[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit von halfJack ================================================================================ Kapitel 1: Rückkehr ------------------- Rückkehr   „Hier ist Tanakabara Koki von NHN Golden News mit den Nachrichten. Nachdem am Donnerstag der vergangenen Woche ein Polizeigroßeinsatz für Chaos in der Innenstadt sorgte, hörten international die mysteriösen Herzattacken an Verbrechern auf. Zahlreiche Spekulationen brachten die jüngsten Ereignisse mit dem Verschwinden des sogenannten Kiras in Verbindung. Die Polizei dementierte diese Vermutungen bisher vehement. Am gestrigen Abend verstarben erneut sechzehn Straftäter aufgrund ungeklärter Ursache. Von offizieller Seite ließ der Detektiv L heute über Interpol verkünden, dies seien die letzten Opfer gewesen, Kira sei gefangen und der Fall abgeschlossen. Infolgedessen kam es in der Bevölkerung mancherorts zu Ausschreitungen und Protesten. Ist das nun wirklich das Ende von Kiras perfekter Welt?“ Der Bildschirm schwärzte sich. Kitamura Koreyoshi, stellvertretender Polizeipräsident des nationalen Sicherheitsausschusses, legte schweigsam die Fernbedienung auf den Tisch und wandte sich den anwesenden Männern zu. Die vier letzten Mitglieder der ehemaligen Sonderkommission waren in das Präsidium zurückgekehrt. Chefinspektor Yagami, der soeben im Namen aller Bericht erstattet hatte, sah erschöpft und verhärmt aus. Auch die anderen Polizisten wirkten trotz ihres Erfolges ungewohnt ernst. Kitamura seufzte tief. „Meine Herren.“ Er bedachte jeden seiner Untergebenen einzeln mit einem prüfenden Blick. „Halten Sie dieses Vorgehen für klug? Erst macht L publik, er habe Kira überführt, und dann will er darüber hinaus keine nähere Stellung beziehen? Die Unruhen in der Öffentlichkeit sind sein Verdienst!“ „Gäben wir die Identität von Kira preis, würden wir damit erst recht Massenaufstände provozieren“, erklärte Yagami Soichiro knapp. „Wozu musste es überhaupt eine Bekanntmachung geben?“ Bedrohlich stützte sich Kitamura nach vorn auf seinen Schreibtisch. „Die Bürger fühlen sich von der Polizei übergangen. Hat unser Ruf in diesem Jahr, seit Kira die Welt in Atem hält, nicht schon genug gelitten?“ Die restlichen Ermittler, Aizawa, Mogi und Matsuda, schwiegen beharrlich. Nur das anhaltende Prasseln von Regentropfen, die auf kugelsicheres Fensterglas trafen, hallte im Büro des stellvertretenden Direktors wider. Kitamura wandte sich ab. Er schaute zwischen den Sparren der Jalousie hindurch nach draußen, auf regennasse Straßen. Nach einer Weile fragte er, ohne sich umzudrehen: „Verstehe ich recht, dass Sie mir keine weiteren Informationen zukommen lassen werden?“ „L wünscht absolute Diskretion“, bestätigte Yagami tonlos. „Er schlägt die weitere Zusammenarbeit nicht aus, zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ist die Akte Kira geschlossen.“ „Bis die nächsten Verbrecher getötet werden?“ „Das wird nicht geschehen“, mischte sich Matsuda unaufgefordert ein und verstummte sofort, als er sich seines ungebührlichen Verhaltens bewusst wurde. „Wenn das so ist“, entgegnete Kitamura, „dann gibt es nichts mehr zu sagen. Sie dürfen sich zurückziehen.