Boys Don't Cry von Umi (Sailor Bennoda vs. Tentakelmonster) ================================================================================ Kapitel 2: ----------- „Shit.“ Mike nickte bloß. „Ich mein... fuck! Shit!“ „... uhum“ Chester wagte einen vorsichtigen Blick über den Tresen der leerstehenden Eisdiele, deren Glastür er gewaltsam eingetreten und -geschlagen hatte. Das grüne Ungetüm war zu nahe an die Rolltreppe gekommen, halb in dieser stecken geblieben und wurde nun von ihr nach oben auf die Etage getragen, in der sie sich versteckten. Es war zum schief lachen. Eigentlich. Wenn das Gummi des Rolltreppengeländers nicht bereits unter der Berührung der Monstertentakel dahingeschmolzen wäre. Und besagte Monstertentakel sich ihnen nicht langsam aber sicher immer weiter nähern würden. Irgendwie nahm die Gefahr, selbst zu nah an diese Dinger zu kommen, der bizarren Situation ihren Humor. Chester ließ sich wieder neben Mike auf den Boden sinken und blickte den Jüngeren Hilfe (oder zumindest Zuspruch) suchend an. „Meinst du, die, uh, Regierung oder so ist schon unterwegs?“ „... Die Regierung??“ Der Ältere zuckte mit den Schultern. „Nun ja, in den Filmen ist es doch die Regierung, die sich mit den Monstern befasst... So die CIA oder irgendwelche Sondereinsatzkommandos und so. Irgendwer wird sich doch inzwischen um so was gekümmert haben. Meinst du nicht?“ Mike zog die Beine an den Körper und ließ seufzend seine Stirn an seine Knie sinken. „Weiß nicht.“ Er fuhr sich überfordert durch das dichte, schwarze Haar. „Das wird mir echt langsam alles zu bescheuert. Vielleicht hatte ich 'n Unfall und lieg jetzt im Koma? … Und das ist alles nur Bullshit, der allein in meinem Kopf passiert? Ich mein...“ „Fuck.“ „Genau. Fuck.“ Chester schluckte schwer und schüttelte den Kopf. „Das meinte ich nicht. Also, doch, ich meinte eher...“ Er schluckte ein weiteres Mal und wagte einen erneuten Blick über den Tresen. „Das Ding kommt näher.“ Mike drehte wie in Zeitlupe den Kopf und starrte den anderen blass aus großen Augen an. „Wie meinst du das, es kommt näher?“ „Es, uh, ist irgendwie aus der Rolltreppe rausgekommen und tentakelt jetzt vor der Tür herum. Und geht da auch nicht wieder weg. Meinst du es sucht was? … Haben solche Dinger überhaupt ein Gehirn, mit dem sie irgendwas suchen wollen können?“ Mike kauerte sich etwas kleiner zusammen und fuhr sich erneut durch die Haare. „Was weiß ich... normalerweise sollten die außerhalb vom Wasser nicht mal überleben können. Kann das Ding aber schon. Wer weiß, was es noch alles kann...“ Chester ließ sich wieder zu Boden sinken und zog sein iPhone heraus. „Was machst du da?“ „Googlen, ob die Sache hier es schon irgendwie in die Nachrichten oder so geschafft hat. 'Ne SMS an Talinda schicken, dass ich sie und die Kinder liebe, falls wir hier nicht mehr rauskommen sollten. Irgendwie so was.“ Der Jüngere stöhnte leise auf und vergrub den Kopf in den auf seinen Knien verschränkten Armen. „Tu mir den Gefallen und hör auf, so was auch nur in Betracht zu ziehen... Fuck...“ „Huh?“ „Was ist?“ „Ich hab 'ne Benachrichtigung gekriegt, von wegen ich hätt 'ne neue App, die gerade hilfreich sein könnte. Also, steht da genau so drin. Dass sie hilfreich sein könnte, mein ich.“ Mike stöhnte bloß ein weiteres Mal auf und versucht, sich noch kleiner zu machen. „Faszinierend... zum Glück gibt es gerade nichts Aufregenderes, wie irgendwelche Säuretentakel-Monster oder so. Erzähl mir mehr von deiner neuen App...“ Im nächsten Moment erfüllte gleißend helles, violettes Licht den Raum. Mike wartete, bis es wieder verloschen war, bevor er einen Blick in die Richtung, aus der es gekommen war, wagte... und sich anschließend einfach endgültig auf den Boden legte und mit einem gequälten „Ich will nicht mehr“ in Embryonalstellung zusammenkauerte. Eines Morgens plötzlich in einem Frauenkörper aufwachen: Verwirrend. Aber vielleicht noch irgendwie mit ganz ganz besonders viel Wissenschaft und Fantasie zu erklären. Wenn man Ahnung hatte. Von was auch immer. Beim Einkaufen von einem giftgrünen Säuretentakel-Monster verfolgt werden: Ein beschissener Witz. Wie aus einem Schlechten Film. Aber auch eventuell mit irgendeiner egal wie weit her geholten pseudowissenschaftlichen Erklärung plausibel zu machen. Aber Chester, der durch das Aktivieren einer neuen iPhone-App plötzlich in einem hautengen, an eine japanische Schuluniform erinnernden Kleidchen mit schwarzem Miniröckchen, violett gemusterter Schleife auf der Brust und über dem Arsch und in schwarzen, geschnürten Overknee-Highheels neben ihm stand und offensichtlich ebenfalls keinen Plan hatte, was gerade vor sich ging? Und der durch seine eigene Verwandlung und den langen, lockigen Pferdeschwanz und komischen Stirnschmuck, die diese ihm außerdem beschert hatte, erst mal so abgelenkt war, dass er erst bemerkte, dass die ganze Leucht- und Glitzernummer das Säuretentakel-Seeanemonenmonster auf ihn aufmerksam gemacht hatte (das aufgrund fehlender Augen doch eigentlich gar nichts von all dem hätte mitkriegen können sollen), als dieses bei seinem Hereinwalzen in ihr Versteck lautstark einen Teil von dessen Glasfassade einriss? Das war der Gipfel der Absurdität. Und nicht mal mit aller Fantasie der Welt auch nur im entferntesten logisch nachvollziehbar. Nie. Im. Leben. Nicht in hundert Jahren. Never. Ever. Einfach nur Nein. Das war der Punkt, an dem Mike endgültig den Glauben daran verlor, dass je wieder irgendetwas in seinem Leben Sinn ergeben würde. Selbst wenn er tatsächlich im Koma lag und all diese Ereignisse bloß Hirngespinste waren, dann musste sein Gehirn echt irreparable Schäden von was-auch-immer davon getragen haben, was ja dann dafür sprach, dass er nie wieder aufwachen würde. Eine Erkenntnis, die eigentlich die ideale Voraussetzung für einen ausgewachsenen Nervenzusammenbruch darstellte. Allerdings brachte Chesters lautes Fluchen, als er die Säure-Riesenanemone auf sich zukommen sah, ihn glücklicherweise genug aus dem Konzept, um ihn davon abzuhalten, sich noch mehr in seinem Selbstmitleid zu verlieren. Vorsichtig löste er sich ein wenig aus seiner Kauerstellung und bekam so gerade noch mit, wie sein bester Freund – irritierend behände in seinen hohen Absätzen, wie man vielleicht anmerken sollte – einen großen Sprung auf den Tresen machte, um einem der grünen Tentakel auszuweichen, der ihn sonst wohl berührt und damit verätzt hätte. Sollte er Chester irgendwie zu helfen versuchen? Aber wie? Nicht, dass er es bloß schlimmer machte, wenn er sich jetzt bewegte oder irgendein Geräusch von sich gab... wobei es ihm nach wie vor ein Rätsel war, wie dieses Monster ohne Augen oder Ohren oder Hirn überhaupt irgendwas um sich herum wahrnehmen konnte. Zumindest war er sich recht sicher, dass Anemonen keine Sinnesorgane hatten, sondern eigentlich bloß auf dem