[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit von halfJack ================================================================================ Kapitel 4: Im Tau aus Lethes Flut --------------------------------- Im Tau aus Lethes Flut   Alle waren fort, das Gebäude fast leer. Ein Hochhaus mitten in Tokyo, in welchem nur eine Handvoll Leute residierte. Eigentlich dekadent, angesichts des chronischen Platzmangels in dieser Stadt. Aber L machte keine halben Sachen. Fernab von klaustrophobischer Enge und lästigen Menschenmassen besaß er hier genügend Raum für seine Gedanken. Er sperrte sich ein, um frei zu sein. Das Notizbuch des Todes wurde gleichermaßen unter Verschluss aufbewahrt. Watari hatte, auch wenn L ein gewisses Unbehagen dabei empfand, das Besitzrecht daran erworben und war fortan von Ryuk, dem schwarzen Shinigami, besessen. Trotz dieser neuen Bindung konnte sich der Todesgott laut eigener Aussage relativ uneingeschränkt bewegen, solange sich sein anderes, bislang unentdecktes Notizbuch noch irgendwo auf Erden befand. Rem wiederum hatte die Menschenwelt verlassen. Auch die Polizisten der Taskforce waren gegangen, Aiber und Wedy zurzeit in Ls Auftrag unterwegs. In den Nachrichten lief die angeordnete Meldung über Kiras Niederlage. Während der ganzen Ereignisse waren nur wenige Stunden verstrichen. L kam es vor wie Jahre. Nun war er zurückgekehrt, ebenso wie Light. Jene Zelle, in der sich beide aufhielten, gehörte zu den Vorsichtsmaßnahmen, die L beim Bau des Gebäudes hatte integrieren lassen, ursprünglich in der Erwartung, Kira darin festzusetzen, sollte er erneut in Light erwachen. Kurzfristig hatte L sogar erwogen, den Strohmann von Yotsuba dort unterzubringen. Dummerweise bekam er keine Gelegenheit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, bevor Higuchi Kyosuke starb. Was er jetzt im goldenen Käfig beherbergte, war wesentlich besser, wesentlich gefährlicher und wesentlich bedrückender in seinen Konsequenzen. „Ich gebe auf“, hatte Kira gesagt und damit einen Weg zertrümmert, von dem L nicht wusste, ob es der falsche war. „Ich gebe das Besitzrecht auf. Ich werfe meinen Stolz weg.“ Sogar der Nachhall dieser Worte war nun verklungen. L hatte ein Monster seine Hände in Unschuld waschen lassen. Auf dem Zellenboden kniend, die Arme von Handschellen im Rücken gehalten, durchdrang ihn Light mit einem Blick, der von Entschlossenheit und Furcht gezeichnet war. Ein offener, kein gespielter Blick. Frei von jeglicher Schuld. Dem Gesichtsausdruck ähnlich, als er zum ersten Mal das Gedächtnis verloren hatte. Es war eine seltsame Erfahrung für L, diese Verwandlung bewusst zu verfolgen. Allerdings fehlte mittlerweile ein entscheidendes Detail: die Hoffnung auf einen Ausweg. Damals hatte es keine Überführung gegeben, kein Geständnis. In der hiesigen Situation jedoch konnte Light kaum Einspruch erheben, nicht einmal Abbitte leisten. Vermutlich kämpfte er deshalb stumm mit seiner Lage und den Worten, die er zu seiner Verteidigung vorbringen, aber nicht finden konnte, obwohl er verzweifelt danach suchte. „Wie geht es dir?“, erkundigte sich L unverfänglich, möglichst neutral. Er wusste, dass er den ersten Schritt machen musste und dabei dünnes Eis betrat. Light reagierte perplex. Er schien die alltägliche Frage nicht ernst zu nehmen und antwortete, verzerrt lächelnd, mit einer Gegenfrage. „Was glaubst du denn, wie es mir geht?“ L überlegte einen Moment, bevor er erwiderte: „Äußerst unbehaglich, schätze ich.“ Eine von Lights Augenbrauen zuckte. Wahrscheinlich hatte er nur rhetorisch gesprochen. „Aber immerhin“, fuhr L ungerührt fort, „bist du noch am Leben.“ „Wofür? Um meiner Hinrichtung zu entgehen? Um für ein Verbrechen zu büßen, das ich nicht begangen habe? Oder willst du mir die Chance geben, meine Unschuld zu beweisen?“ „Das wird nicht nötig sein.