ins Fleisch fraß. Allein Levis Hände hatten schrecklich geschmerzt und er war ziemlich abgehärtet. Eren hatte ihm das Leben gerettet. Er hätte den Scharfschützen nicht übersehen dürfen. Seine Unaufmerksamkeit hätte Eren beinahe getötet. Es war sein Fehler, sein Versagen gewesen. So etwas durfte ihm nicht passieren. „Yo!“, platze Hanji herein und schreckte Levi sichtlich aus seinen selbstzerstörerischen Gedanken auf, „Die Kleinen sind echt süß. Sie hatten deine Sachen bereits griffbereit und sitzen alle im Gastraum, um auf Neuigkeiten zu warten. Historia war bei ihnen und meinte Team Alpha sei auf dem Weg. Ich bin richtig stolz.“ „Dass sie meinen Befehl sich zu erholen missachten?“ „Nach den Jahren in München qualifiziert ein Bier vor der Nase den dortigen Aufenthalt als Erholung. Außerdem haben sie sich umgezogen.“ Hanji legte einen Stapel frischer Kleidung neben Levi und begutachtete den Zustand seiner Hände durch das Glas des „Inkubators“. Sie desinfizierte ihre Hände und zog sich Handschuhe an, ehe sie den „Inkubator“ öffnete. „Was ist das eigentlich für ein Gerät?“ „Eine Mischung aus Druckkammer und Inkubator - nur für Unterarme“, lächelte Hanji. „Klingt teuer, dafür, dass da nur Hände reinkommen.“ „Du machst dir ja keine Vorstellungen wie oft sich die Menschen an den Händen verbrennen oder eben wie du verätzen!“, begehrte sie auf, „Das Ding ist ganz und gar ausgelastet.“ Behutsam nahm Hanji Levis rechte Hand in die ihre und begutachtete sie von allen Seiten genau. Die Berührung schmerzte nicht mehr, aber sie war unangenehm. „Tut’s weh?“ „Nein, aber die Haut fühlt sich dünn und empfindlich an.“ Sie nickte und untersuchte vorsichtig die andere Hand. „Deine Selbstheilungskräfte sind gut wie immer“, lächelte sie ihn an und ließ seine Hände los, „Fass nichts an, auch dich nicht. Ich muss deine Hände nochmal eincremen und bandagieren. Du wirst aussehen wie eine Mumie und dich nicht sonderlich wohl fühlen, aber wenn du brav bist, bist du die Verbände morgen um die Zeit weitestgehend los.“ „Und wenn nicht?“ „Dann fällt dir die Haut ab wie einer sich häutenden Eidechse mit dem Unterschied, dass bei dir nur rohes Fleisch übrig bleibt.“ „Ernsthaft?“, hakte er mit überraschtem Blick nach. „Japp“, summte sie fröhlich und begann eine braune, stark riechende Creme einzumassieren. Er hasste Krankenhäuser. *** Schlussendlich musste Hanji ihm doch noch die Hosen ausziehen und ihm beim Waschen und Anziehen helfen. Seine Hände waren so gründlich eingepackt, dass er kaum den Daumen bewegen konnte, dementsprechend sehr schlecht greifen oder etwas festhalten konnte. Eine Geduldsprobe und eine verfickte Scheiße, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen und fügte sich zähneknirschend dem ärztlichen Rat. Er musste dankbar sein, dass er ohnehin schnell kurierte. In Bangkok hätte so eine Verletzung verhängnisvoll geendet. Sei es wegen der Wunde an sich oder dem Arschloch, das immer will, was ein anderer hat und wenn’s bloß das Leben ist. „Sodala“, flötete Hanji zufrieden, „Jetzt darfst du dich entweder in einem Krankenbett oder in der Pension ausruhen. Hauptsache du bist morgen um spätestens 9:00 Uhr da, um die Verbände an deinen Beinen zu wechseln und dir eine Ladung Infusionen zu geben.“ „Ich will Eren sehen.“ Missbilligend runzelte Hanji die Stirn. „Levi, er liegt auf der Intensivstation und schläft“, erklärte sie ihm sanft als sei er ein Kind, das nicht verstand, warum es seine schwerkranke Mama nicht sehen durfte. „Ich will zu Eren. Bring mich zu ihm.“ Hanji rang sichtlich mit sich, versuchte abzuwägen wie sein Wunsch und ihre medizinische Meinung in Ausgleich zu bringen waren und vor allem warum sie das tun sollte. Er starrte sie einfach abwartend, entschlossen an. Als sie tief einatmete und seufzte, wusste er, dass er seinen Willen bekommen hatte. „Halt aber den Ball flach. Ich kann nicht die ganze Einheit durchschleusen.