Meeresgrund oder irgendwelchen Felsen oder Korallen mehr oder weniger herumstanden und darauf warteten, dass rein zufällig was zu Essen vorbei trieb... Mike verpasste sich gedanklich einen Klaps auf den Hinterkopf. Er hatte doch gerade schon festgestellt, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts mehr noch irgendeinen Sinn ergab. Wieso konnte er dann nicht aufhören, weiter nach einem zu suchen? Chester, der im Übrigen nach wie vor, vermutlich aus Reflex und weil sein knappes Outfit keine Taschen hatte, sein iPhone fest umklammert hielt, wagte indes einen mutigen Sprung vom Tresen auf den nächstgelegenen Tisch. Dann noch einen Tisch weiter. Und noch einen. Die Zeit, die das Monster – das leider den Ausgang versperrte, denn sonst hätte er sich schon längst Mike geschnappt und wäre mit ihm geflohen – brauchte, um aufzuholen, verbrachte er damit, auf den Bildschirm seines iPhones zu schauen und (davon ging Mike einfach mal aus) mit hastigem Herumgewische auf diesem mehr Informationen zu dieser Zauber-App zu bekommen. Wie so oft kam Mike nicht umhin, Chester dafür zu bewundern, dass er die Suche nach einem Sinn oder zumindest einem Hauch von Logik in den Geschehnissen um ihn herum einfach so überspringen zu können schien, und sich damit abfand, dass die Dinge nun mal so waren wie sie eben waren, und sich mit ihnen zu arrangieren versuchte. Scheinbar hatte Chester gefunden, was er gesucht hatte, musste allerdings erst einmal erneut einige Tische weit flüchten, bevor sein zeitlicher Puffer wieder ausreichte, um sich auf den Bildschirm seines iPhones konzentrieren zu können. Sein Stirnrunzeln verriet jedoch, dass die Informationen auf diesem auch nicht sonderlich glaubwürdiger waren als die vorangegangenen Ereignisse. Er seufzte. Aktivierte die Tastensperre, schob sich das Telefon in den Ausschnitt, sprang erneut einen Tisch weiter, holte tief Luft, schloss die Augen... … und hielt seine Hand in die Luft. Nichts passierte (davon, dass das Monster weiter munter auf ihn zu walzte, einmal abgesehen). Mike war gerade dabei, sich zu fragen, ob sie nun das Ende der Fahnenstange erreicht hatten, ob es selbst für den absoluten Irrsinn noch irgendwo Grenzen gab, aber das violette Leuchten, das kurz darauf über Chesters Hand erschien, belehrte es eines Besseren. Sollte der Irrsinn irgendwo Grenzen haben, dann hatten sie diese wohl noch längst nicht erreicht... Aus dem leuchtenden Punkt wurde ein Kreis, eine Elipse, diese wurde länger, verformte sich weiter, und kurz darauf landete ein Bogen in der ausgestreckten Hand. Chester gab ein anerkennendes Pfeifen von sich. Scheinbar hatte er selbst nicht wirklich damit gerechnet, dass irgendetwas passieren würde. Es dauerte jedoch nicht lange, bis auch er bemerkte, dass da noch irgendwas fehlte. Ein Bogen ohne Pfeile? Keine gute Waffe. Also hieß es wieder erst einmal ein paar Tische Abstand zwischen sich und das Monster zu bringen. Womit er sich jedoch geradewegs in eine Ecke und damit Sackgasse manövrierte. Mike wurde unwillkürlich schlecht. Erst recht, als Chester seinen Fehler zu bemerken schien und die Panik, die die Erkenntnis, welche Folgen das für ihn haben würde, in ihm auslöste, es ihm unmöglich machte, genug Ruhe und Konzentration aufzubringen, um weitere Versuche unternehmen zu können, sein Waffenarsenal um die noch fehlenden Pfeile zu erweitern. Mike musste handeln. Eilig kam er auf die Beine und blickte sich nach möglichen Wurfgeschossen um, mit denen er die Aufmerksamkeit des Monster auf sich lenken konnte. Vielleicht folgte es ihm dann ja, wenn er aus der Eisdiele herausrannte, dann saßen sie zumindest nicht mehr so in der Falle, und vielleicht gelang Chester dann doch noch irgendein App-Hokuspokus und- Mikes iPhone vibrierte. So wie es das auch schon getan hatte, als Chester seines zum ersten Mal aus der Tasche zog und diese Zauber-App entdeckte. So wie eigentlich schon die ganze Zeit. Und so langsam begann es ihm schwer zu fallen, sich weiter einzureden, dass es bestimmt nur Anna war, die ihn darum bat, auf dem Heimweg noch mal einen Abstecher in den Supermarkt zu machen und Klopapier mitzubringen, oder Dave, der mal hören wollte, ob alles okay war, da er sich schon eine Weile nicht mehr bei ihm gemeldet hatte oder Ted, mit dem er sich diese Woche eigentlich mal auf eine Pizza treffen wollte... oder überhaupt irgendjemand aus seinem normalen Leben. Wenn er wirklich ehrlich mit sich war, dann wusste er genau, weshalb sein iPhone tatsächlich vibrierte, nur gefiel ihm dieser wahre Grund so ganz und gar nicht. Deshalb griff er statt nach seinem iPhone auch als nächstes nach einem herumliegenden Hammer und warf diesem nach dem Tentakelvieh, das seinem besten Freund inzwischen erneut ein bedrohliches Stück näher gekommen war. Er traf sogar, allerdings ohne Erfolg – das Monster ließ sich nicht beirren. Er warf weitere Dinge nach ihm: eine Packung Nägel, eine Wasserwaage, einen gottverdammten Stuhl. Er machte Lärm, indem er mit dem Fuß gegen die Metalltür des Kühlfachs unter dem Tresen trat. Nichts half. Scheinbar hatten sie die Fähigkeiten dieser Monsteranemone doch überschätzt. Man konnte sie nicht ablenken. Nur anlocken. Und das auch nur mit Licht. Gleißend hellem, bunten, einen in ein enges Kleidchen zaubernden Glitzer-Licht. Mit einem resigniert geseufzten „Ich hasse mein Leben“ zog Mike sein iPhone aus der Hosentasche, überflog im Eiltempo die erhaltenen Instruktionen, aktivierte die entsprechende App und kniff in böser Erwartung die Augen zusammen. Im nächsten Moment rauschte ein heißes Kribbeln unter seiner gesamten Haut entlang, die anschließend von einer kühlen Brise umschlossen wurde (Moment, Wind auf seiner Haut? Überall? Oh Gott... er war nackt... wobei, klar, natürlich war er nackt, immerhin zog dieser Hokuspokus-Scheiß ihm ja was anderes an, und natürlich musste das auf eine Art und Weise geschehen, die ihn alles nur noch mehr als es schon hassen ließ. Wäre ja sonst auch zu schön um wahr zu sein gewesen...), während er durch die geschlossenen Augenlider hindurch regenbogenfarbenes Schillern auszumachen vermochte. Ihm war klar, dass er, würde er sich nicht so gegen jede einzelne Millisekunde dieser Erfahrung sträuben, das Ganze vielleicht sogar genießen könnte. Aber er sträubte sich eben und hasste es und wünschte sich immer noch, einfach nur aufzuwachen und sich in seinem alten Leben wiederzufinden. Und somit war der einzige Effekt, den die Sache auf ihn hatte, der, das ihm schlecht wurde. Allerdings blieb keine Zeit, sich erst mal zu übergeben, nachdem der Unfug vorüber war und er sich fertig verwandelt sofort mit der vollen Aufmerksamkeit des Tentakelmonsters konfrontiert sah, das sein Geglitzer und Gefunkel scheinbar bedeutend interessanter als Chesters fand, und sich nun von diesem fort und auf ihn zu bewegte. In seiner Panik riss Mike den Arm nach oben und hoffte, dass diese Nummer mit den Waffen, die aus dem Nichts auftauchten, vielleicht auch bei ihm funktionierte, auch wenn er, anders als von der App instruiert, nun beim besten Willen nicht in der Lage war, nach irgendeiner „inneren Kraft“ und einem „Glauben an diese“ in sich zu suchen. In solchem spirituellen Krimskrams war er auch so schon nicht wirklich geübt und der Anblick eines sich ihm immer weiter nähernden Riesententakel-Anemonen-Viechs, das anscheinend kräftig Lust darauf hatte, ihn mit seinen grünen Zotten zu verätzen, war alles andere als konzentrationsfördernd. Davon, dass seine Verwandlung scheinbar eine ganze Weile gedauert hatte, weshalb das Monster ihm bereits erschreckend nah war – so nah, dass sein Plan mit der Flucht nach draußen bereits nicht mehr funktionierte – mal ganz abgesehen. Violettes Leuchten. Chesters Stimme, die ihm ein „Duck dich!