Eine neue Geschichte von maidlin ================================================================================ Kapitel 6: ----------- Die Welt um ihn herum schien sich aufzulösen. Alles was er sah, waren die Augen seines Vaters, die ihm entgegen starrten. Luan begann zu zittern. Er ließ das Blatt fallen. Hastig trat er einen Schritt zurück, konnte den Blick aber nicht abwenden. Wieso? Warum? Warum gab es eine Zeichnung seines Vaters? Wann hatte Jonathan die gemacht? Sein Vater hatte nichts davon gewusst. Warum? Warum?! WARUM?! Jonathan Semerloy hatte seinen Vater gequält und gefoltert. Verdammt, er hatte ihm grausame Dinge angetan! Dinge an die sich Luan nur zu gut erinnert, die er nie vergessen würde. Wie konnte Jonathan es dann noch fertigbringen ihn zu zeichnen? Reichten die Schmerzen und Demütigungen nicht? War er denn immer noch nicht zufrieden gewesen? Wut wich dem Entsetzen. Luan trat wieder näher an die Skizze heran. Hielt jedoch wieder inne. Es war seltsam. Die Zeichnung hatte nichts Demütigendes an sich. Man sah weder Verletzung noch Schmerz in dem Bild. Der Blick seines Vaters war unbeugsam und stolz, genauso wie es John Barrington aus tiefsten Herzen gehasst hatte. Niemals hatte sich Luans Vater in seiner Gefangenschaft diesem Menschen gebeugt und nur wenig Schwäche gezeigt. Genau das konnte Luan auf in dieser Zeichnung sehen. Der Mann, den er sah, würde niemals brechen, egal was man ihm antat. Doch kaum hatte er dies gedacht, beschwor er damit all die anderen Erinnerungen herauf, die er so sorgsam verschlossen hatte und die ihn sonst nur nachts in seinen Träumen quälen konnten. Bevor sie gänzlich an die Oberfläche traten, blätterte Luan weiter, um zu sehen, ob es noch mehr Bilder wie dieses gab. Gab es. Dieses Mal war es jedoch seine Mutter, die zu sehen war. Er konnte sie ganz klar erkennen. Sie saß in einem Garten unter einem Baum und hatte die Finger in der Erde vergraben, als wollte sie etwas pflanzen. Wenn er genau hinsah, konnte er auch die Andeutung eines Babybauches erkennen. Die Aufenthalte im Garten, gehörten zu den wenigen glücklichen Moment, die seine Mutter erlebt hatte, während sie John Barringtons Frau gewesen war. Luans Atmung begann zu stocken und er musste den Mund öffnen, um überhaupt noch Luft zu bekommen. Erst sein Vater und nun seine Mutter. Warum hatte Jonathan sich die Mühe gemacht sie zu zeichnen? Noch ein ‚Warum‘. Hatte Doktor Storm nicht erzählt, er hätte nach Marys Tod fast nie mehr gezeichnet? Waren seine Eltern etwa die Ausnahme gewesen? Heimlich und von Niemandem bemerkt hatte er die Bilder von ihnen geschaffen. Nur so konnte sich Luan erklären, dass er von den Zeichnungen nichts gewusst hatte. Mit bebenden Fingern schlug er auch diese Seite um. Inzwischen rechnete er mit allem. Erneut blickte er auf eine Skizze seiner Mutter. Auch darauf saß sie in dem Garten. Ihre Schwangerschaft war deutlich fortgeschritten. Vor ihr stand ein Mann, dem sie ein Lächeln schenkte. Luan erkannte ihren Bruder Alexander. Abermals blätterte er weiter. Das nächste Bild zeigte wieder seinen Vater. Doch das Bild war anders als, das andere. Sein Vater lag auf der Seite, seine Augen waren geschlossen und dunkle Ringe zeichneten sich darunter ab. Die Haare hingen ihm lose und strähnig in die Stirn. Sein Gesicht war dünn und mit Dreck beschmutzt. Es war deutlich zu sehen, dass es ihm schlecht ging. Dieses Bild musste entstanden sein, als alles bereits seinem Ende entgegen gegangen war. Mit zitterenden Fingern blätterte Luan auch dieses weiter. Eine Koppel, war auf der nächsten Skizze zu sehen. Luans Vater stand am Zaun gelehnt, ganz so als müsste er sich stützen. Auf der anderen Seite des Zaunes stand ein prächtiges, schwarzes Pferd, Hera. Es blickte seinen Vater direkt an und schien auf etwas zu warten. Ebenfalls eine Szene fast am