“ Hinter sich vernahm er, wie seine Mitarbeiter nach kurzem Innehalten in Bewegung gerieten, um den Raum zu verlassen. „Yagami, bleiben Sie bitte noch einen Moment“, sagte er unvermittelt und wusste, dass ihn der Chefinspektor gehört hatte, bevor die Tür klackend ins Schloss fiel und die beiden Männer allein waren. Kitamura war kein Mann großer Worte. Meistens hüllte er sich in Schweigen, selten gab es Gelegenheiten, in denen er sein Schweigen brechen wollte. Die Fensterreflexion zeigte dem derzeit noch im Dienst befindlichen Polizeivorstand seine eigene gedrungene Gestalt und das fehlende Haar über der glatten Stirn. Seine Frau meinte immer, er solle stolz darauf sein, weil es an den ausrasierten Scheitel eines Samurai erinnerte. Bitter dachte er daran, dass es sicher kein Zeichen von honorabler Integrität war, wie die Ermittlungszentrale unter seiner Führung vor Kira den Schwanz eingezogen hatte. Erneut drehte er sich um, das Unwetter im Nacken, und richtete seinen geschärften Blick auf Oberinspektor Yagami, der reglos und still vor seinem Schreibtisch ausharrte. „Herzlichen Glückwunsch zu dem Angebot auf Ihren neuen Posten.“ Überrascht schaute Yagami auf. Seine Augen erfassten flüchtig den Karton auf dem freigeräumten Arbeitsplatz, in welchem sich die wenigen persönlichen Gegenstände des stellvertretenden Direktors befanden. Heute war sein letzter Tag. Ab morgen würde Kitamura in den vorzeitigen Ruhestand gehen und seine Stelle, wie er hoffte, dem Mann überantworten, der jetzt vor ihm stand. Doch dieser reagierte nicht. Kitamura konnte nur vermuten, dass dessen Zurückgezogenheit ein Resultat von Schuldgefühlen war. „Yagami“, fuhr er entschieden fort, „der Vorschlag zu Ihrer Beförderung war nicht allein eine Idee von Direktor Takimura. Es geschah auch auf meinen Wunsch.“ Irritation zeichnete sich auf dem Gesicht des Chefinspektors ab. „Meine Familie ist zeitweise in den Kreis der Verdächtigen gerückt, was mir nicht entgangen ist. Jemand hat sich vor meiner Tochter sogar als L ausgegeben und der Beschreibung zufolge wissen wir beide, um wen es sich dabei handelt. All diese eigenmächtigen Taten habe ich toleriert, obwohl ich vor dem ganzen Beamtenstab die gleiche Ansprache hielt wie vor Ihnen. Ich sagte Ihnen, ich könne nicht darüber verfügen, wie Sie Ihre freie Zeit gestalten. Dennoch zwang ich Sie auf diese Weise, die Zusammenarbeit mit L einzustellen ... woraufhin Sie Ihr vorläufiges Entlassungsgesuch einreichten.“ Im Konflikt mit seinem Rechtsempfinden, der Verantwortung seiner Familie und dem Respekt seinen Vorgesetzten gegenüber hatte Kitamura ein Vermittler zwischen den Instanzen sein wollen und war am Ende lediglich zum Spielball von Einzelinteressen geworden. Er fühlte sich ausgelaugt. Wahrscheinlich wurde er wirklich, wie sein Schwager behauptete, zu alt für diesen Job. „Bitte verzeihen Sie mir den Druck, den ich auf Sie ausübte“, schloss er seine Ausführungen. „Sie haben nur Ihre Pflicht erfüllt“, antwortete Yagami automatisch. Kitamura musterte ihn genau und begann langsam zu begreifen, dass sich hinter der Zurückhaltung keine falsche Bescheidenheit verbarg. „Sie zögern“, stellte er fest. „Halten Sie mich nicht zum Narren! Sie sehen nicht dem Mann ähnlich, der mich noch vor wenigen Wochen energisch angebrüllt und sich auf eigene Faust L angeschlossen hat. Ich will ehrlich sein, Yagami. Dieser Posten raubt mir mittlerweile den letzten Nerv. Ich habe mich darauf verlassen, dass Sie meine Arbeit mit der nötigen Stärke übernehmen können. Die Polizei braucht Sie! Fällen Sie keine leichtsinnige Entscheidung, falls sie überlegen, das Angebot abzulehnen.