Not all those who wander are lost von Aphelios ================================================================================ Kapitel 4: Mercy in Darkness ---------------------------- Run boy run! This world is not made for you Run boy run! They're trying to catch you Run boy run! Running is a victory Run boy run! Beauty lies behind the hills Run boy run! The sun will be guiding you Run boy run! They're dying to stop you Run boy run! This race is a prophecy Run boy run! Break out from society Run Boy Run – Woodkid ~*~*~*~*~*~*~* 4. Mercy in Darkness Sie brachten ihn Heim. Mal wieder. Am liebsten hätte Leon sich gewehrt, ihnen gesagt, dass sie ihn faktisch zurück in die Hölle schickten, aber das würde nichts ändern. Er hatte es schon öfters getan und vor einem Jahr aufgegeben. Seit-dem war er kaum noch in diesem Haus. Heimat konnte er den Ort nicht nennen, schon allein weil er Tyrion nicht mitnehmen konnte. Seinen kleinen Beagle, der in sicherem Abstand auf dem Gehsteig saß. Er wusste schon, dass er hier her nur mit der Erlaubnis seines Herrchens rein durfte und die hatte er nicht. Hunde waren so einfache Wesen und doch so komplex. Da Leon kein großer Freund der Sprache war, einfach weil sie zu sehr missbraucht wurde und weil ihm eh niemand zuhörte, hatte er gelernt schweigend zuzuhören. Tyrion gehorchte ihm und das allein über Haltung. Ein Fingerzeig und er wäre wie ein verrückter auf die Beamten zu gerannt. Wohl kaum um sie zu verletzten, eher um nach Essen und Spielen zu betteln. Aber auch nur, weil der Hund wusste, dass sie ihm nicht wirklich etwas Böses wollten. Es verhielt sich anders, wenn es wirklich um etwas ging, dann konnte er knurren. Manchmal ertappte er sich dabei wie er seine Pflegefamilie in die Hölle wünschte und das Ty ihm dabei helfen würde, aber so schnell ihn das überkam, so schnell verschwand es auch wieder. Um auf dem Punkt zu kommen, saß er gerade in einem Streifenwagen des Friedensministeriums. Man hatte ihn mal wieder beim Schwänzen ertappt. Viel tun konnten sie nicht, außer ihn nach Hause zu bringen oder in die Schule. Gegen eine Gerichtsverhandlung hätte er gar nichts einzuwenden. Ein paar Tage Jugendarrest. Das hieß für ihn Ruhe und regelmäßiges Essen. Auf der anderen Seite würde er sich um Ty schrecklich sorgen und konnte sich das Ganze nicht leisten. Ein Grund warum er regelmäßig mit den anderen Parkour machte und das schon bevor er Miss McPhee kennen gelernt hatte. Es machte nicht nur Spaß ohne Hindernisse zu laufen, es befreite ihn auch. Täglich trug er die Zwangsjacke seines Lebens, musste eine Maske aufsetzen, lächeln wenn man es ihm befahl und all die Kleinigkeiten. Viele behaupteten gern, dass es nicht schlimm war. Die Schläge waren viel heftiger. Für Leon war es nur eine weitere Lüge. Doch nichts übertraf den Zwang etwas zu tun, dass man nicht wollte und es veränderte einen. Irgendwie. Dieses Monster lauerte in ihm. Der Blonde konnte fühlen, wie es in den letzten Monaten seit Miss McPhees Tod gewachsen war. Seine Krallen waren scharf und kratzten an seinem Verstand. Es verlangte Gerechtigkeit, Genugtuung und das würde er nicht erhalten, in-dem er alles über sich ergehen ließ. Mit Parkour mochte er dem Ganzen entfliehen. Er vergaß es und für die Dauer des Laufes vergaß er seine Sorgen. Das Klicken der Fahrzeugtüre riss ihn aus seinen Gedanken. Instinktiv hielt Leon den Kopf gesenkt und starrte auf die schwarze Uniformhose des Beamten. „Wir sind da.