Fragmente von Felicity (Modern Day / Reinkarnations AU) ================================================================================ Kapitel 1: Fragmente -------------------- Der Weg war lang und gerade und schien erst irgendwo am Horizont zu verschwinden. Sonnenlicht brach hier und dort durch die Baumkronen, malte helle Flecken auf die sonst schattige Erde und setzte glitzernde Akzente auf Blättern und Sträuchern. Ihre Waldwanderung würde noch mindestens zwei Stunden weitergehen und auch wenn Eren sie sehr genoss, wusste er, dass er nicht mehr so lange durchhalten würde und hatte die anderen gebeten kurz zu warten, während er kurz ein Stück in den Wald rechts vom Weg hinein lief, um sich schnell zu erleichtern. Natürlich hatte er einen amüsierten Kommentar darüber bekommen, aber sie waren alle brav stehen geblieben. Es war eine lustige Truppe, mit der er unterwegs war, seine Schwester, deren Freund und sein bester Kumpel. Eren wusste schon gar nicht mehr, wer von ihnen diese verrückte Idee eines Marsches durch die Gegend an einem Sonntagmorgen gehabt hatte, aber es war eindeutig lustiger, als er sich eine derart monotone Beschäftigung vorgestellt hatte. Der Morgen war warm, aber nicht drückend und dann und wann wehte ein leichter Wind durch die Bäume. Er genoss es. Ebenso, wie das frühlingshafte Blühen der Natur um ihn herum. Die Bäume trugen hellgrüne, frische Blätter, erste Blumen schoben sich durch den Waldboden, Sträucher setzten Blütenknospen an und das Fiepen und Zwitschern um ihn herum kündete von allerhand Tieren, die munter wurden. Eren lächelte und sah sich kurz um, ehe er zu den anderen zurück gehen wollte. Dabei fiel ihm allerdings ein dunkler Schatten ein kleines Stück tiefer im Wald auf und er wurde neugierig und lief darauf zu. Es waren nur ein paar Meter, niemand würde ihm dafür den Kopf abreißen. Ein paar Schritte weiter und der dunkle Schemen nahm langsam Form an und wurde zu einer Art Hütte oder kleinem Haus. Es war länglich und maß nur wenige Meter, das Dach war auf einer Seite tief eingesunken, beinahe komplett in sich zusammengebrochen. Die Mauer bestand aus grob gehauenen, grauen Steinen, woraus das Dach einmal gewesen sein mochte, konnte Eren nicht sagen. Jetzt war es eine grau-braune, strohig-matschige Masse. Eren blieb wie erstarrt stehen. Irgendetwas an diesem Haus fühlte sich seltsam an. Es war nicht wirklich gruselig, er hatte keine Angst vor einem Spuk und es war auch nicht dieses Gefühl, wenn man in seiner frühen Kindheit irgendwo war und sich nicht wirklich daran erinnern konnte. Nein, er war sehr sicher, dass er es nicht kannte und dennoch ließ ihn irgendetwas innehalten und verwirrt auf dieses Häuschen starren. Eren war nicht sicher, ob er hineingehen sollte oder nicht. Das Schlauste wäre vermutlich gewesen, es zu vergessen und zurück zu seinen Freunden zu gehen, aber etwas hielt ihn hier, machte ihn gleichzeitig neugierig und ein wenig unruhig. Er hob eine Hand und wollte die hölzerne, halb herausgebrochene Tür zur Seite drücken, doch er stoppte in der Hälfte der Bewegung. Was war nur mit ihm los? Er schüttelte den Kopf, entschied sich zunächst für etwas anderes und lief einmal um die Hütte herum. Auf der Rückseite fand sich eine uralte, verrostete Wasserpumpe und ein paar vermoderte Bretter, die vielleicht mal zu einem Holzlager gehört haben könnten. Oder auch zu einem Lager, einem Komposthaufen oder allem möglichen anderen. Nichts wirklich Interessantes, doch als Erens Blick kurz über die Umgebung huschte, fiel ihm ein kleiner Abhang etwa fünf Meter weiter ins Auge. Es war das gleiche, vage Gefühl, dass er schon bei der Hütte gehabt hatte und dass ihn darauf zulaufen ließ. Es war kein ungewöhnlicher Anblick an sich, der Wald lag auf einem kleinen Hügel, dem sie längs und damit halbwegs gerade auf einer Höhe folgten. Zu beiden Seiten ihres Wanderweges gab es immer wieder kleinere und größere Absätze wie diesen. Eine Art Fels, der über einem Vorsprung in die Luft stach, von Moos bewachsen, darunter aufgewühlte, unbewachsene Erde, wenn Tiere oder Menschen Unterstand bei Regen gesucht hatten. Eren legte nachdenklich und verwirrt eine Hand an den kühlen Stein und strich über das Moos, nur um angewidert die Hand wieder zurückzuziehen. Es war feucht und schleimig und er wischte sich schnell die Hand an der Jeans ab. Er wollte sich schon wieder umdrehen und zurückgehen, als ihm aus dem Augenwinkel doch noch etwas auffiel. Unterhalb des Vorsprungs hatte jemand mit Farbe ein Kreuz auf den Stein gemalt und daneben ein Zeichen, dass Eren nicht kannte. Vielleicht eine Art Rune oder Schriftzeichen?   