[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit von halfJack ================================================================================ Kapitel 5: Von Märchen und Monstern ----------------------------------- Von Märchen und Monstern   „Kiras Zeitalter wird anbrechen!“ Eine Faust knallte auf den blanken Tisch der Diskussionsrunde im Studio, sodass die Wassergläser klirrten. „Ohne einen Beweis werden wir von Sakura TV nicht glauben, dass das profane Wort eines Menschen seiner göttlichen Existenz ein Ende bereiten könnte!“ „Genau, richtig so!“, riefen ein paar Stimmen aus dem Publikum. „Gut gesprochen, Demegawa!“ „Was Sie ein profanes Wort nennen, ist eine offizielle Bekanntgabe von L persönlich“, mischte sich Otemachi Mao, Professor an der Universität von Chiyoda, mit abfälliger Stimme ein. Er ließ sich hierbei nicht von der aufbrausenden Art seines Gegenübers oder der allgemein angeheizten Stimmung anstecken und schien stattdessen bemüht um ein souveränes Auftreten. „L wird wohl kaum die Lösung des Falles proklamieren, wenn es nicht der Wahrheit entspräche, sonst würden ihn die nächsten Morde sofort überführen. Ihre Argumentation entbehrt jeglicher Logik.“ „Sollte es wirklich stimmen, dass Kira festgenommen wurde, warum kann L uns dann nicht seine Identität offenbaren?“ „Machen Sie sich überhaupt eine Vorstellung davon, um was für einen Ausnahmefall es sich hier handelt; diese ganzen übernatürlich erscheinenden Morde an Verbrechern, die von einer einzelnen Person begangen worden sein sollen? Wer würde denjenigen, der sich hinter Kira versteckt, zum Märtyrer machen wollen? Haben Sie eine Ahnung, was die Bekanntgabe seiner Identität für dessen Umfeld bedeutet? Kira ist ein weltweites Problem, darum kann seine Person ...“ „Seine Identität kann gar nicht gelüftet werden“, unterbrach ihn Demegawa und wandte sich energisch ans Publikum, „weil Kira kein normaler Mensch ist!“ Weitere Rufe vermischten sich zu einem Gewirr unterschiedlicher Meinungen, Zustimmungen und Widerreden. Die Gesichter der Menge verzerrten sich zu emotionalen Grimassen. Professor Otemachi schüttelte in einer Geste der Verständnislosigkeit den Kopf. „Die Offenlegung von Kiras Identität ist doch unerheblich für den Fakt, dass er anscheinend aufgehalten und festgenommen wurde“, erklärte er langsam und mit Nachdruck, als spräche er zu einer Horde Kinder. „Wenn die Morde aufhören, werden Sie Ihre These nicht halten können.“ Mit erhobener Faust überging Demegawa den Einwurf und fuhr voller Inbrunst fort: „Wir von Sakura TV wurden von Beginn an von Kira auserwählt! Er hat uns erkannt. Er hat erkannt, dass unser Horizont weit genug ist, um seine Herrlichkeit zu begreifen!“ „Dieser geweitete Horizont, von dem Demegawa da spricht, ist doch in Wahrheit nur ausgeleiert“, kommentierte der Todesgott Ryuk amüsiert die Diskussionsrunde, die gerade im Fernsehen lief. „Nicht wahr, Light?“ Das schwarz gewandete Geschöpf hing seitlich in der Luft. Den Kopf auf einen angewinkelten Arm gestützt, als läge er auf einem Diwan, so schaute der Todesgott zu Light hinüber. Jener reagierte jedoch nicht und verfolgte weiterhin mit ernster Miene die Sendung auf dem Bildschirm. „Ach, stimmt ja“, meinte Ryuk deprimiert, „du kannst mich ja nicht hören.