“, waren dessen ruhige Worte und anhand der wenigen Umgebung die er aus den Augenwinkeln sah, wusste er schon, dass sie ihn Heim gebracht hatten. Die dunklen Straßen am Rande von North Obsolete waren kaum zu verwechseln. Nicht einmal mit der staatlichen High School, auf die er ging. Für eine Sekunde zögerte er. Sein Körper verweigerte die Ankunft, ebenso sehr wie sein Verstand. Am liebsten hätte er sich in die Tür gestemmt und gesagt, dass er freiwillig im Auto bleiben würde. Doch je mehr er sich aufführte, desto schlimmer würde die Strafe später werden. Also schluckte er alle Gefühle herunter und stieg einer Maschine gleich aus. Sein Gesicht war blank und verriet keinen seiner Gedanken, nicht einmal Reue, trotz des gesenkten Kopfes. Auch die Uniformierten sprachen nicht mit ihm, sondern führten ihn wie einen entlaufenen Hund zurück zum Haus. Sie klingelten an dem großen Plattenbau und seine Pflegemutter ging einige Minuten später auch hin. Höflich stellten sich die Beamten vor und berichteten, dass sie ihren entlaufenen Pflegesohn gefunden hatten. Das Gespräch verfolgte er nicht mehr, denn die geheuchelten Sorgen konnte er nicht mehr hören. Stattdessen sah er zur Seite, dort standen zwei jüngere Nachbarskinder. Sie grinsten frech, aber nicht um ihn zu spotten, sondern eher: Wir haben die Wette gewonnen, du bist das zweite Mal diesen Monat geschnappt worden. Viel zu oft tauchte hier das Friedensministerium auf, als das es etwas Besonderes wäre. Eine Welle der Übelkeit überkam ihn, als der Beamte seine Hand auf seine Schulter legte. Er wollte nicht angefasst werden! Für einen kurzen Moment flackerte Wut in seinen Augen auf, doch dann wurde er auch schon zur Türe geschoben. Leon zögerte, aber der Druck zwang ihn dazu. Für die Polizisten nichts Ungewöhnliches. Wer wollte denn schon Heim und Ärger kassieren? Jede Stufe war ein Schritt weiter in die Hölle. Da sollte noch einer sagen, sie befand sich tief unter der Erde. Vor der Türe empfing ihn die Schönheit von Pflegemutter. Die Blüte ihrer Jahre hatte sie bereits hinter sich, doch sie war immer noch eine Augenweide. So viele charakterliche Makel sie hatte – ihr Lächeln war bezaubernd. Vielleicht wäre sie eine gute Mutter geworden, aber ihm war egal warum das nicht so war. Sie mimte das besorgte Elternteil und er stammelte ganz ein seiner Rolle eine Entschuldigung und erfand einen Grund. Noch bevor er mit dem letzten Satz fertig war, hatte er die Worte vergessen. Ihm war es egal, als wäre er nicht mehr da. Nach-dem die Beamten gegangen waren, mit der Ermahnung, dass er wieder einen Eintrag in der Jugendakte erhielt und bald eine größere Strafe anstand, verschwanden sie endlich. Kein Grund zum Aufatmen. Der Tag war noch nicht vorbei. „Auf dein Zimmer“, ihre Stimme war so schneidend kalt, eigentlich hätte er erfrieren müssen, doch die Worte prallten ab – offensichtlich. Wortlos, er war nicht aufgefordert worden zu reden und hier galt es, niemanden zu blenden, ging er in sein Zimmer. Ein kleiner spärlicher Raum ohne persönliche Note. Sogar ein Kaufhaus hatte mehr Dekoration und Persönlichkeit als dieser Ort. Die Möbel waren abgenutzt und zeugten davon, dass er nicht das erste Kind war. Weder der Kleiderschrank noch der Schreibtisch hatten viel Inhalt. Das einzig wirklich Interessante war der doppelte Boden im Schreibtisch. Er war gesichert durch zwei Holzstifte, nur falls seine „Mutter“ und sein Vater auf die Idee kamen, sie auszuleeren. Mit einem dünnen Stecken, der zwischen Schrank und Wand klemmte konnte er die Stifte heraus