Das triste Leben des Jesse Wyatt von Sky- ================================================================================ Kapitel 3: Streitereien ----------------------- Das Erste, was Jesse außer dem Kater vom Vorabend wahrnahm, war helles Licht und Geräusche von irgendwo her. Seltsamerweise lag er gar nicht auf dem harten und kalten Boden der Unterführung, sondern auf einer Couch. Langsam öffnete er die Augen und musste blinzeln. Wo zum Teufel war er denn und was war passiert? Wieso lag er auf einer Couch? Trotz der furchtbaren Kopfschmerzen versuchte er, sich an die Geschehnisse von gestern zu erinnern, bekam aber nur wenige Erinnerungsfetzen zusammen. Er wusste, dass er vom Gefängnis aus im Regen zur Tankstelle gelaufen war, um sich Schnaps zu besorgen und dann war er zur Unterführung gegangen, wo er ungestört und wenigstens im Trockenen war. Alles, woran er sich noch erinnerte, war eine Stimme und wie ihn jemand gepackt hatte. Verdammt, jetzt war er sicherlich verschleppt worden und wer auch immer ihn hier festhielt, der war sicher so ein Verrückter oder so ein Menschenhändler, oder weiß der Teufel noch was! Das wurde ja immer schlimmer. Warum nur hatte er sich nicht gleich zu Tode gesoffen, dann würde er jetzt nicht in dieser Scheiße stecken. Aber wenn er wirklich entführt wurde, wieso lag er dann zugedeckt auf einer Couch und war noch nicht einmal gefesselt? Vielleicht waren es ja keine Entführer, sondern irgendwelche Verrückte wie in so einem Psycho-Horrorfilm. Das war doch ein einziger Alptraum. Die Tür ging plötzlich auf und schon hörte er wieder diese Stimme, die er gestern Abend gehört hatte. „Guten Morgen, Schlafmütze. Oder besser gesagt schönen Tag. Wir haben ja schon knapp ein Uhr durch.“ Jesse rieb sich die Augen, trotzdem dauerte es eine Weile, bis er die Person erkannte, die da zu ihm kam. Es war ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter. Sie hatte schulterlanges blondes Haar, aufgeweckte braune Augen, die ein wenig kindlich wirkten und sie trug einen Rosenkranz um den Hals. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber da sein Hirn immer noch von dem Alkohol wie gelähmt war, fiel ihm das Denken schwer. Außerdem war ihm irgendwie schummrig zumute, wahrscheinlich eine Erkältung oder eine Grippe… „Ich hoffe, es geht dir ein wenig besser. Hier, ich hab dir Aspirin mitgebracht, das hilft gegen die Kopfschmerzen. Wenn du dich noch nicht besser fühlst, kannst du dich gerne wieder hinlegen.“ Sein Kopf fühlte sich wie Blei an und egal wie sehr er sich auch anstrengte, er bekam kaum einen klaren Gedanken zusammen und schaffte es auch nicht, die entscheidende Frage zu stellen. Verdammt, wer war noch mal das Mädchen? Er hatte sie doch schon mal gesehen, aber egal wie sehr er sich anstrengte, sein Hirn war in Streik getreten nach der Trinkerei. Für den Rest des Tages würde er sicherlich nicht so schnell wieder bei klarem Verstand sein und sich großartig zur Wehr setzen können. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als diese verdächtige Gastfreundschaft anzunehmen und zu warten, bis sein Körper auch den restlichen Alkohol abgebaut hatte. Das durfte noch eine ganze Weile dauern, bei gefühlten zwei oder drei Promille, die er gestern auf jeden Fall intus hatte. Aber wieso wachte er im Haus irgendeiner Person auf, anstatt auf der Straße oder wenigstens in einem Krankenhaus? „Wo bin ich?“ Nur mit Mühe schaffte er es, diese Worte zustande zu bringen, denn sein gesamter Körper fühlte sich lahm an. Außerdem waren sein Mund und sein Hals völlig ausgetrocknet, wodurch seine Stimme lediglich ein Krächzen war. Er nahm das Glas mit den aufgelösten Aspirintabletten und trank es in einem Zug aus. Der widerliche Geschmack holte ihn langsam aus seiner Benommenheit, aber er bezweifelte, dass es reichen würde, um ihn wieder vollständig wiederherzustellen. „Du bist bei mir zuhause. Ich hab dich an der Unterführung gefunden. Du hattest ziemlich viel getrunken und dich außerdem am Kopf verletzt. Leg dich am besten noch etwas hin, dann geht es dir bald wieder besser.