“ Diese ganze Szenerie hatte L schweigend beobachtet und dabei hin und wieder an seinem stark gezuckerten Kaffee genippt, bevor er die letzte Packung KitKat mit Kürbisgeschmack aus der orangefarbenen Tüte fischte und entblätterte. Noch immer drang die Auseinandersetzung aus dem Fernseher an sein Ohr, eine Sondersendung, die an diesem Abend nach der Bekanntgabe von Kiras Niederlage in aller Eile anberaumt worden war. L folgte diesen belanglosen Diskussionen nur mit halber Aufmerksamkeit, zumal sie übertönt wurden von Ryuks Versuchen, sich Light bemerkbar zu machen. Der Todesgott fuchtelte mit einer Hand vor dessen Gesicht herum, obwohl er vorhin längst darüber aufgeklärt wurde, dass Light gemeinsam mit seiner Erinnerung auch die Fähigkeit verloren hatte, ihn überhaupt wahrzunehmen. „Hey, Light, ignorierst du mich etwa? Ich schreib dich auf, wenn du das tust!“ Drohend zückte der Todesgott einen Stift, doch als von seinem ehemaligen Schützling noch immer keine Reaktion erfolgte, kauerte er sich in der Luft zusammen und wirkte tatsächlich niedergeschlagen. „Wie öde. Du hast gelogen und ihm seine Erinnerungen echt nicht zurückgegeben?“ Die Frage war nun eindeutig an L gerichtet, doch dieser starrte bloß hinab auf seine leere Schokoladenpackung, auf der ein lachender Vampir mit überdimensionalem Löffel in der Hand nach Fledermäusen jagte. Dass er nicht antworten konnte, musste selbst dem Todesgott klar sein. „Argumente interessieren die überhaupt nicht“, meinte Light plötzlich unvermittelt, nachdem er eine Weile wortlos bei der Sendung zugeschaut hatte. „Das Publikum denkt wohl, derjenige sei im Recht, der am lautesten brüllt. Die Meldung von Kiras Niederlage ging heute erst an die Medien raus, aber Demegawa hat sich erstaunlich schnell zu einer Art Sektenführer gemausert. Vorher hat er so eine Anhängerschaft gar nicht vertreten.“ „Wahrscheinlich glaubt er“, antwortete L unbeteiligt, „das würde sich derzeit am besten verkaufen.“ „Bei der momentanen Unsicherheit unter der Bevölkerung hat er damit wohl auch Recht und generiert wirklich die meisten Einschaltquoten.“ Light stieß ein tiefes Seufzen aus, während L knisternd die geleerte Packung zwischen den Fingern wendete und nicht weiter darauf einging. „Als Kira mühte sich Light monatelang ab, die Welt in Ordnung zu bringen“, fügte Ryuk an den Detektiv gewandt hinzu, „und du stürzt sie an einem einzigen Tag ins Chaos. Wer ist jetzt der Bösewicht?“ Amüsiert krümmte sich das Geschöpf unter seinem eigenen Kichern. Es war schwer, sich bei dem permanenten Geschwätz zu konzentrieren und keine verräterische Reaktion zu zeigen. „Watari“, sagte L mit schneidender Stimme. „Verstanden.“ Sein Mentor war wie immer zur Stelle und begriff sofort. „Ich werde ein paar Äpfel bereitstellen.“ „Ich möchte sie als Hasen geschnitten haben“, rief ihm Ryuk hinterher. Griesgrämig beobachtete L den Todesgott bei seinen Hampeleien. Rem war noch nicht lange weg und trotzdem vermisste L sie bereits. Ihre wortkarge Art war irgendwie angenehmer. Dennoch war angesichts der chaotischen Situation, die durch die Kundgebung von Kiras Niederlage hervorgerufen wurde, Ryuks Einwurf nicht von der Hand zu weisen. Seit wann ging es nicht mehr um Gerechtigkeit? Wann hatte sich der Kira-Fall in dieses Monstrum verwandelt? Wann waren die Menschen zu dem mutiert, was sie heute von sich zeigten? L schob seine konzeptlosen Gedanken zusammen mit den leeren Süßigkeitenpackungen beiseite. Derweil hatte sich Light auf einen Stuhl fallen lassen und starrte schweigend vor sich auf den Boden. Er schwieg auch noch, als Watari bereits zurückgekehrt war und aus den Schalen der Apfelstücken falsche Hasenohren schnitzte. Nur flüchtig sah Light hin, wirkte kaum irritiert. Eine Sekunde lang schienen seine Lippen von einem resignierten Lächeln gezeichnet. „Was ist mit dir, Light-kun?“, fragte L vorsichtig, um ihn abzulenken, obwohl er sich denken konnte, was seinen Partner im Grunde beschäftigte. Aus seiner Versunkenheit auftauchend begegnete Light ihm direkt und ohne Argwohn. Sein aufrichtiger Blick hatte etwas Befremdliches. „Die Öffentlichkeit glaubt, Kira sei gefangen. Mein Vater denkt, ich würde verurteilt und hingerichtet werden. Sayu und meiner Mutter wird er erzählen, Kira habe mich getötet. Sie werden außer sich sein. Das alles ...