“ Er hatte nicht den Plan seiner Einheit heute noch zu begegnen, aber das musste Hanji nicht wissen. *~* Die Intensivstation war groß und jeder Patient hatte ein eigenes, hochmodern ausgestattetes Krankenzimmer, das von einem Intensivkrankenpfleger überwacht wurde, der nie mehr als drei Patienten gleichzeitig betreuen durfte. Eine solch rigorose Versorgung ließ sich der Staat einiges kosten, profitierte allerdings auch an der großen Zahl rehabilitierter Soldaten, die ihren regulären Dienst wieder antreten konnten oder zumindest anderweitig sinnvoll einsetzbar waren. Hanji gefiel ihre Arbeit im Militärkrankenhaus, obwohl ihre Position oft nicht die Zeit ließ die Dinge anzupacken, die ihr Spaß machten. Es war eines der wenigen Krankenhäuser, in dem der Mensch an vorderster Stelle stand und nicht das Geld, das mit ihm verdient werden konnte. Selbstverständlich sah es der Staat und das Management etwas anders, doch die Ärzte und Krankenpfleger machten ihren Job, weil sie Philanthropen waren oder sich in dieser Rolle gefielen. Nun stand sie im leeren Krankenzimmer von Eren und beobachtete wie Levi sich einen schlichten Edelstahlstuhl so zurecht zog, dass er in den Raum sah, sobald Eren zurückgebracht wurde, bevor er sich darauf niederließ. Levis Verhalten und seine große Klappe täuschten in diesem Moment nicht über seine Erschöpfung und innere Unruhe hinweg, die unterschwellige Angst, die er mit aller Macht verdrängte. Am liebsten hätte Hanji ihn umarmt und wünschte sich Umarmungen hätten einen heilenderen Effekt auf Levi, der oftmals schlicht untröstlich war. Sie wollte ihm nicht verwehren sich mit eigenen Augen zu vergewissern, dass Hanjis Worte der Wahrheit entsprachen, Eren lebte und genesen würde. Vorschriften hin oder her. Der Junge war ohnehin alleine, ein Waise und Armin hatte vergessen eine beglaubigte Kopie der Betreuungs- und Patientenverfügung mitzunehmen, die ihm Eren nach Mikasas Koma gegeben hatte. Rein rechtlich durfte Hanji im Moment demnach niemanden zu ihm lassen. „Er hat mir das Leben gerettet“, erfüllte Levis Stimme plötzlich leise den sterilen Raum, „Der Schütze hatte auf meinen ungeschützten Kopf gezielt, ich habe es nicht bemerkt und Eren hat mich zur Seite gestoßen.“ „Dann muss ich Eren wohl meine Dankbarkeit ausdrücken, dass er mir dich Miesepeter erhalten hat“, grinste Hanji aufmunternd, „Gut, dass du ihn damals unter deine Fittiche genommen hast und ich mich nicht gezwungen sah ihn rauszuwerfen.“ Levi drehte den Kopf langsam zu ihr, seine Augen schmal und voller Vorwurf. Er gab sich selbst die Schuld an Erens Verletzung, fühlte sich verantwortlich. Hanji kannte dieses Gefühl natürlich und meistens war es für eine Führungsperson in Ordnung so zu empfinden, doch Levi neigte dazu viel zu hart zu sich zu sein. Er versteckte es gut und wusste auch, dass er sich selbst nicht so arg für Handlungen und Ereignisse geißeln musste, auf die er keinen oder maximal kaum einen Einfluss hatte. „Das muss wahrlich die Hölle gewesen sein, wenn du etwas übersehen konntest“, meinte Hanji nachdenklich und erwiderte Levis durchdringenden Blick mit einem anerkennenden, „Ich bin froh, dass der Einsatz trotzdem so glimpflich abgelaufen ist und du meinem Erste-Hilfe-Kursus gut gelauscht und genau richtig bei dieser Verätzung gehandelt hast.“ „Hm“, summte Levi desinteressiert und wandte den Kopf ab. Lob konnte er schwer annehmen, aber genau das musste er nun hören. Er war ein außerordentlicher Soldat und emotional intelligenter Mann, der so viel mehr verdiente als er bekam. Ein Schwall Zuneigung überkam sie. „Du kannst hier bleiben. Eren ist gerade in der Druckkammer und dürfte laut Anzeige in ca. 10 Minuten zurück gebracht werden.“ Levi nickte und betrachtete sie kurz. „Danke, Hanji.“ Sie lächelte ihn kurz an und drehte sich schwungvoll um. „Sei brav und ruf mich an, bevor du jemandem in den Arsch trittst und vice versa!