“ Betroffen erwiderte der Chefinspektor den Blickkontakt. Es war Kitamura schleierhaft, was plötzlich aus dem tatkräftigen Ermittler geworden war, doch er hoffte, Yagami würde sich bald wieder fangen. Gerade jetzt brauchte die wankende Gesellschaft mehr denn je ein paar feste Hände, die sie wieder ins Lot brachten. „Lassen Sie sich das gut durch den Kopf gehen, nehmen Sie sich meinetwegen ein paar Tage frei. Ich bin zuversichtlich, dass Sie die richtige Wahl treffen werden.“ Mit einem mechanischen Nicken verabschiedete sich Inspektor Yagami und wollte soeben die Tür öffnen, als Kitamura noch schwermütig verlauten ließ: „Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir.“ Zu seinem Erstaunen drehte sich sein oberster Ermittler und Leiter der ehemaligen Spezialeinheit ein letztes Mal um, blieb kurzfristig unbewegt am Ausgang stehen und verneigte sich schließlich tief vor seinem Vorgesetzten. „Es war mir eine Ehre, unter Ihnen zu arbeiten.“ „Glauben Sie mir“, widersprach Kitamura fest, „die Ehre ist ganz meinerseits.“   Flankiert von eingerahmten Persönlichkeiten lehnte Aizawa mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand und hörte nur halb dem Gespräch seiner Kollegen zu. Das gesamte Präsidium war in Aufruhr. Ständig trafen Meldungen von ungenehmigten Demonstrationen, öffentlichen Verlautbarungen oder aus Selbstjustiz begangenen Gewaltakten ein. Sogar erste Selbstmorde häuften sich, bei denen es sich mutmaßlich um Verzweiflungstaten desillusionierter Anhänger Kiras handelte. Sämtliche Einsatzkräfte waren unterwegs, während die Zurückgebliebenen mit dem pausenlosen Schrillen von Telefonen und den Klagen besorgter Bürger konfrontiert wurden. Unter dem Mantel aus Stress, Eifer und Zurückhaltung war diese Tatsache nicht auf den ersten Blick ersichtlich, doch kaum jemand wagte es bislang, die Mitglieder der Taskforce auf die jüngsten Geschehnisse anzusprechen. Einzig Ide, der L zwar niemals persönlich getroffen, seine Ermittlungen im Kira-Fall aber eigenmächtig fortgesetzt hatte, war auf sie zugekommen, um zu erfahren, was passiert war. Vorsichtig klärte Matsuda ihn über die wichtigsten Fakten auf. Die Bürotür schwang beiseite und Chefinspektor Yagami trat heraus. Mit dem Gesicht zur Tür kehrte er den anderen Polizisten den Rücken zu. Sofort stieß sich Aizawa von der Wand ab, wandte sich ihm zu, öffnete den Mund und suchte nach den richtigen Worten, von denen er wusste, dass es sie nicht gab. Unentschlossen wartete er ab und betrachtete den Rücken seines Vorgesetzten, die kraftlosen Schultern unter dem mittlerweile zu groß geratenen Jackett. „Chef, sollen wir nicht ...?“, begann Matsuda an seiner statt. „Ich würde jetzt gern allein sein“, unterbrach ihn Yagami ruhig und drehte sich um. Aizawa versetzte es einen Stich. Seine Beine fühlten sich mit einem Mal schwach an. Er blickte dem Oberinspektor in das ausgemergelte Gesicht und sah nicht mehr jenen Menschen, den er wegen seiner Aufopferungsbereitschaft und Loyalität stets bewundert hatte. Was er sah, war ein gebrochener Mann. Yagami entfernte sich, ging mit schweren Schritten, keine einzige der knappen Verbeugungen seiner vorbeilaufenden Kollegen beachtend, durch den Flur in Richtung Ausgang. Wortlos schaute das Ermittlerteam ihm nach. „Und jetzt?