“ Also doch, er war im Haus einer Verrückten, die ihn nun hier festhielt und ihn sicher mit Drogen voll pumpte, weil sie sich in ihrem Wahn in ihn verknallt hatte. Schlimmer konnte es einfach nicht kommen. Dieser ganze Alptraum nahm aber auch wirklich kein Ende. Es mochte der Restalkohol oder die Erschöpfung sein, dass Jesse wieder ganz benommen wurde und seine Augenlider schwer wurden. Gleich würde er sicher wieder einschlafen. Aber das durfte er auf keinen Fall, denn dann hieße es ja, er würde träumen. Und er wollte nicht träumen, es grauste ihm davor. Und nach den Ereignissen des gestrigen Tages würde er sicher wieder genau jene Träume haben, vor denen er solch eine Angst hatte. Er musste wach bleiben, koste es, was es wolle. Doch er war einfach zu müde und außerdem fühlte sich seine Stirn irgendwie warm an. Eine Hand wurde auf seine Stirn gelegt und sie fühlte sich eiskalt an. „Wie es scheint, hast du ein klein wenig erhöhte Temperatur. Deck dich am Besten zu. Wenn du etwas brauchst, dann sag Bescheid. Mein Name ist übrigens Charity, aber du kannst mich ruhig Cherry nennen.“ Charity? Den Namen kannte er doch… ja richtig. Es war der Name, den Mr. Deadman ihm genannt hatte. Charity Witherfield. Das Mädchen, dem er die Handtasche geklaut hatte. Und ausgerechnet sie hatte ihn gefunden und gerettet? Das Leben war doch eine einzige Ironie. Charity blieb noch bei ihm, bis er die Augen geschlossen hatte und sah ihn besorgt an. Aber insgeheim war sie doch erleichtert, dass er wieder schlief und sich auf die Weise wieder auskurierte. Sicherlich hatte er wegen dem kalten und feuchten Wetter gestern etwas Fieber bekommen und es wegen dem Alkohol nicht gemerkt. Aber er sah jetzt auch nicht schwer krank aus. Mit Sicherheit war er wieder in ein paar Stunden auf den Beinen, wenn er sich gut erholte. Sie ging in die Küche, wo sie gerade damit beschäftigt war, das Mittagessen zu kochen. Ihre Großmutter war außer Haus, da sie mit ein paar alten Freunden zum Gymnastikkurs und im Anschluss zum Kaffeetrinken ging. Und da Charity momentan noch Semesterferien hatte, kümmerte sie sich in der Zwischenzeit um alles andere im Haus. Die Hausarbeit selbst war für sie kein Problem, aber leider hatte sie im Kochen kein Geschick. Backen war etwas anderes, da konnte man sich Ruhe und Zeit lassen, aber Kochen war etwas ganz anderes, da verfiel sie schnell in Hektik und richtete immer ein furchtbares Chaos an. Nicht, dass sie überhaupt nicht kochen konnte. Sie war einfach nur schnell überfordert, wenn sie so viele Sachen gleichzeitig machen musste und verlor dann immer den Überblick. Zum Glück hatte sie sich dieses Mal etwas ganz Einfaches vorgenommen, was sie auf jeden Fall hinbekommen müsste, nämlich gebratene Nudeln. So etwas kochte sie immer, wenn ihre Großmutter nicht da war und sie meist nicht viel Zeit hatte. Viel brauchte sie ja auch nicht dazu. Das Gemüse hatte sie frisch eingekauft und sonst brauchte sie nur… Charity hielt kurz mit ihren Vorbereitungen inne, denn ihr war etwas eingefallen. Sie hatte völlig vergessen, die Nudeln einzukaufen. Verdammt, sie hätte sich doch besser eine Einkaufsliste machen sollen, aber nein! Sie war sich sicher gewesen, dass sie es auch ohne schafft und jetzt hatte sie das Wichtigste vergessen. Und zum Supermarkt brauchte sie zu Fuß mindestens eine Viertelstunde. Da war es besser, wenn sie mit dem Fahrrad dorthin fuhr. Also schnappte sie sich ihre Jacke und machte sich auf den Weg. Sie brauchte aber unerwartet länger als erhofft, denn da es ja bereits Freitag war, zog sich die Wartezeit an der Kassenschlange ewig hin. Und auch die Ampeln wollten partout nicht auf grün wechseln. Warum nur musste sie auch immer etwas vergessen, wenn sie einkaufen ging? Irgendwie lernte sie auch nie dazu. „Hey Cherry!