“ „Erwartest du etwa, ich ertrage es, dass jeder mich für schuldig hält, während Kira da draußen weiter sein Unwesen treibt?!“ „An diesem Punkt waren wir bereits. Eigenständig wirst du absolut nichts an deiner Situation ändern können, solange ich dir keine Option dafür gestatte. Doch ich brauche keine Entlastungen mehr.“ „Ich wurde reingelegt!“ „Das überzeugt mich nicht.“ „Verdammt, ich ...!“ Heftig schüttelte Light den Kopf und rutschte auf Knien näher, nacktes Grauen in den Augen. „Ich bin nicht Kira!“ „Das hast du schon einmal behauptet.“ L blieb reglos stehen, schaute von oben auf ihn herab. Ganz gleich, was Light in ihm zu erkennen vermeinte, es veranlasste ihn nach ein paar Sekunden dazu, resignierend in sich zusammenzusacken. Als würde er aufgeben. Alles wahrhaft Böse wurde aus Unschuld geboren. Das kam L nun in den Sinn, da er Lights entmutigte Gestalt vor sich sah. Die Veranlagung zu Kira schimmerte durch die transparente Amnesie seiner Persönlichkeit hindurch wie die Pentimenti eines Gemäldes, die Reuezüge aus den Untermalungen, die ein Künstler am Ende mit einer Schicht aus Farbe und Leim übertünchte. Die reale Erscheinung war makellos, das Abbild darunter vergiftet, dem Portrait eines Dorian Gray vergleichbar. Wie hatte aus diesem Jungen ein solches Ungeheuer werden können? Etwas Reines konnte ungleich schneller besudelt werden, auf einer weißen Weste fiel der winzigste Schmutzfleck auf. Aber Light war nicht vollkommen rein. Niemand konnte das sein. Sein guter Wille hatte ihn mit dem Todesnotizbuch etwas anfangen lassen, das keinen egoistischen Menschen zu einem grausameren Plan hätte anstacheln oder reizen können. Jemand, der wirklich ohne Mitgefühl war, der keinerlei Empathie besaß, würde unter seinen Taten nicht leiden, sie nicht als Opfer bezeichnen und niemals würde er den Verstand verlieren. Denn der Mord ist des Mörders und fällt auf ihn zurück. Unter dem Einfluss seiner Erinnerungen wurde Light von seinen Idealen und Verbrechen verfolgt wie von einer Bestie. Ein wahrlich böses Individuum hingegen besaß keinen düsteren Begleiter. Es wurde selbst zum Monstrum. Light war weder ein Gott noch ein Teufel. Er war einfach nur ein Mensch. Ein intelligenter, naiver und zutiefst traumatisierter junger Mann. Weder Psychopath noch Soziopath, denn dafür besaß er ursprünglich zu viel Einfühlungsvermögen und Interesse für die Belange der Menschheit. So etwas konnte man nicht verlernen, es war ein Charakterzug. Allerdings konnte man gegen Mitleid abstumpfen, wie in der Mitte eines Kriegsschauplatzes. Kira hatte genügend Menschen auf dem Gewissen, um sich wie ein überlebender Feldherr zu fühlen. Was seinen Gefährten für L umso faszinierender machte, war die Gewissheit, dass er diesen Widerspruch niemals aufklären würde. Es musste ein unlösbares Rätsel bleiben. Trotzdem konnte er Light nicht ewig an der Nase herumführen. Irgendwann würde er von allein auf seine Identität als Kira stoßen. Und sobald er es erfuhr, konnte ihn diese Erkenntnis zerbrechen. „Ryuzaki“, sprach Light ihn betont vorsichtig an und holte ihn zurück in die Realität eines vergitterten Beichtstuhls. „Ich weiß, dass es unglaubwürdig klingen muss, aber das ist alles ein großes Missverständnis, ein abgekartetes Spiel, das uns beide außer Gefecht setzen soll. Wir müssen gemeinsam dagegen vorgehen! Darum bitte ich dich inständig, lass mich frei. Nicht aus der Gefangenschaft oder deiner Kontrolle. Ich verlange nicht, dass du mir bedingungslos vertraust. Ich möchte lediglich, dass du die Möglichkeit eines Täuschungsmanövers von Kira in Betracht ziehst und mich behandelst, als wäre ich unschuldig. Bis zum Beweis meiner Schuld.“ Er hatte wohl doch noch nicht aufgegeben. Kaum merklich lächelte L. „Ich habe dich überführt“, erinnerte er Light dem Anschein nach unbeeindruckt. „Meine Beweiskette war lückenlos. Siehst du das anders?