Mallory von Sky- ================================================================================ Kapitel 16: Lauras Erwachen --------------------------- Wie lange sie bewusstlos gewesen war, konnte Laura nicht sagen. Waren es ein paar Minuten, oder vielleicht sogar Stunden? Jedenfalls spürte sie sofort, dass sie nicht im Garten, sondern in einem Bett lag. Und von irgendwo her hörte sie, wie jemand auf einem Klavier eine wunderschöne und zugleich beruhigende Melodie spielte. Langsam öffnete sie die Augen und bemerkte, dass die Sonne bereits aufgegangen war. Laura blinzelte und drehte den Kopf zur Seite um zu sehen, wo sie eigentlich war. Sie befand sich in einem großen Zimmer, das mit zwei großen Bücherregalen und antiken Möbeln ausgestattet war. An einem Tisch nahe dem Erkerfenster saß Josephine und war gerade dabei, getrocknete Kräuter und Blüten mit einem Mörser zu einem Pulver zu zerstoßen. Nicht weit daneben befand sich ein Reagenzglas, das an einem Drahtgestell über einem Bunsenbrenner hing und in welchem eine klare Flüssigkeit kochte. In dieser schwammen einige Blüten und Kräuter. Josephine gab schließlich da zerstoßene Pulver ins Reagenzglas, woraufhin sich die Flüssigkeit eine orangerötliche Farbe annahm. Sie verrührte alles und goss das Gemisch vorsichtig durch ein Sieb in eine Tasse. Es duftete angenehm und schließlich kam Josephine mit der Tasse in der Hand zu Laura und reichte sie ihr. „Hier, das wird dir helfen, wieder zu Kräften zu kommen.“ „Was ist das?“ „Ein kleines Hausmittel. Keine Sorge, es ist nicht vergiftet.“ Nach einigem Zögern trank sie das Gebräu und musste feststellen, dass es wirklich fast wie Tee schmeckte, nur viel würziger, da auch einige Kräuter beigemischt waren. Auch glaubte sie, dass da Ingwer drin war. Und tatsächlich spürte sie schon bald die belebende Wirkung. Eine Zeit lang herrschte Stille und Laura plagte das schlechte Gewissen und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte Josephine und Anna ziemlich schlimme Dinge an den Kopf geworfen und dabei die ganze Zeit nicht gemerkt, dass die beiden sie bloß beschützen wollten. Und obwohl sie die beiden bedroht hatte, halfen sie ihr. Schließlich aber fasste sie sich ein Herz und ergriff das Wort. „Josephine, es tut mir Leid, was ich gesagt habe. Die ganze Zeit habe ich gedacht, ihr treibt ein falsches Spiel mit mir und hättet meine Schwester umgebracht. Dabei war ich es gewesen, die sie getötet hat. Ich habe Mallory umgebracht und ihr habt nur versucht, mich zu beschützen.“ Josephine ließ sich auf einem kleinen Hocker nieder und faltete die Hände wie zum Gebet. „Schon gut, wir haben uns auch nicht ganz korrekt dir gegenüber verhalten. Eigentlich hätten wir dir von vornherein die Wahrheit sagen sollen, dann wäre einiges möglicherweise anders gelaufen. Aber wir dachten, dass es vielleicht besser wäre, wenn du dich nicht erinnerst. Es war uns egal, ob du uns hasst, aber wir wollten dir diesen Kummer und diese Schuldgefühle ersparen. Das, was damals passierte, war ein tragischer Unfall und du konntest nichts dafür.