Ende seines Lebens. Danach folgten einige weitere Bilder von Mary. Doch sie zeigten sie keineswegs fröhlich und unbekümmert, so wie viele der anderen Skizzen, die Luan bis dahin von ihr gesehen hatte. Auf diesen war sie melancholisch, traurig und auf einigen weinte sie sogar. Ganz am Ende, als er die Mappe fast komplett durchgesehen hatte, fand er die Skizze des Brandzeichens. Ein bitterer Geschmack breitete sich in Luans Mund aus. Es war keine Skizze geblieben, dachte er, sondern grausame Realität geworden. Sein Vater hatte das heiße Eisen auf seiner Hand gespürt, hatte unter den untragbaren Schmerzen gelitten. Als er versuchte mit den Fingerspitzen die Konturen, die Buchstaben J und B, für John Barrington, nachzufahren, zitterte er bereits so heftig, dass er die Buchstaben verfehlte. Schließlich legte er die Hand flach auf das Papier und spannte sie an. Das Papier begann zu knittern. Verwirrt hielt Luan inne. Das Papier war bereits zerknittert worden, bemerkte er, als er sich nur darauf konzentrierte und nicht auf das Bild an sich. Jemand hatte das Papier wegwerfen wollen. Doch dann hatte es sich dieser Jemand wohl anders überlegt, denn es war wieder glatt gestrichen und zwischen all die anderen Papiere gelegt worden. Wer hätte das tun sollen? Jonathan? Aber… Luan schüttelte den Kopf und zog die anderen fünf Bilder wieder hervor, die ebenfalls seine Eltern zeigten. Sie waren vollkommen in Ordnung und zeigten keine Spuren der Vernichtung. Hatte Jonathan den Entwurf des Brandzeichens wegwerfen wollen, es sich dann aber wieder anders überlegt? Doktor Storm hatte erzählt, dass Jonathan es zutiefst bereut hatte, dieses Brandzeichen entworfen zu haben. Er hatte angenommen es sei für ein Pferd und nicht für einen Menschen. Die Kunst, so hatte er laut Doktor Storm gesagt, sei damals noch das einzig Gute an ihm gewesen, das einzige was ihn noch mit Mary verbunden hatte. Es wäre also nur logisch, dass er das Bild hätte vernichten wollen. Warum hatte er es am Ende dann nicht getan? Warum behielt er ein Bild, was ihn immer wieder an seinen Fehler erinnerte? Damit er ihn niemals vergaß, schoss es Luan durch den Kopf. Das wäre zumindest eine Erklärung. Vielleicht galt diese auch für die übrigen fünf Zeichnungen? Trotzdem erklärte es nicht, wann Jonathan die Skizzen überhaupt angefertigt hatte. Hatte er sie wirklich nur aus dem Gedächtnis geschaffen? Zumindest Luans Mutter hätte er oft genug unbemerkt beobachten können. Im Grunde aber war Luan das ‚Wann‘ vollkommen egal, das ‚Warum‘ interessierte ihn! Darauf würde er nie eine Antwort bekommen. Er konnte Jonathan nicht mehr danach fragen. Luan wusste einfach nicht was wahr an Jonathan Semerloy gewesen war und was gelogen. Doch die Erinnerungen, die er von ihm hatte, waren nicht gut. Aber glaubten nicht Doktor Storm und Apple, dass Jonathan tief in seinem Herzen gut gewesen war? Konnte er das auch einfach glauben? So viele Fragen und keine Antworten. Es fühlte sich an, als würde ihm der Kopf platzen. Luan wurde schwindelig. Das Atmen fiel ihm immer schwerer und ihm wurde kalt. Dann berührte ihn etwas am Arm und er schreckte zusammen. „Luan, was ist los? Du hast nicht auf meine Frage geantwortet.“ Apple stand neben ihm und sah ihn sorgenvoll an. Nur langsam konnte er ein- und wieder ausatmen. Er hatte das Gefühl den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Du bist ja ganz blass und zitterst!“, rief Apple erschrocken. „Geht es dir gut?