Tokyo: Real Vampire von Futuhiro (Zwischen Gothic und Legende) ================================================================================ Kapitel 3: vorgestellt ---------------------- Ein recht aufdringlicher Weihrauchgeruch schlug ihnen entgegen, als sich die Tür zu der abgelegenen Hütte öffnete. Oniji hatte ja gewusst, daß Tokyo groß war und sich dahinter landeinwärts nur unwirtliches Gebirge befand, das sich nicht mehr als Bauland eignete. Aber um ehrlich zu sein, war er selbst noch nie bis an den Rand der Zivilisation gekommen, abseits der großen Verbindungsstraßen zwischen den Metropolen. Hier draußen also, auf halber Höhe eines Berghanges mit Blick über die ganze Stadt befand sich eine niedliche Berghütte mitten im Nichts. Heute fuhr Safall einen Geländewagen, und den brauchte man auch, um hier her zu kommen. Der alte, klapperige Leichenwagen, so wusste er inzwischen, hatte Zeda gehört. Was um Himmels Willen mochte hier für ein Mensch leben, so weit ab von besiedelten Gebieten? Unwillkürlich stieg in Oniji das Bild einer alten, grauen, grießgrämigen Kräuterhexe auf. In der Tür erschien eine junge Frau, die ganz richtig in Safalls Alter sein musste. Natürlich war sie in seinem Alter, sie war ja sein Zwilling. Und die beiden hatten auch derart identische Gesichter, daß sie nichts anderes als Zwillinge sein konnten. Das war aber auch schon das einzige, was die beiden gemeinsam hatten. Sie hatte kurze, schneeweiße, hochgestellte Haare und trug ein ebenso schneeweißes Kleid, daß so kurz war, daß man unwillkürlich Angst hatte etwas zu sehen was man nicht sehen sollte. Sie war fast einen ganzen Kopf kleiner als ihr Bruder Safall und weitaus zierlicher und schmächtiger als er. Kurzum, sein genaues Gegenteil. Der Gothic begrüßte sie so herzlich und überschwänglich, als habe er sie schon ewig nicht mehr gesehen. Dann stellte er Oniji und sie einander vor. Sie grinste ihn zurückhaltend an. Auch in ihrem Mund blitzten aufgesetzte Eckzähne. Das war also Sewill. Sewill und Safall. Etwas überrumpelt schüttelte Oniji den Kopf. „Du hast jetzt also einen Schüler?“, meinte sie, während sie die beiden hereinbat und in die Wohnküche führte. „Darfst du das überhaupt?“ Safall zuckte nur abschätzig mit den Schultern. Als Oniji sich umsah, entdeckte er all das, was es auch in normalen Haushalten gab. Elektrisches Licht, fließend Wasser, ein Telefon in der Ecke, einen Fernseher. Nichts deutete darauf hin, wie weit sie von der Stadt entfernt waren. Es musste ein Vermögen gekostet haben, die Strom- und Wasserleitungen bis hier raus legen zu lassen. Ansonsten war die Einrichtung auffallend dem Gothic verschrieben. Überall Drachen, Schädel, Kreuze, Pokale und Zimmergrabsteine aus schwarzem Kunstharz. Sehr europäisch. In japanischen Wohnungen hatte er sowas noch nicht gesehen, da herrschte doch eher die asiatische Feng-Shui-Versionen des Totenkults vor, mit Gedenktäfelchen, Glücksbringern aus den Tempeln und Räucherstäbchen. „Oniji will Wahrsagerei von dir lernen.“ „Das freut mich.