“ „Ich ... ich verstehe selbst nicht, wie das passieren konnte. Man hat mich benutzt, ganz sicher. Du musst mir glauben. Ich bin nicht Kira. Ich bin es nicht!“ Als Light ihn mit schreckensgeweiteten Augen bedrängte und von seiner Sache zu überzeugen versuchte, wahrte L Gelassenheit. In gleichmütigem Schweigen, die Hände in den Taschen seiner Jeanshose, versperrte er den Ausgang hinter sich und verzichtete dennoch auf weitere Provokationen. Er musterte seinen Gefangenen nunmehr wohlmeinend, was dieser nicht sah oder als Überheblichkeit missdeutete, denn Light senkte den Kopf, das Haar fiel ihm über das angespannte Gesicht, seine Schultern bebten und Verzweiflung ließ seine Stimme zittern. „Bitte glaub mir, Ryuzaki. Ich bin es nicht, ich bin es nicht“, wiederholte er seine Worte unablässig und L erwiderte endlich: „Ich weiß.“ Es dauerte ein paar Sekunden, bis Light erneut den Kopf hob und ihn misstrauisch fixierte. „Du glaubst mir?“ „Das habe ich nicht gesagt. Wir glauben, wo wir nicht wissen, und im Augenblick weiß ich nur, dass das hier der beste Weg ist.“ L brachte ein eindeutiges Lächeln zustande, das Light zusätzlich verunsicherte. Perfekter Nährboden für die nächste, unumgängliche Finte. „Meine Schlussfolgerungen beruhen momentan auf zwei separaten Annahmen. Solltest du Kira sein, habe ich dich zum Vorteil aller in der Hand. Bist du es nicht, war deine Positionierung als Hauptverdächtiger von ihm beabsichtigt, somit dient uns deine angebliche Festnahme, um den echten Kira zu schnappen.“ „Wolltest du deshalb das gesamte Team aussondern“, fragte Light zögerlich, „weil du denkst, dass es ein Leck gibt?“ „Nein, dieses Problem habe ich hoffentlich extern gelöst, aber dazu komme ich später.“ Dozierend streckte L den Zeigefinger in die Luft und bat damit um Aufmerksamkeit. „Kira wird nicht einfach aufgeben. Selbst wenn die Morde demnächst aufhören und es um ihn still werden sollte, wovon ich ausgehe, verfolgt er bestimmt einen Plan, der in naher oder ferner Zukunft in seiner Rückkehr resultiert. Daher“, sagte er und machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er diesen notwendigen Vorstoß wagte, „ist es unser erstes Anliegen, das Heft zu finden.“ „Das Heft?“ Wie erwartet spiegelte Lights Gesicht Konfusion wider. „Erinnerst du dich nicht?“, fragte L einstudiert. „Wir haben bei Higuchis Festnahme ein Notizbuch gefunden, ein sogenanntes Death Note. Die Person, deren Name in dieses Buch geschrieben wird, stirbt.“ „Death Note“, murmelte Light mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner, wobei er die Bezeichnung im Mund herumwendete, als hielte er sie für eine Erfindung. „Ja, genau“, pflichtete er L bei, obwohl seine Mimik das Gegenteil ausdrückte. Die Unterhaltung mit den Todesgöttern war in der Tat unerlässlich gewesen, damit L erahnen konnte, wie viel Light vergaß, sobald er das Besitzrecht abgab. Den Erklärungen zufolge wurden sämtliche Erinnerungen gelöscht, die etwas mit dem Notizbuch des Todes zu tun hatten. Es war kein richtiger Gedächtnisverlust, sondern vielmehr eine Überschreibung, so stellte sich L die ganze Angelegenheit zumindest vor. Was keinen Sinn ergab, würde die Vernunft mit passenden Inhalten füllen. Light musste daher zum Teil wissen, worüber sie gesprochen hatten, doch seine eigene, durch Kira geänderte Denkweise war ihm inzwischen unzugänglich. Vor einem Gespräch mit seinem Delinquenten wollte L all das in Erfahrung bringen, um zu verhindern, dass sie über etwas redeten, das später Lights Erinnerungen verfälschte oder ihn zu schnell auf die richtige Fährte brachte. Es gab nur eine einzige Chance, um so zu tun, als drehten sie die Zeit zurück. Nur eine geringe Frist, die mit einem ungewissen Ultimatum endete. L hatte lange nachgedacht, bevor er sich für diesen Weg entschied. „Wo ist es jetzt?