Es war kalt, dunkel und es regnete in Strömen, als er aus dem Loch ins Freie kletterte und die Klappe zum Durchgang hinter sich wieder zufallen ließ. Er sah sich schnell um, aber sie waren mitten in einem Wald herausgekommen und der dichte Regen machte es schwer viel zu sehen. Er zog die Kapuze tiefer in die Stirn im Versuch, die Tropfen nicht direkt ins Gesicht zu bekommen und sah zu einer zweiten Gestalt herüber, die neben ihm in der Hocke saß und sich unruhig umsah. Der dunkle, im Zwielicht farblose erscheinende Regenmantel verdeckte zusammen mit der Kapuze jegliche Züge, aber die Person winkte ihm hektisch und sie liefen ein paar Schritte weiter unter einen steinernen Vorsprung. Es war eng, aber wenigstens halbwegs trocken und während er hinter der anderen Person zusammengekauert hockte und auf ein weiteres Signal wartete, sah er eine rote Markierung auf dem Felsen neben sich.   Eren blinzelte verwirrt und starrte in die Morgensonne über ihm. Was war das gewesen? Für eine Sekunde hatte er das Gefühl gehabt zu träumen. Er war auf der Flucht gewesen. Vor was? Was war das für ein seltsamer Traum? War er doch schon einmal hier gewesen? Wer war die andere Person bei ihm gewesen? Eren atmete mehrmals tief durch, dann ging er an der gleichen Position in die Hocke und drehte sich einmal rückwärts, um abzuschätzen, wo dieser versteckte Eingang etwa gewesen sein müsste. Die Stelle sah nicht wirklich anders aus, als er sich herunterbeugte und etwas zögerlich die Hand auf den Waldboden legte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er ein wenig hin und her strich und unter einer Schicht aus Blättern und Humus tatsächlich etwas Hartes spürte. Er richtete sich wieder auf und trat mit dem Fuß danach und mit einem Knacken zerfiel morsches Holz und krachte etwa einen Meter tief in einen kleinen Schacht. Darunter aber war nichts mehr, nur Erde und Steine, offensichtlich war der Gang schon vor langer Zeit eingestürzt. Eren stolperte dennoch erschrocken einen Schritt zurück und schüttelte langsam den Kopf. Wie konnte das sein? Woher hatte er das gewusst? Er rieb sich mit der halbwegs sauberen linken Hand über das Gesicht und beschloss, dass er genug hatte und jetzt zurückgehen würde. Langsam setzte er sich in Richtung der Hütte in Bewegung. Er würde Zuhause einmal nachsehen, ob es in dieser Gegend alte Geschichten gab, vielleicht hatte er davon irgendwann gelesen oder es im Fernsehen gesehen und seine Fantasie spielte ihm nur einen Streich. Er lief ziemlich genau den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, seine Augen wanderten automatisch noch einmal zu der Hütte und ihrem groben, steinernen Fundament. Er machte einen vorsichtigen Schritt über eine große Baumwurzel an der kurzen Seite der Mauer.   Der Boden war matschig und glitschig vom anhaltenden Regen und als er schnell um die Seite herumlaufen wollte, verlor er den Halt auf einem Fuß und schlitterte ruckartig gegen die harte, steinerne Hausecke. Der kurze Aufprall war nicht zu schlimm, aber er trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn kurz aufkeuchen. Die Person vor ihm zuckte erschrocken herum und stand in Bruchteilen von Sekunden vor ihm. Sie war ein Stück kleiner als er, musste aufsehen, als sie ihn am Kragen packte und ihm eine Hand auf den Mund presste. Unter der Kapuze war nun ein Gesicht zu erkennen. Ein paar schwarze Haarsträhnen, die auf der nassen Stirn klebten, darunter selbst im schwachen Licht hell wirkende Haut und zu schmalen Schlitzen zusammengekniffene, tief eingesunkene Augen, die ihn mit einem harten, wissenden Blick ansahen. Darin lag Sicherheit, aber auch Autorität und eine leichte Spur Wut und Unruhe. Das war niemand, mit dem man sich anlegen sollte. Der Druck auf seinen Mund und der feste Griff an seinem Hals bestätigten das. Außerdem war jetzt eindeutig klar, dass die Person vor ihm ein Mann war. Und er beugte sich gerade ein Stück vor und zischte ein paar Worte.   Eren hatte nichts verstanden und konnte nicht einmal sagen, was für eine Sprache das gewesen war,  aber irgendwie wusste er, dass es der Befehl gewesen war still zu sein, wenn er nicht sterben wollte. Unbewusst ballte Eren die Fäuste, als er sich leicht gegen die steinerne Wand lehnte und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Da war es schon wieder passiert. Was war das nur? Was war mit ihm los? Ein Schauder lief ihm über den Rücken bei den seltsamen Vorstellungen. Wer immer dieser andere Mann gewesen war, sie hatten hier Zuflucht gesucht und es stand nun außer Frage, sie waren verfolgt worden und wollten nicht gefunden werden. Warum? Wovor waren sie davongerannt? Hatten sie etwas verbrochen? Gestohlen? Jemanden ermordet? Eren schüttelte den Kopf, jetzt nahm er seine Tagträumereien schon zu ernst. Er stieß sich schnell von der Mauer ab und trat wieder an die Vorderseite der Hütte. Er warf einen letzten Blick darauf, aber als dankenswerterweise nichts weiter passierte, entschied er, dass das eindeutig genug gewesen war. Er drehte sich um sich selbst, blieb kurz stehen und warf einen Blick hinaus in den Wald.   