schlagen und den Boden öffnen. Das tat er nur selten, denn er wollte nicht erwischt werden. Darin lagen zwei Bücher, ein Notizbuch, das er selbst geschrieben hatte, und ein E-Book, samt Ladegerät. Das war ein Geschenk von Miss McPhee gewesen. Sie hatte auch den Inhalt darauf bespielt. Vieles davon hatte er schon gelesen. Ein paar Bücher hatte er schon vorher gekannt, vielleicht nicht alle Bände, aber ein Buch war besser als keines. Mit hängenden Schultern ließ er sich auf das Bett fallen, das leise unter seinem Gewicht quietschte. Gewicht war relativ. Hier gab es nicht viel zu essen und wenn, dann war es kaum genießbar. Das meiste war geklaut gewesen oder von Miss McPhee, bevor sie gestorben war. Jeder Gedanke an sie war ein Stich in seinem Herzen. Er verbot sich das Gefühl, doch es hörte nicht auf. Ebenso wenig wie die Sehnsucht nach seiner Schwester. Wie oft war er schon vor dem Haus von ihr gestanden und wollte klingeln? Aber was sollte er sagen? ‚Hey, ich dein verkorkster Bruder, der eine Jugendakte in der Dicke eines Schwerverbrechers hat.‘ Nicht jeder Einbruch war unentdeckt geblieben, aber er war nicht strafmündig gewesen. Keinen Zentimeter bewegte sich Leon bis die Dämmerung einsetzte und er die Haustüre hörte. Wie immer warf Richard seine Tasche auf den Boden, was für ihn klang als wäre ein Gebirgszug herunter gekommen. Leise Stimmen drangen an sein Ohr und im nächsten Moment wurde sein Name gerufen. In Gedanken zuckte er zusammen, aber dieses tiefe ureigene Gefühl sich zu verstecken ließ er nicht an die Oberfläche kommen. Mechanisch stand er auf und ging zu seinem Henker. Der stand wutschnaubend im Wohnzimmer. Er redete etwas von Respekt, davon, dass er froh sein sollte, dass sich jemand um sein erbärmliches Leben kümmerte. Welches Leben? Natürlich stellte er die Frage nicht, sondern blieb mit gesenktem Kopf vor Richard stehen, der sich immer weiter in Rage redete. Vermutlich war sein Gesicht bereits hochrot, aber Leon wagte nicht aufzusehen. Um sich abzulenken spielte er die Noten auf Miss McPhees Klavier – seine ganz eigenen Melodien. Musik entsteht im Herzen, nicht in den Fingern. Die Ohrfeige brachte ihn ins Taumeln. Beinahe wäre er gestürzt. Für einen kurzen Moment hatte er gezischt. Der Schmerz hatte ihn sehr unerwartet getroffen und ihm blieb keine Zeit, um sich zu fangen. Der nächste Faustschlag ging in die Rippen. Aus Reflex schnappte er nach Luft, doch mit der zweiten Faust in seinem Bauch wurde ihm auch die heraus gepresst. Der Sturz auf den Boden war unausweichlich und Leon fing sich gerade noch so mit den Armen ab. Schmerz schoss ihm durch seinen Oberkörper und mischte sich mit den weiteren Tritten, bis sie zu einem Sturm wurden und ihn so tief in eine Ecke in sich selbst trieben, dass er fast schon vergessen hätte, wie sein Name wäre. Gemma. Er dachte an sie. Ihr fröhliches Gesicht, wenn sie förmlich von der Schule nach Hause hüpfte, begleitet von Freunden, echten Freunden, und empfangen von zwei Vätern die sie liebten. Ja, er beobachtete sie schon eine Weile aus der Ferne. Vielleicht würde er irgendwann den Mut haben sich vorzustellen, falls sie überhaupt noch wusste wer er war. So nahe er einer Ohnmacht war, er konnte nicht über die Klippe springen und einfach verschwinden. Stattdessen wartete er, bis es vorbei war, was schon länger der Fall sein musste, aber erst jetzt konnte er sich bewegen. Eine kühle Hand auf seiner Stirn holte ihn zurück. Verwundert öffnete er seine klaren, eisblauen Augen und sah in die dunkelbraunen seiner Pflegemutter. Es war das erste Mal, dass sie sich für ‚danach‘ interessierte. War es denn schlimm gewesen? „Das ist nicht normal.