“ zurief. Er kam der Aufforderung nach. Hinter ihm zersprang die verspiegelte Rückwand eines Regals. „Uh, sorry... Bleib weiter unten!“ Es leuchtete noch einmal. Ein lautes Ploff. Glitzerstaub segelte dort, wo eben noch ein riesengroßes grünes Monster gewesen war, auf eine handtellergroße, am Boden liegende Seeanemone herunter, aus der kurz darauf eine Art kleines weißes Ei herauskam, in der Mitte aufsprang, ein paar schwarze Rauchfäden von sich gab, und sich dann auch schon in Luft auflöste. Mike übergab sich direkt auf dieses kleine Schauspiel und sank dann kraftlos auf seinen Hintern. Der enge weiße Body, der schwarze Rock, die kniehohen schwarzen Stiefel und die blau karierten Schleifen lösten sich in Luft auf – was natürlich ebenfalls von einem leichten Glitzereffekt begleitet wurde (wenn er nicht aufpasste, kotzte und schiss er das Zeug demnächst am Ende noch) – und machten wieder den halbwegs bequemen, wenn auch in ihrer Kombination nicht sehr modischen Sachen Platz, in denen er vor wenigen Stunden das Haus verlassen hatte. Mit Chesters freizügigem „Kampfoutfit“ passierte dasselbe, als der Ältere sich neben ihn kniete und ihm bemüht beruhigend(?) die Hand auf die Schulter legte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Mike die Kraft aufbrachte, die besorgte Hand seines besten Freundes wegzuschieben, sich wieder auf die Beine zu kämpfen und mit einem tonlos gemurmelten „Ich geh heim. Mich betrinken. Bis die Tage irgendwann“ auf weichen Knien aus der zerstörten Eisdiele heraus zu stolpern – die zitternden Hände tief in den Hosentaschen vergraben und den Blick gen Boden gerichtet. Chester wollte ihm folgen, knickte bei dem Versuch, sich ebenfalls schnell aufzurichten, jedoch mit seinen hohen Absätzen um und kam, als der Schmerz ihm kurz schwindlig werden ließ, letztendlich zu dem Schluss, dass es vielleicht wirklich nicht allzu schlecht war, mal einen Tag Abstand zu halten und die ganze Nummer erst mal in Ruhe sacken zu lassen. * Aus dem einen Tag wurden drei Tage. Drei Tage, die Chester daheim in Phoenix mit seiner Familie verbrachte, und in denen er einfach nicht aufhören konnte, sich zu wundern, wie die Nachrichten dem Tentakelmonster-Vorfall im Einkaufszentrum nicht einmal zwei Minuten widmen konnten; ihn einfach nur als 'allem Anschein nach nicht ordnungsgemäß im Vorfeld bei der Stadt beantragten Dreh eines Low-Budget-Monsterfilms' betitelten, dessen 'Produktionsfirma gebeten wird, sich bei der Stadt Los Angeles freiwillig zu melden, um für die entstandenen Sachschäden aufzukommen'. Im Internet wurde die Angelegenheit für einen gelungenen 'PR-Gag' gehalten und man erwartete mit Spannung eine Aufklärung, für welchen Film damit wohl geworben wurde. Nur hier und da meldeten sich Kritiker zu Wort, die die immer extremeren Marketingstrategien der Filmindustrie alles andere als bewundernswert fanden. Einzelne betrauerten die Fische aus dem zerstörten Aquarium, die dabei ums Leben gekommen waren. Kein einziger zog auch nur ansatzweise in Betracht, dass diese zwei Meter große Grüne Riesenanemone, die sich plötzlich in Luft aufgelöst hatte, vielleicht echt gewesen sein könnte. Nicht dass Chester, wäre er nicht dermaßen nah dabei gewesen, nicht ebenfalls davon ausgegangen wäre, dass dieses Ding eine Attrappe gewesen sein musste, nur... Nun, er war eben dabei gewesen. Nah. Sehr nah. Beinahe zu nah. Und sein Leben zeichnete sich in letzter Zeit allgemein nicht gerade durch Normalität aus. Es überraschte und erleichterte ihn, dass seine Familie recht gut mit der Situation klar zu kommen schien. Gut, davon, dass er und Mike sich neuerdings außerdem noch in recht knapp bekleidete Superheldinnen verwandeln konnten, hatte er ihnen bisher noch nichts erzählt... und auch die Tatsache, dass diese Monstertentakelanemone echt und kein mit Gummi überzogener Roboter gewesen war, hatte er lieber für sich behalten, einfach, um zu vermeiden, dass seine Lieben unnötig Angst bekamen... aber damit, dass er als zur Zeit – hoffentlich vorübergehend – einen Frauenkörper inne hatte, arrangierten sich alle soweit relativ erfolgreich. Talinda nahm es mit Humor, auch wenn es sie sichtlich zuerst ein wenig Überwindung gekostet hatte, im gemeinsamen Ehebett weiter Arm in Arm einzuschlafen. Inzwischen schien sie sich jedoch daran gewöhnt zu haben. Seine Söhne hatten da mehr Probleme (von Tyler, der bloß mit den Schultern gezuckt und ein „Okay“ von sich gegeben hatte, bevor er weiter spielen gerannt war, als er ihm die Sache zu erklären versuchte, mal abgesehen), immerhin waren sie Teenager (oder zumindest auf dem Weg dahin, welche zu werden) und als solche teils albern, teils etwas verklemmt, was Themen wie Geschlechter bzw. Geschlechtsorgane anging. Vor allem Jaimes erste Sorge war gewesen, ob so was vielleicht erblich war (als er erfuhr, dass Mike dasselbe Schicksal widerfahren war, beruhigte er sich jedoch schnell wieder), während Isaiah seinen Dad erst mal fragte, ob er dann jetzt eine Lesbe war, so als Frau, die mit einer Frau verheiratet war und so. Irgendwie wurde Chester das Gefühl nicht los, dass da noch eine Menge Aufklärungsbedarf bestand, allerdings konnte er nicht so wirklich bestimmen, inwiefern. So oder so, als er an diesem Morgen aufgestanden war und zum ersten Mal seit seiner Rückkehr aus L.A. wieder den dort kurz vor der Monsterattacke gekauften BH inklusive dazugehörigem Höschen anzog, anstatt wie die vergangenen Tage in seine gewohnten Shorts zu schlüpfen und sich die unliebsame Oberweite abzubinden, um nicht rund um die Uhr an sie erinnert zu werden, wann immer er an sich herunterblickte, fragte er sich dann doch kurz, wie es wohl weitergehen würde. Die Möglichkeit, für immer in diesem Körper bleiben zu müssen, schloss er von vornherein aus und weigerte sich, auch nur darüber nachzudenken, obwohl er sich schon denken konnte, dass Mike sehr wohl darüber nachdachte. Und dass das einer der