Die Sonne ging gerade auf, es regnete nicht. Der Boden war trocken und warm, von ein paar Tagen Sommerhitze sogar hier und da aufgerissen, als er aus der Eingangstür trat und dem Mann entgegenlief, der einen Stapel Feuerholz auf dem Arm trug und ihm hinhielt. Der andere trug keinen Regenmantel mehr, sondern eine enge Hose, hohe Stiefel und ein enges, ärmelloses Shirt, über das allerlei Gürtel gebunden waren. Er wirkte ein wenig gehetzt, sah sich immer wieder um, sagte nur zwei kurze Worte, als er das Holz weitergab. Es war von den heißen Tagen ebenso getrocknet und ein wenig brüchig. Doch ehe sie ins Innere der kleinen Hütte gehen konnten, erschütterte auf einmal ein leichtes Beben den Boden. Zwei Augenpaare rasten in die Höhe und zwischen den Bäumen zeichnete sich ein großer Schatten ab. Seltsamerweise schien es die Tiere nicht im Geringsten zu stören. Weder das Vogelgezwitscher, noch das raschelnde Geräusch der umher huschenden Nager verstummte, als würden sie das Auftauchen des Dinges überhaupt nicht bemerken. Der andere fluchte laut und schickte ihn mit harschen Worten und einer hastigen Handbewegung wieder ins Innere, während er zwei neben dem Eingang liegende, metallene Kanister packte und an seinen Beinen befestigte. Das Beben kam von einer riesigen, menschenähnlichen Gestalt, die immer näher kam und selbst die Bäume im Umkreis überragte. Wut kochte in ihm hoch. Wut auf diese Gestalt, auf …   Riesen? Eren presste die Augen fest zusammen. Das wurde ja immer besser, nicht nur, dass er von Verbrechern auf der Flucht fantasierte, jetzt auch noch von Riesen? Er hatte eindeutig zu viel ferngesehen. Und doch konnte er nicht verhindern, dass er zum Haus herübersah, fast, als würde er diese metallene Box suchen. Wozu immer sie gut gewesen war, der Mann hatte damit ziemlich sicher etwas gegen den Riesen unternehmen wollen. Und das ergab eigentlich keinen Sinn, wie Eren stirnrunzelnd feststellte. Gegen einen Gegner dieser Größe mit einer Metallbox anzutreten? Seine Hand wanderte herauf zu seiner Stirn, aber eigentlich fühlte er sich weder fiebrig noch warm. Er wollte hier verschwinden und gleichzeitig aber auch unbedingt ins Innere des kleinen Gebäudes sehen. Er fluchte, stieß aber mit einem Ruck die Tür auf.   Jemand rief von draußen. Es war tief in der Nacht, aber als er sich umdrehte, standen drei Gestalten vor ihnen. Sie trugen Umhänge, hatten Kapuzen über den Kopf gezogen und nur einer von ihnen trug eine Fackel in der Hand. Der Mann hinter ihm im Haus rief etwas und er gab die Tür frei, damit die drei in die von ein paar Kerzen beleuchtete Küche hereinkommen konnten. Sie zogen schnell die Tür hinter sich zu, wirkten aber auf dem Sprung, als würden sie jeden Moment wieder verschwinden und davon stürmen. Zwei, drei Worte fielen, dann streiften die drei die Kapuzen ab. Zum Vorschein kam ein blonder, junger Mann, der ernst in die Runde blickte und an dessen Stirn eine geradeso verkrustete Wunde prangte. Seine Haare waren kurz geschnitten, aber nicht sehr ordentlich, als hätte es schnell gehen müssen. Neben ihm stand eine junge Frau mit ansatzweise asiatischen Gesichtszügen, ihre schwarzen Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich aber bereits wieder einige Strähnen gelöst hatten und in dem sich Blätter und kleine Äste verfangen hatten. Eine gerade Narbe von einer Schnittwunde lief parallel unter ihrem rechten Auge entlang, während ein frischer Schnitt über ihre Schläfe lief. Sie war es, die die einzige Fackel trug. Als letztes war da ein großer, ebenfalls blonder Mann. Seine Haare waren länger, hatten aber bereits seit ein paar Tagen keinen Kamm mehr gesehen, ein Bart wuchs langsam auf seinem Kinn und bei genauerer Betrachtung fiel auf, dass sein rechter Arm fehlte. Und trotz der leicht gehetzten, heruntergekommenen Erscheinung strahlte er eine Ruhe und Autorität aus, die jeden anderen und auch den kleineren Mann in den Schatten stellte. Alle drei wirkten gejagt, sahen sich stetig um und fingerten nervös an ihren Umhängen oder dem Halter der Fackel. Der große Blonde erhob die Stimme, sagte nur wenige Worte, aber es war, als würde die Luft schlagartig gefrieren und alle erstarrten. Ihm lief ein kalter Schauder über den Rücken.   