“ Nun, da sich Laura an das Meiste von früher wieder erinnern konnte, wusste sie auch, was mit ihrer Schwester passiert war. Sie waren wie so oft alleine zuhause gewesen, weil ihre Eltern sich kaum für sie interessierten. Beim Spielen hatte Laura den geladenen Revolver ihres Vaters auf der Kommode gefunden und ihn fälschlicherweise für eine Spielzeugpistole gehalten. Sie hatte damit gespielt und dann war Mallory dazugekommen. Diese hatte gewusst, dass der Revolver echt und zudem geladen war, weshalb sie Laura diesen wegnehmen wollte, damit sie keinen Unsinn damit anstellte, oder sich selbst dabei verletzte. Aber Laura hatte das Verhalten ihrer Schwester völlig falsch interpretiert und gedacht, sie wollte ihr lediglich ein Spielzeug wegnehmen, weil sie es selbst haben wollte. Dabei kam es zu einem Gerangel und Laura wollte ihr bloß einen Schrecken einjagen, weil sie dachte, dieses vermeintliche Spielzeug würde bloß Knallgeräusche von sich geben. Also hatte sie den Abzug gedrückt in dem Glauben, ihre große Schwester mit dem Knall erschrecken zu können, damit sie sie in Ruhe ließ. Aber stattdessen traf die Kugel sie direkt in den Kopf und Laura selbst wurde durch den Rückstoß nach hinten geschleudert. Zuerst hatte sie nicht verstanden, was das gewesen war und dachte sich erst mal noch nichts dabei. Aber als sie sie auf dem Boden liegen sah und wie sich überall Blut ausbreitete, begann Laura zu begreifen, dass sie etwas Furchtbares getan haben musste. Sie hatte verzweifelt versucht, ein Lebenszeichen von Mallory zu bekommen, wobei auch das ganze Blut an ihre Kleidung gekommen war. Und als sie dann merkte, dass sie kein Lebenszeichen von sich gab, war Laura völlig traumatisiert zum Herrenhaus gegangen, um Josephine und Anna um Hilfe zu bitten, weil sie hoffte, dass die beiden vielleicht einen Weg wussten, um Mallory zu retten. Aber dann war es zu einem weiteren Zwischenfall gekommen. Die Bewohner von Dark Creek hatten sich verschworen, weil sie die beiden Schwestern loswerden wollten. Als Anna nach draußen ging, um Kräuter aus dem Garten zu holen, fielen sie über das Mädchen her und schlugen mit Knüppeln auf sie ein, bis sie sich nicht mehr regte. Doch als wäre dies nicht genug gewesen, hatten sie das Haus angezündet, um auch die anderen Hausbewohner zu töten. Laura war zu dem Zeitpunkt ebenfalls drin gewesen, als es zu brennen begonnen hatte. Es gelang ihr dank Josephines Butler, unbeschadet das Haus zu verlassen, aber die Meute erwartete sie bereits und trachtete ihnen allen nach dem Leben. Als Josephine sah, dass sie Anna erschlagen hatten, war das einfach zu viel für sie und das war für sie der Punkt, an dem sie kein Mitleid mehr hatte und auch keine Rücksicht mehr nahm. In ihrer Wut tötete sie wirklich jeden, der ihr unter die Augen kam und in dem Chaos war Laura verschwunden, irrte ziellos durch die Stadt und wurde Zeugin dieses Massakers. Zwar erinnerte sie sich noch nicht an jedes Detail, aber das genügte ihr auch schon. Das Schlimmste aber war, dass sie ihre eigene Schwester erschossen hatte, obwohl diese sie noch gewarnt und versucht hatte, ihr den Revolver wegzunehmen. Mallory hatte sie beschützen wollen und sie hatte ihre große Schwester einfach umgebracht. „Diese Frau, die mich angegriffen und verletzt hat… das war doch Mallory, oder?