“ Sie hörte ein leises Schnaufen und das genügte auch. Kaum war sie aus der Tür getreten, ertönte bereits ihr Pieper. Ungeduldig blickte sie auf das Gerät an ihrer Hüfte. Mike rief sie in die Kantine. Na, das waren mal Notfälle, wie sie sie mochte. Mit etwas leichterem Gemüt stolzierte sie durch die Gänge zur Cafeteria und überlegte bereits, welchen Muffin sie sich gönnen könnte, als sie Mike mit Armin an einem der Tische entdeckte und ihr Lächeln erstarb. Mike bemerkte sie als erstes, sodass sie sich mit einem tiefen Atemzug auf den Weg machte und ein erneutes Lächeln auf ihre Lippen setzte. „Pass auf, dass Sie Levi nicht hier findet, Herr Alert“, grinste sie, woraufhin Armin aufschreckte und sie mit seinen schönen großen Augen durchdringend betrachtete. „Ich habe die Vollmachten!“ Erwartungsvoll hielt er sein Tablet hoch, auf dem sich die entsprechenden Dokumente befanden. „Ich habe gerade keinen Leser dabei“, erklärte Hanji entschuldigend und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Ich hab einen, dann kann ich sie dir schicken“, bot Mike an und setzte seine Kaffeetasse ab. „Ja, super!“, nickte Hanji und bedeutete Armin Mike das Tablet zu reichen. Ärzte untereinander durften sich die Dokumente über den Krankenhausserver mailen. Mike nahm ein längliches Gerät mit Display heraus, das vorne einen Sensor hatte und die Informationen auf Armins Tablet ablas, die mit einem speziellen Code gesichert waren. Auf diese Weise erhielt Mike die Dokumente, konnte sie im Mini-Format auf dem Leser prüfen oder wenn die Zeit es zuließ, sie erst auf sein Tablet übertragen und dort begutachten. Es war die gewöhnliche Vorgehensweise, wenn es um die Übertragung wichtiger Dokumente ging, die sonst nur auf Papier „sicher“ wären. Und wann benötigte man schon noch Papier außer vielleicht am Arsch der Welt? Mike nickte und wandte sich ihr zu: „Ich schicke sie dir gleich rüber.“ „Danke“, sang Hanji und klopfte Mike auf die Schulter, da piepte es auch schon und er seufzte grottentief. „Ich muss gleich in den OP. Ich komme am späten Abend nochmal in deinem Büro vorbei.“ „Klar, mach das“, lächelte sie, „Was für eine OP ist es denn?“ „So ein junger Depp, der in einer Übung auf eine Mine getreten ist. Ich flicke ihm neue Beine an.“ „Sonst geht’s ihm gut?“, platze es ungläubig aus Armin heraus. „Hatte Glück, der Kleine.“ „Na ja, mit den Prothesen kann er beim Militär immerhin noch in den Innendienst.“ „Besser ist es. Der Junge ist dumm und vorlaut. Von denen haben wir schon zu viele.“ Hanji nickte ernst, ehe sie amüsiert kicherte und Mike die Faust hinhielt, der mit einem Grinsen einschlug. „Hach, jetzt wäre ein Muffin toll.“ Armin sprang prompt darauf an. „Ich könnte Ihnen einen bringen.“ „Gerne“, grinste sie, „Und einen großen türkischen Kaffee, bitte. Du brauchst nur auf mich zu deuten, dann ziehen sie die Summe von meinem Persokonto.“ Dienstbeflissen tat Armin wie ihm geheißen und saß kurz darauf schweigend mit ihr am Tisch. Es war deutlich, dass er mit ihr sprechen wollte und sie ließ ihm die Zeit die richtigen Worte zu finden. „Generalstabsarzt Zacharias war heute sehr wortkarg, ich hoffe, ich habe ihn nicht belästigt.“ „Quatsch, der ist bloß seit 13 Stunden im Dienst und müde. Außerdem macht er sich wie ich Gedanken um unsere Babys“, erklärte Hanji und funkelte Armin spitzbübisch an. „Wie geht es Eren?“ „Unverändert; er ist in der Druckkammer. Levi wartet auf ihn.“ Diese Nachricht schien Armin zu erleichtern. „Wie geht es General-Leutnant Rivaille?“ „Er ist erschöpft und ich hoffe, dass ich ihn am Abend in ein Bett bekomme. Die Vergiftung kriegen wir mit drei weiteren Infusionen in den Griff.“ „Es war unglaublich wie sie sich gegen diese Übermacht behauptet haben. Sie haben insgesamt 14 Leute erschossen und 47 verletzt. Es ist ein Wunder, dass sie selbst nicht mehrere Schusswunden erlitten haben.“ „Levi hatte schon immer Leben wie eine Katze.“ „Eines davon hat Eren ihm erspart.