“ Schwach schüttelte Light den Kopf und fixierte die wütenden Grimassen auf dem Fernsehbildschirm, diese Fratzen aus Überheblichkeit und Wahn. „Das alles ist eine riesengroße Lüge.“ Eine noch größere, als Light vermutete. L wich den klaren, braunen Augen aus und sagte zurückhaltend: „Ich habe keine Wahl.“ „Ist das so?“ Eine Reaktion wie eine Floskel, doch hinter den simplen Worten hörte L den Zweifel und die nachsichtige Akzeptanz seines Freundes. „Mal ehrlich, Ryuzaki, warum hast du diese Falschmeldung in Umlauf gebracht?“ „Weil ich glaube, dass Kiras weiteres Vorgehen auf dem Gelingen seines Plans fußt“, gab L seine einstudierte Antwort und langte nach einem Becher Kürbispudding, der ebenfalls bedruckt war mit Gespenstern und Ungeheuern. „Er wollte, dass ich dich für Kira halte. Diese Nachrichten müssen ihm vorgaukeln, er habe sein Ziel erreicht. Das führt ihn zur nächsten Phase. Und ich frage mich ...“ Nachdenklich legte L die Spitze seines Puddinglöffels an die Lippen. „Ob es bei McDonalds wohl noch die Pommes frites mit Schokoladen- und Heidelbeersoße gibt?“ Light schnaubte kapitulierend und meinte: „Halloween ist vorbei. Die gibt es jetzt nicht mehr.“ „Ah, das stimmt wohl“, murmelte L und versenkte seinen Löffel im Pudding. Es war vielleicht Selbstbetrug, zu hoffen, dass er den Zustand nach Lights letzter Inhaftierung wiederherstellen konnte. Die Aufdeckung von Yotsuba war nicht Ls Verdienst gewesen, denn zum damaligen Zeitpunkt hatte ihm schlichtweg das Interesse daran gefehlt. Sein Elan war verloren gegangen, weil er nur auf den Moment hatte warten wollen, bis Kira erneut durch Light in Aktion trat. Dass er hierfür den Stellvertreter finden musste, konnte möglicherweise auch dieses Mal dem Plan entsprechen. Wenn das Lights Plan war, dann wollte L mitspielen. Immerhin hatte ihn das schon einmal zu Kira zurückgeführt. Sicher konnte er zwar nicht sein, doch so merkwürdig es klang: In dieser Hinsicht wollte er Kira vertrauen. „Light!“ Die überschwängliche Stimme gehörte dem zweiten Adressaten seiner Lügengeschichte. Misa kam herbeigeeilt, gekleidet in Lederjacke und Tüllrock und dazu, leidlich unpassend, die im Eingangsbereich der Wohnräume ausgelegten Pantoffeln, von denen sie einen unterwegs verlor. Sie warf ihrem vermeintlichen Liebsten die Arme um den Hals, der es über sich ergehen ließ. „Auftrag ausgeführt. Endlich wieder zurück!“ „Und die Früchte deiner Arbeit, Misa-san?“ Teilnahmslos streckte L ihr die Hand entgegen. „Jaja, Sklaventreiber.“ Sie kramte in ihrer totenkopfförmigen Umhängetasche und förderte zutage, worum er sie gebeten hatte. „Hier ist mein Terminplan und eine Übersicht meiner Kontakte, die Mochimochi als mein Manager verwaltet hat.“ „Gut.“ Mit spitzen Fingern nahm L alles an sich und legte es auf dem Tisch ab, wo er es nicht weiter beachtete. „Im Wesentlichen benötigen wir das zwar nicht, weil ich dich ohnehin in der letzten Woche beschatten ließ, aber ein Abgleich kann nicht schaden.