Hauptgründe dafür war, dass der andere so bedeutend schlechter als er mit allem klar zu kommen schien... das und die wirklich unmöglich zu kaschierenden Kurven des Jüngeren. Chester spürte bei der Erinnerung an den Anblick, den Mike in diesem engen Kampfkleidchen, in das er sich während dieser Monsterattacke hinein gezaubert hatte um ihn zu retten, geboten hatte, das Blut in seine Wangen steigen. Er war es ja gewohnt, für den anderen zu schwärmen, aber stets auf (seiner Einschätzung nach) streng platonischer Ebene. Mikes Talent, seine Intelligenz, Zielstrebigkeit, sein Humor, überhaupt seine gesamte Persönlichkeit und eben seine Fähigkeiten beim Songwriting waren das, was ihn so an dem anderen faszinierte. Vielleicht noch sein Lächeln, wegen der perfekten, strahlend weißen Zähne, aber da hörte es auch schon wieder mit den Äußerlichkeiten auf. Aber nun... tja, nun fiel es ihm schwer, weiter zu ignorieren, dass Mike mindestens genauso lange, schlanke Beine hatte wie er selbst. Nur dass diese jetzt, wenn man seinen Blick an ihnen hinaufgleiten ließ, in einem ziemlich wohlgeformten Hintern mündeten, der unter anderen Umständen vielleicht schon als etwas zu breit beziehungsweise üppig gelten würde, gäbe es da nicht... nun ja, gäbe es da nicht diesen Wahnsinnsbusen. So passte es dann wieder. Und wie es passte. Kurzum: er konnte nicht abstreiten, dass Mike als Frau sexy war. Sehr sexy. Irre sexy. Und trotzdem war er eben auch immer noch Mike. Mike mit seinen kleinen, teilweise versteckten Leberflecken. Mike mit seinen schmalen Handgelenken und langen Fingern. Mike mit seinem dichten, irritierend weich wirkendem Haar und den runden Ohren, in deren Ohrläppchen man immer noch winzige Löcher ausmachen konnte. Mike mit seinen bei genauerem Hinsehen eben doch nicht vollkommen perfekten Zähnen, da an einem seiner Schneidezähne eine winzige Ecke fehlte, die er sich in ihrer Anfangszeit an einem Mikrofon ausgeschlagen hatte. Mike mit diesen zwei senkrechten, perfekt parallelen Falten zwischen seinen Augenbrauen, wenn er die Stirn runzelte. Mike, in dessen Kopf jeden Tag unzählige Bilder und Töne, ganze Welten, entstanden, die ihm Alpträume bescherten, wenn er sie nicht irgendwie aus seinem Kopf herauszuholen und auf Leinwand oder in den Computer zu bannen vermochte. Mike, dem es erst, seit es Handys mit Kalender- und Erinnerungsfunktion gab, gelang, sich die Geburtstage seiner Freunde und Familie zu merken. Mike, der immer darum bemüht war, so zu wirken, als würde er sich kaum Gedanken um sein Äußeres machen, der vor ihren Shows und Fotoshootings und Interviews allerdings genauso lange wie Chester vor dem Spiegel brauchte, bis er zufrieden mit sich war, und der, wäre er nicht so professionell, am liebsten nicht einmal das Haus verlassen würde, wenn er am Morgen einen Pickel irgendwo in seinem Gesicht entdeckt hatte. Nur noch übertroffen davon, wie lange er (auch ohne Körbchengröße D, die sich weigerte, sich verstecken zu lassen) beim Einkaufen brauchte, um sich für die richtige Jeans, das richtige Hemd, den passenden Anzug oder die am besten sitzenden Schuhe zu entscheiden. Und der, wenn man ihn nicht unter genügend Zeitdruck setzte, nach gelungenem Einkauf in Entscheidungsschwierigkeiten kam, weil er alles, was er erstanden hatte großartig fand und sofort anziehen wollte, und daher gelegentlich Dinge in Kombination trug, die einzeln vielleicht besser zur Geltung gekommen wären. Und dem das schlichtweg egal war, so lange er seine Freude an seinen neuen Sachen hatte. Mike, der sich bei allem Selbstbewusstsein an manchen Tagen mehr, an manchen weniger wohl in seiner Haut fühlte, was dazu führte, dass er manchmal in nur einem einzigen T-Shirt, manchmal in einem Unterhemd, einem dünnen Shirt, einem langärmeligen Hemd und einer Jacke auf die Bühne ging. Mike, der Dinge lieber in sich hineinfraß und mit sich selbst ausmachte, und erst dann über sie reden wollte (oder konnte), wenn er sie für sich bereits geklärt hatte. Eben einfach... nun ja, Mike eben. Mike, den Chester, wie gesagt, ohnehin schon ziemlich bewundernswert fand und so sehr liebte, wie man einen guten Freund überhaupt lieben konnte, und dass auf diese Liebe plötzlich noch dieses Schlagsahnehäubchen inklusive Cocktailkirsche mit dem Label 'sexy' geklatscht worden war, verwirrte ihn und bereitete ihm außerdem auch irgendwo ein schlechtes Gewissen. Denn genau genommen war das, was er da als sexy empfand, ja nicht einmal wirklich Mike, beziehungsweise Mikes Körper. Es war eine abgewandelte Form des Körpers des anderen, in der Mike sich mehr als nur offensichtlich fremd und unwohl fühlte, und das gab Chester irgendwie das Gefühl, ein schlechter Freund zu sein. Als hätte jemand Mike jemand eine runter gehauen und er würde sich nun an dem blauen Auge ergötzen, weil er auf Veilchen stand, während Mike unter den Schmerzen litt und sich am liebsten vor der ganzen Welt verstecken würde, bis alles wieder verheilt war. Ein schwaches Lächeln streifte Chesters Lippen, während er in seine Jeans-Hotpants schlüpfte und diese zuknöpfte. Er mochte seinen eigenen Körper zur Zeit ebenso wenig wie Mike den seinen und hätte ihn bedeutend lieber weiter versteckt, aber das mindeste, was er für seinen besten Freund, der im Gegensatz zu ihm seine bedeutend ausgeprägteren Kurven selbst mit viel Mühe nicht kaschieren konnte, tun konnte, war Solidarität zeigen. Und seine Kurven so betonen, dass sie denen des Jüngeren im Idealfall vielleicht sogar die Show stahlen. Näher konnte er Mike seinem Wunsch, unsichtbar zu werden, leider nicht bringen. Er zog sich noch ein figurbetontes Shirt, das Talinda ihm geliehen hatte, drüber und schlüpfte dann in seine Stiefel. Nur weil er einmal mit ihnen auf die Fresse geflogen war, bedeutete das noch lange nicht, dass er sie aufgab – erst recht nicht, nachdem Talinda ihm eine kleine Einführung in das richtige Laufen in hohen Absätzen erteilt hatte. Diese Einführung hatte keine Stunde gedauert und doch... nun, in Zukunft wusste er dann, dass Talinda nicht übertrieb, wenn sie von irgendeiner Verleihung oder Charity-Veranstaltung nachhause kamen und sie irgendwas davon murmelte, dass ihre Füße sie umbrachten und sie nicht vorhatte, sich den Rest des Abends noch mal irgendwie mehr als unbedingt notwendig zu bewegen. Längere Strecken in hohen Schuhen zu laufen tat nicht einfach an den Füßen weh, es saugte einem die komplette Lebensenergie aus! Warum auch immer er unbedingt in Highheels gegen dieses Monster hatte antreten müssen, er war dankbar, dass dieser ganze Glitzer-Zauber scheinbar auch dafür Sorge trug, dass seine Füße und sein Gleichgewichtssinn mit den hohen Hacken klar kamen, sonst hätte er vermutlich schlecht für ihn ausgesehen. Als er das Schlafzimmer verließ, stieß er um ein Haar mit Jaime zusammen, der ihn erst mal bloß verstört anstarrte. Er erwiderte den Blick seines Ältesten ratlos. „Was?