Sie haben uns gefunden. Bleibt hier, wir lenken sie ab. Etwas in dem Sinn hatten die Worte bedeutete und Eren keuchte erschrocken, als ihm klar wurde, warum alle so entsetzt gewesen waren. Er war sich selbst nicht sicher, woher er das wusste, aber … es war ein Selbstmordkommando. Die drei wollten die Verfolger auf sich lenken, damit das Versteck sicher blieb. Warum taten sie das? Warum waren sie so wichtig gewesen? Was hatten sie versteckt? Er merkte, dass er die Augen unbewusst zusammengepresst hatte und öffnete sie erneut. Vor ihm lag das, was vermutlich mal eine Art Aufenthaltsraum oder Küche gewesen war. In der Mitte des Raumes konnte er noch die Überreste eines Tisches erahnen, um den verschiedene Haufen lagen, die sicher einmal Stühle gewesen waren. Eren fragte sich, wie alt das alles hier sein mochte, dass hölzerne Gegenstände die Zeit überdauert hatten. Er lief ein paar Schritte weiter, auf gestampftem Lehmboden. An der rechten Wand waren noch vereinzelte Reste einer Küchenzeile zu erahnen, an der gräulichen Wand selbst noch Abdrücke, wo mal etwas befestigt gewesen war. Ein paar Scherben lagen auf dem Boden und Eren war nicht sicher, ob sie von früherem Geschirr stammten oder sich jemand hier kurzfristig niedergelassen hatte.   Er saß an einem runden Tisch und schälte Kartoffeln. Vor ihm stand der schwarzhaarige Mann am Herd, in dem ein Feuer brannte und rührte in einem Topf. Der Geruch von brennendem Holz lag in der Luft, vermischt mit etwas schwer zu definierendem, metallenem. Die Stimmung war düster und gedrückt, sie wechselten ein paar Worte, aber ihm liefen Tränen über das Gesicht. Der Mann drehte sich um, sah ihn mitfühlend an und legte den Kochlöffel beiseite. Er wirkte mitgenommen und ebenfalls traurig, als er zu ihm kam, eine Hand auf seine Schulter legte und sacht zudrückte. Er sagte etwas. Die Worte waren ruhig, betont und sanft, während auch seine Augen leicht feucht glänzten. Er ließ das Messer auf den Tisch sinken und antwortete etwas, woraufhin der Blick des Mannes sich änderte und er schmerzerfüllt die Augen zusammenkniff. Als er sie wieder öffnete, stand darin der gleiche Schmerz, der die Luft im Raum durchdrungen zu haben schien. Und er kämpfte offensichtlich auch darum ruhig zu bleiben.   Eren zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Was …? Sie waren gestorben. Sie hatten die Leichen gesehen und … Er schluckte schwer und drehte sich um, wollte zum wiederholten Mal gehen, doch er kam kaum einen Schritt weit.   Ein Schatten erschien vor dem Fenster und verschwand wieder, er schrie auf, rief den Namen des Mannes, dieser fuhr herum, fluchte und griff nach einem bereitstehenden Gewehr. Die Tür wurde aufgerissen, etwas zerbrach splitternd. Der Mann schoss, einer der Angreifer fiel zu Boden, aber vier weitere kamen nach drinnen gestürmt. Ein Handgemenge folgte, Fäuste flogen durch die Luft, Messer stachen zu, Blut spritzte. Er blockte Schläge und Angriffe, aber es waren zu viele. Er kassierte ein paar Treffer, schaltete vier oder fünf von ihnen aus, brach Knochen und Nasen, aber es ging schnell und er hatte das Gefühl zu ersticken, als er auf den Boden gedrückt wurde und nur noch Arme und Gesichter über sich sah. Grobschlächtige Gesichter, Arme, dick wie Baumstämme. Schläger. Er schrie, registrierte irgendwo vage seinen Namen, schlug um sich, aber sie hatten die Kontrolle, er konnte nicht gegen ihre vierfache Kraft auf einmal ankommen. Er versuchte seine Hand zu heben und in die Nähe seines Gesichts zu bringen, drückte mit all seiner Kraft und Verzweiflung gegen den Griff, der ihn hielt, aber sie hielten in fest, redeten auf ihn ein.   Eren stand mit wild schlagendem Herzen in der Hütte, seine Hand kurz vor seinem Gesicht und aus irgendeinem Grund wollte er hineinbeißen. Er zwang sich zu tiefen Atemzügen und ließ die Hand mit einiger Willenskraft wieder sinken. Diese Momentaufnahmen machten ihn langsam aber sicher verrückt. Verlor er gerade wirklich den Verstand? Andererseits konnte er es sich nur zu gut vorstellen. Heute war der Raum verlassen, heruntergekommen und zerfallen. Aber wenn er nicht zu genau hinsah, meinte er den Tisch noch dort stehen zu sehen. Die Küchenzeile, das Feuer zu hören, Essen, das auf dem altmodischen Herd kochte. Er sah Menschen ein und aus gehen und er sah hölzernes Geschirr, dass die Zeit nicht überdauert hatte. Er schluckte schwer. Was war hier einmal geschehen? Und wann hatte er eigentlich angefangen zu glauben, was er da in seinen Gedanken sah? Erens Blick wanderte ein Stück nach links. Irgendwo da auf dem Boden mussten sie überwältigt worden sein, kurz vor der Tür, die vermutlich in eine Art Schlafzimmer führte. Die Tür war noch zu erahnen, aber an der Stelle war die Decke zu weit eingebrochen, es war unmöglich, dort hinein zu gehen. Dennoch trugen seine Füße ihn wie von selbst ein Stück näher. Der Boden war hier großflächig dunkel verfärbt und Eren ging ein Stück in die Hocke.   