“ Im Hintergrund klappte Misa der Mund auf und sie verzog empört das Gesicht, was L geflissentlich ignorierte. Nachdem er ihr vorhin sein Märchen aufgetischt hatte, wollte er sie sowieso bloß dem Anschein nach unbeaufsichtigt mit einer Aufgabe zu ihrer Wohnung schicken, damit er sie von Wedy verfolgen lassen konnte. Die professionelle Einbrecherin hatte jedoch nicht gemeldet, dass Misa vom Weg abgekommen wäre. Das Mädchen schmiegte sich nun wieder an Lights Arm, der sich halbherzig aus der Umklammerung zu lösen versuchte, während sein abwesender Blick über die dezimierten Apfelhasen glitt. „Für das weitere Vorgehen brauchen wir mehr Licht“, erklärte L rasch mit erhobenem Zeigefinger. „Tageslicht. Wedy war gestern mit Misa-sans Überwachung ausgelastet; die Polizei konnte ich dafür leider nicht einspannen, denn um jemanden zu beschatten, der eigentlich vom Verdacht befreit wurde, sind die Beamten nicht moralisch flexibel genug. Jedenfalls ist eine Suche bei Tageslicht einfacher. Warten wir ab, ob sich morgen etwas anderes ergibt. Wir müssen aufpassen, wie wir in Zukunft die Aufgaben delegieren. Wir haben kaum noch Leute. Also dann, auf gute Zusammenarbeit.“ Damit erhob sich L. „Was ... machen wir nun?“, wollte Light verblüfft wissen. „Feiern“, antwortete L ohne Umschweife und wandte sich Richtung Fahrstuhl. „Wie wäre es mit einem Feuerwerk?“ „Zu dieser Jahreszeit? Feuerwerk ist was für den Sommer.“ „Aber vom Sommer hattest du nicht viel, oder, Light-kun?“ L ging an seinem Partner vorbei und fügte leise hinzu: „Vielleicht kann ich dir etwas vom Sommer zurückgeben.“   Sie standen auf dem Dach der Zentrale, umgeben vom Lichtermeer der Millionenstadt. Light schloss für einen Moment die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Es war, als würde er diese Luft zum ersten Mal atmen. Sobald man seine Position änderte, sah die Welt völlig anders aus. Hier oben gewahrte man die Größe der Metropole und Vielzahl ihrer Bewohner, doch hinter den Fassaden aus Beton und Neonlicht war der einzelne Mensch nicht mehr erkennbar. Ein abschwellendes Heulen jagte über ihren Köpfen gen Himmel, danach ein gedämpfter Knall, bevor ein Flitterregen auf sie herabrieselte. Erstaunt hielt Light den Blick erhoben, auf die unechten Sterne des Feuerwerks am sonst dunklen Firmament. Er stellte sich vor, wie diese Blumen aus Licht und Feuer auch seine Zweifel, all die vergangenen Ereignisse und mit ihnen sein altes Leben in der Nacht versprengten. Seinen Namen, seine Identität, seine gesamte Existenz, von alldem hatte L ihn befreit und es wie Sand im Wind verstreut. Konnte er auf diese Weise jemals zurückkehren, wenn er doch eigentlich tot war? Eine Sekunde später wurde sich Light der Situation bewusst. „Bist du wahnsinnig, Ryuzaki?! Was ist, wenn die leere Raketenhülle vom Dach fällt und jemanden verletzt?“ Verdutzt hielt L in seinem Tun inne. Er hockte vor der nächsten Feuerwerksrakete, ein Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger, und entgegnete schlicht: „Ich habe das alles vorher berechnet.“ „Erzähl nicht so einen Stuss. Von Höhenfeuerwerk war nicht die Rede. Nimm eine von denen hier und achte auf die Sicherheitsvorschriften.“ Light reichte ihm ein Bündel Wunderkerzen. Neben ihnen hatte Watari einen Eimer abgestellt, der das notwendige Wasser zum Löschen der Glut enthielt. L blickte vom Wassereimer auf die Wunderkerzen und starrte sie eine Weile an, bevor er aufschaute und meinte: „Das ist kein Feuerwerk, Light-kun.“ „Warum machen wir das eigentlich?“, mischte sich Misa unbekümmert ein. Sie hatte eine der Wunderkerzen angezündet und kauerte sich vor den Eimer, um die Reflexion der sprühenden Funken auf der Wasseroberfläche zu betrachten. „Gibt es etwas zu feiern? Ich dachte, wir hätten Kira gar nicht erwischt und würden bloß wieder die Medien veralbern.“ „Heute ist Bonfire Night“, erklärte L. „Wir feiern das Überleben des Königs.“ „Wieso nur kommst du mir gerade ein bisschen egomanisch vor, Ryuzaki?“, spottete Light. „Aber er spricht doch von dir, Light!“ Misa blickte aus der Hocke zu ihnen auf, das verdrehte Ende der Wunderkerze niedergestreckt über dem spiegelnden Wasser. „Du bist doch ...