“ Sie bremste scharf ab, als sie hörte, dass jemand sie rief und tatsächlich sah sie Jenna Morris auf sich zueilen und winkte ihr zu. Jenna und Charity kannten sich schon von der Middle School her und nachdem sie die High School beendet hatten, war Charity aufs College gegangen, während Jenna eine Ausbildung zur Floristin machte. Ihren Eltern gehörte ein Blumengeschäft, deshalb war es schon lange vorbestimmt gewesen, dass Jenna in ihre Fußstapfen trat und sie hatte auch Spaß daran. Rein äußerlich war Jenna ein wenig zu kurz geraten und war schon in der Schule immer die Kleinste gewesen. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie immer zusammengebunden und trug es niemals offen. Ihre Kleidung ließ deutlich erkennen, dass sie einen ganz eigenen Stil hatte und kleidete sich immer in leuchtenden Farben und trug am liebsten ausgefallen und meist auch kitschigen Schmuck. Charity hatte sie schon immer für diesen außergewöhnlichen Look bewundert. „Hi Jenna, was macht die Arbeit im Laden?“ „Das Übliche wie sonst. In der letzten Zeit läuft es etwas weniger als die letzten Monate, aber das ist ja auch für die Jahreszeit kein Wunder. Und wie schaut’s bei dir aus? Du gehst ja jetzt aufs College. Wie ist es dort so?“ „Nicht viel anders als die High School. Nur mit dem Unterschied, dass dort mehr Idioten herumlaufen.“ Nun stieg Charity vom Fahrrad herunter, um ein kleines Stück neben der zu klein geratenen Floristin in spe zu gehen, die wie immer das blühende Leben war. Sie erzählten sich, was sich alles seit der High School zugetragen hatte und auch Charity berichtete von ihrem Praktikum in der Adaptionsstelle. Da sie nicht sofort einen Studienplatz bekommen hatte, musste sie die Zeit irgendwie überbrücken und soziales Engagement war immer gern gesehen. Und so hatte sie wenigstens ein paar Erfahrungen sammeln können. „Jenna, du wirst mir nicht glauben, was mir gestern passiert ist: Als so ein Typ in einem schwarzen Van nach dem Weg gefragt hat, da hat mir jemand die Handtasche geklaut. Kurz darauf hat er sie mir einfach so wieder zurückgegeben und am selben Abend finde ich den Räuber betrunken und verletzt an der Unterführung. Echt verrückt, oder?“ „Hast du ihn angezeigt?“ „Nein, er liegt bei mir zuhause.“ Jenna blieb stehen und starrte ihre ehemalige Klassenkameradin entsetzt an. „Wie bitte? Der liegt bei dir zuhause? Hast du ihn gekidnappt?“ Nun sah Charity sie mit dem gleichen entsetzten Blick an und blieb ebenfalls stehen. „Was denkst du denn von mir? Nein, ich hab ihn nicht gekidnappt. Ich hab mir bloß Sorgen gemacht, weil er total verzweifelt war und offenbar vorhatte, sich umzubringen. Da wollte ich ihn nicht alleine lassen. Und es stand auch nicht so schlimm um ihn, dass er unbedingt ins Krankenhaus musste.“ Trotzdem schüttelte Jenna den Kopf und konnte nicht fassen, wie naiv ihre Freundin überhaupt war. „Du kennst den Kerl doch gar nicht. Was, wenn er gefährlich ist?“ „Das glaub ich nicht.“ „Du bist zu gutgläubig, Cherry. Irgendwann bringt dich das noch in Teufelsküche! Hast du denn wenigstens seinen Namen?“ „Ja, er heißt Jesse Wyatt. Sag mal, kennst du ihn vielleicht? Du hast ja an unserer Schule wirklich jeden gekannt.