“, merkte sie besorgt an und sah zu ihrem Ehemann. „An dem ist doch nichts normal.“, war die abwertende Antwort. Klar. Warum auch sollte er normal sein? „Er hat gekrampft!“, warf sie ein und stand mit verschränkten Armen auf. Hatte er das? Leon fühlte sich wie verprügelt, was auch geschehen war, doch da war noch etwas anderes. Eine unbändige Müdigkeit. Vorsichtig setzte er sich auf und versuchte ein Zischen zu unterdrücken, was ihm nicht gelang. Es gab immer diesen einen Punkt, an dem man den Schmerz nicht mehr stumm ertragen konnte. Ein Wimmern, ein Stöhnen – irgendetwas entkam einem immer, egal wie dicht der Kokon war, den man sich gesponnen hatte. Scarlett ging in die Küche, wie er hören konnte und kramte in den Schubladen, während er mit ganz leichten Bewegungen seine Muskeln dehnte und damit prüfte was alles beschädigt worden war. Sein Brustkorb fühlte sich einfach nur noch nach Schmerz an. Seine linke Hand hatte eine seltsam verkrampfte Stellung, sodass er die Finger mit Gewalt aufbiegen musste. Erst nach-dem er sie ein paar Mal mit Außeneinwirkung bewegt hatte, sprich seiner anderen Hand, ging es wieder. „Iss.“, mit einem Schlag tauchte Scarlett wieder auf und hielt ihm etwas Weißes vor. „Los!“ Ihr Ton wurde befehlend und ungehalten, wie immer, wenn er nicht schnell genug war. Vergiften würden sie ihn schon nicht, also öffnete er gehorsam den Mund und ließ sich das Stück Traubenzucker in den Mund schieben. Sie drückte ihm auch noch etwas in die Hand. „Auf dein Zimmer, beeil dich.“ Die Worten waren geflüstert und ein gut gemeinter Rat, weil sie das nie sagte. Er musste wirklich nicht gut ausgesehen haben. Scarlett half ihm auf die Beine, dabei konnte er auch ein schmerzhaftes Stöhnen nicht unterdrücken. Ob Rippen gebrochen waren? Sobald er wieder die Arme heben konnte würde er es versuchen. Auch sein rechter Oberschenkel pochte unangenehm. Die nächsten Tage würde er noch daran denken. So schnell er konnte wankte er in sein Zimmer und schloss die Türe. Dem Drang, einfach an ihr hinab zu rutschen, widerstand er gekonnt – wer noch nie eine Türe mit voller Wucht im Rücken gehabt hatte, der verzichtete auf weitere Leichtsinnigkeit. Stattdessen setzte er sich mit größter Vorsicht auf das Bett und schälte den Traubenzucker aus seiner Verpackung. Alle fünf Stücke, die sie ihm gegeben hatte, aß er. Wer wusste schon, ob sie ihre Meinung nicht doch änderte? Für einen kurzen Moment fühlte er sich besser, zumindest was seinen benebelten Kopf anging, doch ansonsten war er ein einziger blauer Fleck. Achtlos ließ er das Papier auf den Boden fallen, während er sich hinlegte. Was genau gekrampft hatte und warum, das wusste er nicht, aber es war nicht normal. Vielleicht die Mangelernährung? Er hatte keine Epilepsie und wenn, dann… wusste er wirklich nicht was er noch machen sollte. Magnesium. Ihm fehlte Magnesium, denn Unterzucker konnte es nicht sein. Dann wäre er nämlich nicht mehr aufgewacht und wenn dann in einem Krankenhaus mit einem matschigen Hirn, weil die Unterversorgung an Sauerstoff ihn hatte blöd werden lassen. Schön wäre es. Nein, er war lebendig, lädiert, aber wach. Die Schmerzen verhinderten, dass er sich diese Nacht unruhig umher-wälzte, stattdessen wurde er wach. Keine zwei Stunden nach-dem er eingeschlafen war starrte er an die Decke. Diese Art von Nächten hasste