“, erkundigte sich Light abwesend, nach wie vor irritiert. „An einem sicheren Ort“, antwortete L. Er kniete sich neben ihn, beugte sich an Lights Seite hinab und öffnete umsichtig die Fesseln. Dabei bemerkte er, dass die Haut an dessen Handgelenken leicht gerötet, ein wenig aufgeschürft war. Ernst und mit einem lastenden Schmerz auf der Brust brauchte L länger als nötig für das Lösen der zweiten Handschelle, während er ausführte: „Kira konnte Amane Misa bereits seit mehreren Monaten kontrollieren, ohne sie dafür töten zu müssen; anders lässt sich ihr Mitwirken beim Verschicken der Videobänder an Sakura TV nicht erklären. Wahrscheinlich birgt das Notizbuch uns unbekannte, in den Regeln ausgesparte Kräfte in sich, die nutzbar gemacht werden können, indem man das Heft direkt an jemanden weitergibt. Als Entleiher kann der echte Kira demnach eine Suggestion wie einen Bann oder Fluch ausüben, auf diese Weise muss er sowohl Amane als auch dich kontrolliert haben. Erpressung wäre ebenfalls eine logische Option. Wegen der unberechenbaren Gefahr bewahren wir das Heft zurzeit ohne freien Zugang auf, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“ Aus dem Stegreif eine Lügengeschichte zu entwerfen und sie glaubhaft erscheinen zu lassen, fiel L nicht sonderlich schwer, darin war er trainiert. Mit einem Seitenblick überprüfte er Lights Gesichtsausdruck. Trotz aller Logik haderte dieser offenbar mit der Erklärung, weil die Fakten nicht deduziert, sondern lediglich mit einer erdichteten Theorie in Einklang gebracht wurden. Mühsam ordnete Light noch die Glieder seiner Gedankenkette, als L die Hand nach ihm ausstreckte und in dessen Augen beobachten konnte, wie das fragile Konstrukt zerbrach, gehemmt durch die Wirksamkeit des tödlichen Notizbuchs. Verwirrt blickte Light zu ihm auf. Nachdem er die Geste verstanden hatte, griff er an der ihm dargebotenen Hand vorbei nach Ls Unterarm, sodass dieser reflexartig dasselbe tat und statt der Hand das Gelenk umfasste, um ihm auf die Beine zu helfen. Aufrecht stehend, ihre brüderlich verschränkte Haltung nicht unterbrechend, sah Light ihm geradewegs und fest in die Augen. Es war L, der dem Blick auswich und sich zuerst befreite. „Wir gehen also davon aus“, schloss er ablenkend, „dass Kira eine Einzelperson ist und die Taten des vermeintlich zweiten Kiras an Amanes Persönlichkeitsprofil angeglichen hat, wie er es an deines anglich, damit der Verdacht auf euch beide fällt.“ Vor wenigen Tagen wollte Light ihm dasselbe Lügengespinst auftischen, dessen sich L nun bediente; die Idee, Kira habe den Verdacht im frühesten Stadium absichtlich auf Light gelenkt, weil dieser Ls Idealbild von einem Täter entsprach. „Das würde bedeuten“, ging Light nachdenklich auf das Märchen ein, „Kira hat den Moment abgepasst, als ich Misa kennen lernte, und genau diese Situation genutzt, um unser Aufeinandertreffen suspekt erscheinen zu lassen. Folglich besaß er bereits damals beide Notizbücher und ließ Misa eines davon zukommen, mit dem er sie manipulierte, ohne sie zu töten. Verstehe ich das richtig?“ „Möglich“, stimmte L halb zu und öffnete die Zellentür. Er ging voraus auf den Flur, drehte sich nicht um, vergewisserte sich nicht, ob Light ihm folgte. Der Regen hatte aufgehört. An den Fensterscheiben reflektierten die letzten Wassertropfen das künstliche Licht und die Schatten der Nacht. „Es ist trotzdem keine Garantie für Misas Überleben“, gab Light zu bedenken. „Er könnte sie nachträglich noch immer aus dem Weg räumen.“ „Eventuell bringt er sie nicht um, weil er denkt, sie könnte später noch von Nutzen sein“, riet L ins Blaue hinein. „Nachdem wir ihr alles erzählt haben, wird Amane weiter als Idol arbeiten. Sie ist unsere einzige Verbindung zu Kira. Sollte sie etwas unternehmen oder ihr etwas zustoßen, haben wir damit wenigstens einen Anhaltspunkt.