Er kniete auf dem Boden. Er blutete aus der Nase, aber er spürte, wie die Wunde bereits wieder heilte. Neben ihm hielten sie den schwarzhaarigen Mann ebenfalls fest. Er fauchte gerade ein paar Worte, woraufhin sich einer der Angreifer zu ihm herunterbeugte, etwas sagte und ihm einen Dolch über die Kehle zog. Der Mann riss die Augen auf, gab ein gurgelndes Geräusch von sich und kippte vornüber. Er schrie auf, warf sich wiederholt gegen die Hände, die ihn hielten, aber die Leute lachten nur. Einer griff an seinen Hals und riss ihm schmerzhaft eine Kette ab, an der ein matter, alter Schlüssel hing. Dann landete ein Fuß in seinem Gesicht, ein abfälliger Kommentar und wieder war jemand mit einem Messer viel zu dicht an ihm dran. Blut, sengender Schmerz und das Gefühl, Wasser in den Lungen zu haben. Er versuchte zu atmen, aber es tat weh. Sie lachten, ließen ihn los und seine Hand wanderte an seinen Hals. Er erstarrte, als er den Schnitt fühlte. Sein Hals war beinahe abgetrennt worden, nur wenig hielt ihn noch zusammen. Er konnte nicht atmen, Feuer brannte in seinen Lungen, mischte sich mit dem schweren, erdrückenden Gefühl des Wassers. Er konnte sich nicht mehr halten, kippte ebenfalls nach vorn, schlug unsanft auf dem Boden auf, die Hände beide um den Hals gekrallt im schwachen Versuch ihn zusammenzuhalten. Das Lachen verschwamm mit einem Rauschen in seinen Ohren und sein Blick traf den des schwarzhaarigen Mannes, der offenbar noch am Leben war. Noch. In dem Blick lag Schmerz, Wut, Machtlosigkeit. Er wusste, dass es vorbei war, sie hatten keine Chance, nur noch Sekunden, um … Der Glanz in seinen Augen flackerte, verblasste mit jeder kleinsten Sekunde mehr. Er versuchte eine Hand auszustrecken, den Mund zu öffnen, etwas zu sagen, aber es kam nur ein Schwall Blut, der ihn Husten und Röcheln ließ, was ohne Hals einfach nicht ging. Ihm wurde schwarz vor Augen.   Eren stieß langsam die Luft aus, die er unbewusst angehalten hatte und fand sich auf den Knien in der verfallenen Hütte wieder. Seine Hand wanderte automatisch zu seinem Hals und tastete ihn ab. Alles an seinem Platz. Keine Wunde. Keine Narbe. Kein Schnitt. Kein Blut. Langsam versuchte er seinen wilden Herzschlag wieder zu beruhigen. Tränen liefen ihm aus den Augen. Tränen voller Schmerz und Hass. Die beiden waren hier gestorben und mit einem Schrecken wurde ihm klar, dass die dunklen Flecken Blut waren. Eren wagte nicht sich zu fragen, ob er Knochen finden würde, wenn er hier grub oder suchte. Er atmete noch immer stockend, gehetzt. Sie hatten verloren. Er wusste nicht, wer sie gewesen waren, wie lange das Ganze her war oder ob es überhaupt echt war, aber … er glaubte es. Er glaubte sie wieder zu sehen, glaubte den kalten Stahl in seinem Hals zu spüren und …! „Eren!“ Eren zuckte hoch, drehte sich um, bereit anzugreifen, sich zu wehren oder davonzulaufen – und hielt inne. Sein bester Freund stand in der zerbrochenen Eingangstür und sah ihn besorgt an. Wie viel Zeit war vergangen, seit er hierher gekommen war? Wie lange hatten sie auf ihn gewartet und dann gesucht? Mit einem Mal fühlte er sich dämlich. Das hier war nur eine alte Hütte, das waren keine Erinnerungen gewesen, er war kein Hellseher. Er konnte nicht wissen, was hier einmal geschehen war. Mit seinem Kumpel in der Tür wirkte diese Hütte und seine Fantasien mit einem Schlag so lächerlich. Seine Mutter warf ihm oft genug vor, dass er zu sehr in seiner Traumwelt leben würde. Vielleicht hatte sie wirklich recht, vielleicht hatte er nur eine zu blühende Fantasie. Eren strich sich die Tränen und den Schweiß aus dem Gesicht, stand auf und atmete tief durch. Die Hütte sah noch immer verlassen aus, sie wirkte traurig und einsam mit den paar Überresten, die zeigten, dass hier einmal jemand gewohnt hatte. Aber das war auch alles. Da war keine Flucht, kein Versteck, keine Riesen oder Morde. Es war nur eine Hütte. Und es war ein zu schöner Tag, um sich Gedanken um einen Mord zu machen. Er entschuldigte sich, nickte seinem Kumpel zu und folgte ihm nach draußen, zurück auf den Waldweg ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen. Kapitel 2: Danach ----------------- Heißer Atem schlug ihm direkt ins Gesicht und brachte den fauligen Gestank verwesenden Fleisches mit sich. Unangenehm warmer, klebriger Speichel tropfte auf seinen Kopf herab, lief zähflüssig über seinen Nacken und ließ ihn schaudern. Der