“ Sie gingen nun weiter und Jenna begann zu überlegen. Damals war sie bei der Schülerzeitung gewesen und hatte tatsächlich so gut wie jeden gekannt und war immer über den aktuellsten Stand informiert gewesen. Sie erfuhr jedes Gerücht immer als Erste und war deshalb immer für den neuesten Klatsch und Tratsch zu haben. Jenna war schon immer beliebt an der Schule gewesen. Nun gut, nicht ganz so beliebt wie die Cheerleaderinnen oder Schülersprecher, aber deutlich beliebter als der Durchschnitt, zu dem auch Charity gehörte. „Viel weiß ich nicht über ihn. Er war ein Einzelgänger und hat mit niemandem ein Wort gewechselt. Ein wenig sonderbar war er schon und ich glaube, er hatte auch keine Freunde. Er war nur ein Jahr auf unserer Schule gewesen, angeblich hat man ihn an seiner alten Schule ziemlich fertig gemacht. Jedenfalls hatte er echt was auf dem Kasten. Nicht nur, dass er eine Klasse übersprungen hatte, er war sogar Jahrgangsbester. Aber er brach dann urplötzlich die Schule ab, ohne einen wirklichen Grund zu nennen. Danach ging es ziemlich mit ihm bergab. Cody hat ihn mal in der Nähe vom Bahnhof gesehen, das war vor knapp einem Jahr. Er war so betrunken, dass man zuerst dachte, er sei tot.“ „Hatte er auch während der Schulzeit getrunken?“ „Überhaupt nicht. Zumindest hat man ihn nie in irgendwelchen Kneipen gesehen. Aber wie gesagt: Er war ein absoluter Einzelgänger und hat jeden abgewiesen, der mit ihm reden wollte. Ein absoluter Sonderling.“ Also hatte Jesse erst angefangen zu trinken, als er die Schule abgebrochen hatte. „Wie alt war er denn, als er die Schule abgebrochen hat?“ „14 Jahre.“ Meine Güte, dachte Charity und schüttelte den Kopf. Dann hatte Jesse schon mit 14 Jahren angefangen zu trinken und hatte ganz offensichtlich ein ernstes Problem. Aber was war der Grund dafür, dass er die Schule abgebrochen hatte, wo er doch der Jahrgangsbeste war und zuvor schon eine Klasse übersprungen hatte? Jedenfalls musste der Grund dafür auch derselbe sein, warum er mit dem Trinken angefangen hatte. „Hast du eine Ahnung, warum er die Schule abgebrochen hat?“ „Ich glaube, es hatte mit seiner Familie zu tun. Soweit ich weiß, war seine Mutter allein erziehend und sie kam schließlich in den Knast. Aber mehr weiß ich dazu wirklich nicht, die Lehrer haben das Ganze ziemlich geheim gehalten und da Jesse mit niemandem geredet hat, gab es nur Gerüchte, die ich aber selbst für ziemlich übertrieben finde.“ So ist das also, dachte Charity und hörte nur noch mit einem Ohr zu, während Jenna sprach. Deshalb gab es immer nur einen Tag im Monat, an den Jesse seine Mutter besuchen ging: Sie saß im Gefängnis und das offensichtlich schon seit Jahren. Und wenn sie schon seit knapp neun oder zehn Jahren im Gefängnis saß und noch weitere fünf oder sechs Jahre dort bleiben würde, musste es etwas wirklich Schlimmes gewesen sein. „Bei wem ist Jesse denn untergekommen, wenn seine Mutter im Gefängnis sitzt und sie allein erziehend war?“ „Er kam zuerst bei einer Pflegefamilie unter und kam dann zu seinen Onkel. Ihm gehört auch der Getränkemarkt im Gewerbegebiet.“ Dort war Charity nur ein paar Male gewesen, aber sie hatte Jesse dort nie gesehen. Dafür aber den attraktiven und sehr sympathischen Andy, der in dem Laden als Aushilfe arbeitete. Aber Jesse hatte sie nie da gesehen. Und dieser schmierige dicke Mann Walter, dem der Laden gehörte, war tatsächlich sein Onkel? Charity hatte ihn noch nie leiden können und das war auch der Grund dafür, warum sie dort nicht mehr hinging. Und Jesse lebte bei diesem Kerl? Nun ja, es konnte sein, dass Walter privat ganz anders war, aber das wagte Charity zu bezweifeln. „Sagt dir vielleicht der Name Luca etwas? Jesse hat ihn immer wieder gemurmelt, als er betrunken war.“ Doch auch Jenna konnte mit dem Namen nichts anfangen und schüttelte nur den Kopf. „Wenn ich dir einen Rat geben darf: Wirf den Kerl raus, sobald er wieder geradeaus laufen kann. Wer sich dermaßen gehen lässt, ist doch ein absoluter Loser. Hinterher zieht er dich noch mit runter.