Creepypasta Extra: Umbra von Sky- (Schatten einer Tragödie) ================================================================================ Kapitel 11: Eine schreckliche Erkenntnis ---------------------------------------- Thomas, Anthony und Christine hatten eine Art Gefängnis erreicht, welches dem Anschein nach schon seit längerer Zeit nicht mehr in Betrieb war. „Und hier sollen Mary und Hannah sein?“ fragte Anthony unsicher, denn er konnte sich nicht wirklich vorstellen, dass sich die beiden in so einem heruntergekommenen Bau aufhalten sollten. Christine parkte den Wagen neben dem Eingang und stieg aus. „Vertrau mir, die sind dort.“ Schließlich stiegen auch Thomas und Anthony aus und gemeinsam gingen sie zum Haupttor, welches jedoch verschlossen war. Ein paar kräftige Tritte von Christine reichten aber aus, um die Kette auseinanderzubrechen und das Tor aufzustoßen. Sie eilten zum Haupteingang, wobei Thomas sich nach allen Seiten umsah und bemerkte, dass überall Kameras angebracht waren. Offenbar war das Gefängnis doch nicht so verlassen, wie es von außen aussah. Wahrscheinlich hatte Mary sie installiert und in dem Falle hatte sie die drei längst bemerkt und würde gleich einen gehörigen Empfang bereiten, der sich gewaschen hatte. Der Ex-Stasi war hochkonzentriert und bereitete sich auf einen weiteren Kampf mit unfairen Mitteln vor. Christine war die Erste an der Tür und stieß auch diese auf. Das künstliche Licht blendete Anthony und er blieb stehen. Thomas drehte sich um und fragte „Ist etwas nicht in Ordnung?“ „Ich hab eine Lichtallergie, schon vergessen? Selbst künstliches Licht kann ich nicht vertragen.“ „Kein Problem, dem verschaffen wir gleich Abhilfe.“ Christine holte eine Sonnenbrille hervor und setzte sie Anthony auf. Dann warf sie ihm eine Kapuzenjacke zu, damit er sich verhüllen konnte. „Damit müsste es doch gehen, oder?“ „Ich glaube schon“, murmelte er und versuchte, sich an seine Übungen zu erinnern. Er musste versuchen, an etwas anderes zu denken, als das Licht. Hannah, er musste an Hannah denken und dass sie in Gefahr war. Ja, dieser Gedanke war stark genug, um seine schreckliche Angst zu vertreiben. Anthony hielt sich dicht hinter Thomas und folgte ihm und Christine ging allen voran. Ein langer Gang führte sie ins Innere des Gefängnisses und sogleich erkannten sie, dass das Innere eigentlich nicht mehr viel mit einem Gefängnis zu tun hatte. Es war komplett umgebaut worden und sah aus wie ein riesiges Labyrinth. „Da hat sich aber jemand Mühe gegeben“, murmelte die rothaarige Frau und schaute sich um. Anthony hingegen wurde unwohl zumute und das lag nicht an dem Licht. „Es erinnert mich an das Institut, in welchem ich damals gewesen bin.“ „Mary kann das nicht alleine umgebaut haben. Da war noch jemand anderes am Werk.“ Sie gingen den Gang entlang und bogen nach rechts ab, wo sie eine Reihe von schweren Eisentüren vorfanden, die allesamt verschlossen waren. Dahinter hörten sie schwach aber trotzdem hörbare Geräusche. Christine ging zu eine dieser Türen und öffnete das kleine Sichtfenster. „Ich glaub’s ja nicht!“ rief sie und wandte sich an Thomas und Anthony. „Da ist jemand drin!“ Nun schaute Anthony durch das kleine Fenster und sah tatsächlich einen Mann, der in einer Zwangsjacke steckte und acht Augen besaß. Aus seinem Rücken wuchsen deformierte Extremitäten, die ihm etwas Spinnenartiges verliehen. Der Mann trug eine Art Hannibal Lecter Mundschutz und an seiner Kleidung klebte eingetrocknetes Blut. „Was zum Henker ist das?“ „Das sind Experimente“, erklärte Thomas und ging zur nächsten Zellentür. „Offenbar weitere fehlgeschlagene Versuche des DDR-Experimentes, ähnlich wie John damals. Das Mittel, das den Betroffenen gespritzt wurde, verursacht eine Hirnmutation. Durch enormen Stress oder durch andere Ursachen gerät der Mutationsvorgang außer Kontrolle, sodass der Körper sich immer weiter verändert. Genau aus dem Grund ist auch Hannah zu Umbra geworden.