“, fragte Matsuda verwirrt. „Zurück an unsere alten Arbeitsplätze? Bisher hat der Polizeipräsident keine Auskunft erteilt, Kitamura legt unerwartet seinen Posten nieder und wir haben gerade einen merkwürdigen Sonderstatus inne, als wären wir vom Bombenräumkommando. Kommt mir vor, als würde derzeit alles im Chaos versinken.“ „Vielleicht ist Ihre Einschätzung dahingehend zur Abwechslung mal richtig“, meinte Aizawa düster. „Zur Abwechslung?“ Matsuda klang empört, aber nicht wütend. Er war es gewohnt, sich von seiner Umgebung diverse Sticheleien gefallen zu lassen. Dennoch wunderte sich Aizawa, ob Matsuda tatsächlich, sogar in solch einer Situation, noch so unbeschwert sein konnte, wie er tat. Möglicherweise war das alles bloß Show und sein Verhalten ein Stimmungsaufheller für seine Mitmenschen. Irgendwie bewundernswert. Oder bedauernswert. Mogi hingegen war wie immer ein Fels in der Brandung und auch Ide wirkte dem Anschein nach ungerührt, nickte ihnen zum Abschied zu und ließ die drei allein. „Ich kann nicht glauben, dass nun alles vorbei ist“, sagte Matsuda nachdenklich, als sie anschließend hinaus in den Abend traten. „Dass es normal weitergehen soll wie zuvor. Wie vor einem Jahr, als ...“ Er unterbrach sich und blieb vor dem Gebäude stehen, mitten auf dem Gehweg, zwischen Hausfassade und Bordstein. Die Luft war kalt und frisch, wie reingewaschen vom Regen. Aizawa vernahm die Aussage, reagierte jedoch nicht darauf. Stattdessen atmete er tief ein, hob den Kopf und erfasste die aus dem Dunst ragenden Hochhäuser. Im Kontrast aus Dunkelblau und Neonfarben verwandelte sich die Großstadt in ein Schiff, das unaufhaltsam in die Nacht steuerte. In eine Finsternis, die sich hinter den grellen Lichtern ausbreitete, auf ein Ziel zu, das sich als Abgrund herausstellen konnte. Kaum zu glauben, wiederholte Aizawa den Satz in seinen Gedanken. Kaum zu glauben, dass nun alles vorbei war. „Wollen wir nicht noch einen trinken gehen oder zum Karaoke?“, hörte er Matsuda fragen und verspürte den Drang, ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen. Tadelnd warf Aizawa ihm einen verständnislosen Blick zu. „Ach, vergesst es ...“ „Einverstanden“, antwortete Mogi stoisch. „Ernsthaft?“ Ungläubig starrte Matsuda ihn an, ein bisschen verstört, aber auch erfreut, und fuhr sogleich begeistert fort. „Letztens war ich zusammen mit Misamisa nach den Dreharbeiten in einer solchen Bar. Früher bin ich oft mit Ukita zum Karaoke gegangen. Er hat immer mit voller Inbrunst ins Mikro gekrächzt, dieser notorische Kettenraucher.“ Matsuda musste lachen, zuerst laut und übertrieben, dann unsicher und verkrampft, bis er auf einen Schlag verstummte, als wäre er an seinem eigenen Lachen erstickt. „Was haben Sie, Matsuda-san?“, fragte Mogi, während Aizawa betreten schwieg. Offenbar erinnerte sich Matsuda daran, dass die Person, von der er gerade sprach, schon seit Monaten tot war. Ukita Hirokazu, der wohl ungeduldigste und mutigste Polizist des Dezernats, war vom zweiten Kira getötet worden. Bereits vor einigen Wochen hatte L mit, wie er meinte, hundertprozentiger Gewissheit erklärt, wer der zweite Kira sein musste, doch bis zum heutigen Tag hatte sich Matsudas Überschwänglichkeit in keiner Weise verändert. Vermutlich wollte er es bislang einfach nicht wahrhaben. Denn Misa, sein fröhliches Popsternchen, war für Ukitas Tod verantwortlich. Sie hatte ihn getötet. Aizawa schaute Matsuda, der ihn mit seiner kindischen Art oft genug zur Weißglut brachte, in sein vor Hilflosigkeit verzogenes Gesicht