“ „Ja. In diesem Vergnügungspark sind alle Erinnerungen gesammelt, die mit dem schrecklichen Trauma in Verbindung stehen, oder aber welche mit ihrem Ableben in Verbindung gebracht werden können. Damit konnten wir gewährleisten, dass sich die anderen nicht an ihren Tod erinnern und ein glückliches Leben führen konnten. Und auch Dinge aus deiner Vergangenheit waren dort, so auch verborgene Hinweise auf deine Schwester und deine wahre Identität. Dieser Ort ist mit einer Macht erfüllt, über die wir keine Macht haben. Er reagiert auf die verdrängten Traumata seiner Besucher und erweckt ihre schlimmsten Ängste zum Leben.“ „Dann habt ihr diese Frau, die Statuen und Finnys Vater gar nicht auf uns gehetzt.“ „Nein, wir wollten dich fernhalten, weil wir ahnten, dass so etwas passieren könnte. Der Vergnügungspark ist dazu da, die Erinnerungen der Bewohner von Dark Creek so lange unter Verschluss zu halten, bis sie bereit sind zu gehen. Aber du warst anders, weil du nicht gestorben bist. Und weil du dir die Schuld für Mallorys Tod gibst, wurde deine größte Angst immer gefährlicher. Dein innerstes Bedürfnis nach Bestrafung für den Mord an deiner Schwester führte dazu, dass die Gesichtslose dir nach dem Leben trachtete. Und solange du dich nicht erinnern und dir selbst verzeihen konntest, würde sie auch nicht verschwinden. Wir ließen dir daraufhin die Wahl, entweder zu gehen, oder dich dem dunklen Kapitel deiner Vergangenheit zu stellen. Also haben wir uns im Hintergrund gehalten und dafür gesorgt, dass dir nichts Ernsthaftes zustößt.“ Also waren die Zwillinge tatsächlich nicht verantwortlich dafür, dass diese Kreaturen sie angegriffen hatten und sie hatten Finnians Vater gar nicht auf ihn gehetzt. Sie hatten lediglich dafür gesorgt, dass ihrer alten Freundin nichts zustieß und waren immer dazwischen gegangen, wenn sie von der Gesichtslosen angegriffen und in eine lebensbedrohliche Situation gebracht wurde. Laura kam sich so mies vor, dass sie die Zwillinge die ganze Zeit als eiskalte Monster betrachtet hatte, die nicht den leisesten Funken Menschlichkeit besaßen und die Menschen in Dark Creek bloß als Spielzeug betrachteten. Sie hatte die beiden die ganze Zeit völlig falsch eingeschätzt und missverstanden. „Sag mal Josephine, warum macht ihr das alles für mich? Ich meine, wir haben uns vor 17 Jahren aus den Augen verloren und ich konnte mich an rein gar nichts erinnern, nicht mal an euch.“ „Weil du unsere Freundin bist, genauso wie Mallory. Ihr seid eigentlich unsere ersten richtigen Freunde gewesen. Weißt du, eigentlich habe ich die Menschen nie sonderlich leiden können und war schon immer ein Misanthrop gewesen, aber ihr beide ward anders. Du und deine Schwester habt uns irgendwie an uns selbst erinnert. Nicht nur, weil du und Mallory Zwillinge seid, sondern weil wir uns vom Charakter her so ähnlich waren. Mallory und ich haben jeweils immer auf unsere Schwestern aufgepasst und sie beschützt. Und dank euch haben wir endlich mal erfahren, was es heißt, ein Kind zu sein. Die Zeit mit euch war die schönste, die wir jemals erleben durften. Deshalb haben wir ein Stück weit auf dich aufgepasst, weil die Erinnerung an die gemeinsame Zeit mit euch so wertvoll für uns war und wir diese mit aller Macht schützen wollten. Du hast sicherlich noch viele Fragen, nicht wahr? Wie wäre es, wenn wir uns in den Garten setzen? Anna wartet dort schon auf uns und sie wird sich sicherlich freuen, dich zu sehen.