“, meinte sie. Ein wenig geistesabwesend sah Oniji von dem schwarzen Spiegel auf und lies den Blick durch den Raum schweifen. Der schwarze Spiegel war, ähnlich wie eine Kristallkugel, zum Sehen von anderen Orten und anderen Zeiten gedacht. Aber er machte nur sehr schwerlich Fortschritte damit. Es war furchtbar anstrengend. Und es lenkte ihn ab, als sich Sewill zu ihrem Bruder auf das Sofa setzte. Etwas entsetzt beäugte er die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte. Safall schob den Ärmel seines bodenlangen Ledermantels hoch, den er auch hier im Haus konsequent weiter trug. Dann reichte er Sewill seine rechte Hand, und mit der linken hielt er ihr ein dolchartiges Messer hin, das er zuvor mit einem Alkoholtuch desinfiziert hatte. Geradezu zeremoniell nahm seine Schwester ihm das Messer ab, setzte damit einen mehr oder weniger langen Schnitt auf die Innenseite seines rechten Unterarms und führte die Wunde dann zu ihrem Mund, um das herausquellende Blut regelrecht herauszusaugen. Oniji drehte sich leicht der Magen um. Sewill säuberte das Messer abermals und gab es dann Safall zurück, zusammen mit ihrer rechten Hand. Das ganze Spiel nochmal andersrum. Sie zog leise Luft durch die Zähne, als Safall ihr das Messer in den Unterarm trieb. Dennoch lächelte sie zufrieden. „Siehst du immer noch nichts?“, wollte Sewill wissen, als sie aufsah und Onijis entgeisterten Blick bemerkte. „Doch ... aber ... ich bin mir nicht sicher.“ „Was siehst du?“ Oniji musterte wieder die schwarze, spiegelnde Fläche vor sich auf dem Tisch. „Fünf Geister verfolgen einen Mann.“ „Hä?“ Sewill kam herüber, ließ Safall einfach allein auf dem Sofa sitzen und warf ebenfalls einen Blick in den schwarzen Spiegel. „Das sind Frauen, du Idiot!“, meinte sie ungehalten und deutete an, Oniji einen Klaps auf den Hinterkopf verpassen zu wollen. „Frauen?“ „In Borkas! Sie sind vermummt! Sie rennen ihrem Ehemann hinterher, vermutlich haben sie es allesamt eilig.“ „Meinst du?“ Sewill stöhnte genervt. „Du hast einfach kein Talent für den schwarzen Spiegel, ehrlich! Hier, versuch die Runen-Steine, vielleicht kommst du mit denen klar.“ Sie knallte ihm ein Säckchen voll Kiesel auf den Tisch. Als Oniji das Samtsäckchen öffnete und einen der kleinen, runden Steine herausnahm, bemerkte er, daß in jeden eine Rune eingraviert war. Sewill klatschte ihm ein Buch daneben. „Hier, die Anleitung dazu.“ „Du solltest schön fleißig mit den Runensteinen und dem schwarzen Spiegel üben. Wenn wir Sewill das nächste Mal besuchen, wird sie deine Fortschritte sehen wollen.“, meinte Safall leichthin, als sie am späten Abend im Geländewagen wieder nach Hause fuhren. Es war schon wieder stockdunkel, obwohl Sommer war, und außer dem schmalen Lichtkegel der Autoscheinwerfer sah man nichts von der Welt ringsum. Wie auch, das hier war ja nur Feldweg mitten im Nichts. Safall fuhr trotzdem zügig, als würde er die Strecke gut genug kennen. „Alles okay bei dir?“, hakte er nach, als er keine Antwort bekam. „Hm. Ich krieg diese Szene nicht mehr aus dem Kopf, wie ihr euch gegenseitig mit dem Messer ritzt. Wieso macht man sowas? Nur um das Blut eines anderen trinken zu können? Das ist so ...“ Ja, was eigentlich? Ekelig? Widerlich? Krank? Meine Güte, er befand sich hier im Kreise von selbsternannten Vampiren. Was war hier schon krank und was nicht? „Es geht nicht um das Blut.“, gab Safall ruhig und sachlich zurück. „Das ist eine emotionale Sache. Wir hängen sehr aneinander, meine Schwester und ich. Es ist der größte Vertrauensbeweis, den es gibt, wenn dir jemand das Messer zum Schnitt reicht. Fast ein Versprechen.