“ „Wie kannst du nur so etwas sagen, wenn du ihn nicht richtig kennst? Ich meine, seine Mutter sitzt für Jahre im Gefängnis und für irgendetwas gibt sich Jesse die Schuld. Er hat vor, sich umzubringen und da kann ich nun mal nicht einfach so wegschauen. Ich glaube, er ist einfach nur ziemlich einsam und verzweifelt und braucht jemanden.“ „Du kannst aber nicht Jesus 2.0 spielen und jedem dahergelaufenen Typen helfen, der irgendwo besoffen in der Ecke liegt!“ „Du klingst schon wie Oma.“ Natürlich war da etwas Wahres dran, dass sie nicht jedem Menschen auf der Welt helfen konnte. Und solange Jesse keine Hilfe wollte und sein Problem auch nicht wahrhaben wollte, würde sie auch nichts bewirken können. Sie konnte ihm nur helfen, die Kraft dafür aufzubringen, es selbst zu schaffen. Natürlich würde sie nicht jedem Dahergelaufenen helfen und ihn zu sich nach Hause bringen. So dumm war nicht einmal sie! Aber Jesse war die große Ausnahme. Sie bemerkte, dass Jenna sie plötzlich mit einem ganz anderen Blick anstarrte, so als ahnte sie etwas. „Sag mir bitte nicht, dass du auf diesen Versager stehst! Oh Mann Cherry, das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder? Mal ganz ehrlich: Du machst dich mit diesem Typen nur unglücklich! Der Kerl ist ein Schulabbrecher mit Alkoholproblem, der wird dich noch total runterziehen und dann hängst du selbst an der Flasche. Glaub mir, ich weiß wovon ich spreche, der versaut dir noch dein ganzes Leben. Lass diese Samariter-Nummer und schick den Kerl einfach weg. Du tust dir selbst einen Gefallen damit!“ In Charity wuchs der Ärger, als sie hörte, wie Jenna über Jesse sprach. Sie hatte nicht gesehen, wie verzweifelt er gewesen war. Nein, sie sah nur, dass er ein 23-jähriger Schulabbrecher war, der offenbar zu nichts taugte. Aber wie konnte sie das sagen, wenn sie ihn doch gar nicht kannte? „Jenna, jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Daran glaube ich und ich bin mir auch sicher, dass es kein Zufall war, dass ausgerechnet ich Jesse gefunden habe. Vielleicht ist es so vorherbestimmt gewesen und es ist meine Aufgabe, ihm zu helfen.“ „Ach du mit deiner Religion. Sicher glaubst du, dass es von Gott so bestimmt war, dass ihr euch getroffen habt.“ „Warum nicht?“ Jenna verdrehte die Augen und ging weiter, Charity lief neben ihr her, wobei sie ihr Fahrrad schob. „Was ist denn falsch daran, an Gott zu glauben? Mir hat dieser Glaube geholfen, den Tod meiner Eltern und die Schikanen an der Schule zu verarbeiten und damit fertig zu werden. Ich glaube zwar nicht, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde und Adam und Eva die ersten Menschen waren. Aber ich glaube daran, dass es wichtig ist, einander zu helfen und dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient hat. Daran ist nichts falsch oder dumm und wenn du dich darüber lustig machen willst, ist es allein dein Problem.“ „Hey, wieso bist du denn auf einmal sauer auf mich?“ Doch Charity antwortete nicht. Sie schwang sich auf ihr Rad und fuhr los, wobei sie Jenna einfach zurückließ. Natürlich wusste sie, dass sie vielleicht etwas überreagiert hatte, denn es hatte ihr noch nie etwas ausgemacht, wenn man sich über ihren Glauben lustig machte, oder wenn sie treudoof genannt wurde. Aber sie war einfach so wütend, weil Jenna Jesse einfach so als Versager abstempelte, obwohl sie ihn überhaupt nicht kannte. Nun gut, sie kannte ihn auch nicht, aber sie hatte schon oft genug mit Drogen- und Alkoholabhängigen während ihres Praktikums zu tun gehabt und wusste, dass hinter jeder Sucht eine Geschichte steckte. Und Jesse hatte Probleme, mit denen er offensichtlich nicht alleine fertig wurde und deshalb versuchte er, vor ihnen wegzulaufen und sie in Schnaps zu ertränken. Sie fuhr schneller, bog um eine Straßenecke und war schließlich wieder zuhause. Mit der Einkaufstasche in der Hand stieg sie die Stufen hoch