“ Damit stand Josephine auf und reichte Laura die Hand, um ihr zu helfen. Zwar hatte dieser Tee ihre Lebensgeister langsam wieder zurückgeholt, aber sie fühlte sich trotzdem noch ein klein wenig angeschlagen. Ihr Kreislauf machte ihr immer noch einige Probleme, was nach der heftigen Panikattacke eigentlich kaum verwunderlich war. Als sie Josephines Hand nahm, sah sie den Verband an ihrem Arm und erinnerte sich an den Angriff der Gesichtslosen. Dort war sie mit dem Skalpell verletzt worden. „Ich hab deine Verletzung verarztet, während du geschlafen hast. Keine Sorge, es wird keine Narbe zurückbleiben.“ „Ich hab tatsächlich geschlafen?“ „Nach der ganzen Aufregung war das auch wirklich nötig. Als wir dich in diesem Zustand vorgefunden hatten, waren wir ganz schön erschrocken, aber man konnte auch nicht vernünftig mit dir reden. Du warst völlig durcheinander und hysterisch. Nachdem du zusammengebrochen bist, hat Roth dich erst einmal ins Haus gebracht und dann hab ich mich um alles Weitere gekümmert.“ Josephine führte Laura durch den weitläufigen Flur, wo es weitere Antiquitäten zu bestaunen gab. Alte Rüstungen und Gemälde aus der Renaissance, auch mittelalterliche Speere und Schwerter. Das alles kam ihr so merkwürdig vertraut vor und Laura erinnerte sich, dass sie damals mit Mallory durch die Flure gerannt war, während sie Fangen gespielt hatten. Dabei war auch mal eine alte Vase zu Bruch gegangen, die aber kurz darauf heil wieder an ihrem Platz gestanden hatte. Und als sie verwundert danach fragten, hatte Josephine erklärt, dass sie zaubern könnte. „Sag mal Josephine, woher genau hast du diese Kräfte?“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern und erklärte „Wir wurden so geboren. Wahrscheinlich besaßen unsere Eltern sie auch, aber wir haben sie nie kennen gelernt. Unsere Mutter starb bereits kurz nach Annas Geburt und zerfiel genauso wie die Gesichtslose gestern. Obwohl Anna die jüngere von uns beiden ist, besitzt sie ein viel größeres Potential als ich, aber sie kann ihre Kraft nicht unterdrücken. Alles, was sie anfasst, zerfällt und stirbt auf der Stelle. Inzwischen ist sie in der Lage, Tiere, Pflanzen und Gegenstände problemlos anzufassen, aber leider gilt das nicht für Menschen. Deshalb muss ich immer in ihrer Nähe bleiben, damit ich ihre Kraft unterdrücken kann.“ So war das also, dachte Laura und verstand nun Annas heftige Reaktion bei ihren Begegnungen, wenn sie die Kleine anfassen wollte. Anna hatte sie deshalb auf Abstand gehalten, weil Josephine nicht in der Nähe war und Laura somit gestorben wäre, wenn sie die Kleine berührt hätte. „Früher war es wirklich schlimm. Anna konnte rein gar nichts tun, ohne dass alles, was sie anfasste, starb oder kaputt ging. Es war genauso wie in der Legende von Midas, der alles, was er anfasste, in Gold verwandelte. Ich war die Einzige gewesen, die sie anfassen konnte, weil ich mal ein Teil von ihr war. Sie war gezwungen, vollständig isoliert von der Außenwelt aufzuwachsen und niemals einen anderen Menschen nahe zu kommen. Selbst durchs Gras konnte sie nicht laufen, ohne dass es auf der Stelle unter ihren Füßen verdorrte.“ Das musste wirklich ein Fluch für sie sein, dachte Laura und versuchte sich vorzustellen, wie das wohl sein mochte, nichts und niemanden anfassen zu können. Ohne Josephine wäre sie sicherlich früher oder später gestorben. „Kann man nichts dagegen tun?