er. Schmerz, Aufregung und Sehnsucht hielten ihn wach. Letztendlich stand er wieder auf. Seine Schuhe trug er immer noch und seine komplette Kleidung. Ein weißes T-Shirt, das schon leicht gräulich war; eine graue Sweatshirtjacke und dazu eine ausgewaschene Jeans, die nur dank einem Gürtel auf seiner Hüfte blieb. Die Chucks waren auch nicht mehr die neusten, aber sie erfüllten ihren Zweck. So leise wie möglich schlich er nach draußen und eilte, kaum dass die Haustüre geschlossen war, die Treppen hinab in den Hof mit den kleinen Grünflächen und dem verunstalteten Spielplatz. Nicht unbedingt der beste Ort um aufzuwachsen. Seine Lunge protestierte, denn bei jedem Atemzug stachen seine Rippen wie tausend Nadeln. Auch die anderen Hämatome machten sich bemerkbar. Dazu musste er sie nicht einmal sehen. Aber nach so vielen Jahren Prügel, da konnte man den Schmerz ausblenden. Er war da, er war scheiße, aber entweder er verschwand wieder oder er war morgen wieder der Wut von Richard ausgesetzt. Eine Wahl gab es da nicht. Nach den ersten zwei Schritten sprang Ty aus dem Gebüsch und rannte auf ihn zu. Glücklicherweise waren Beagles klein! Bei einem germanischen Bärenhund wäre er wohl zertrampelt worden und vermutlich hätte er, Fliegengewicht, ihn zureiten können. Stattdessen ging er in die Hocke und ließ sich das Gesicht abschlecken. Kalter Schweiß wurde durch großzügigen Hundeschlabber ersetzt. Leicht lachend verzog er das Gesicht, aber genoss die einzige Zuneigung, die er gerade bekam und vielleicht je wieder bekommen würde. Tyrion liebte ihn so bedingungslos, dass ihm das Herz weich wurde. Sein Herz war weich, das knautschig und viel zu nachgiebig, aber entweder er spielte seine Rolle als harter Jugendlicher gut oder ihn fraßen die Haie der Straße einfach auf. „Heute habe ich leider nichts für dich.“, seufzte Leon traurig, der seinen eigenen Hunger nur am Rande wahrnahm. Manchmal war es quälend, genug um zu stehlen. Heute war wieder so ein Tag, wär da nicht ein Stiefvater der ihm jede Möglichkeit genommen hätte. „Na komm.“ Nach einem kurzen traurigen und vor allem hungrigen Winseln folgte ihm Ty. Dieser wusste sehr wohl, wenn Leon etwas gehabt hätte, dann hätte er etwas bekommen. Gemeinsam gingen sie zu einem kleineren Park, der ziemlich herunter gekommen war, aber gerade noch seinen Zweck erfüllte. Auf ein paar Bänken saßen seine Gangkollegen, die fleißig am Trinken waren und Infos austauschten. Manche spielten auch mit den Muskeln, vor allem die jüngeren Mitglieder, aber die Senioren ließen sich nicht beeindrucken. Als sie ihn kommen sahen, hob Boyz, der einzige der wohl so etwas wie ein Freund war, die Augenbraue. „Scheiße, Mann. Hat dein Alter dich wieder erwischt?“ Leon nickte nur und setzte sich auf den dargebotenen Platz. „Verdammt, Junge! Lass dir das nicht gefallen. Du siehst scheiße aus.“, „Tz, halt die Klappe. Hast du was zu essen?“ Lieber das Thema wechseln. Er wollte jetzt keine Moralpredigt über daheim abhauen und ein Leben auf der Straße führen. Er war aktenkundig und zwar so richtig. Nicht nur wegen seiner Eskapaden, sondern weil er ein Waise war und das Jugendamt extra ein Auge auf ihn hatte. Wie sie das wahre Gesicht seiner Pflegeeltern übersahen war ihm nicht klar. Boyz packte die Reste eines Fast Food Burgers aus. Am liebsten hätte Leon ihn direkt gegessen, doch stattdessen fischte er das Fleisch raus und warf es Ty hin. Das Stöhnen der anderen ignorierte er. „Wieso fütterst du den Köter?