“ „Hm hm“, summte Hanji wissend, woraufhin Armin ihr einen analysierenden Blick zuwarf. „Fühlt er sich verantwortlich?“ „Levi fühlt sich immer verantwortlich.“ Nachdenklich blickte Armin auf seine auf dem Tisch gefalteten Hände hinab. „Es war unmöglich den Scharfschützen in dieser Situation aus diesem Blickwinkel rechtzeitig zu bemerken. Dass Eren ihn sah, war großes Glück und seiner Position geschuldet. Wie gesagt, die Wahrscheinlichkeit, dass sie erschossen werden, war höher als der tatsächliche Ausgang des Einsatzes.“ „Wir hatten im Krieg oft sehr viel Glück. Es mag zwar unfair erscheinen, aber Glück und Zufall sind Konstanten im Leben, ohne die man oft nicht sehr weit kommt.“ „Wie unser Wasserrohrbruch.“ „Hm? Wie meinen?“ „Oh“, hielt Armin inne und lächelte Hanji leicht an, „Wir hatten einen Wasserrohrbruch, sodass vier von uns umquartiert werden mussten. Wegen Platzmangel und weil ich schneller war, ist Eren beim General-Leutnant gelandet. Durch diese forcierte Wohngemeinschaft sind sie sich näher gekommen und ich denke nicht, dass der Einsatz so glimpflich abgelaufen wäre, wenn sie sich nicht in den letzten Wochen besser kennengelernt hätten.“ Als Hanji sprachlos verharrte, musterte Armin sie fragend. „Das kann ich mir vorstellen“, brachte sie schließlich heraus, „Aber ich war bereits seit dem ersten Weihnachtsfest während der Ausbildung der Meinung, dass die Beiden sich allgemein gut tun.“ „Ja, es ist wirklich faszinierend“, gab Armin zu, „Eren hat sich sonst immer schwer mit anderen Menschen getan. Er hat nur Mikasa und mir je richtig vertraut.“ Hanji bezweifelte, dass Levi momentan jemanden hatte, dem er derart vertraute. Alle waren ihm weggestorben. Sie bedauerte zutiefst, dass sie nicht in der Lage war Levi eine bessere Stütze sein zu können. Ihr Verhältnis war nach dem Krieg zwar viel besser geworden als sie es sich je hätte ausmalen können, aber es genügte nicht. „Aber noch überraschender finde ich, dass der General-Leutnant einen unkonventionellen Charakter wie Eren so nah an sich heranlässt, wohl wissend, welchem Sog er sich aussetzt“, sprach Armin nachdenklich weiter. Hanji sah ihn erstaunt an, begegnete einem zurückhaltenden Blick. „Sog“, wiederholte sie das Wort, als sei es befremdlich. Armins scharfem Verstand und achtsamen Augen war nicht entgangen, was Hanji in ihrer geistigen Eitelkeit als überflüssig hinfortgewischt hatte. Hanji hatte Levi mit viel Überzeugungsarbeit dazu gebracht mit ihr befreundet zu sein und er hatte ihr gegenüber stets mit dieser selbstschützenden Distanz, diesem unwillkürlichen, anerzogenen und erlernten Misstrauen einen emotionalen Sicherheitsabstand eingehalten. Als Levi sich auf eine Freundschaft mit Eren einließ, hatte er sich bewusst in einen Orkan gestürzt, der jegliche Distanzen überbrückte und alle Hindernisse wie müdes Herbstlaub vom letzten Winter wegblies. Erst jetzt verstand Hanji vollumfänglich, was Armin verwundert auf seine Finger starren ließ. *~* Eren schlief. Nachdem sie ihn wieder ins Zimmer geschoben hatten, versorgten die Krankenpflegerinnen ihn mit Infusionen und erklärten ihm, dass Eren zwar nicht narkotisiert oder komatös war, dennoch vermutlich die nächsten 15 bis 20 Stunden durchschlafen würde. Levi nickte alles ab und ignorierte sämtliche Ratschläge sich in ein eigenes Zimmer zu legen und zu erholen. Er fand keine Ruhe. Er würde kein Auge zu tun, ehe Eren aufgewacht und blöd dahergeredet hatte. Natürlich wusste er, dass er für Erens Verletzungen nicht verantwortlich war. Zumindest nicht verantwortlicher als er es als Leiter der Einheit ohnehin war. Trotzdem fühlte er sich schuldig. Er konnte die Ereignisse rationalisieren so viel er wollte, das Gefühl verschwand nicht. Früher konnte er sich besser distanzieren, obschon er nie einer der Soldaten gewesen war, die ihre Untergebenen als lebendiges Werkzeug betrachteten, es pflegten und hegten, aber nie eine echte emotionale Bindung aufbauten. War es kaputt oder zu beschädigt, musste es ersetzt