“ „Ryuzaki!“ „Fällt dir etwas Besseres ein? Wenn Kira sie töten will, wird er es tun. Wir können das nicht verhindern.“ „Und was ist mit mir?“ L blieb stehen. Er starrte auf den Boden, Lights Präsenz in knapper Entfernung hinter sich. In seiner Kehle wühlte ein trockener Schmerz, den er hinunterzuschlucken versuchte, als er sich umdrehte. „Du wirst mir helfen und nebenbei dein Studium fortsetzen“, antwortete L so unbekümmert wie möglich. „Unter meiner Leitung hast du die freie Auswahl, um an den renommiertesten Universitäten der Welt zu studieren. Inkognito, versteht sich.“ Lights Mimik gab Aufschluss darüber, dass er die Frage so nicht gemeint hatte. Grimmig entschlossen, obwohl man das seiner Stimme kaum anmerkte, stieß L deshalb hervor: „Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts geschieht.“ „Was ist mit meinem Namen?“ Light klang beherrscht, seine Haltung war ruhig, sein Blick unverwandt, aber unaufdringlich. L ließ sich Zeit und überdachte seine folgenden Worte. Heute hätte der Tag sein sollen, an dem der Meisterdetektiv starb. Indem er Kira besiegte, das Leben und die Identität von Yagami Light auslöschte, wie dieser es wahrscheinlich mit ihm getan hätte, stellte er sie einander gleich. Sie befanden sich nun auf Augenhöhe. Zwei Totgeweihte. Zwei Namenlose. „Du kannst meinen Namen haben“, schlug L vor, die Mundwinkel zu einem schwachen Grinsen verzerrt. „Wir können ihn uns teilen.“ „Dein Name ist nicht mal lang genug für eine Person“, erwiderte Light sanft. „Dann also Asahi. Falls es nötig sein sollte, deinen vollständigen Namen zu verwenden, belassen wir es in Zukunft bei Asahi.“ L wollte sich eben abwenden, als Light mit rauer Stimme fragte: „Nie wieder Yagami?“ „Nie wieder Yagami-kun“, bestätigte L umgehend, ohne zu wissen, ob seine Sanktion für Light ein Verbot oder Zugeständnis war. Zu seiner Überraschung setzte dieser ein schmerzliches Lächeln auf. Und dankte ihm. Glaubte Light, er sei es nicht wert, weiterhin den Namen seines Vaters zu tragen? Oder war er froh, von dieser Last befreit worden zu sein? Wie sehr es auch schmerzte, L konnte es nicht begreifen. Bevor er seinen Weg mit schweren Schritten erneut aufnahm, sagte er nur: „Gern geschehen, Light-kun.“ Was der großartige L diesmal erreicht hatte, resümierte er zynisch, war das bestmögliche Ergebnis, das er sich unter den gegebenen Umständen ausmalen konnte. Dennoch fühlte es sich an wie ein Pyrrhussieg. Noch nie hatte er so viel gelogen, noch nie so viel verloren wie jetzt. Jede Geburt wurde mit dem Tod bezahlt, jedes Glück mit Unglück. Menschen oder Götter mochten versuchen, in ihrer Frist die Lose nach anderen Maßen zu verteilen als der blinde Gang des Schicksals, doch am Ende triumphierte das Dasein über sie. Wir alle wollen in manchen Momenten, dass das Leben einen tieferen Sinn hat, zumindest glauben das die meisten. Je älter wir werden, desto verzweifelter suchen wir danach und desto schwerer ist er zu finden. Gerade diese Erkenntnis hatte Light zu Langeweile und Tatenlosigkeit, zur automatisierten Erfüllung seiner Pflichten getrieben und später zur zweifelhaften Optimierung einer Welt, die niemals perfekt sein konnte. Die Welt vor Light zu retten, war vielleicht nicht so schwer. Von jetzt an Light vor Kira zu retten, dieser Kampf war weitaus schwerer. Dabei wusste L nicht einmal, ob er das überhaupt wollte. Er tauschte den Idealisten gegen den Mörder, wenngleich er sicher war, dass es zwischen ihnen keinen Unterschied gab. Bis er sich dieser Aufgabe gewachsen sah, wollte er Light seine Erinnerungen so lange wie möglich ersparen. Vielleicht hätte L keine egoistischere Entscheidung treffen können. Vielleicht war es aber auch das Selbstloseste, das er im Augenblick tun konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)