“ Auf die Frage ging er nicht einmal ein. Stattdessen begnügte er sich mit den Resten, die eher ein Appetitanreger waren, anstatt irgendwas zu stillen. Das Ziehen in seinem Magen wurde fast unerträglich, jetzt wo er Blut geleckt hatte. Dagegen kam nicht mal seine eiserne Disziplin an. Er hatte Hunger, furchtbaren Hunger. Hinter ihm knallten ein paar Flaschen auf den Boden, was er gelassen hinnahm, denn es folgte Gelächter. Sie machten sich einen Spaß daraus leere Bierflaschen auf die asphaltierten Wege zu werfen oder den Gehweg zur Straße hin. Schweigend saß er auf der Bank, während Ty sich an sein Bein schmiegte und sich kraulen ließ. Erst der Aufschrei eines wütenden Passanten brachte ihn dazu fragend zu seinem Kollegen sehen, die noch mehr Spaß hatten, denn jetzt konnten sie eine Drohne herunter holen, die auf sie zuflog. „Das war’s dann.“, seufzte Leon und stand auf. Sein Körper wehrte sich noch ein wenig, aber er musste gehen. Bald würde das Friedensministerium auftauchen und… „Auf den Boden und Hände auf den Rücken!“, riefen zwei kräftige Stimmen und die Polizisten schossen praktisch aus der Dunkelheit. Der Park war auch nur spärlich beleuchtet, aber das hatte niemand kommen sehen. Waren sie schon vorher gerufen worden? Verdammt! „Ty – ab!“, der Befehl war streng und sofort schoss der Beagle los. Er wusste, was das bedeutete. McPhee hatte Leon immerhin gezwungen, ihn zu erziehen und zu trainieren. Das Erste, was er hatte lernen müssen, war zu verschwinden, wenn es ihm befohlen wurde. Während Sirenen weitere Mitarbeiter des Friedensministeriums ankündigten, sprang er auf. Der erste Atemzug war wie ein Faustschlag in sein Zwerchfell. Sein Körper protestierte gegen die plötzliche Anstrengung, auch seine Muskeln wollten im ersten Moment nicht. Aber das Adrenalin jagte schon durch seine Venen. Vorhin bei seinem Stiefvater war er kalt geblieben, aber jetzt brannte die nackte Panik in seinen Nervenbahnen. Würde ihn ein Beamter wieder heimbringen, dann könnte er sich einsargen lassen oder das Monster brach aus und er wollte nicht Leid bringen, dafür hatte er schon zu viel erfahren. Die ersten Schritte taumelte er noch schwer, bis sich der Schmerzpegel eingependelt hatte und auch das Adrenalin den Rest unterdrückte. „Stehen bleiben!“, wurde ihm hinter her gerufen, doch er ging von einem schnellen Gang in einen Sprint über. Wenn er schnell genug war, dann fühlte es sich wie fliegen an. Jeder Atemzug, der seine Lungen tief ausfüllte, war schmerzhaft, aber es ebbte einfach ab. Der Fluch erreichte seine Ohren nicht mehr, denn er war bereits unterwegs. Leon lief direkt auf eine Bank zu, doch im richtigen Moment sprang er einfach vom Boden ab und flog darüber. Die Landung war so gekonnt, das es keine Zeitverzögerung gab, bis es weiter ging. Sein Weg führte ihn aus dem Park hinaus in die verlasseneren Gassen, aber erst musste er über eine Hauptstraße. Sie würden bremsen, das wusste er. Schon zu oft war er in den Verkehr gesprungen bei einer Hetzjagd. Nicht immer war das Friedensministerium der Grund gewesen, aber das war egal. Hier war eine verkehrsberuhigte Zone, das hieß wenn ein Fahrer zu langsam war, dann würde es ihn hoffentlich nicht umbringen. Leon lief direkt auf ein Auto zu, immer wieder sah er zu dem Gefährt und schätzte dessen Geschwindigkeit ab, ehe er sich schwungvoll vom Boden abstieß. Seine Hände stützten sich auf der Motorhaube ab. Das Auto selbst war noch mitten im Bremsvorgang und drohten ihm die Hände wegzuziehen, sodass er in die Windschutzscheibe knallen würde, doch vorher ließ er davon ab. Diese kurze Stütze hatte er zur Korrektur der Flugbahn gebraucht und um nicht an Schwung zu verlieren. Dennoch zog es ihm die rechte Hand leicht weg. Scharfer Schmerz schoss durch sein Gelenk, wurde aber schnell wieder vom Adrenalin betäubt. Noch im Laufen spürte er, wie seine Waden leicht verkrampften. Magnesium. Definitiv Magnesiummangel. Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf und versiegte gleich darauf wieder. Eine Umzäunung. Leon nutzte ein parkendes Auto als Sprungbrett und bekam das obere Ende des Zaunes zu fassen. Gerade als er die Beine auf die andere Seite geschwungen hatte spürte er ein Gewicht an seinem rechten Arm. Der Polizist hatte ihn eingeholt! Fast schon geschockt starrte er den Mann an, der an seinem Sweatshirt zog. Automatisch schlüpfte er mit dem Arm heraus und gab seine Narben frei. Ganz klasse. Er hätte ihm auch gleich seinen Ausweis geben können. Im Licht der Laterne waren seine Blitznarben gut sichtbar. Das war aber nicht das einzige Problem. Außer seine Sweatshirtjacke hatte er nichts Langärmliges. Also hielt er sich mit seiner linken Hand fest um nicht direkt auf den Boden zu fallen. Gerne hätte er sich entschuldigt, aber das… Innerhalb von Sekunden hatte Leon die Situation erfasst und sich wieder hoch gezogen, direkt auf den Uniformierten zu, der verwundert war. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, vermutlich: „Du bist festgenommen.“ Aber in dem Moment schoss seine rechte flache Hand auf dessen Nase zu. Der überraschende Aufprall ließ den Polizisten nach hinten Fallen. Blut schoss aus seiner Nase. Einen Moment lang hing Leon über den Zaun gebeugt und konnte den Mann direkt ansehen, so wie dieser ihn. Sie beide wussten – und das nur innerhalb dieser zehntel Sekunden – dass der Kampf entschieden war. Er würde den Vorsprung weiter ausbauen, während der Polizist sich erst einmal die Mühe machen musste, um ohne Schwung und mit blutiger Nase über den Zaun zu klettern, der gut zwei Meter hoch war. Obwohl Leon schon nach hinten fiel, brach er den Augenkontakt nicht ab. Der Polizist würde nicht schießen, nicht auf ein halbes Kind, das lediglich wegen Vandalismus belangt werden konnte und jetzt wohl noch wegen leichter Körperverletzung. Leon kannte den Mann vor sich und hätte am liebsten geweint. So sehr er seine Schwester beobachtet hatte, so wenig waren ihm ihre Väter entgangen. Hallo Gemma, ich bin Leon und womöglich habe ich deinem Vater die Nase gebrochen, wenn nicht dann habe ich sie ihm bloß geprellt. Wunderbar. Er verzog das Gesicht schmerzlich, nicht nur weil er welche hatte, sondern weil es ihm leidtat. Als er auf seinen Füßen landete, krümmte er sich kurz zusammen, weil sein Körper sich erneut auflehnte. In seinem Kopf herrschte aber immer noch ein Gedanke: Lauf. Lauf. Los. Los. „Es tut mir Leid.“, keuchte er schließlich atemlos und sah Gemmas Vater entschuldigend an, ehe er sich umdrehte und weiter lief. Durch die kurze Pause hatte ihn der Schmerz wieder eingeholt und ließ ihn straucheln. Jeder Idiot konnte sehen, dass etwas nicht stimmte, dennoch lief er weiter und ließ einen vollkommen verwirrten Polizisten zurück. Leon trieb sich weiter über jedes Hindernis, bis er vor Erschöpfung in die Knie ging. Gerade noch so konnte er sich an der Mauer eines Grundstückes halten, während er nach Luft schnappte. Viel zu wenig, viel zu viel Schmerz. Erst Minuten später merkte er, dass seine Knie schmerzten, weil er mit voller Wucht auf