werden. Levi wirkte zwar nie so, doch er hatte seine Untergebenen stets beobachtet, auf diese Weise kennengelernt und eine emotionale Bindung zu ihnen aufgebaut, die ihm letztlich zwar schadete, aber er konnte und wollte nicht aus seiner Haut. Vielleicht litt Levi einfach gern. Jedenfalls warf er sich das oft genug vor. So intensiv war das Gefühl der Schuld selten gewesen. Er wusste warum und hatte es aufgegeben sich darüber innerlich zu echauffieren. Die Zuneigung zu Eren hatte ihn bereits verändert. Er sah es an dem geteilten Bett, seiner Geduld, den ausführlichen Gesprächen, der zunehmenden Bereitschaft sich fallen zu lassen - und Unsinn zu machen - und selbstverständlich an seiner besonders tiefgreifenden Sorge um Erens Wohlbefinden. Seine komplette linke Brusthälfte bis auf Höhe des Zwerchfells musste mit aus Stammzellen gezüchteter Haut wiederhergestellt werden und war entsprechend dick bandagiert. Das zu sehen, ließ Levis Magen verkrampfen und Übelkeit in ihm aufsteigen. Tatsächlich musste er keine Minute später aufspringen und sich im angrenzenden Bad übergeben. Viel war es nicht. Die letzte Mahlzeit mit Eren… Sie schien eine Ewigkeit her. Er wusste nicht wie lange er röchelnd vor sich hin würgte bis sich sein Magen beruhigt hatte, aber spätestens als ihn Schwindel überkam und ihm erst recht der Schweiß ausbrach, wurde Levi klar, dass er körperlich am Ende war und er sich ernsthaft ausruhen musste. Er hatte den Blutverlust und womöglich die Vergiftung unterschätzt. Schwerfällig betätigte er die Toilettenspülung und hievte sich zittrig auf. „Levi?“, fragte Hanji gerade, als er aus dem Bad trat und musterte ihn kritisch, sowie sie seiner desolaten Erscheinung gewahr wurde. „Ja“, brachte er mürrisch heraus. „Ich habe einen bequemeren Stuhl besorgt“, erklärte sie und deutete dabei auf das Edelstahlgestell mit Polster auf der Liegefläche. „Ein Balkonstuhl.“ „Ein Balkonstuhl“, nickte Hanji, „Mit komfortabler Kopf- und Fußablage.“ Levi betrachtete das Teil argwöhnisch, musste jedoch eingestehen, dass die Aussicht, sich darauf ausruhen zu können, im Moment äußerst verlockend war. „Ich werde dir gleich noch eine Infusion bringen, dann lasse ich dich bis morgen in Ruhe.“ „Ich dachte, die ist erst morgen fällig.“ Hanji zog vielsagend eine Augenbraue hoch. „Fällig, ja. Sie wird dir allerdings gut tun.“ Sie wusste ganz genau wie miserabel es ihm ging, sagte allerdings nichts weiter und dafür war er ihr sehr dankbar. Er nickte und lag wenig später mit Decke und Infusionsständer neben dran auf dem Stuhl und ließ sich von dem steten Piepen des Herzmonitors einlullen bis sich sein Magen beruhigte. Er schlief nicht, doch seine Unruhe ließ mit der Erschöpfung und dem Wissen nach, dass Eren mit Hanji nicht in besseren Händen sein konnte. Alles würde gut werden. *** Am nächsten Morgen wurde Levi in einen Behandlungsraum gebracht, um die Verbände zu wechseln und eine weitere Infusion zu erhalten. Wieder schwieg Hanji über seinen schlechten Zustand und erzählte ihm lieber von einem seltsamen Essens-Pinkel-Traum und dass Armin seine Vollmachten nachgewiesen hatte und Eren besuchen durfte. Diese Information nahm Levi zum Anlass sich mit seiner Einheit in Verbindung zu setzen und ihnen den Befehl zu erteilen sich weiterhin auszuruhen. Anschließend schrieb er Erwin eine Nachricht - er hatte Levi ganze 17 Mal versucht anzurufen und ein paar dringende E-Mails geschickt -, in der er erklärte, dass er Historia beauftragt hatte ihn über den Einsatz zu informieren, seine Einheit ansonsten allerdings in den nächsten zwei Tagen frei hatte. Erwin war der Big Boss und Levi der Ansicht, dass er auch ohne seinen Input genug Material hatte, um der ESE einen größeren Spielraum a.k.a. eine vorbehaltlose Zusammenarbeit mit den anderen Behörden zu verschaffen. Der Waffenfund allein musste nicht unbedingt auf eine terroristische Vereinigung hindeuten; eine Abgrenzung zur gewöhnlichen