“ „Nein, unsere Kräfte sind ein fester Teil von uns, also müssen wir damit leben. Das Einzige, was wir tun können ist, sie kontrollieren zu lernen. Eine Zeit lang haben wir bei einem Alchemisten gelebt, der uns auf die Idee brachte, es mit Okkultismus und schwarzer Magie zu versuchen. Der Alchemist selbst hatte einen Pakt geschlossen, um sich alles Wissen der Welt anzueignen und er hat mehr Dinge erfahren, als je ein Mensch hätte lernen können. Und da ich Anna ein besseres Leben bieten und sie beschützen wollte, schlug ich denselben Weg ein und begann mich intensiv mit schwarzer Magie und den Lehren der Ars Goetia zu beschäftigen. Dadurch war es mir möglich, mehr über unsere Kräfte zu lernen und sie zu beherrschen. Wir haben eine sehr lange Zeit bei dem Alchemisten gelebt, bis er leider einen Fehler machte, der ihn das Leben gekostet hat.“ „Und was war sein Fehler?“ „Er hat eine Wette verloren. Überhaupt sollte man mit einem Dämon niemals Wetten abschließen, die kann man sowieso nicht gewinnen. Jedenfalls nutzte ich mein Wissen, um nicht nur unsere Kräfte besser zu verstehen, sondern auch mehr über die Dämonen zu lernen und was sie antreibt. Ich war der Ansicht, dass sie einfach missverstanden wurden und man vielleicht vorschnell über sie urteilt. Im Grunde sind sie weder gut noch böse, sie folgen nur ihrer eigenen Natur, die für uns nicht nachzuvollziehen ist.“ Laura blieb stehen, als sie begriff, was Josephine da gerade gesagt hatte. „Du… du hast einen Pakt mit dem Teufel geschlossen?“ „Nicht mit dem Teufel selbst, sondern mit einem Dämon.“ „Dann bist du tatsächlich eine Hexe?“ „Als Hexen wurden damals fast alle Frauen bezeichnet. Ich finde diesen Begriff ziemlich diskriminierend und er ist auch überhaupt nicht zutreffend für das, was ich tue. Streng genommen bin ich eher eine Fachkundige oder Gelehrte für Okkultismus. Mit Dingen, die man mit Satanismus in Verbindung bringen würde, hab ich eigentlich nicht sonderlich viel zu tun. Mit Blutorgien und Menschenopferungen hab ich nichts am Hut.“ „Und dieser Dämon… ist er hier?“ „Beide sind hier. Amducias ist mein Vertragspartner, Freund und Lehrmeister. Roth habe ich in der Vergangenheit geholfen, weshalb er auf meinen Wunsch hin als Butler in meine Dienste getreten ist. Er kümmert sich in meiner Abwesenheit um Anna, wenn Amducias mich begleitet. Aber keine Sorge, die beiden werden dir nichts tun. Sie mögen zwar sehr mächtig und auch gefährlich sein, aber sie würden niemals meine Freunde angreifen.“ Trotzdem war sich Laura nicht sicher, wie sie diese neuen Erkenntnisse einordnen sollte. Josephine beherrschte schwarze Magie und beherbergte Dämonen in ihrem Haus, mit denen sicherlich nicht zu spaßen war, wenn sie Ernst machten. In der Vergangenheit hatte sie genug Horrorfilme gesehen um zu wissen, dass man sich mit solchen Kreaturen lieber nicht anlegen sollte. Sie erreichten schließlich die Eingangshalle und Laura hörte, wie das Klavierspiel verstummte. Dafür setzte Streichmusik ein, als würde irgendwo im Verborgenen ein Orchester spielen. Josephine führte sie nach draußen und sogleich spürte Laura die angenehmen warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sogleich merkte sie, wie ihre Energie wieder zurückkehrte und sich ihr Kreislauf stabilisierte. Als hätten die Sonnenstrahlen eine belebende Wirkung auf sie. Oder vielleicht war es auch dieser Tee, den sie getrunken