“ Sie brach ab, verlor den Faden. Light sah in ihr verwirrtes Gesicht und suchte gleichfalls den zerronnenen Sinn ihrer Worte. Der König ist tot, lang lebe der König. Was hatte er eben noch gesagt? Mit knisterndem Geräusch sprühte die Wunderkerze bunte Funken ins Dunkel, schwächer und schwächer werdend, bis sie gänzlich erlosch. „... Suche nach dem Ende.“ Eine Stimme durchschnitt das Gewirr seiner Gedanken. L musterte seine selbsternannten Freunde und wiederholte: „Nach dem bisherigen Ende müssen wir uns erneut auf die Suche begeben.“ Er war zu einem Klapptisch hinübergetrottet, den vermutlich ebenfalls Watari irgendwann dort aufgestellt hatte. Darauf lagen mehrere Bögen geheftetes Papier und, wie es schien, der Terminplan von Misa, dem der Detektiv nun seine Aufmerksamkeit widmete. „Am gestrigen Morgen bist du sehr früh aufgebrochen, Misa-san, erinnerst du dich? Wie genau war dein Tagesablauf?“ Light horchte auf. Er beobachtete, wie Misa die ausgebrannte Wunderkerze in den Eimer gleiten ließ und aufstand. Ihr Blick wurde glasig, als müsste sie sich an etwas erinnern können. In dieser lockeren Atmosphäre, mit ein paar unverfänglichen Worten, begann also die Befragung von Kiras absichtslosem Gehilfen. Wenn es stimmte, was L ihm gesagt hatte, dann befand sich Misa unter dem Bann eines ominösen tödlichen Notizbuchs, von denen mindestens zwei auf Erden existierten. Das eine hielt der Meisterdetektiv unter Verschluss, das andere musste Misa im Laufe der vergangenen Woche irgendwo versteckt oder weitergereicht haben. Genau darauf zielte L nun ab. Indem sie gemeinsam nach dem zweiten Heft fahndeten, sollten sie sich gleichzeitig auf die Suche nach dem echten Kira begeben. Mit weit aufgerissenen Augen näherte sich L dem Objekt seiner Befragung und starrte Misa aus nur wenigen Zentimetern Entfernung an. Das Mädchen hob abwehrend die Hände. „Schon mal was von Sicherheitsabstand gehört?“ „Distanzzone nennt man das“, entgegnete L trocken. „Wie auch immer. Ich weiß nicht mehr genau.“ Sie zählte an der geöffneten Hand einzeln ihre Finger ab, während sie herunterleierte: „Ich war in einem Konbini, habe ein paar Äpfel gekauft, danach ...“ In Lights Innerem schlug eine Saite an. Jede kindische Provokation beherbergte oft ein bisschen Wahrheit. Sein Blick haftete auf dem Papiermantel der Wunderkerze, die im Wasser kreiste wie der Zeiger auf dem Ziffernblatt einer Uhr. „... wie sonst meine beantwortete Fanpost eingeworfen, dann bin ich hierhergekommen, um Light zu sehen, und musste anschließend zur Arbeit am Set, bevor ...“ „Hier steht“, unterbrach L sie und studierte ein Dokument, das er an einer oberen Ecke mit den Fingerspitzen festhielt. „Du kannst das im Dunkeln doch gar nicht lesen“, nuschelte Misa beleidigt. „... du seist in der Drehpause lange auf Toilette gewesen“, beendete L unbeeindruckt und unverblümt seinen Satz. „Was hast du da gemacht? Hattest du Verdauungsbeschwerden oder warst du mit etwas anderem beschäftigt?“ „Du perverser Idiot!“, rief Misa empört, griff in seine schwarze Mähne und brachte seine Haare durcheinander, sodass L versteift die Schultern hochzog. „Du hast null Anstand!“ Light musste lachen, befreit und unbeschwert. Die Anspannung, die er seither auf den Schultern lasten spürte, war für einen kurzen Moment verflogen. Seither? Nein, eine Manipulation allein konnte sie nicht schuldig machen und es änderte offenbar auch nichts an Ls Einstellung, selbst wenn sich hinter ihren Masken ein Monster verbarg. „Wenn das hier eine Feier sein soll, wo bleibt dann der Alkohol?“, protestierte Misa mit hochgestrecktem Arm. „Ich mag keine Fragen mehr beantworten!