Boden unter ihm war von einem nassen Film bedeckt und nachgiebig genug, dass er leicht darin einsank, sein Blickfeld war eingerahmt von Zähnen größer als seine Hände. Er befand sich in einem gigantischen Mund. Die schlagartige Erkenntnis kam zusammen mit der einsetzenden Panik. Fluchtinstinkte meldeten sich – er musste hier raus, sofort, ehe sich der letzte Spalt durch den er noch nach draußen sehen konnte …! Der Boden bebte, als die Kiefer sich aufeinander zu bewegten. Sein Platz wurde rapide kleiner und der Boden – die Zunge! – hob sich langsam immer weiter in dem Versuch ihn weiter in Richtung des Rachens zu drücken. Er hörte Schreie, Stimmen, die nach ihm riefen, glaubte für einen kurzen Moment einen Schopf blonder Haare zu sehen. Er musste hier verdammt nochmal weg! In einem schwachen Versuch irgendetwas zu tun, streckte er die Hand in Richtung der Stimme aus, stemmte sich mit aller Kraft gegen die immer näher kommenden Wände. Doch es brachte nichts, er war sich nicht einmal sicher, ob der Riese seinen Widerstand überhaupt spürte – und mit einem harten Ruck schlossen sich die Zahnreihen. Der Schock seiner mit einem mal fehlenden Hand blieb aus, ebenso, wie der eigentlich zu erwartende Schmerz, beides vollkommen verdrängt von der Panik zu fallen, dem Wissen gerade verschluckt worden zu sein …   Und mit einem Ruck schreckte Eren schwer atmend und keuchend in seinem Bett hoch. Es dauerte zwei, drei Sekunden, ehe er verstand, wo er war und was gerade geschehen war. Er blieb erstmal sitzen, strich sich langsam die schweißnassen Haare aus dem Gesicht und wartete darauf, dass sein Herzschlag sich wieder beruhigte. Ein Albtraum. Es war nur ein Albtraum gewesen. Auch wenn es einer von dieser Sorte war und sich viel zu real und mehr wie eine Erinnerung als ein Traum anfühlte. Zu echt, zu nah, zu …! Eren zwang sich den Gedanken nicht zu Ende zu führten, schlug die Decke ruckartig zurück und stand auf, um ins Bad zu gehen und sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu werfen. Das war jetzt das fünfte Mal in zwei Wochen. Es wurde immer schlimmer. Leise, um seine Familie nicht zu wecken, schloss er die Tür hinter sich und ließ das Wasser einen Moment über seine Hand laufen, bis es sich kühl genug anfühlte. Seit ihrem Ausflug vor etwa einem Monat und den seltsamen, grauenhaften … Visionen, nein Fantasiegespinsten und Einbildungen ließ es ihn nicht mehr los. Immer wieder ertappte er sich dabei sich zu fragen, wer diese Menschen gewesen waren, wovor sie flohen, was dort geschehen war. Irgendwie konnte er nie glaube, dass sie nur seiner Fantasie entsprungen waren. Er war irgendwie sicher, dass es sie wirklich gab. Oder eher gegeben hatte. Er hatte nicht einmal verhindern können seinen Geschichtslehrer zu fragen und das Internet zu durchsuchen – vollkommen erfolglos. Er hatte mit seinem besten Freund versucht darüber zu sprechen, aber war nur auf fragende Blicke und Verwirrung gestoßen. Eren hatte daraufhin versucht das Ganze herunterzuspielen, was ihm aber recht offensichtlich von niemandem abgenommen wurde. Und dann kamen die Albträume. Grausige Geschichten, nein, winzige, kurze Geschichtsblitze, Momentaufnahmen. Herausgerissen, zusammenhanglos, unverständlich, bedenklich. Gefüllt mit menschenfressenden Riesen und einer gigantischen Mauer. Und Menschen, die wie Insekten zerquetscht wurden. Eren hatte das Gefühl langsam aber sicher verrückt zu werden. „Eren?“ Er zuckte hart zusammen, wich automatisch zurück und zog die Hand schmerzhaft über den noch immer laufenden Wasserhahn. Seine Augen huschten umher und landeten schließlich auf dem besorgten Gesicht seiner Mutter, die in der Badezimmertür stand. Er atmete langsam und gezwungen ruhig aus. „Schon wieder ein Albtraum, Schatz?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, trat sie hinter ihn und legte die Arme um ihn. Auch wenn es ihn normalerweise eher nervte, in dem Moment genoss Eren das Gefühl von Wärme und Sicherheit einfach und nickte schwach. „Ich mache mir langsam etwas Sorgen …“, flüsterte sie sacht und Eren wusste nicht, was er dazu sagen sollte, denn eigentlich hatte sie Recht. Er machte sich auch langsam Sorgen …   „Hallo, bitte setz dich, ist es okay, wenn ich „du“ sage?“ Eren nickte und ließ sich langsam auf der überraschend harten Couch nieder. Was immer er erwartet hatte, es war nicht so ganz das, was er vorfand. Das Zimmer war recht schlicht gehalten und nur mit einem Schreibtisch links hinten von der Tür aus und zwei Couchen auf der rechten Seite bestückt. Dafür war die linke Wand eine komplette Fensterfront, die aus dem dritten Stock einen schönen Blick den Berg hinunter auf die Stadt bot. An den Wänden hingen ein paar Bilder, die aber keineswegs Rorschachmuster oder ähnliches zeigten, sondern simple, aber sehr schöne, große Landschaftsfotografien. Eren mochte sie. „Also, Eren, bist du freiwillig hier oder hat dich deine Mutter geschickt?