“, fragte sie drängend. Bei diesen Worten sah er ihr in die Augen. Augen, die denen von Jonathan Semerloy so ähnlich waren. Augenblicklich wich er vor ihr einen Schritt zurück. Dabei stieß er an das Sofa hinter ihm und geriet ins Schwanken. Mit einer Hand musste er sich an der Sofalehne festhalten. „Luan, du machst mir Angst“, flüsterte Apple. Er wollte etwas sagen, wollte ihr versichern, dass es ihm bald wieder gut ging, doch kein Laut drang über seine Lippen. Stattdessen konnte er nur sie ansehen und dann wieder die Skizzen vor sich. Ihr Vater hatte sie gemalt! Luan wusste nicht warum, doch es genügte, dass Jonathan offenbar die Zeit dafür gefunden hatte. Wenn er wirklich nicht vergessen wollte, was er getan hatte, hätte er ihnen ebenso gut helfen können! Apple griff nach den Skizzen. Luan folgte jeder ihrer Bewegungen mit den Augen. „Was sind das für Bilder?“, fragte sie. Stumm betrachtete sie die Skizze, die Luans Vater zeigte. „Er sieht dir irgendwie ähnlich…“. Dann wurden ihre Augen auf einmal ganz groß. „Ist das...“, fragte sie tonlos. Er nickte. Apple sah sich nun auch die anderen Zeichnungen an. „Er hat sie gezeichnet“, brachte Luan schließlich heraus und erkannte seine eigene Stimme kaum. „Er hat sie gezeichnet, dort, als er… als sie…“ Er schüttelte den Kopf. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, verließ er das Zimmer. Er brauchte frische Luft! Sofort! Immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe herunter und zur Vordertür hinaus. Dort sog er begierig die Luft in die seine Lungen. Luan versuchte sich zu beruhigen, atmete tief ein und aus, um so das Zittern seines Körpers zu beenden. Die Hände stützte er auf die Knie und schloss die Augen. So hörte zumindest das Drehen auf. Er verharrte in dieser Pose, bis er sich wirklich beruhigt hatte. Schließlich fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Sie waren verschwitzt und klebten ihn unangenehm an der Kopfhaut. Er hatte es wieder getan, dachte er matt. Plötzlich fühlte er sich, als wäre er den ganzen Morgen gerannt. Kurz blickte er zu dem Haus empor und überlegte wieder zu Apple zu gehen, aber noch konnte er nicht mit ihr darüber reden. Er musste sich erst gänzlich beruhigen. Stattdessen begann das Haus zu umrunden. Luan ging direkt durch die Hecken und Büsche hindurch. An Ästen und Zweigen kratze er sich und holte sich ein paar kleine blutende Schrammen, aber das störte ihn nicht weiter. Als er aus der Hecke heraus trat, fand er sich in einem weiteren Meer aus grün wieder. Offenbar hatte er den Garten gefunden, dachte er. Zumindest würde er hier allein sein könnte. Er konnte und wollte mit niemandem reden. Als Luan den ersten Schritt machte, bemerkte er, dass er auf festem Boden ging. Der Weg war gepflastert und führte tiefer in den Garten hinein, weg vom Haus. Dieses lag jetzt schräg hinter ihm. Luan folgte dem Weg, vorbei an Rosensträuchern und anderen Pflanzen. Die wenigstens davon kannte er. Mit Ziersträuchern und –blumen hatte er sich kaum befasst. Mit Kräutern kannte er sich aus, verdiente er damit doch ein Teil seines Geldes, aber alles andere interessierte ihn nicht. Es war nicht wichtig. Sehr zum Leidwesen seiner Frau. Dabei wäre es ein leichtes für ihn, ihre Namen zu lernen. Apple würde von dem Garten sicher begeistert sein. Wieder einmal musste Luan sich in Erinnerung rufen, dass Apple nichts mit der Vergangenheit zu tun hat, dass sie nur ein unschuldiges Kind gewesen war. Ihre leiblichen Eltern kannte Apple nicht. Luan konnte erahnen, wie seine Frau sich wohl jedes Mal fühlen musste, wenn sie von den schlimmen Dingen erfuhr, die ihr Vater getan hatte. Aber es schmälerte ihre Liebe zu ihm nicht. Er war nun einmal ihr Vater. Und er hatte durchaus schöne Dinge geschaffen. Die Gemälde waren nicht zu verleugnen. Seufzend setzte sich Luan auf eine steinerne Bank, die vor einem Strauch mit rosa Blüten stand. Er war wieder davon gelaufen und hatte Apple verletzt. Er wusste ja, dass er mit ihr darüber reden musste und dass sie es vor allem verstand. Würden er und Apple jemals wieder zur Normalität zurückkehren können, zu dem Leben welches sie gehabt hatte, bevor dies alles begonnen hat? Luan hoffte es inständig. „Daddy!