und schloss die Haustüre auf. Gleich als sie die Tür öffnete, schlug ihr der verlockende Essensgeruch in die Nase. Aber ihre Großmutter war doch noch bei ihrem Gymnastikkurs und würde doch erst am Abend wieder zurückkommen. Wer kochte also dann? Einbrecher? Nein, Einbrecher kochten doch nicht… Schnell schloss sie die Tür und eilte in die Küche, um zu sehen, wer da war. Am Herd stand Jesse, der offenbar nicht mehr schlafen konnte und gerade dabei war, frisch gehackten Ingwer, Chili und Knoblauch zusammen mit dem geschnittenen Gemüse in der Pfanne anzubraten. Charity blieb verblufft stehen und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. „Jesse, was wird das?“ „Wonach sieht es wohl aus?“ „Willst du dich nicht lieber hinlegen und dich ausruhen?“ „Vergiss es. Außerdem hast du mich doch hergebracht, oder? Dann betrachte das hier als eine Art Wiedergutmachung für die Umstände.“ Seine Stimme klang irgendwie anders als gestern. Er sprach in einem kalten und abweisenden Ton zu ihr und schenkte ihr auch keinen Blick. Womöglich war er wegen seines Katers so mies gelaunt, oder weil er nicht wusste, wie er seine Situation in diesem Haus einordnen sollte. Hoffentlich dachte er jetzt nicht, er wäre das Opfer einer Entführung und hielt sie für eine Verrückte. „Lass mich bitte erst mal klarstellen, dass ich dich nicht entführen wollte. Als ich dich da heulend liegen sah, wollte ich dir helfen und… ähm…“ Immer noch sah er sie nicht an, sondern konzentrierte sich auf seine Arbeit am Herd und das brachte sie komplett aus dem Konzept. Er begann nun, das Gemüse abzulöschen und fragte „Wo sind die Gewürze?“ Charity war immer noch völlig überrumpelt, sodass er erneut fragen musste, ehe sie ihm zeigte, wo er alles fand. Zielsicher griff er sich alles, was er brauchte und sie hingegen begann nun, das Wasser aufzusetzen, um die Nudeln zu kochen. Irgendwie ist er schon ein wenig merkwürdig, dachte sie und beobachtete ihn. „Brauchst du Hilfe?“ „Nein. Ich kann es nicht gebrauchen, wenn mich hier irgendjemand ablenkt.“ „Und was genau machst du da?“ „Gebratene Nudeln.“ Woher wusste er, dass sie vorhatte, genau dieses Gericht zu kochen? Oder war es einfach nur ein verrückter Zufall? Irgendwie geschah mit ihm eine ganze Reihe von merkwürdigen Zufällen. Da Jesse sie nicht am Herd haben wollte, deckte sie den Tisch und setzte sich schon mal. Wenig später war der etwas verkaterte 23-jährige fertig und stellte die Pfanne auf den Tisch. Er wartete, bis sich Charity zuerst den Teller beladen hatte, bevor er selbst zugriff. „Woher hast du denn kochen gelernt?“ fragte sie ihn neugierig. Sein Blick blieb unverändert düster und mürrisch. „Hab es mir selbst beigebracht, den Rest hab ich mir abgeschaut.“ Zuerst zögerte sie noch, aber dann probierte sie und konnte es nicht fassen. So gut bekam sie gebratene Nudeln nie und nimmer hin. Das schmeckte himmlisch gut und dabei war es so etwas Simples. „Wow, du kannst ja richtig gut kochen!“ Er sagte nichts, sondern begann selbst zu essen. Da er schon länger als einen halben Tag lang nichts gegessen hatte, war er dementsprechend ausgehungert und zudem schien er auch nicht wirklich der redseligste Typ zu sein. Er sah immer noch angeschlagen aus und die Studentin fragte sich, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging und wieso er das hier machte, wenn er sich doch nicht gut fühlte. Dass es ihm schlecht ging, sah doch ein Blinder. Wieder musste sie an die Szene denken, als sie ihn an der Unterführung gefunden hatte. „Jesse, ich will mich wirklich nicht aufdrängen oder so. Ich weiß nicht, was gestern alles vorgefallen ist und was dir auf dem Herzen liegt… wenn du reden willst, dann kannst du gerne zu mir kommen.