“ „Minderjährigen ist der Alkoholkonsum nicht gestattet“, wies Light sie zurecht. „Nächsten Monat werde ich zwanzig! Was macht das für einen Unterschied?“ „Wenn du es vor dir selbst rechtfertigen kannst, dann tu dir keinen Zwang an, doch irgendwann könnte es zur Gewohnheit werden.“ „Du bist ja ein richtiger Spießer, Light. Oder machst du dir etwa Sorgen um mich?“ Misa wollte sich erneut an seine Seite schmiegen, doch Light drückte sie umständlich von sich. „Darum geht es nicht“, erwiderte er ausweichend. Worum es eigentlich ging, wusste er selbst nicht. Auf seine Reaktion hin brachte Misa nur ein Grinsen zustande, die Karikatur einer frohgestimmten Geste. Light konnte nichts weiter dazu sagen. Wahrscheinlich wäre jedes ehrliche Wort zu viel gewesen. Wind umwehte den Helikopterlandeplatz, zwar nicht kalt, aber unstet. Über Tokyo breitete sich die späte Nacht aus. Misa zündete bündelweise Wunderkerzen und bengalische Feuer an. Zwischenzeitlich musste ihr Watari eine Flasche Wein gebracht haben, denn sie wirkte bald ziemlich angeheitert. An die Brüstung gelehnt verfolgte Light das Treiben und bemühte sich, seine Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Seine Psyche fühlte sich an wie eine doppelt belichtete Fotografie, unscharf übereinandergelegte Konturen. Er schüttelte den Kopf und schaute hinauf zur grauvioletten Wolkendecke über den Lichtern der Stadt. Heute wollte er nicht mehr darüber nachsinnen müssen. „Fragst du dich, warum ich das tue?“, sprach ihn Guy Fawkes von der Seite an. Er trug ein breites Grinsen unter schwarzen Augenhöhlen, die nichts reflektierten, ein unbewegliches Antlitz, das nichts preisgab. Dahinter jedoch lugte L hervor. Sein wahres Gesicht wirkte beinahe entschuldigend. Er legte die Maske ab, um sie seinem Partner zu reichen, der sie ohne Verwunderung entgegennahm. Mit einer kurzen Neigung seines Kopfes deutete L zu Misa hinüber, die inzwischen mit den Wunderkerzen über das Dach tanzte. „Ich nahm an, das würde uns aufmuntern“, erklärte er, „da schon vor ein paar Tagen Halloween ausfallen musste. Ich war ohnehin nicht in Stimmung dazu, obwohl es mein Lieblingsfeiertag ist. Das ist kein Scherz, Light-kun.“ Aus der Mimik seines Freundes hatte L anscheinend dessen Irritation abgelesen. „Ich weiß.“ Light schmunzelte, wenngleich er insgeheim gehofft wie gefürchtet hatte, L könnte seine Frage anders meinen. Er wendete das überzeichnete Antlitz aus Plastik in seiner Hand, das den Terroristen oder Revolutionär darstellte. Was sollte ihm dieses Grinsen mitteilen? „Verkleidet mit komischen Masken durch die Stadt laufen, an fremden Haustüren klingeln und Süßigkeiten sammeln, das klingt genau nach dir. Nur an einem Tag im Jahr darfst du das ungestraft machen.“ „Woher willst du wissen, dass ich so etwas mache?“ L setzte ein sanftes Lächeln auf. „Ich bin kein Kind mehr.“ „Ja, du bist ein gestandener Erwachsener, der an den Nägeln kaut und keine Socken trägt. Ich muss dich ohnehin enttäuschen; so etwas machen wir in Japan normalerweise nicht.“ Während er seinen Blick über die Hausfassaden wandern ließ, behielt Light zunächst das eigene Lächeln bei, spürte es dann jedoch allmählich auf den Lippen schwinden. „Schon seltsam. Menschen, die so tun, als seien sie Monster.“ Im Augenwinkel bemerkte er, wie L ihm einen kurzen Blick zuwarf, bevor er antwortete: „Andererseits gibt es Monster, die so tun, als wären sie Menschen. Beide geben vor etwas zu sein, wovor sie eigentlich Angst haben.“ „Ist das so?“, sprach Light abwesend, ohne fragenden Unterton. „Wovor wir Angst haben ... Um sich stärker zu fühlen? Menschen kleiden sich in ihre Angst, weil sie glauben, damit an der Gewalt teilzuhaben, die sie fürchten. Die Kostümierung ist Schutz und Stärke zugleich, eine Möglichkeit, das eigene Ich hinter einer Fassade zu verbergen und sich in etwas zu verwandeln, das man nicht ist.