hatte. Der Weg führte sie zu einem etwas abgelegenen Teil des Grundstücks, der nicht weit neben dem durch Hecken abgegrenzten Garten lag, wo sich das Grab von Mallory befand. Es war ein seltsames Gefühl für Laura, dort vorbeizugehen und zu wissen, was dahinter lag. Und wieder überkamen sie schwere Schuldgefühle, als sie sich erinnerte, warum Mallory dort begraben lag. Erneut tauchte die Szene vor ihren Augen auf, als sie mit dem Revolver auf ihre Schwester geschossen und sie somit getötet hatte. Aber dieses Mal hatte sie seltsamerweise keine Panikattacke, als sie sich an das viele Blut erinnerte. Vielleicht, weil ein Teil von ihr die Wahrheit akzeptiert hatte oder weil es auf Josephines Tee zurückzuführen war. Aus dem kleinen Durchgang kam schließlich Anna, die in ihrer Begleitung den Butler hatte. Ihre Augen ruhten auf Laura, es waren keine Emotionen erkennbar, auch ihr Gesicht war starr und zeigte keinerlei Regungen. Dieses Mädchen war wirklich rätselhaft und schwer zu durchschauen. Vor 17 Jahren jedoch war sie nicht so verschlossen und introvertiert gewesen, weil sie damals glücklich gewesen war. Und sicherlich war sie jetzt unsicher, wie sie auf Laura reagieren sollte. Sie blieb stehen und starrte sie schweigend an. Laura blieb ebenfalls stehen, als sich ihre Blicke trafen. „Anna, ich… ich wollte mich entschuldigen für das, was ich gesagt habe. Und ich möchte mich auch bedanken, dass ihr mich beschützt habt.“ Zögernd ging Anna auf sie zu, blieb schließlich vor ihrer alten Freundin stehen und schien noch mit sich selbst zu hadern. Aber dann legte sie ihre Arme um Lauras Taille und umarmte sie. „Schön, dass du wieder da bist“, sagte sie ein wenig tonlos, aber dennoch spürte Laura, dass Anna mit den Emotionen rang. Innerlich war sie ebenso von ihren Gefühlen überwältigt und war wahnsinnig froh, dass ihre alte Freundin endlich wieder zurück war. Laura legte einen Arm um das kleine Mädchen und wandte sich Josephine zu, nahm ihre Hand und schloss sie ebenfalls in die Arme. Es war schon seltsam, die beiden als Erwachsene zu umarmen. Beim letzten Mal war sie noch klein gewesen und da waren Anna und Josephine größer gewesen als sie. Und nun fühlte es sich so an, als würde sie ihre kleinen Cousinen umarmen, die sie nach längerer Zeit wieder sah. Hinzu kam noch die Ironie, dass die beiden zwar äußerlich kleine Mädchen waren, aber in Wirklichkeit waren sie viel älter, als ein Mensch jemals werden konnte. Aber zugleich löste es in ihr auch ein Gefühl von Vertrautheit aus und in diesem Moment fühlte sie sich wieder wie ein Kind. 17 Jahre waren vergangen und Laura hatte alles vergessen, sogar wer sie selbst eigentlich war. Und sie hatte auch die beiden Mädchen vergessen, die sie immer beschützt und ihr mehrmals das Leben gerettet hatten. All die Jahre wurde sie beschützt. Zuerst von ihrer Schwester, dann von ihrer Pflegefamilie, von Lewis und den anderen und schließlich von Anna und Josephine. So viele Menschen hatten sie die ganze Zeit beschützt und deshalb war sie am Leben. Gemeinsam mit den beiden Schwestern ging sie durch den kleinen Durchgang in der Hecke und sah, dass es nun einen weiteren Gedenkstein gab, in welchem die Namen ihrer verstorbenen Freunde eingraviert waren. Um ihn herum waren weiße Lilien und wunderschöne Zinnien gepflanzt und dahinter ein junger Lindenbaum. Laura wurde von ihren Gefühlen überwältigt, als sie das sah und wischte sich die Tränen weg. „Das habt ihr gemacht?