“ „Willst du so rausgehen?“ „Wie, so?“ Chester blickte an sich herunter. Er sah doch toll aus? „Na ja... die Stiefel sind schon n bisschen, uh... nuttig? So in der Kombination und so. Irgendwie. Keine Ahnung.“ „Bullshit.“ Er blickte runzelnd wieder auf. „Frag mich, wo du deine Vorstellung her hast, wie Nutten aussehen. Selbst im Fernsehen sehen die noch 'ne ganze Ecke anders aus als ich.“ Jaime hob abwehrend die Hände. „Musst du wissen. War nur mein erster Eindruck. Was weiß ich schon von so was.“ Chester zog bloß die Augenbrauen nach oben, schüttelte dann den Kopf, warf sich in einer ausschweifenden Geste die Handtasche über die Schulter, legt eine Hand an seine Hüfte und stolzierte dann in dem besten Laufsteg-Gang, dessen er fähig war, weiter, woraufhin sein Sohn nur gequält aufstöhnte und ihm hinterher rief: „Gott, Dad, bitte... Ich mein ja nur, du bist 'n Kerl, also... weiß nicht, benimm dich auch weiter so. Sonst gewöhnst du dir das noch zu sehr an und dann geht das nicht mehr weg, wenn du wieder normal bist.“ Er ignorierte es und schwang seinen Hintern nur noch mehr. Hielt sogar auf der Treppe, auf dem Weg nach unten noch durch, und stolperte erst, als er bereits die letzte Stufe erreicht hatte. Frau zu sein war schwer. * „Du trägst einen BH!“ Mikes Wangen verfärbten sich wie auf Stichwort puterrot. Er wandte den Blick ab und verschränkte ungelenk die Arme. „Ich dachte, ich probier's halt mal und, hm, ist halt okay. Sie bewegen sich nicht mehr so viel und ich finde, sie sehen halt kleiner aus in dem Ding.“ Chester lächelte bloß und ließ sich neben dem anderen auf der Hollywood-Schaukel auf seiner Terrasse nieder. „Und sonst so? Wie geht’s dir?“ Schulterzucken. „Ok. Denk ich.“ Mike seufzte, schaltete sein iPad aus und legte es auf den Tisch. Für einen kurzen Moment lag ihm beiläufiger Kommentar dazu auf der Zunge, wie sehr er sich am Abend nach dieser Monsterattacke abgeschossen hatte – also stimmte es wohl, dass Frauenkörper bei ansonsten gleichen Voraussetzungen wie ihre männlichen Kampftrinkergenossen weniger vertrugen als diese – und dass mit ihm am kompletten darauf folgenden Tag absolut nichts anzufangen war (sein letzter Kater in dem Ausmaß musste Jahre her sein; normalerweise konnte er seine Grenzen gut genug einschätzen, um solche Extremfälle zu verhindern), aber dann verkniff er ihn sich doch lieber. Er mochte den Ausdruck in Chesters Augen nicht, wenn solche Themen aufkamen. Natürlich verstand er, dass Chester es eben brauchte, sich voll und ganz davon zu überzeugen, dass Alkohol einfach scheiße war, und nur scheiße und sonst gar nichts, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, bei seiner vollkommenen Trockenheit vielleicht doch mal eine kleine Ausnahme zu machen... bei dem anderen gab es eigentlich immer nur ganz oder gar nicht. Keine halben Sachen eben. Und Chester bemühte sich ja auch wirklich aufrichtig darum, es sich zu verkneifen, wenn in seinem Umfeld jemand etwas trank, und diese Person dann weder zu kritisieren, noch zu belehren oder ihr auch nur seine Meinung zu der Sache ungefragt auf die Nase zu binden. Aber diesen Blick... dieser Ausdruck in seinen Augen, wenn dann doch mal wer etwas zu viel trank... der sagte mehr als tausend Worte. Wenn man ihn bemerkte. Und Mike gehörte zu denen, die ihn eben bemerkten, einfach, weil er eben wusste, was in solchen Momenten in Chesters Kopf los war. Und er wusste auch, dass Chester nichts dafür konnte. Der Ältere gab sich wirklich alle Mühe, nur war er noch nie sonderlich gut darum gewesen, seine Gefühle und Gedanken komplett zurück zu halten. Also vermied Mike es einfach so gut es ging, mehr als vielleicht ein Bier oder ein Glas Wein oder ein Glas Sekt, je nach Anlass, zu trinken, wenn der andere in Sichtweite war. Und wenn er merkte, dass er zu viel hatte, machte er einen Bogen um ihn. Einfach, weil er sich kannte und wusste, dass ihm sonst über kurz oder lang doch noch ein schnippischer Spruch über die Lippen kam, der letztendlich auch nichts an der Sache änderte, sondern Chester höchstens noch in seiner Meinung bestätigte. Und gerade mochte er zwar nüchtern sein, aber aufgrund der allgemeinen Umstände war sein Nervenkostüm nicht allzu stabil gestrickt, also galt auch diesmal die Devise 'Reden ist Silber, Schweigen ist Gold'. „Im Fernsehen behaupten sie, das Monster war nicht echt.“ „Uhum. Hab's gesehen.“ „...“ „...“ „Wollen wir an den Strand?“ Mike blinzelte, erst jetzt bemerkend, dass sein Blick irgendwann ins Leere zu gehen begonnen hatte, und sah zu dem anderen. „Was?“ „An den Strand. Du weißt schon. Ozean... Sand... Möwen... salzige Brise...“ Er seufzte. „Ich weiß, was 'n Strand ist, Chaz.“ „Also?“ „Also was?“ „Wollen wir? An den Strand jetzt. Wir können deine Kids ja einfach mitnehmen.“ Mike gab ein leises „Hm“ von sich und blickte wieder abwesend ins Leere. Chester schmunzelte. „Na komm. Ich verlange ja keinen Bikini von dir; zum Baden ist es eh noch zu kalt. Wir nehmen 'ne Decke mit, was zu essen, die Kids spielen n bisschen im Sand... wir hängen einfach nur n bisschen ab.“ „Anna hat die beiden Kleinen mitgenommen...“ „Dann spielt halt nur Otis im Sand.“ Er fuhr Mike kurz mit der Hand über den Rücken und bemühte sich um ein möglichst aufbauendes Lächeln, das nach einer Weile dann auch endlich schwach erwidert wurde. Mike seufzte, stand auf und streckte sich kurz. „Na schön, dann... keine Ahnung, pack ich mal 'n bisschen Zeug zusammen?“ Chester strahlte – zufrieden über seine großartigen Überredungskünste – und erhob sich ebenfalls. „Tu das. Und ich mach Sandwichs, die wir mitnehmen können.“ „Klingt gut.“ Mike nickte und deutete, bereits auf den Weg nach drinnen, mit einer flüchtigen Geste in Richtung der Küche. „Du weißt ja, wo alles ist.