und verspürte diesmal nicht den Wunsch, ihn zurechtzuweisen. „Ich muss zu meiner Familie“, murmelte er und floh. Ohne Verabschiedung ließ Aizawa das alles hinter sich, seine Kollegen, das Polizeipräsidium und die Niederlage ihres Sieges. Stolpernd erreichte er seinen Wagen, er wusste selbst nicht, wie. Dann fuhr er ziellos durch die Innenstadt von Tokyo, der Berufsverkehr wälzte sich wie ein Ungetüm durch die Straßen, Rücklichter spiegelten sich auf dem nassen Asphalt und Aizawa schaute durch den Schleier vor seinen Augen hinaus in die Nacht. Vielleicht hatte Matsuda Recht. Vielleicht brach wirklich alles zusammen. „Shuichi“, begrüßte ihn seine Frau verwundert, als er irgendwann, nach Ewigkeiten der Rastlosigkeit, durch den Eingang in seine Wohnung trat, das einzige Refugium in dieser schwankenden Welt. „Ist es wahr, was sie in den Nachrichten erzählen?“ „Eriko“, hauchte er mit brüchiger Stimme und brachte keinen weiteren Ton heraus. Besorgt faltete seine Frau die Hände vor ihrer Schürze, senkte rücksichtsvoll den Blick und sagte: „Das Baby schläft schon, aber Yumi ist noch nicht im Bett.“ „Papa!“ Seine Tochter kam aus dem Nebenzimmer auf ihn zu gerannt. Aizawa hob das fröhliche Mädchen hinauf, drückte sie an sich, hielt sie fest, hielt sich an ihr fest. In der Tat, sie hatten gewonnen. Nur fühlte es sich nicht nach einem Sieg an. Die Welt versank im Chaos. Irgendwie stimmte es wirklich. Aizawa hatte vorher nie damit gerechnet, dass er den Glauben an das Gute verlieren könnte. Aber wie sehr die Gesellschaft auch wanken mochte, er wusste, dass seine Familie an seiner Seite war. Gleichzeitig dachte er daran, dass sein Vorgesetzter, Yagami Soichiro, Oberinspektor und ebenfalls Vater einer Familie, die er liebte, dass dieser achtenswerte Mann inzwischen nicht einmal mehr das hatte. Durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts war etwas aus den Fugen geraten, das nie mehr repariert werden konnte. Aizawa drückte seine Tochter an sich und schwieg eine lange Zeit. Seine Schultern bebten dabei kaum merklich. Endlich sagte er: „Ich bin zu Hause.“   An einem anderen Ort betrat Nori das Heim ihrer Eltern. „Bin wieder da!“, rief sie, legte ihren Schirm ab und streifte sich im Eingangsbereich die Schuhe von den Füßen. Gut gelaunt schlenkerte sie ihre Umhängetasche herum, in der sich zwischen Portemonnaie und Schminkutensilien ihr neuer kleiner Schatz befand. „Nori-chan, da ist Post für dich“, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Nori bemerkte den Umschlag auf dem Sideboard und hörte im selben Moment, während sie ihn an sich nahm und noch halb im Flur stand, bereits von nebenan den Sprecher der Abendnachrichten aus dem Fernseher. „Die haben das Programm einfach unterbrochen“, beschwerte sich ihre Mutter brüsk, als Nori sich hinter das Sofa stellte und wie in Trance auf den Bildschirm starrte. „Dabei lief eben ein Interview zu dem neuen Film mit Misamisa. Du magst sie doch auch, oder?