“ „Sie haben sowohl dir als auch mir viel als Freunde bedeutet. Und außerdem wäre Mallorys Grab nicht so schön hergerichtet, wenn Lewis nicht gewesen wäre.“ Laura sah Anna erstaunt an und glaubte zuerst, nicht recht zu hören. „Lewis war hier gewesen?“ „Er kam zwei Male in den Park. Das erste Mal fand er das Haus, wo seine Erinnerungen gesammelt waren und begann sich langsam wieder an sein altes Leben zu erinnern. Er schrieb daraufhin den Abschiedsbrief und bereitete sich auf sein Ende vor, weil er bereits spürte, dass er nicht mehr lange leben würde. Aber es gab noch etwas, das er wissen musste. Nämlich den Grund, warum Dark Creek und der Vergnügungspark existieren und wieso in dieser Stadt Menschen leben, die eigentlich tot sind. Er kam zu uns mit der Bitte, vor seinem Tod wenigstens die Hintergründe zu erfahren. Wir haben ihm diesen letzten Wunsch erfüllt und ihm dann Mallorys Grab gezeigt. Daraufhin legte er einige Lindenblüten auf den Gedenkstein und pflanzte die Chrysanthemen. Er sagte, dass er sich auf diese Weise bedanken wollte für die Zeit, die er hier verbringen durfte.“ „Wie meinte er das?“ „Die Blumensprache. Lewis kannte sich mit Blumen bestens aus und wusste um ihre Bedeutung. Lindenblüten bedeuten Träum schön und denk an mich und Chrysanthemen Mein Herz ist frei. Es war seine Art, Danke zu sagen.“ Einen Gedenkstein mit dem Namen ihrer Freunde zu sehen, erfüllte Laura erneut mit tiefer Traurigkeit und sie musste wieder daran denken, wie sie Finnian und Ilias im Arm gehalten hatte, als sie starben oder wie glücklich Lewis ausgesehen hatte, nachdem er Selbstmord begangen hatte. „Hätte ich das gewusst, dann hätte ich sie niemals dazu gebracht, mit mir zu kommen.“ „Es war ihre eigene Entscheidung und sie sind wenigstens nicht alleine gestorben. Finny, Ilias und Dean hatten eine glückliche Zeit erleben dürfen und Lewis war letzten Endes auch glücklich. Er war der Einzige, der nicht gegen seine schlimmste Angst ankämpfen musste. Sein Herz war letzten Endes frei und das war für ihn das schönste Glück im Augenblick seines Todes. Du hast einen Teil dazu beigetragen, dass sie nicht wieder so würdelos sterben mussten. Und hättest du schon von vornherein gewusst, dass sie eigentlich bereits tot sind, dann hättest du sie nicht als deine Freunde kennen lernen können.“ Ja, da hatte Anna wohl Recht. Wenigstens hatte sie noch die Erinnerungen an diese herzensguten Menschen, die sie richtig ins Herz geschlossen hatte. „Und mit diesen Blumen wollen wir uns auch für die schöne Zeit bedanken, die wir mit ihnen verbringen durften“, erklärte Anna schließlich und kniete sich hin, um die Blumen näher zu betrachten. „Lewis hat mir viel über Blumen beigebracht. Von ihm weiß ich, dass Zinnien symbolisch zum Gedenken für abwesende Freunde sind. Lewis hätte sich sicher gefreut darüber.“ Laura ging zum Gedenkstein ihrer Freunde hin und legte ihre Hand auf die kalte aber glatte Marmoroberfläche. In diesem Moment fühlte sie sich mit einem Male vollkommen einsam. „Sind sie für immer fort?