“ * Neidisch streifte Mikes Blick über Chesters Beine, beziehungsweise die Jeans, die er trug, da die Meeresbrise – trotz strahlendem Sonnenschein – zu dieser Jahreszeit noch zu frisch war, um sich in Hotpants am Strand aufzuhalten. Seine Jeans. Seine Jeans, die ihm nicht mehr passten, weil seine Hüften mal eben spontan über Nacht so dermaßen in die Breite gehen mussten, die an Chester aber wie angegossen saßen. Der Ältere brauchte sogar einen Gürtel, damit sie oben blieben! … Das Leben war unfair. Vor dieser Frauenkörper-Sache war es okay gewesen, dass Chester vielleicht nicht direkt schlanker, aber trainierter als er war. Definierter, von den Muskeln her. Sportlicher. All das eben. Immerhin trieb der andere ja auch gezieltes Muskelaufbautraining und war zwar kein Kostverächter, achtete aber darauf, dass der Großteil seiner Mahlzeiten eher Eiweiß und weniger Kalorien enthielt und so weiter und so fort. Mike beneidete ihn zwar um seinen Körper, allerdings nicht genug, um sich die Zeit zu nehmen und Mühe zu machen, irgendetwas dafür zu tun, selbst ebenfalls etwas mehr in Form zu kommen. Seine Prioritäten lagen einfach woanders und er kam mit seinem Körper ganz gut zurecht. Aber nun... nun, mit seinem „neuen“ Körper und dessen irrsinnig vielen kleinen Makeln (die er teilweise zwar auch von Annas Körper kannte, als Beispiel nur mal die feinen Dehnungsstreifen in der Hüftregion genommen, wobei sie ihn bei Anna irgendwie so gar nicht störten... sie waren nun mal ein Teil von ihr und er liebte seine Frau und fand sie schön, und irgendwie fand er dementsprechend diese Streifen auch, nun ja, schön eben... sie störten ja nicht... und ein Teil von ihnen (der an ihrem unteren Bauch) stammte aus der Schwangerschaft mit Otis und Otis war auch etwas Schönes in seinem Leben und... wie auch immer, bei Anna waren diese „Makel“ eben einfach okay) kam er eben einfach nicht zurecht. Denn diese Makel waren zu denen, die er immer schon besessen und an die er sich inzwischen gewöhnt hatte (wie zum Beispiel diese winzige, dunklere Stelle etwas mehr als handbreit unter seiner linken Brustwarze, von der er sich ziemlich sicher war, dass es eine dritte Brustwarze war, was er jedoch lieber für sich behielt; so „brustwarzig“ sah sie nun auch nicht aus und bisher hatte, bis auf Anna, noch nie jemand den Eindruck gemacht, auch nur damit zu rechnen, es könnte was anderes als eine Art Muttermal sein), noch hinzugekommen. Gut, er wusste nun nicht, wie die Sachlage unter Chesters (aus Solidarität) figurbetonter Kleidung so aussah, aber in Anbetracht dessen, dass der andere mit nicht ganz so ausladenden Kurven wie er gestraft war, hatte er es definitiv leichter. Garantiert keine Dehnungsstreifen jedenfalls. Nicht an der Hüfte und erst recht nicht an seinen Möpsen. Und es war fast schon lächerlich, dass Chester sich überhaupt Beine, Arme und nach eigener Aussage ja wohl auch den Intimbereich rasiert hatte; zumindest die Arme mit ihren ohnehin nur feinen, hellen Härchen hätte er sich locker sparen können, anstatt Mike dazu zu bringen, sich zu fragen, ob mit ihm irgendwas nicht stimmte, weil er es einfach nicht über sich brachte, ebenfalls zum Rasierer zu greifen, obwohl er schon zugeben musste, dass ihm seine doch sehr dunklen Haare an/unter Armen und an den Beinen und, nun ja, den üblichen verdächtigen Stellen an seinem aktuellen Körper dann nicht so wirklich gefallen wollten. Wieder so eine Sache, die ihn an Anna, wenn diese mal eine Woche oder so einfach keine Lust hatte, sich zu rasieren, nicht so unbedingt störte, aber an sich selbst eben schon. Es war zum Mäuse melken. Wenn er schon in diesem Körper feststeckte, konnte der dann nicht wenigstens perfekt sein? Das kam ihm wie das Mindeste vor, was man ihm als Entschädigung für die beschissene Gesamtsituation hätte zugestehen können. Ernsthaft jetzt. Aber nein. Nein, was das anging musste es dann plötzlich wieder realistisch sein. Grüne Tentakelmonster waren genehmigt, glitzernde Verwandlungen in viel zu knapp bekleidete Superheldinnen mit leuchtenden Waffen und noch mehr Glitzer, das war okay, alles kein Problem, aber Gott bewahre man würde es ihm ersparen, sich mit dem Körper auseinander setzen zu müssen, den er jetzt wohl auch hätte, wenn er bereits als Frau auf die Welt gekommen wäre, inklusive der optischen Makel und dieser Menstruationsnummer, die er die ersten Tage außerdem noch über sich ergehen lassen musste. Am Ende könnte es sonst noch zu sehr ins Absurde gehen, huh? Und das wollte ja nun niemand... Mike seufzte leise und ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen nach hinten auf die Decke sinken, den Blick auf die über ihm hinwegziehenden Wolken gerichtet. Eigentlich hätte er sich lieber auf den Bauch gelegt, aber nein, das erlaubten seine scheiß Titten ja auch wieder nicht... Drecksdinger. Er hasste diesen Körper. Er hasste es, nicht vorgewarnt worden zu sein, bevor er plötzlich in ihm aufwachte. Er hasste es, nicht zu wissen, wie so was überhaupt möglich war. Er hasste es, dass es plötzlich so was wie grüne Tentakelmonster gab. (Gut, an sich mochte es die vorher auch schon gegeben haben und sie waren nur noch nicht von den Menschen entdeckt worden, aber das Vieh, mit dem sie es vor ein paar Tagen zu tun gehabt hatten, war definitiv nicht normal. Es hatte von innen heraus ein Aquarium zerstört, sich an Land bewegen können, mit seinen Tentakeln Metall und Gummi und Plastik verätzt, und nachdem es mit einem glitzernden Pfeil, den Chester aus dem Nichts heraufbeschworen hatte, getroffen wurden war, hatte es sich in eine ganz normale Anemone, wie Mike sie auch schon mal in einem Aquarium in SeaWorld gesehen hatte, zurückverwandelt und DAS hatte ganz sicher NICHTS mit Evolution zu tun.) Er hasste es, dass sich irgendwelche Apps von ganz alleine auf seinem iPhone installierten. Er hasste es, dass die App, die ihn am meisten ankotzte, ihn bei Aktivierung vollglitzerte (auch wenn er Glitzer an sich eigentlich ganz hübsch fand) und in ein enges Kostümchen zwängte. Und er hasste es, dass die Nummer ihm irgendwie das Gefühl gab, dass er und Chester nicht drum herum kommen würden, sich auch in Zukunft mit irgendwelchen Monstern herumzuschlagen. Kurzum: Er hasste sein Leben. Jedenfalls zur Zeit. Einfach weil es nicht mehr wirklich sein Leben war. Sein Leben bestand darin, Musik zu machen (und noch hatte er seine neue Stimme, die er an sich nicht unbedingt schlecht fand, nicht so gut im Griff, wie er das gerne gehabt hätte), aufzutreten (das kam in dem Körper definitiv nicht in Frage), sich darum zu bemühen, ein guter Vater („Aber Mädchen sind doch Mommys, Daddy..?“ - Zitat Otis) und Ehemann zu sein (um seinen „ehelichen Pflichten“ nachzukommen, fühlte er sich einfach zu unwohl in diesem Körper, auch wenn er wusste, dass Anna nicht nur 'nichts dagegen' hätte, sondern wirklich wirklich wirklich Interesse daran hatte, ihm bei der, uh, 'Erkundung' seines neuen Körpers 'aktiv zur Seite zu stehen') und alles, was in seiner Möglichkeit lag, zu tun, um auch den Rest seiner Familie und selbstverständlich seinen Freundeskreis nicht zu vernachlässigen... von dem er allerdings momentan nur zu Chester so wirklich Kontakt pflegen konnte. Alle anderen mussten sich mit SMS und E-Mails und damit, dass er rein zufällig jeden einzelnen ihrer Anrufe aus zunehmend fadenscheinigeren Gründen verpasste, zufrieden geben. Und dabei hatte er sich wirklich auf dieses Treffen mit Ted gefreut... und die Party bei Ryu dieses Wochenende... den Angelausflug mit Dave, der eigentlich für gestern angesetzt gewesen war... Er drehte sich auf die Seite und malte mit dem Zeigefinger kleine Kringel in den Sand. Er wollte seinen Freunden nicht das Gefühl geben, ihm wären andere Dinger wichtiger als mit ihnen die ohnehin nur wenige Freizeit, die er hatte, zu verbringen. Sie kamen auch so schon