Waffenkriminalität war nur nach Analyse der Geschosse möglich. Je ausgefallener, desto eher dienten sie einem höheren Zweck als dem Alltagsgauner und Mörder von nebenan. Die neuartige Munition, mit der Eren verletzt worden war, genügte den Anforderungen, davon war Levi überzeugt. Abgesehen davon hatte seine Einheit nun genug Selbstbewusstsein getankt, um richtig gemeine Kopfschmerzen zu bereiten, sollte jemand an ihrer Existenzberechtigung zweifeln. Nicht einmal der ach so geniale Geheimdienst hatte vergleichbare Ergebnisse erzielen können. Alle stocherten im Dunkel, nur sie fanden irgendetwas. Selbst wenn es keine Terroristen gewesen sein sollten, waren sie in der Zeit nicht untätig auf ihren Ärschen gesessen. Gerade als er sein Handy auf lautlos in die Tasche schob, kam ihm Armin auf dem Gang vor der Intensivstation entgegen. „Guten Morgen, Sir“, grüßte er ihn freundlich, „Wie geht es Ihnen?“ Levi verstand, warum Eren dieser ständige Wechsel vom Siezen und Duzen nervte. „Ich dachte wir duzen uns, Alert.“ „Entschuldigung“, lächelte Armin zögerlich, „Nach so vielen Jahren der Gewohnheit fällt es mir schwer bestimmte formelle Distanzen zu überwinden.“ „Ein Problem, von dem ich immer nur gehört habe.“ Armin warf ihm einen durchdringenden Blick zu. „Mir scheint manche Menschen warten nur darauf jeden auf ihre Ebene ziehen zu können.“ „Das klingt so negativ.“ „Auslegungssache“, zuckte Armin mit den Schultern, „Meiner Ansicht nach wünschen sich die meisten Menschen eine Verbindung, die nicht durch formelle Grenzen behindert oder sogar tabuisiert wird.“ „Und du gehörst nicht dazu?“ „Ich gehöre eher zu denjenigen, die in der formellen Struktur und Distanz Sicherheit finden“, erklärte er offen, „Und ich denke, dass die meisten auch so empfinden, sich aber nicht trauen es zuzugeben und sich in idealistischen Phantasien verlieren.“ „Und wo ordnest du mich ein?“ „Als jemanden, der jeden Menschen nimmt, wie er ist und auf Augenhöhe kommuniziert“, räumte Armin ein und fügte nach kurzer Abwägung hinzu, „Genau wie Eren.“ Innerlich fuhr Levi zusammen. Es war keineswegs verwunderlich, dass Armin ganz genau beobachtete, was ihn und Eren so gut miteinander auskommen ließ. Ihre direkte und ehrlich-forsche Art war offensichtlich, aber was Eren für Levi bedeutete? Er hoffte, dass Armin nicht auf die Idee kam, dass sein Vorgesetzter mehr als nur Sympathie für seinen besten Freund empfinden könnte. Es war immerhin eine Idee, an die sich Levi selbst erst gewöhnen musste und er wusste ganz genau, dass er für die meisten Menschen ein Buch mit sieben Siegeln war. Selbst für einen hochintelligenten Mann wie Armin wäre es eine zeitaufwändige Herausforderung ihn zu knacken und ob er sich der stellen mochte, blieb abzuwarten. Levi konnte sich höchstens Eifersucht als Motivation vorstellen, bemerkte bei Armin allerdings keinerlei Tendenzen diesbezüglich und sobald der Wasserrohrschaden behoben war, gäbe es sicherlich keinen Anlass mehr Levis Verhältnis zu Eren großartig zu hinterfragen. Apropos… „Wie geht es Eren?“ „Ich dachte, das müsste ich dich fragen“, meinte Armin dankbar, „Ich bin froh, dass sie dich nicht rausschmeißen konnten.“ Levi schnaubte stur. „Eren schläft noch, aber die Transplantation war erfolgreich“, fuhr Armin erleichtert fort, „Dr. Natantes meinte, dass Eren jederzeit aufwachen müsste und diese lange Ruhephase nicht mal ungewöhnlich sei.“ „Wer ist Dr. Natantes?“ „Der Transplantationsarzt und Chefarzt der Dermatologie und Stammzellenforschung - soweit ich das verstanden habe“, seufzte Armin. „Warum gehst du schon, wenn Eren jederzeit aufwachen könnte?“, fragte Levi ohne jeden Vorwurf, „Wenn jemand das Recht hat bei ihm zu sein, dann du.