“, hörte er plötzlich seine Tochter nach ihm rufen. Luan hob den Kopf und sah, wie Selene mit ausgestreckten Armen auf ihn zu rannte. Er erhob sich, fing sie im Laufen auf und umarmte sie fest. Sie war zusammen mit ihrem Bruder das Beste, was ihm je passiert war. Das hatte er allein Apple zu verdanken. Es würde alles gut werden. Wenn er Selene und Nathaniel sah, wusste er einfach, dass es so sein würde. Irgendwann. Luan gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich schließlich mit ihr auf die Bank. „Wie hast du mich gefunden?“, fragte er verwundert. „Ich hab dich gesehen. Vom Fenster.“ Selene zeigte mit dem Fingern zum Haus hin. Er sah die Rückseite des Hauses und erinnerte sich daran, dass man vom Salon in dem Magdalena saß, einen Teil des Gartens sehen konnte. „Wo ist Mommy?“, wollte Selene nun wissen und sah ihn mit großen Augen an. „Sie sieht sich noch ein paar Bilder an. Wolltest du nicht bei deinem Bruder bleiben?“ Selene zuckte mit den Schultern. „Es war langweilig. Nate kommt gleich.“ Selene lehnte sich zufrieden an seine Schulter und ließ die Beine baumeln. Luan vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und zog ihren süßen, unschuldigen Duft ein. Fast wünschte er, sie würde immer drei Jahre bleiben können. Aber das war wohl der Wunsch eines jeden Vaters. Niemand wollte seine kleinen Babys so schnell erwachsen werden sehen. Er sollte wohl nach Nathaniel sehen, doch nur noch einen kurzen Augenblick länger wollten er diesen Moment weiter genießen. „Da kommt er!“, rief Selene. Luan sah auf und tatsächlich konnte er Nathaniel an der Hand von Therése den Weg entlang stolpern sehen. Er setzte Selene auf den Platz neben sich und sie seufzte leise. Er wusste, dass sie sehr wohl akzeptierte, dass Nathaniel noch mehr Aufmerksamkeit brauchte also sie. Trotzdem ärgerte es sie manchmal. Dennoch ertrug sie es meistens ohne zu klagen. Apple und er versuchten dafür zu sorgen, dass beide Kinder gleich viel Zeit mit ihnen verbrachten. Einfach war es nicht immer. Luan nahm nun Nathaniel auf den Arm und auch ihn küsste er auf die Stirn. „Danke, dass sie sich um die beiden gekümmert haben.“, wandte sich Luan an Therése. „Ich hoffe sie haben sich benommen. Wie geht es Magdalena?“ „Sie ist eingeschlafen, nachdem ihr Sohn ein wenig auf ihrem Schoß gesessen hat. Ich habe sie noch nie so friedlich gesehen“, antwortete Therése mit einem Lächeln. Die anfängliche Feindseligkeit, die sie ihm entgegengebracht hatte, war nicht mehr zu spüren. „Mommy!“, rief Selene auf einmal aufgeregt und sprang von der Bank. So schnell ihre kleinen Beine sie tragen konnte, rannte sie zu ihrer Mutter. Auch Nathaniel wurde unruhig und streckte seine Hände nach seiner Mutter aus. Luan ließ ihn herunter und beobachtet, wie sein Sohn auf seine Apple zulief. Selene lief direkt in die Arme ihrer Mutter und diese fing sie auf. Dann beugten sie sich beide nach unten und beobachtet, wie Nathaniel den Weg zu ihnen ganz allein bewältigte. Wie seine Schwester hatte er das Laufen recht schnell erlernt. Als er endlich bei Apple ankam, drückte ihn diese fest und lobte ihn für seine Leistung. Dann nahm sie Nathaniel bei der einen Hand und Selene bei der anderen. Gern hätte Luan es vermieden ihr in die Augen zu sehen, aber er wollte endgültig etwas ändern. Sie direkt anzusehen und keine Angst vor einer Konfrontation zu haben, war der erste Schritt dorthin. „Tut mir leid, dass ich schon wieder einfach davon gelaufen bin“, sagte er und sah seine Frau an. Die Überraschung auf ihrem Gesicht zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. „Können wir später in Ruhe darüber reden?“ Versöhnlich lächelte sie ihn an. „Natürlich.“ Erleichtert atmete er aus. Sie hatte wirklich viel Geduld mit ihm. „Wohin führt dieser Weg?