oft genug kurz, einfach, weil aus irgendeinem blöden Grund ein Tag auf dem Planeten Erde nur 24 Stunden dauerte, obwohl 48 Stunden ihm bedeutend besser in den Kram beziehungsweise Terminkalender passen würden... Er hatte solches Glück, überhaupt so viele Menschen in seinem Leben zu haben, denen er trotz seiner vielen Fehler so wichtig war, und es war auch so schon kaum möglich, ihnen wirklich, also, wirklich ein bisschen was von diesem Glück und dieser Dankbarkeit wieder zu geben, die er wegen ihnen empfand. Aber ihm war eben auch bewusst, wie irritierend und bekloppt die Sachen waren, die ihm zur Zeit so widerfuhren, und dass sie, wenn sie herauskämen, einen ganzen Rattenschwanz an Folgen nach sich ziehen würden, von denen allgemein gesteigertes Interesse der Öffentlichkeit an seiner Person statt seiner Musik und seiner Kunst noch die harmloseste war... er hatte keine Ahnung, wie Chester sich das überhaupt vorstellte, dass sie, sollten sie ihre eigentlichen Körper nicht zurück kriegen, dann trotzdem einfach mit der Band weitermachen könnten... vermutlich stellte Chester sich einfach gar nichts vor, was über das Gefühl, wieder auf der Bühne zu stehen, hinaus ging. Und ging tatsächlich davon aus, dass jeder die Sache einfach so hinnehmen würde, ohne irgendwas zu hinterfragen. Oder sie gar am liebsten aufzuschneiden und sonst wie zu untersuchen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Womit er wieder zurück an dem Punkt war, dass er Chester beneidete. Nicht nur um seinen Körper, sondern auch darum, wie einfach die Welt in seinem Kopf gestrickt war. Gut, immer war das nun auch nicht von Vorteil – dafür geriet der Ältere unter anderen Umständen, die für die meisten wohl recht harmlos waren, bedeutend schneller unter psychischen Stress als der 'Normalbürger'. Aber zur Zeit waren die Umstände eben eher absurd, und damit kam Chester klar und Mike wollte auch damit klar kommen können, und deshalb, nun ja, beneidete er ihn eben. Er versuchte sich, besseren Wissens zum Trotz, auf den Bauch zu drehen, gab jedoch schnell ein unzufriedenes Brummen von sich und rollte sich wieder auf die Seite. Bei seinem Glück sah er dabei sicher aus wie ein gestrandeter Wal... Kleine nackte Füße, die aus hochgekrempelten Jeans hervorlugten, tapsten in sein Sichtfeld und kurz darauf ließ Otis sich auch schon direkt vor ihm auf seinen Hintern sinken, legte ihm eine Hand ans Kinn, schloss sie andere um eine Strähne seiner Haare, beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Mike war unfähig, sich gegen das Lächeln, das sich dabei auf seine Lippen schlich, zu wehren und setzte sich etwas auf, um seinen Sohn, kaum dass der sich mit zufriedener Miene (da er erfolgreich damit gewesen war, seinem zur-Zeit-Mommy-Daddy das Stirnrunzeln aus dem Gesicht zu treiben) wieder aufrichtete, in seine Arme ziehen zu können, und drückte ihn eng, aber vorsichtig, an sich. „Na, Großer?“ „Guck meine Sandburg an!“ Mike fuhr dem Kleinen noch mal sanft durch das feine, dunkelblonde Haar, und rutschte dann tatsächlich auch gleich artig in die Richtung, in die Otis deutete, wo er jedoch erst mal nur einen recht konzentriert wirkenden Chester erblickte. Erst beim zweiten Hinschauen entdeckte er das kleine Häufchen feuchten Sand, das die zwei wohl in Otis' kleinem Eimerchen aus der Nähe des Wassers geholt hatten, und das Chester gerade vorsichtig mit kleinen Steinchen verzierte. Er rutschte noch etwas näher heran und besah sich das Ganze genauer, während Otis ihm hörbar stolz beschrieb, wie er und sein zur-Zeit-Tante-Onkel Chester die Burg errichtet hatten. Zu dritt bauten sie die Burg noch etwas weiter aus, machten sich irgendwann über die Sandwichs her und Mike war gerade so weit, für eine Weile all seine Probleme vergessen zu haben, als ein kurzer, erschrockener Aufschrei aus Richtung des Meeres kam. Ein kurzer Blick – ja, da kam etwas aus dem Wasser, vor dem ein paar Leute wegliefen, während andere es mit ihren Smartphones filmten, und irgendwo hatte dieses Etwas auch tentakelartige Auswüchse, welch Überraschung (nicht) – und schon packte er im Eiltempo alles, was sich in seiner Reichweite befand, ein, nahm Otis, der inzwischen seinen Mittagsschlaf hielt, auf den Arm, und machte sich mit einem knappen, an Chester gerichteten „Komm“ auf den Weg zum Wagen. Der Ältere brauchte einen Moment, bevor er die Situation erfasst hatte, eilte ihm dann aber hurtig hinterher und bekam auch gleich ihre Picknickausrüstung in die Arme gedrückt. Während er diese, am Parkplatz angekommen, im Kofferraum verstaute, verfrachtete Mike seinen Sohn, der sich bei all der Aufregung nur verschlafen die Augen rieb, in dessen Kindersitz und kurz waren sie auch schon unterwegs. Chester warf einen stirnrunzelnden Blick in den Rückspiegel. „Kommen wir später wieder? Also, nachdem Otis daheim in Sicherheit gebracht ist?“ Hätte er sich nicht auf die Straße konzentrieren müssen, hätte Mike ihn wohl bloß eine ganze Weile schweigend angestarrt, um herauszufinden, ob der andere das ernst meinte. So blieb ihm jedoch nur die verbale Schiene. „Wieso sollten wir?“ Chester blickte ihn verwirrt an. „Na, wir haben diese Glitzer-Superkräfte und so.“ „Und?“ Seine Verwirrung nahm zu. „So läuft das eben. In jedem Comic und jedem Film und jeder Serie. Wer die Monster bekämpfen kann, der tut das auch.“ Er sah wieder in den Rückspiegel. „Hoffentlich greift das Ding die Leute am Strand nicht an, bis wir wieder da sind...“ „Wir gehen da nicht wieder hin, Chaz.“ „Aber-“ Mike holte tief Luft, darum bemüht, seine Stimme ruhig zu halten und den Verkehr nicht aus den Augen zu lassen. „Nichts 'aber'. Ich seh's nicht ein. Nur weil wir das Ding vielleicht bekämpfen könnten – falls es überhaupt aus derselben Monster-Fabrik, oder wo auch immer die Viecher herkommen, wie das erste stammt – mach ich das doch nicht freiwillig. Wir sind hier weder in 'nem Comic, noch irgendeinem Hollywood-Film oder Anime oder weiß der Geier was. Wir sind reale Menschen. Und das letzte Vieh hatte ätzende Säuretentakel oder so, wer weiß, was das Ding jetzt kann. Ich will's überhaupt nicht wissen. Ich weiß nur, dass ich garantiert nicht freiwillig mein Leben auf's Spiel setze. Lass das die Polizei oder das Militär oder keine Ahnung wen machen.