“ „Mag sein“, erwiderte er und faltete unsicher die Hände, „Aber ich brauche in solchen Situationen die Arbeit. Mich macht es ganz krank hier zu sein und nachdem ich weiß, dass Eren nicht alleine ist…“ Mikasa. Natürlich. Levi konnte verstehen, dass Armin sich mit Arbeit ablenken wollte und fühlte sich unwillkürlich geschmeichelt, weil er ihn als würdigen Ersatz ansah über Eren zu wachen. Armins Vertrauen nach diesem Einsatz vermochte seine Schuldgefühle ein wenig zu mindern. „Historia wird deine Hilfe sicherlich zu schätzen wissen.“ Armin nickte und sah kurz auf den Boden. „Nichtsdestotrotz möchte ich, dass ihr euch alle etwas erholt.“ „Das wird schwierig. Draußen tummeln sich die Journalisten und alle sitzen wie auf Kohlen. Für uns war der Einsatz schließlich nicht sonderlich strapazierend.“ Sie sind ziemlich viel untätig rumgesessen. „Der ganze Monat zuvor allerdings schon. Wir müssen jede Gelegenheit zur Pause nutzen, wir wissen nicht, wann wir wieder welche haben.“ „Machen wir“, lächelte Armin und bedachte ihn mit einem musternden Blick, „Vielen Dank und gute Besserung.“ Levi nickte zum Abschied und kam sich grundlos ziemlich bescheuert vor. Er hörte sich an wie Nanaba, eine Soldatin und herausragende Chirurgin, die es sich mit ihrer ruhigen Art oft zur Aufgabe gemacht hatte ihre Kameraden zu bremsen und zur Ruhe zu rufen, wenn sie mal verschnaufen konnten. Im Krieg musste man jede friedliche Minute auskosten, das hatte Levi von ihr gelernt. Er kam sich vor wie ein Vater, der die Parolen seiner Vorväter wiederholte, obwohl er sich geschworen hatte ganz anders zu werden. Manchmal musste man wohl zugeben, dass die Dinge, die einem eingebläut worden waren, durchaus ihre Berechtigung hatten. Levi konnte sich nun nur noch fragen, warum er sich erst jetzt so fühlte. Er hatte zuvor schon Soldaten befehligt. Vielleicht lag es am Altersunterschied. Oder auch an ihrem unterschiedlichen Wissensstand. Mit Kriegsveteranen konnten wenige Menschen in bestimmten Punkten mithalten. „Oh, Sir!“, rief eine Krankenpflegerin, „Herr Jäger wurde auf die Station 45 in den dritten Stock verlegt.“ Levi drehte sich um und erkannte die brünette Krankenpflegerin, die stets freundlich zu ihm gewesen war und die jüngeren Kolleginnen ermahnt hatte, sich nicht weiter über seine Anwesenheit auf der Intensivstation zu echauffieren. Er nickte. „Wo muss ich hin?“ „Wieder zum Lift und dann nach links, einfach der Beschilderung folgen“, lächelte sie ihn gütig an. „Danke.“ Er hatte selten so freundliche Krankenpflegerinnen erlebt. Die meisten reagierten auf seine kurz angebundene Art schroff und wenig humorvoll. Er hatte absolut kein Talent für den Umgang mit Leuten, die sich seiner annehmen mussten. *** Das Zimmer war blau. Es wirkte wie ein gewöhnliches Schlafzimmer und er bewunderte die Mühe, die sich die Innenarchitekten und die Krankenhausleitung gemacht hatten. Erschöpft ließ sich Levi auf dem gepolsterten Holzstuhl nieder, der neben Erens Bett an einem kleinen Tisch stand. Seine Hände waren zwar noch empfindlich, doch durfte er bei gehöriger Umsicht die Verbände weglassen. Anders sah es mit diesen dämlichen Schusswunden aus, die weiterhin mit Gelverbänden eingewickelt werden mussten. Hanji wusste nur zu gut, dass er auf seine Hände mehr Rücksicht nehmen würde als auf die Schrammen an seinen Beinen. Zu allem Übel hatte sie darauf bestanden seine Hämatome an Brust und Rücken mit einer intensiv riechenden Salbe einzucremen, um auch an dieser Stelle die Heilung zu fördern - Levi unterstellte ihr gutmütig, dass sie es lediglich genoss seinen Oberkörper anzufassen. Würde ihm die Salbe nicht so arg stinken, wäre er sicherlich dankbarer für ihre Bemühungen gewesen. Müde lehnte er sich zurück und betrachtete Erens ruhendes Gesicht. Die Decke reichte ihm bis knapp über den Bauchnabel, sodass man deutlich die Verbände unter dem weißen Kittel erkennen konnte. Er hoffte, dass Eren nicht leiden musste, sobald er erwachte oder er zumindest bald eine Infusion bekam, die seine Schmerzen linderte. Er wirkte nicht mehr so fragil wie zuvor. Er schien friedlich zu schlafen. Die gute Variante Schlaf. Die, bei der sich der Körper