“ „Es könnte sein ...“ L schien zu stocken, seine Stimme klang fast, als würde darin ein leichtes Zittern mitschwingen, das er sofort wieder unter Kontrolle brachte. „Es könnte sein, dass ich letztens gelogen habe, Light-kun. Was meine Angst betrifft. Wovor ich mich wirklich fürchte, ist vielleicht genau das. Es sind die Monster in unserer Welt. Es gibt viele Arten von Monstern. Solche, die sich nicht zeigen und eine unsichtbare Last ausüben. Solche Monster, die Kinder fangen oder ihnen den letzten Funken Kindheit und Unschuld rauben. Monster, die Träume fressen. Monster, die Menschen bis aufs Blut aussaugen. Und zum Schluss noch ... Monster, die Lügen erzählen. Die sind ein echtes Ärgernis. Sie sind viel raffinierter als andere Monster. Sie tun, als wären sie menschlich, obwohl sie kein menschliches Herz haben. Sie essen, obwohl sie niemals Hunger verspüren. Sie studieren und lernen fleißig, obwohl sie sich für nichts interessieren. Sie suchen nach Freundschaft, pflegen Beziehungen wie eine Pflicht, obwohl sie nie einen Freund geliebt oder jemandem vertraut haben. Mir war schon immer bewusst, sollte mir eines Tages ein derartiges Monster begegnen, dann würde es mich verschlingen.“ L machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Weil ich selbst ein solches Monster bin.“ Light klammerte sich mit einer Hand an die Brüstung und fühlte Gänsehaut auf seinen Oberarmen. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, so monströs und ungeheuerlich zu sein wie Kira, damit er genügend Macht und Gewalt besaß, um L in seinen Bann zu ziehen. Um Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Er blickte hinab auf die Maske des Anonymous in seiner anderen Hand und hielt sie sich nach kurzem Zögern vors Gesicht, jedoch nur zur Hälfte. „Was meinst du, wer ich werde, wenn ich die hier aufsetze?“ Vielleicht ein Monster, das seiner würdig war, wollte er hinzusetzen, doch er wagte nicht, es auszusprechen. „Ein Racheengel?“ „Vendetta“, murmelte Light, „das stimmt schon. Aber diese Maske macht das Volk einander gleich. Sie können als Einheit hinter ihrer Idee stehen. Wenn das Rache bedeutet, dann ist es die Rache der Gerechtigkeit. Wir haben momentan einen sehr gefährlichen Zustand; sollte Kira wirklich untergetaucht sein, wird seine Idee nun von der Masse getragen. Wir müssen aufpassen, wie sich das entwickelt. Alle seine Anhänger könnten nun seine Maske tragen.“ Light seufzte und versuchte, seinen Worten einen heiteren Anstrich zu verleihen. „Davon mal abgesehen steht Halloween doch nicht nur für Angst. Für Kinder ist es ein Riesenspaß, sich so etwas aufzusetzen. Nicht nur dann täuschen sie gern vor, jemand anderes zu sein. Vielleicht weil sie ihre Identität noch nicht entdeckt haben.“ „Bis sie irgendwann erkennen, dass alle Menschen nur Masken tragen. Das ist der Moment, in dem ihre Kindheit endet.“ „Und erwachsen sind sie, sobald sie selbst eine haben“, bestätigte Light leise. „Jeder muss das irgendwann.“ „Was muss jeder irgendwann, Light-kun?“ Erwachsen werden oder eine Maske tragen? Das war die Frage, die er im Gesicht seines Freundes lesen konnte. Light wandte den Blick ab, hinaus in die erleuchtete Finsternis. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und biss grüblerisch die Zähne aufeinander. Dann drehte er den Kopf erneut in Ls Richtung, um ihn, ohne eine Antwort, anzulächeln. Zumindest hoffte Light, dass es nach einem Lächeln aussah, denn auf seinen Lippen fühlte es sich merkwürdig falsch an. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)