“ „Machst du das häufiger?“ „Mit Sewill? Ja. Mit anderen weniger.“ Oniji atmete innerlich durch und konzentrierte sich wieder auf die Dunkelheit draußen. Ob Safall von ihm erwartete, irgendwann auch das Messer gereicht zu bekommen? Immerhin waren sie Schüler und Lehrmeister. Missmutig schüttelte er den Gedanken wieder ab. „Wie spät ist es gerade?“, wollte Safall wissen. Mit viel Mühe versuchte Oniji auf seiner Armbanduhr etwas zu erkennen. „Fast 23 Uhr. Wieso?“ „Ich habe überlegt, ob wir nochmal in die Rockkneipe gehen.“ „Bis wir wieder in Tokyo sind, ist es doch Mitternacht!“, hielt der Student entrüstet dagegen. „Ich muss morgen zur Uni!“ „Macht doch nichts. Vampire sind Nachtschwärmer.“ „Vampire müssen auch nicht früh zur Uni!“ „Siehst du? Also lass uns in die Rockkneipe gehen!“, schlussfolgerte der Langhaarige fröhlich und drehte sein Autoradio lauter, wo gerade ein Song lief, in dem das Schlagzeug so richtig gefeiert wurde. Vergnügt trommelte Safall auf dem Lenkrad mit. Mit verschränkten Armen lehnte sich Oniji im Sitz zurück. Langsam wurde es auffällig und lästig, daß Safall so selbstverständlich über sein Leben bestimmte. Wahrscheinlich würde er morgen wieder bei ihm in der Tür stehen und irgendwas in seiner Wohnung umräumen. Würde Gothic-Kram aufstellen, oder den Kleiderschrank „entmüllen“, oder die Wände schwarz streichen, oder alles mit Weihrauchstäbchen ausräuchern, oder einen Haufen unangekündigter Freunde mitbringen ohne ihn vorher zu fragen. Nun ging es also wieder in die Vampir-Kneipe. Ohne ihn vorher zu fragen. Wieder stand Oniji am nächsten Vormittag im Bad und suchte im Spiegelbild Anzeichen für seinen gestrigen Absturz. Gott, er wusste gar nicht mehr so genau, wie er nach Hause gekommen war. Und auch davor war vieles nur wage. Safall hatte ihn ein wenig abgefüllt. Nicht viel, aber genug um ihm gewisse Hemmungen zu nehmen. Dann waren sie mit einigen Mädchen in einem Hinterzimmer verschwunden. Er wusste noch, daß er unter Safalls wachsamen Augen gefesselt und mit einer Kanüle angezapft worden war. Von seinem Blut hatten alle getrunken, das Ende des Schlauches hatte regelrecht die Runde gemacht. Auch er selbst hatte Blut getrunken, aber er wusste nicht mehr so genau von wem. Berauscht vom Alkohol und der wummernden Musik war ihm alles recht gewesen, gefesselt oder nicht. Kein Wunder, daß er heute doch nicht zur Uni gegangen war. Er erinnerte sich, daß er es mit zwei der Mädchen getrieben hatte. Mit MINDESTENS zwei, korrigierte er mit einem Blick in den Spiegel und schlug die Hände vor´s Gesicht. Verdammter Mist, er hatte eine Freundin! Wie sollte er ihr das erklären? Was hatte Safall bloß aus ihm gemacht? Oniji schaute auf seine angestochene Ellenbeuge, die ihm deutlich bewies, daß das letzte Nacht wirklich alles geschehen war. Der Stich war sauber, keine Blutergüsse. Das Mädchen, das ihn an die Kanüle gelegt hatte, tat sowas augenscheinlich öfters. Solche Orgien waren ja nur das eine. Er bekam wirklich Angst, daß früher oder später auch Drogen mit ins Spiel kamen. Entschlossen starrte er sein eigenes Spiegelbild an. Er musste mit Safall Klartext reden! So ging das nicht weiter, schwor er sich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)