erholen konnte. Beruhigt lehnte sich Levi nach vorne und verschränkte die Arme auf dem Tisch, um seinen Kopf darauf betten zu können. Er atmete tief durch und versank in einem von wirren Träumen und Erinnerungsfetzen durchzogenen Dämmerzustand. Das Gefühl aus dem Betonrohr zu rutschen, ließ Levi schaudernd zusammenzucken und aus dem Halbschlaf hochschrecken. Er setzte sich mit einem unterdrückten Gähnen auf und wischte sich über die kratzigen Augen. Er fühlte sich wie überfahrener Müll auf den drauf gekotzt wurde. Sein Blick wanderte zu Erens schlafender Gestalt. Zwei seegrüne Augen sahen ihm entgegen und er erstarrte. Ein leichtes Lächeln formte sich auf Erens Lippen und er funkelte ihn an. „Hallo“, krächzte er leise, die Stimme rau und heiser. Als wäre ein Damm gebrochen, fand sich Levi in der nächsten Sekunde neben Erens Bett wieder. „Eren.“ Er sprach den Namen aus wie in Trance, stand leicht vorgebeugt und unbeholfen eine Hand über Erens Unterarm haltend vor ihm. Der Schmerz der ruckartigen Bewegung brannte sich zurück in sein Bewusstsein und war fast gleichzeitig vergessen. Zögerlich verhakte er Daumen und Zeigefinger in Erens Ärmel. Er brauchte dieses bisschen Körperkontakt wie die Luft zum atmen. Sowie er den Stoff zwischen seinen Fingern spürte und Erens Handgelenk streifte, überkam ihn ein Gefühl purer Erleichterung, zog ihm regelrecht den Boden unter den Füßen weg. „Was ist passiert?“ „Woran erinnerst du dich?“ „Ich wurde angeschossen.“ Levi nickte. „Wir sind mit dem Heli nach Brüssel ins Militärkrankenhaus geflogen worden. Hanji und ihre Kollegen haben dich behandelt. Sie mussten großflächig Haut an deiner Brust transplantieren und dich entgiften, aber es sieht soweit alles gut aus. Du bist bald wieder fit. Den anderen geht es gut. Sie sind in einer Pension gegenüber. Sie haben heute und morgen frei. Armin war vorhin bei dir.“ Er ratterte die Geschehnisse runter wie ein Grundschüler, der von seinem Wochenende erzählen musste. „Wie lange habe ich geschlafen?“, stellte Eren die nächste Frage, ehe Levi sich für seine unbeholfene Erzählung schelten konnte. Jedes Wort schien ihn anzustrengen. „Ungefähr 28 Stunden.“ „Wie geht es deinen Verletzungen?“ „Sehr munter und penetrant, aber harmlos.“ Erens Mundwinkel zuckten. „Ich bin froh.“ „Hanji sagt, dass die Substanz eine Art Flusssäure war, die sich durch deine Schutzweste gefressen und dadurch so viel Haut zerstört hat.“ Eren summte verstehend, den Blick unentwegt auf ihn gerichtet. Levis Magen zog sich schaudernd zusammen. „Danke.“ „Wofür?“ Die Frage klang selbst in seinen Ohren selbstverachtend. Er zuckte beinahe zusammen, als Eren nach seiner Hand fasste und sie locker, aber unnachgiebig hielt. „Dafür, dass es dich gibt.“ Den Worten folgte ein freches Grinsen als befänden sie sich zurück in der L’École Militaire und nicht im Brüssler Militärkrankenhaus. Levi stockte der Atem. „Das ist das kitschigste, das ich jemals gehört habe.“ „Wie schade.“ Eren beobachtete ihn mit einem undurchdringlichen Ausdruck in den Augen, der Levi mit jeder vergehenden Sekunde heißer werden ließ. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, in seinem Bauch kribbelte und zog es, raubte ihm den Atem. Als Eren ihn erneut anlächelte, erkannte er Verständnis und eine unerklärliche, für ihn so typische Entschlossenheit in den seegrünen Augen aufblitzen. Es machte Levi nur noch weichere Knie und Erens nachdrücklicher Griff um seine empfindliche Hand, sein zärtlich streichelnder Daumen verbannte auch noch den letzten vernünftigen Gedanken. Er schäumte vor Zuneigung über. Und in diesem Moment wurde Levi auf einmal bewusst, dass er nicht der Einzige war. *~* Es war im Großen und Ganzen ein kaum nennenswerter Rückschlag, doch das Tröpfchen Blut hatte die Jagdhunde auf sie aufmerksam gemacht. Dagegen mussten sie etwas unternehmen, ehe dieser Umstand zum Ärgernis wurde. +++ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)