“, fragte Apple nun Therése. „Direkt in den Obstgarten“, antwortete diese freundlich. Luan fragte sich neugierig, was wohl zu dem Sinneswandel geführt hatte. Aber vielleicht ist ein wenig angeborene Skepsis auch gar nicht so schlecht. Er sollte es schließlich wissen. „Oh, auch zu den Apfelbäumen?“, fragte Apple auf einmal sehr interessiert. Die Sehnsucht war deutlich in ihrer Stimme zu hören. „Ja, natürlich. Ich würde ihnen jedoch vorschlagen erst morgen früh hinzugehen. Das Essen wir sicher bald serviert. Außerdem könne sie dann soviel Zeit dort verbringen, wie sie mögen.“ „Ja… Ja, sie haben sicher recht“, erwiderte Apple, klang aber hörbar enttäuscht. Unter den Apfelbäumen hatte die Geschichte ihrer Eltern ihren Anfang genommen. Sie hatten ihr ihren Namen gegeben. Natürlich wollte Apple sofort dorthin. Trotzdem hielt sie sich aus Vernunftgründen zurück und das bewunderte Luan sehr an ihr. Therése entschuldige sich bald, mit den Worten sich um Magdalena kümmern zu wollen und so blieb die kleine Familie allein im Garten zurück. Nathaniel und Selene erkundeten den Garten und entdeckten, dass es zwischen den Büschen und Hecken unheimlich viele Möglichkeiten gab sich zu verstecken. Immer und immer wieder mussten Apple und Luan nach ihnen suchen. Selbstverständlich war es nicht schwer sie zu finden, da ein ständiges Kichern ihnen den Weg zeigte. Doch es machte ihnen selbst Spaß. Es war schon lange her gewesen, dass sie unbeschwert Zeit mit den Kindern verbracht hatten. Noch vor dem Essen rang Selene ihrem Vater das Versprechen ab, am nächsten Tag unbedingt wieder in den Garten zu gehen und zu spielen. Nur zu leicht gab er sein Wort darauf. Erst als Selene und Nathaniel im Bett waren konnten sich Apple und Luan in Ruhe unterhalten. Sie lagen in dem weichen Bett, tief in die Decken gekuschelt und Luan streichelte über die Innenseite des Handgelenks seiner Frau, während er ihr versuchte zu erklären, was er gedacht und gefühlt hatte. „Ich weiß nicht, was ich über ihn denken soll. Er hat zu gesehen, wie mein Vater körperliche Schmerzen erlitten hat oder er war selbst dafür verantwortlich gewesen und hat meine Mutter mit Worten gequält. Trotzdem hat er sie gezeichnet, dabei hat Doktor Storm doch erzählt, dass er nach Marys Tod so gut wie gar nicht mehr getan hat. Warum hat er gerade sie gezeichnet? Hat er sich an ihrem Leid ergötz, hat er es genossen meinen Vater so am Boden zu sehen? Aber warum dann das Bild mit dem unbeugsamen Blick? … Dann habe ich die Skizze des Brandmahls gefunden. Ich wusste, dass er sie angefertigt hat, aber ich habe nicht erwartet sie zu sehen. Es war ein Schock. Jemand, vielleicht er selbst, hat versucht sie zu vernichte, sie war zerknüllt worden. Doch offenbar konnte Jonathan es nicht über sich bringen, sie fortzuwerfen. Es kann nur er gewesen sein, der sie wieder in die Mappe gelegt hat. Niemand sonst hat sie gesehen. „Ich verstehe es nicht. Vielleicht ist es das, was mich so nervös macht, nicht nachdenken lässt. Ich bekommen auf meine ‚Warum‘ keine Antwort. Ich weiß nicht, was ich über ihn denken soll. Es dreht sich alles im Kreis.“ Als er geendet hatte, atmete er scharf aus. Er wusste nicht, ob er das das, was ihn bewegt hatte, auch einigermaßen verständlich in Worte gefasst hatte. „Ich verstehe dich“, sagte Apple schließlich. Überrascht sah er sie an. „Ach ja?“ „Ja, ich habe so etwas Ähnliches gedacht und ich wünschte ich könnte dir alle die Antworten geben, nach denen du suchst. Das kann ich leider nicht. Ich kann dir jedoch sagen, dass du dir die Rückseite der fünf Bilder ansehen solltest.“ „Die Rückseite? Warum?“, fragte er irritiert. „Mein Vater, Jonathan, er hat etwas darauf geschrieben. Du solltest es lesen.“ „Was war es? Sag es mir? Was hat er geschrieben?“, drängte Luan sie. Doch nun lächelte Apple und schüttelte den Kopf. „Das musst du schon selbst lesen.“ „Ist das meine Strafe dafür, dass ich einfach abgehauen bin?