“ „Erklär mir mal, warum du das überhaupt machst“, sagte er und nun sah er sie direkt an. Und obwohl er blass war und dunkle Augenringe hatte, sahen seine Augen noch schöner aus als gestern. Wie Smaragde, dachte Charity und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Oder ist es bei dir üblich, denselben Typen von der Straße aufzugabeln, der dich vorher noch beklaut hat?“ „Aber du hast doch gar nicht vorgehabt, mir die Tasche wirklich zu klauen. Du hast sie mir doch zurückgegeben.“ Er sagte nichts dazu und aß weiter, wobei er wieder den Blick von ihr abwandte. Nun wurde sie richtig nervös und fragte sich, was er wohl über sie dachte. Eine unangenehme Stille herrschte und das machte sie noch unruhiger. Sie wollte ihm so gerne Fragen stellen, aber sie hatte Angst, dass er sie abweisen könnte. Also versuchte sie, ihre Angst einfach wegzulächeln und sagte im Scherz „Ich hoffe, du hältst mich nicht für eine Verrückte, weil ich dich hergebracht habe.“ „Nein“, sagte er schließlich. „Ich halte dich eher für ziemlich treudoof.“ Das hatte gesessen und obwohl Charity so etwas oft zu hören bekam, tat es dennoch ziemlich weh. Natürlich war das naiv von ihr gewesen, das hatten Jenna und ihre Großmutter mehr als deutlich gesagt gehabt. Aber dennoch schmerzte es ihr, es noch mal von Jesse zu hören. „Ich wollte dir helfen, weil du so am Boden warst.“ „Ich wüsste nicht, dass ich darum gebeten habe. Machst du das mit jedem so?“ „Nein“, rief sie und wunderte sich selbst, wieso sie plötzlich laut dabei wurde. Sofort senkte sie ihre Lautstärke und wiederholte „Nein. Das tue ich überhaupt nicht.“ „Und wieso hast du mich dann nicht einfach ins Krankenhaus bringen lassen? Dir ist schon klar, dass das eigentlich eine ziemlich leichtsinnige Aktion von dir war, oder?“ „Ich hatte das Gefühl, dass du überhaupt niemanden hast und du ganz alleine bist. Ich… ich hab einfach nicht großartig darüber nachgedacht.“ Nun senkte er die Gabel und sein Blick verdüsterte sich. In diesem Moment hätte man Angst vor ihm bekommen können, aber Charitys Aufmerksamkeit galt allein seinen Augen und sie sah, dass hinter dieser düsteren Miene ein sehr trauriger Blick steckte. Er erinnerte sich an etwas, das mit seinem Absturz gestern zu tun haben musste. Nach einigem Zögern fuhr sie fort. „Ich kann verstehen, wenn du nicht gerne darüber sprechen möchtest. Aber ich mache mir einfach bloß Sorgen.“ Nun legte er das Besteck beiseite und sah sie mit deutlichem Misstrauen an. Und etwas Feindseliges lag in diesem Blick. „Wieso? Du kennst mich doch gar nicht. Und was versprichst du dir von der ganzen Aktion?“ „Wie meinst du das?“ „Kein Mensch macht etwas, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen. So funktioniert das Leben in der menschlichen Gesellschaft. Also, was versprichst du dir davon?“ Charity verstand die Frage immer noch nicht und vor allem nicht, was Jesse damit sagen wollte. Nun ließ auch sie ihre Gabel sinken und sah ihn verwirrt an. „Ich tu das, weil ich gerne Menschen helfe. Dafür muss man doch nicht immer etwas als Gegenleistung verlangen. Natürlich kenne ich dich nicht und ich weiß auch nicht, wieso du ein Alkoholproblem hast. Aber ich habe schon Erfahrungen mit Suchtkranken gemacht und weiß deshalb, dass hinter jeder Sucht eine traurige Geschichte steckt. Und bei dir ist das sicher auch so, sonst würdest du dir nicht den eigenen Tod wünschen.“ Nun war er es, der sie verwirrt ansah. Natürlich konnte er sich nicht erinnern, was er gestern in seinem betrunkenen Zustand gesagt und alles Mögliche ausgeplaudert hatte. Aber dass er so viel von sich gegeben hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Verdammt, wieso hatte er sich nicht einfach ins Koma gesoffen? Dann hätte er wenigstens nicht so viel ausplaudern können und hätte dann wahrscheinlich diese ganze Scheiße endlich hinter sich. Nun stand er auf und wollte zur Tür gehen, doch da eilte Charity ihm hinterher und hielt ihn am Pullover fest. „Wo willst du denn hin?