“ „Ja“, sagte Josephine nach einer Weile und auch sie klang ein wenig bedrückt. Vielleicht war es auch ihr schlechtes Gewissen gegenüber Laura. „Zwar könnten wir sie erneut zurückholen, aber es würde kaum Sinn machen. Die Erinnerung an den Tod verbindet sie alle, deshalb würden sie sich nach kürzester Zeit wieder erinnern, wenn sie sich sehen und damit würden wir ihnen auch keinen Gefallen tun. Deswegen ist es das Beste, wenn wir die Toten ruhen lassen.“ Da hatte sie wahrscheinlich Recht. Ja, es würde ein Alptraum für die anderen sein, wenn sie sich wieder an alles erinnerten und dann würde es zu einem furchtbaren Teufelskreis werden. In dem Fall war es wirklich das Beste, wenn sie endlich die ewige Ruhe fanden und in einem anderen Leben glücklich wurden. Dann würde Lewis sich seinen größten Herzenswunsch erfüllen an der Seite des Menschen, den er lieben würde, Ilias würde ohne diese Krankheit zur Welt kommen und Finnian konnte dann endlich in einer liebevollen Familie aufwachsen. Und Dean könnte ein langes Leben führen und unbeschwert aufwachsen. Wenigstens das sollte ihnen vergönnt sein. „Ich würde gerne wissen, wieso sie alle gestorben sind, nachdem sie sich wieder erinnert haben und was es mit diesem Dark Creek oder dem Vergnügungspark auf sich hat. Und außerdem würde mich interessieren, ob Mallory auch zurückgeholt wurde.“ Ein angenehm warmer Sommerwind wehte und rauschte durch die Äste des Lindenbaumes und für einen Moment herrschte Stille. Nur in der Ferne klang immer noch leise die Musik aus dem Haus. Es war eine schöne, aber auch traurige Melodie, als würde sie einzig und allein für die Verstorbenen gespielt werden. Josephine wandte sich um, da sie nun gehen wollte. „Das erklären wir dir in aller Ruhe. Komm, dann werden wir dir alles erzählen.“ Sie verließen die kleine mit Blumen bepflanzte Gedenkstätte ihrer Freunde und gingen zu einem Pavillon, der ebenfalls mit roten Rosen bewachsen war. Wirklich alles hier wirkte wie aus einem Märchen. Während sie Platz nahmen, machte sich der Butler sofort an die Arbeit, um ihnen Snacks und Getränke zu servieren. Wie aus dem Nichts kam plötzlich Amducias zu ihnen und huschte an Laura vorbei, die erst einmal einen Schreck bekam. Dann sprang der Kater auf Josephines Schoß und machte es sich bequem. Das Mädchen mit der Augenbinde begann ihm daraufhin den Hals zu kraulen, woraufhin der Kater ein zufriedenes Schnurren von sich gab. Irgendwie fiel es Laura schwer sich vorzustellen, dass das kein Kater, sondern ein Dämon war. Und ihre alte Freundin war eine Hexe, die schwarze Magie beherrschte und sich bestens in Sachen Okkultismus auskannte. Was bedeutete das eigentlich? Wenn Laura darüber nachdachte, fielen ihr spontan folgende Dinge ein: Toten- und Dämonenbeschwörung und satanische Blutrituale. Insgeheim erschauderte sie bei diesem Gedanken und obwohl Josephine beteuert hatte, dass sie mit Satanismus rein gar nichts am Hut habe und sie sich nicht mit solchen Ritualen befasste, war sie sich nicht sicher, wie sie sich dann diese monströsen Augen erklären sollte. Josephine hatte doch gesagt, dass diese Augen so dämonisch aussahen, weil sie ihre Seele widerspiegelten. Nach einer Weile des Schweigens sagte Josephine schließlich „Ich denke, es ist nun an der Zeit, dir die ganze Geschichte zu erzählen. Warum Dark Creek so geworden ist, wie es jetzt ist und wieso hier Menschen leben, die eigentlich schon lange tot sind.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)