“, fragte er ungeduldig. Ihr Lächeln wurde breiter. Auch wenn Luan sicher war, dass sie das nicht im Sinn gehabt hatte, so schien ihr der Gedanke zu gefallen. „Vielleicht“, antwortete sie deswegen. Er würde er ihr aber nicht den Gefallen tun und weiter danach fragen. Stattdessen küsste er sie flüchtig und schloss dann die Augen. Doch so sehr er sich auch bemühte Luan konnte in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Es war viel geschehen und sie hatten viele Dinge erfahren. Außerdem war das Bett zu ungewohnt. Fast hatte er den Eindruck, dass es zu weich für ihn war. Dabei sollte er sich doch freuen, solange er diesen Luxus hatte. Auch wenn er mit Apple über die Bilder gesprochen hatte, so geisterten sie ihm doch immer noch im Kopf herum. Besonders Apples Andeutung, dass etwas auf der Rückseite stehen sollte, reizte seine Nerven. Seufzend drehte er sich zu seiner Frau um. Sie lag friedlich neben ihm und schlief tief und fest. Es war ihm ein echtes Rätsel, wie sie das schaffte. Für sie mussten doch alles noch viel aufregender gewesen sein. Nachdem er sich noch ein paar Mal hin und her gedreht hatte und erfolglos versucht hatte, alle Gedanken an Jonathan Semerloy und seine Eltern zu verdrängen, erhob Luan sich schließlich leise seufzend. Als er auf der Bettkante saß, bewegte sich Apple hinter ihm. Luan hielt inne, um zu sehen, ob sie aufwachte. Doch sie schlief weiter, also zog er sich leise an und schlich anschließend aus dem Zimmer. Auf Zehnspitzen ging er in das Schlafzimmer ihrer Kinder. Dort hatten sie die Tür auf gelassen, um sie im Notfall hören zu können. Mit der Hand schob er sie ein wenig auf. Dann lehnte er sich an den Türrahmen und betrachtete den schlafenden Nathaniel und die schlafende Selene. Nathaniel lag wie immer quer im Bett und hatte seine Füße in den Rücken seiner Schwester gestreckt. Luan wusste, wie sich das anfühlte und konnte sich vorstellen, dass Selene sich am nächsten Morgen über ihren Bruder beschweren würde. Sie hingegen hatte sich die Decke bis über den Kopf gezogen, als wollte sie die ganze Welt ausblenden. Auch das kannte er – von sich selbst. Luan schüttelte den Kopf. Diese beiden konnten einen manchmal wirklich den letzten Nerv rauben. Aber genau in diesen Momenten liebte er sie mit am meisten. Leise entfernte er sich aus ihrem Zimmer und schloss die Tür wieder halb. Was sollte er mit der Nacht noch anfangen? Schlafen konnte er nicht, soviel wusste er. Vielleicht sollte er sich den Bildern noch einmal stellen und lesen, was darauf stand. Dann würde er nicht mehr von ihnen verfolgt und könnte schneller mit ihnen abschließen. Aber dazu würde er Licht brauchen, überlegte er. Das Licht des Halbmondes würde nicht reichen, um alles erkennen zu können. Sollte er in die Küche gehen, eine Kerze anzünden und damit wieder nach oben gehen? Der Ofen dort würde sicher noch an sein. Aber das was Unsinn. Wenn er erst nach unten ginge und dann wieder nach oben, war die Möglichkeit größer, dass er jemand aufweckte. Stattdessen könnte er die Mappe auch einfach mit nach unten nehmen, überlegte er weiter. Wenn er genau darauf achtete, wie sie jetzt lag, würde niemand merken, dass er sie überhaupt genommen hatte. Obwohl das wohl eigentlich vollkommen egal war. Schließlich betrat ohnehin niemand mehr den Raum. Mit diesen Gedanken ging er schließlich zu Jonathans Atelier. Doch schon als er sich der Tür näherte, bemerkte er den dünnen Streifen Licht, der unter der Tür hindurch schien. Verdutzt öffnete Luan lautlos die Tür. Überrascht hielt er inne, als er plötzlich Magdalena sah. Sie trug einen Morgenrock und hielt eine Kerze in der Hand. Ihr graues Haar fiel ihr lose über die Schulter. Sie stand vor dem großen Gemälde und betrachtete es in Gedanken versunken. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)