“ Eren stutzte kurz und wand den Blick wieder dem Mann ihm gegenüber zu, der nun doch etwas klischeehaft mit einem Klemmbrett und einem Kugelschreiber in der Hand ihm gegenüber saß und ihn ruhig ansah. Dr. Felder war ein unauffälliger Mensch, den Eren nie für einen Psycho-Therapeuten gehalten hatte, wäre er ihm zufällig auf der Straße begegnet. Mittelgroß, vielleicht minimal kleiner als der Durchschnitt, mit kurzen braunen Haaren, die bereits deutliche Geheimratsecken zeigten, obwohl er geschätzt höchstens Anfang vierzig sein konnte, und einem akkurat gestutzten Schnauzbart. Er hatte, kleine, schmale Augen hinter einer Lesebrille, doch Eren konnte die Farbe nicht herausfinden, irgendwie schaffte er es nicht den Blickkontakt zu halten. Aber braun würde gut passen, bestimmt waren sie auch braun. „Beides“, antwortete er nach einem Moment schulterzuckend, was ihm ein winziges Lächeln seines Gegenübers einbrachte. „Sie hat es vorgeschlagen, aber ich bin nicht gezwungen hier, wenn Sie das meinen.“ Es war vermutlich dem Schrecken der Nacht zu verdanken gewesen, dass er zugestimmt hatte und bisher war er auch nicht sicher, ob er das wirklich für eine gute Idee hielt, aber immerhin konnte er jetzt mal jemanden davon erzählen, der auch zuhörte – und ihn hoffentlich nur bedingt für verrückt erklärte. Denn seine Mutter hatte schon recht, so weitergehen konnte es definitiv nicht. „Verstehe“, Dr. Felder legte das Klemmbrett zur Seite und lehnte sich ein wenig zurück, „Laut der Patientenakte bist du hier, weil du seit einem Monat zunehmend schlimmer werdende Albträume hast“, er machte eine kurze Pause, musterte Eren, verzog aber keine Miene, „Das allein muss nicht gleich ein Anzeichen für irgendetwas sein, aber ich kann dazu wenig sagen, ehe wir ein bisschen gesprochen haben. Ich weiß aber, dass diese Art persönlicher Gespräche schnell unangenehm wird und ich ein Fremder bin.“ Er richtete sich wieder auf und beugte sich minimal zu Eren herüber. „Ich denke, wir veranschlagen erstmal fünf Sitzungen, um zu sehen, was los ist. Wenn du dich wohl genug dabei fühlst, werde ich gerne allem zuhören, was du zu sagen hast. Wenn nicht, werde ich dich nicht zum Reden zwingen und kann dir auch erstmal etwas über mich erzählen.“ Das lief gerade überhaupt nicht, wie Eren sich das ganze vorgestellt hatte, aber er verdrängte die Bilder von seltsamen Psychotests und Fangfragen schnell aus seinem Kopf und versuchte so etwas wie ein entschuldigendes Lächeln zustande zu bringen. „Solange Sie mich nicht für verrückt erklären, würde ich es lieber gleich loswerden.“ Das nun ließ die Mundwinkel des Doktors wieder zucken. „Sicher nicht wegen ein paar Albträume, keine Sorge. Außerdem sind wir ohnehin alle verrückt, ich warte nur darauf, dass die Menschheit es endlich selbst merkt.“   Am Ende schilderte Eren schon beim ersten Besuch nicht nur seine Träume, sondern sogar das seltsame Erlebnis im Wald. Das hatte er eigentlich noch gar nicht vorgehabt, aber irgendwie tat es verdammt gut darüber zu reden und Dr. Felder war wirklich ein guter Zuhörer. Er runzelte nicht die Stirn und verzog keine Miene. Eren merkte schnell, dass der Doktor ein ruhiger Mensch war, der generell einfach wenig Regung zeigte, aber er stellte dann und wann eine Frage, die ausreichte, um Eren das Gefühl zu geben, ernst genommen zu werden. Außerdem beruhigte er ihn am Ende der ersten Sitzung, dass solche Dinge vorkommen konnten, dass es nicht zwangsweise bedeutete, dass mit Eren etwas nicht in Ordnung war und dass er sich vielleicht nur über etwas Gedanken machte. Als Eren nach einer Stunde die Praxis wieder verließ, konnte er tatsächlich ein wenig ausatmen. Auch wenn ihm noch immer ein wenig davor bangte, zu welchem Ergebnis der Doktor am Ende kommen würde.   „Guten Morgen, Eren, wie geht es dir heute? Hast du etwas besser geschlafen?“ Eren schüttelte mit einem Lächeln die angebotene Hand und nickte, ehe er sich auf die Couch sinken ließ. „Tatsächlich schon, ja.“, antwortete er ehrlich, „Nur ein Albtraum vorgestern, sonst war es ruhig.“ Dr. Felder nickte und machte sich eine kleine Notiz, ehe er das Klemmbrett wieder sinken ließ und Eren fast schon zufrieden ansah. Heute sollte die Entscheidung fallen, ob Eren eine längere Behandlung brauchte oder erstmal „freigesprochen“ wurde, entsprechend war er ein klein wenig nervös und ungeduldig, doch Dr. Felder schien die Ruhe selbst. „Ein bekannter oder ein neuer?