den Boden geprallt war. Ob seine Rippen gebrochen waren? Es fühlte sich so an, ganz zu schweigen von dem Rest. Er brauchte lange bis er seine Gedanken wieder gesammelt hatte und mit seinem rechten Arm wieder in die Jacke schlüpfte. Ihm war nicht mehr nach Laufen, also suchte er sich das nächste Gestrüpp und machte es sich zwischen Zweigen und Blättern bequem. Noch immer konzentrierte er sich komplett auf seinen Körper. Der Puls hatte sich beruhigt, aber ohne Adrenalin trieben ihm die Schmerzen Tränen in die Augen. Erneut und wie so oft versank er wieder in Gedanken an seinen verlorenen Zwilling und daran, dass, obwohl er sich fern hielt, sich ihre Wege irgendwie kreuzten. Sei es nur ein Vater, der ihn verfolgte. Ty stupste ihn mit der Nase an und bettelte um Aufmerksamkeit, die er prompt bekam. „Hey …“, lächelte er mit rauer Stimme und kraulte den Rüden hinter den Ohren. Sein Hund fand ihn immer, egal wo er war. Jetzt sah er sich auch um und entdeckte eine Gegend in der er nicht gerne gelandet war: Sunset Plateau. Er war zu Gemma gelaufen. Natürlich. Instinktiv wollte er zu ihr. Stöhnend schloss er die Augen. Wie oft würde er hier aufschlagen und mal wieder irgendwo lauern? Das musste er ein Ende haben. Er benahm sich wie ein Stalker. „Wir warten.“ Als hätten ihn Tyrion verstanden legte sich der Hund neben ihm und stütze seinen Kopf auf einem Bein von Leon ab. Glücklicherweise das richtige und damit sogar schmerzfrei für ihn. Die Nacht war kühl und auch daran konnte man sich gewöhnen. Dennoch begann er zu zittern, was er ignorierte. Die Stunden vergingen zäh, an Schlaf war nicht zu denken oder an keinen richtigen. Immer wieder nickte er im Sitzen weg, bis er irgendwann liegend mit leicht verrenkter Haltung wieder aufwachte. Er war erschöpft gewesen und das bekam er jetzt zu spüren. Der Schmerz raubte ihm den Atem, als er sich aufsetzte und er hatte mehrere Versuche dafür gebraucht. Schrecklich. Sein Magen knurrte, vereinzelt verkrampften sich seine Muskeln und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. Vermutlich sah er Leichenblass aus, allein von der Erschöpfung her. Viel besser würde es nur nicht werden, nicht nach-dem er gestern einen Polizisten geschlagen hatte. Der Tag war bereits fortgeschritten und er schob den langen Schlaf, welcher einem Toten geglichen hatte, auf seinen allgemeinen Zustand. Also wartete er hier auf Gemma, bis sie von der Schule kam. Es mussten Stunden vergangen sein, als sie endlich in seinem Blickfeld auftauchte. Mit steifen Gliedern wollte er aufstehen, doch sofort sackten seine Beine weg. Sie fühlten sich an wie Pudding und der Rest wie Matsch. Besorgt stupste ihn Ty an, ganz nach dem Motto, er solle sich schonen. Kurz tätschelte er ihn, dann stand er endgültig auf. Als er endlich sicher stand, klopfte er sich den groben Dreck von der Kleidung und trat endgültig vom Seitenstreifen auf den Gehweg. Das sah seltsam aus wie ein Junge einfach aus dem nächsten Busch trat, aber hier waren nicht viele Fußgänger. Mit abgehackten Schritten steuerte er auf die Villa, denn nichts anderes war das Haus für ihn, zu und schluckte seine Angst herunter. Mehr konnte einfach nicht mehr schief gehen. Er wusste nicht wohin und noch eine Prügelstrafe würde er kaum überleben, noch wollte er sie erleben. Also ging er durch das offene Eingangstor zur Türe, wo er klingelte. Es dauerte nicht lange da öffnete sie ihm die Türe. „Hey.“, begrüßte er sie einfallslos. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)