“ „Weg!“ „Das geht nicht. Du hast Fieber und brauchst Ruhe. Wenn du nach Hause willst, dann lass mich dich wenigstens fahren. In dem Zustand kann ich dich nicht alleine gehen lassen.“ „Ich brauch keinen Aufpasser!“ „Offenbar doch, wenn du dich dermaßen kindisch anstellst. Ich will dir doch nur helfen.“ „Ich brauch aber keine Hilfe, ich komm ganz gut alleine klar.“ „Ganz offensichtlich nicht, wenn du dich jedes Mal fast ins Koma trinkst und dabei auf der Straße liegst und krank wirst.“ Er riss sich los und ging ins Wohnzimmer, um seinen Mantel zu holen, doch da eilte Charity an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg. „Warum kannst du nicht einfach mal Hilfe annehmen? Was ist dein Problem?“ „Du bist mein Problem, weil du mich einfach nicht in Ruhe lässt. Ich bin schon immer alleine klar gekommen und brauch weder dein Mitleid, noch deine Hilfe. Lass mich einfach in Ruhe.“ Durch die Aufregung geriet er einen Moment ins Wanken und die Studentin ahnte, was der Grund dafür war. Das Fieber und der Kater waren die Ursache und Jesse brauchte dringend Ruhe. Sie ging zu ihm hin und wollte ihn stützen, doch er hielt sie von sich und rief sichtlich wütend „Komm mir bloß nicht zu nahe, okay? Bleib einfach von mir weg und lass mich in Ruhe.“ Doch da wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Gleichgewicht. Sofort lief Charity zu ihm und versuchte, ihn aufzufangen. Dabei aber kam es zu einem Durcheinander, bei dem sie sich irgendwie und irgendwo verfing, wodurch ein heftiges Reißen an ihrer Kette entstand. Das endete damit, dass es einen heftigen Ruck gab, woraufhin ein leises Kullern von mehreren Perlen zu hören war, als ihr Rosenkranz zerriss. Fassungslos sah Charity, wie die kleinen Perlen aus Rosenquarz davonrollten und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Oh nein… der Rosenkranz ihrer Mutter … Er war doch das wichtigste Andenken, was sie von ihr hatte. Sie fiel auf die Knie und konnte die Tränen nicht zurückhalten. „Ich hab dich doch gewarnt…“, murmelte Jesse und wandte den Blick von ihr ab. In seinen Augen war plötzlich so etwas wie Schuld zu sehen. Charitys Körper begann zu zittern und unter heftigen Schluchzern brachte sie hervor „Der Rosenkranz hatte meiner Mum gehört… Er ist doch das einzige Andenken, was ich noch von ihr habe.“ Immer noch sah Jesse sie nicht an und sagte nichts dazu. Stattdessen begann er nun, die heruntergefallenen Perlen aufzuheben. „Hilf mir mal, die Perlen einzusammeln.“ Immer noch schluchzend half Charity ihm und schon kurz darauf hatten sie alle wieder beisammen. Jesse steckte die Perlen und den Rest der zerrissenen Kette in eine kleine Tüte und stand wieder auf. „Kannst du mich kurz nach Hause bringen? Ich hab dort Werkzeug, damit kann ich dir eine neue Kette machen.“ „Du… du kannst das?“ Er nickte und sah sie immer noch nicht an. „Problem ist nur, dass Walter mich rausgeschmissen hat, weil ich gestern nicht zur Arbeit gekommen bin. Wir müssten also vorher zum Getränkemarkt und Andy fragen, ob er uns den Zweitschlüssel gibt.“ „Dein Onkel hat dich rausgeschmissen?“ „Ja, aber das ist jetzt auch egal. Würdest du mich eben fahren?“ Etwas überrascht und verwundert holte Charity ihre Wagenschlüssel und ging mit Jesse zu ihrem alten Chevrolet. Wieder war er wie ausgewechselt und verhielt sich nicht mehr so abweisend und kalt wie vorhin. Nein, er benahm sich so, als hätte er Schuldgefühle, nachdem er ihr im Affekt eine Ohrfeige gegeben hatte. Er fühlte sich schuldig, dass ihr über alles geliebter Rosenkranz kaputt war, dabei war das doch nur ein Unfall gewesen. Es war so, als besäße Jesse zwei Gesichter. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)