“ Eren wiegte den Kopf hin und her. „Ein bekannter. Aber das Ende war neu. Ich bin diesmal im Magen des Riesen gelandet und dann … dann war wie ein Blackout und das nächste, was ich weiß, war, dass ich irgendwo auf einem freien Platz stehe und mir jemand um den Hals fällt. Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich nicht vorher schon hochgeschreckt bin.“ Dr. Felder blickte überrascht über seine Brille auf, ehe er den Kopf hob und sie ganz abnahm, um sie mit einem Tuch abzuwischen, das auf dem Tisch bereitlag. Eine Angewohnheit von ihm, wenn er nachdachte, wie Eren schnell festgestellt hatte. „Das ist gut“, erklärte er schließlich wieder mit dieser winzigen Andeutung eines Lächelns, „Wir konnten zwar nicht ergründen, was genau diese Sorgen hervorgerufen hat, aber offenbar bist du dabei sie zu überwinden – du findest andere Enden für den Schrecken. Und eine Umarmung ist immer gut.“ Eren nickte langsam. Es wäre ihm lieber, wenn die Träume komplett enden würden, aber Dr. Felder hatte recht, es war auf jeden Fall ein Anfang. Allerdings … „Heißt das, ich soll weiterhin kommen?“ Die Frage kam scheinbar unerwartet (konnte sie wirklich derart unerwartet sein?), denn Dr. Felder stutzte, ehe er kurz leise lachte. „Nein, Eren, das musst du nicht. Es sei denn, du fühlst dich damit besser und willst das. Ich sehe keinen Handlungsbedarf bei einem Problem, das offensichtlich gerade dabei ist, sich selbst zu lösen.“ Und Eren atmete aus und merkte erst jetzt, dass er die Luft angehalten hatte. Das amüsierte sein Gegenüber scheinbar. „Ist es so schlimm hierher zu kommen?“ „Nein, nein!“, wehrte Eren schnell ab, als ihm klar wurde, wie das ganze wohl aufgefasst werden konnte, „Es ist nur … naja …“ Doch Dr. Felder unterbrach ihn mit einer gehobenen Hand. „Niemand möchte gerne hören, dass er eine Psycho - Therapie nötig hat, ich weiß“, kommentierte er ruhig, „Auch wenn es manchmal hilft. Und ich muss zugeben, du warst seit einer ganzen Weile der fantasievollste Patient, der zu mir gekommen ist. Fast schade, dass du nie das ganze Bild sehen kannst, was?“ Auf einmal war der Blick des Arztes anders. Intensiv wie immer und keineswegs bösartig oder hinterlistig, sondern eher fast wirklich interessiert und beinahe bedauernd. Das überraschte Eren nun doch, er fand diese Schreckensversionen interessant? Wobei, es stimmte. Manchmal wäre das ganze Bild und nicht diese Momentaufnahmen … aber was dachte er da eigentlich? Dr. Felder unterbrach Erens Grübeleien wieder. „Oh, scheint, als hätte ich dich ein wenig überfordert. Tut mir leid, Eren, das war nicht meine Absicht.“     Als er ging, drehte Eren sich in der Tür noch einmal um und winkte ihm mit einem Lächeln, ehe er gut gelaunt verschwand. Dr. Felder war sicher, dass der Junge bald vergessen würde, was gewesen war. Vergessen, wie es eigentlich sein sollte. Eren hatte diesmal ein ruhiges, schönes Leben verdient. Ganz offensichtlich hatte er die liebevolle Familie, die sich um ihn sorgte, die er im letzten Leben so grausam verloren hatte. Er sollte glücklich sein und sich nicht mit Gespenstern aus der Vergangenheit herumschlagen müssen. Es war Dr. Felder nicht ganz leicht gefallen, nichts darauf zu erwidern, als Eren so offensichtlich viel zu klare Bilder von damals geschildert hatte. Sogar Bilder, von denen er seinerzeit nichts gewusst hatte. Etwa aus dem Mageninneren des Titanen oder das kalte Gefühl, als er vom Tod seiner Freunde erfuhr. Solche Dinge erzählte man seinem Vorgesetzten nun mal nicht, wenn sie nicht wichtig waren. Es war ohnehin schon ein unglaublicher Zufall gewesen, dass Eren gerade in seine Praxis kam, dass er sich überhaupt an irgendetwas erinnern konnte. Und zum Glück offensichtlich nicht genug, dass er ihn erkannt hätte. Es war auch besser so. So gerne er mit Eren über die Geschehnisse von damals gesprochen und sie ihm erklärt hätte, es war besser, je weniger er wusste. Und das war auch der Grund, aus dem er ihm eingeredet hatte, dass es nur seine außer Kontrolle geratene Fantasie war, die ihm da etwas vorspielte. Als er ihm zum Abschied die Hand geschüttelt hatte, hatte er gesagt, dass er sich gerne jederzeit wieder melden könne, wenn er wieder Träume hatte und Eren hatte versprochen das zu tun. Aber dies hier war nicht der aufbrausende Teenager, den er gekannt hatte, auch wenn er ihm ähnlich genug war. Ob er sich melden würde? Vermutlich, sollte er wieder träumen. So gesehen war es wohl besser, wenn er es nicht tat. Mit einem fast schon bedauernden Lächeln klappte Levi die Patientenakte zu und verstaute sie in seinem Schreibtisch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)