“ Nori begriff gar nicht recht, was ihre Mutter sagte, weil die Lügen alles überschallten. Der Nachrichtensprecher verbeugte sich und lächelte und log und log und log. Die perfekte Welt konnte nicht einfach aufhören. Sie hatte doch noch gar nicht angefangen. Misa hatte ihr versichert, es würde mit jedem Tag besser werden, denn Misa war auf Kiras Seite, sie unterstützte die Schwachen und verurteilte niemanden dafür, wer er war. Misa mochte Nori, obwohl Misa so hübsch und berühmt war und Nori so unbedeutend. Misa hatte sich nie über Noris Vorliebe für Cosplay lustig gemacht, einmal hatten sie sogar ihre Kleider getauscht, damit Misa ihren Manager abhängen und auf ein Date gehen konnte. Das war alles total spannend und spaßig gewesen. Nori war glücklich. Doch das Böse war zurückgekehrt. Niemand konnte jetzt wieder froh sein, denn Kira war nicht mehr da. Die Angst von damals saugte jegliche Freude aus Noris Geist. Es würde also weitergehen, das Mobbing, die Hänseleien wegen ihrer großen Vorderzähne und der leicht nach oben zeigenden Nase, die Anfeindungen, die Ausgeschlossenheit und das Gefühl, nicht dazuzugehören. In Ordnung. Es würde weitergehen. „Ich muss noch mal los.“ „Jetzt noch?“, fragte ihre Mutter skeptisch, lenkte ihre Aufmerksamkeit hierbei nicht auf ihre Tochter, sondern vom Fernseher auf das Strickzeug zwischen ihren Händen. Nori beobachtete die dicken Plastiknadeln, die sich unermüdlich in den Schlaufen aus filziger Wolle bewegten. „Es dauert nicht lange“, entgegnete sie monoton. Nori fühlte sich taub und seltsam leer, als sie das Haus verließ. Nicht mehr lange. Es sollte nicht lange dauern.   Enttäuschung und Selbstzweifel gehörten zu den stärksten Wirkkräften im Menschen. Sie waren in der Lage, ihn anzutreiben oder zu lähmen. Wer den Glauben an sich verlor, ergab sich schnell. Wer der eigenen Person nicht mehr vertraute, vermochte weder zu kämpfen noch zu siegen. Kein Schicksal, keine Erschütterung, keine von außen auf ihn einstürmende Gewalt konnte einen Menschen bezwingen. Die wahren Niederlagen kamen aus seinem Inneren. Aus Liebe zur Gerechtigkeit war Yagami Soichiro einst Polizist geworden. Er hätte sich für die Justiz entscheiden und Anwalt werden können. Es gab etliche Wege, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Doch er wollte sich nicht mit Bürokratie oder Politik herumschlagen, er wollte selbst die Initiative ergreifen und mit eigenen Händen die Gesellschaft zu einem besseren Ort machen. So hatte er es auch seinen Kindern beigebracht. Seinen Kindern. „Willkommen daheim“, hörte er Sachiko aus der Küche rufen, begleitet vom gedämpften Klirren des Geschirrs, während er zusammengesunken auf dem Absatz vor der Eingangstür saß, die Ellbogen auf den Knien abgestützt und seine zitternden Hände im ergrauten Haar vergraben. Die Last auf seinen Schultern ließ seinen gesamten Körper erkalten. Schuld drückte gegen seine schmerzende Brust und seine Augenwinkel brannten. Er hatte versagt, vollkommen versagt. War es seine Pflicht, das Angebot abzulehnen, die Arbeit als Polizist aufzugeben? Oder lag es nicht vielmehr in seiner Verantwortung, weiterzumachen, Wiedergutmachung zu leisten? „Bleibst du heute hier“, fragte Sachiko durch den Flur, „oder musst du bald wieder weg?“ „Der Fall ist abgeschlossen.“ Seine Antwort klang leise und mechanisch, als käme sie aus dem Mund eines Fremden. Er wusste nicht, ob seine Frau es überhaupt vernommen hatte, darum erhob er mit Mühe seine Stimme. „Sachiko, ich muss dir etwas sagen.“ „Was denn?“ Ihr gemeinsamer Sohn war tot. Light war von Kira getötet worden. Es war eine Lüge, die man leichter ertragen konnte als die Wahrheit. Nein, keine Lüge. Eine verkehrte Wahrheit zwar, aber noch keine Lüge. Yagami Soichiro holte tief Luft, um diese falsche Wahrheit auszusprechen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)