“ Stille. Er wagte einen flüchtigen Blick in Chesters Richtung und bei der Enttäuschung, die er in der Miene des Älteren, der seit jeher nicht sonderlich geschickt darin war, seine Emotionen zu verbergen, sah, zog sich kurz etwas schmerzhaft in ihm zusammen. Er sah wieder auf die Straße, während Chester seinen Blick auf seine Hände, in denen er tatsächlich bereits sein iPhone hielt, fallen ließ, bevor er diese resigniert in seinen Schoß sinken ließ. Mike schluckte kurz, bemühte sich aber, seine entschlossene Miene beizubehalten, auch wenn er das Gefühl nicht abschütteln konnte, dass Chester tatsächlich fest davon ausgegangen war, sie würden sich gemeinsam heldenhaft in dieses Abenteuer stürzen, sobald sie Otis in Sicherheit gebracht hatten. Und es war offensichtlich, dass seine Enttäuschung nichts damit zu tun hatte, dass ihnen ein potentiell lebensgefährliches Abenteuer entging (auch wenn er oft überstürzt handelte, er hatte immer noch einen gewissen Selbsterhaltungsinstinkt), sondern damit, dass Mike da nicht mitspielte. Mike konnte sich nur allzu gut vorstellen, was gerade in Chesters Kopf vorging, auch wenn er sich noch so sehr wünschte, es nicht zu können. Er wusste, dass der Ältere zu ihm aufsah. Für ihn war er eine Art Vorbild oder zumindest irgendwo eine Inspiration. Nicht, dass er das so ganz nachvollziehen konnte, aber Chester machte seine Bewunderung einfach zu oft und eindrucksvoll deutlich, so dass es unmöglich war, sie zu ignorieren oder sich einzureden, er würde seine Worte nicht genau so meinen... Und jetzt weigerte er sich einfach, mit ihm unschuldige Leute zu beschützen, obwohl sie die Möglichkeit dazu hatten, und flüchtete lieber. Ohne die Absicht, noch einmal zurück zu kehren. In Chesters Welt war es selbstverständlich, dass es einfach ihre Aufgabe war, diese neuen Glitzer-Superkräfte, so albern sie sie auch finden mochten, auch einzusetzen und ja, selbstverständlich für das Gute, immerhin waren es ja Superkräfte, und so was hatten nur Bösewichter und Superhelden. 'Böse' war keiner von ihnen, also war es doch das logischste und natürlichste auf der Welt, dass sie auf der Seite der Helden standen und es dementsprechend in ihrer Verantwortung lag, gegen die Monster zu kämpfen. Und nun machte Mike, der doch auch ohne Superkräfte immer schon ein bisschen wie ein Held für ihn gewesen war, und für den die Situation und ihre Verantwortung doch eigentlich genauso klar und deutlich auf der Hand liegen musste wie für ihn, einfach nicht mit. Dass das Chester bitterlich enttäuschte und seinem Bild von ihm einen kleinen Knack verpasste, stand außer Frage. Mike kam sich wie das größte Arschloch auf Erden vor. Er hasste es, Leute zu enttäuschen. Und vor allem hasste er es, Chester zu enttäuschen. Aber so sehr er es auch hasste und so sehr der andere ihm leid tat, so schlimm, dass er sich deswegen umentschied und sein verdammtes Leben in Gefahr brachte, war es nun, bei aller Freundschaft und allem Verständnis, auch wieder nicht. Die Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend. Erst, als Mikes Wagen in der Garage wieder zum Stehen gekommen war, öffnete Chester, den Blick weiterhin auf sein iPhone gerichtet, um das seine Hand sich während seiner Worte etwas fester schloss, das nächste Mal den Mund. Die Worte, die ihn verließen, waren leise, aber bestimmt. „Wenn du nicht mitkommst, geh ich alleine.“ Mike schnaubte nur. „Du hast 'n Rad ab.“ Er schnallte sich ab, stieg aus und öffnete die hintere Tür, um Otis aus seinem Kindersitz zu befreien. Chester runzelte die Stirn. „Schön. Vielleicht hab ich das. Aber mit großer Macht folgt eben große Verantwortung und-“ „Fuck, Chaz, komm mir jetzt nicht mit Spiderman-Zitaten um die Ecke!“ „Aber es stimmt doch!“ „Einen Scheiß tut's!“ Es fiel Mike merklich schwer, seine Stimme Otis zuliebe – der die Diskussion nur mit großen Augen verfolgte – weiter ruhig zu halten. Er half dem Kleinen beim Aussteigen und machte sich dann daran, den Kofferraum auszuräumen. „Wie oft denn nur noch: Das hier ist kein Superheldenfilm, das ist die Realität. Eine zur Zeit echt bekloppte, sinnfreie Realität, aber eben nach wie vor real! Es gibt Helden. Die im ganz realen Leben ziemlich großartigen Kram vollbringen. Aber Superhelden? Die, nur weil sie plötzlich irgendwelche besonderen Kräfte haben, deren Ursprung sie weder kennen, noch deren Langzeitfolgen sie einschätzen können, plötzlich automatisch dazu verdonnert sind, sich heroisch ins Kampfgetümmel zu schmeißen, ohne Ahnung von nichts?“ Mike schnaubte leise, weshalb seine letzten Worte um einiges kühler als eigentlich geplant rüberkamen. „Mach dich nicht lächerlich, Chaz. Werd erwachsen.“ Chester ballte die Fäuste zusammen, verkniff sich aber – vermutlich aufgrund von Otis' Anwesenheit – eine Antwort. Ohnehin unnötig. Sein Blick sprach mehr als tausend Worte und Mike wurde unwillkürlich schlecht, als er die Enttäuschung in ihm sah. Enttäuschung. Fassungslosigkeit. Verletztheit. Vor allem letzteres. Mike hielt dem Blick des Älteren nicht länger stand, wandte den eigenen ab und machte sich dann schweigend, Otis an der einen Hand mit sich führend, während er unter dem anderen Arm ihr Picknickzeug trug, auf den Weg ins Haus. Chester folgte ihm nicht. Kurz darauf war zu hören, wie die Seitentür der Garage laut zugeknallt wurde. Dann war alles still. Mike räumte die Picknickutensilien fort und ging mit Otis auf dessen Zimmer, wo er dem Kleinen dabei zusah, wie der ein Bild von seinem zurückliegenden Strandausflug kritzelte, und lief dabei mehr oder weniger auf Autopilot. Sein Lächeln und seine lobenden Worte, das Streicheln über den Kopf seines Sohnes, all das passierte ganz von selbst, während seine eigentliche Konzentration darauf lag, zu vermeiden, an Chester zu denken. Beziehungsweise darauf, sich um Himmels Willen nicht vorzustellen, was der andere gerade trieb. Dass er am Ende tatsächlich... … Würde er? Oh Gott, er würde. Und wie er würde. Vermutlich war er sogar schon dabei. Dabei, ein Taxi zurück zum Strand zu nehmen, sein iPhone fest in der Hand, stur, auch wenn er es selbst eher entschlossen nennen würde, um seine Wut auf Mike und diesem Monster auszuleben, auch wenn er sich selbst einredete, es 'für das Gute' zu tun. Einfach, weil er Chester war und damit ein schrecklicher Idiot, der auch mit Mitte 30 noch an die Ideale, die ihm einst seine Helden der Kindheit vermittelt hatten, festhielt. Die Guten waren gut und konnten Helden sein, die Bösen waren böse und gehörten unschädlich gemacht. Und wenn man nur fest genug daran glaubte, dass man es schaffen konnte, dann war alles möglich. Und mit 'alles' waren nicht nur realistische Ziele wie Plattenvertrag, Grammys und ausverkaufte Stadien gemeint, sondern, je nachdem was nötig war, eben wirklich ausnahmslos alles. Die Tatsache, dass nun Monster, Verwandlungen, Zauberkräfte in sein Leben getreten waren, bestärkten ihn vermutlich nur noch in seinem Glauben. Mike massierte sich mit den Fingern die Nasenwurzel und schloss einen Moment lang die Augen. Fuck. Er hörte wie unten die Haustür geöffnet wurde. Anna rief ein „Bin wieder da“ ins Haus. Mike drückte Otis noch einen Kuss auf den Kopf, rappelte sich auf die Beine, rannte die Treppe nach unten, mit einem „Bin noch mal weg“ an ihr und seinen beiden Jüngsten vorbei und zu seinem Wagen. Es gab keine Helden. Nur Idioten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)