“ Sie schauten sich die weiteren Zellen an, in der Hoffnung, Hannah dort zu finden, aber sie wurden enttäuscht. Doch dann, als sie die letzte Tür erreichten, machten sie trotzdem eine unfassbare Entdeckung. Thomas, der zwar immer noch den gleichen Gesichtsausdruck wie sonst hatte, stand das Entsetzen in den Augen geschrieben und er brach die Tür auf. „Was hast du?“ rief Anthony und eilte zusammen mit Christine zu ihm, dann aber sah er es selbst. In der Ecke dieser Zelle kauerte in Ketten gelegt ein schielender schwarzhaariger junger Mann, der offensichtlich das Opfer schwerer Misshandlung gewesen war. Es war John, der schielende Engländer aus Hannahs Erinnerung. Thomas stand wie vom Donner gerührt da und konnte seinen Augen nicht trauen. Er dachte zunächst, er hätte es mit jemanden zu tun, der John ähnlich sah, aber dann schaute dieser auf und sagte „Ich kenne dich doch… du bist doch derjenige, der Hannah damals geholfen hat.“ „John?“ fragte Thomas zögernd und trat näher. Der Schielende nickte, sein Atem war rasselnd und schwarzes Blut floss in einem dünnen Rinnsal von seinen Mundwinkeln herunter. „Ja… zumindest war ich es einmal.“ „Wie kann das sein? Ich dachte, Hannah hätte dich getötet.“ „Ich war tot“, erklärte John mit schwacher und hoffnungsloser Stimme. „Aber ich konnte nicht übergehen. Stattdessen hat mich etwas mit Gewalt wieder zurückgeholt, so wie viele andere von uns auch. Wir können nicht sterben, obwohl wir tot sein sollten.“ „Wer hat euch zurückgeholt?“ fragte Christine nun, auch sie sah sehr beunruhigt über diese Entdeckung aus und trat näher, sodass sie nun neben Thomas stand. „Wer hat euch ins Leben zurückgeholt?“ John senkte traurig den Kopf und machte sich ganz klein, was bei seiner beachtlichen Größe nicht gerade einfach war. „Wir alle haben lange genug gelebt und wollen einfach nur sterben, aber er lässt uns nicht. Obwohl wir allesamt Fehlschläge sind, erhält er uns gewaltsam am Leben, weil wir seine persönlichen Trophäen sind. Diese Anstalt hier ist nichts Weiteres als seine Trophäenkammer. Egal was wir tun, wir können nicht sterben, obwohl wir wissen, dass unsere Zeit abgelaufen ist. Aber wie können wir etwas gegen jemanden ausrichten, der Macht über den Tod besitzt?“ „Nun sag schon, wer tut euch das an?“ „Habt ihr euch denn nie gefragt, wieso die Experimente so lange fortgeführt wurden und selbst heute noch präsent sind, warum seine Leiche nie aufgetaucht ist? So viele Ungereimtheiten und ihr habt sie nicht erkannt. Woher glaubt ihr wohl, hat Mary die Informationen zu Umbra und wer hat diese Anlage gebaut? Woher weiß Mary, was es mit Umbra auf sich hat und wie sie an seine Kraft kommen soll? Ihr habt schon längst die Antwort, aber ihr seht sie nicht.“ Anthony erbleichte, als er verstand, was John ihm sagen wollte. Aber sein Verstand weigerte sich, diese Tatsache zu akzeptieren. Es konnte nicht sein, nein es durfte nicht sein. Er war doch tot. Sein bester Freund Vincent hatte den Verantwortlichen doch unter Einsatz seines Lebens getötet! „Hinrich Helmstedter lebt? Aber er ist doch tot!“ „Ebenso tot wie ich und die anderen und trotzdem wandeln wir alle noch als Lebende in dieser Welt, ob wir nun wollen oder nicht.“ Johns Stimme war so gebrochen und hoffnungslos, dass man wirklich Mitleid mit ihm haben musste. Aber weder Anthony noch Thomas konnten sich erklären, wie es möglich war, dass Tote wieder zum Leben erwachen konnten, doch schließlich erinnerten sie sich an Christines Worte und Thomas fragte „Hat der Fährmann damit zu tun?“ „Nein, ganz ausgeschlossen. So etwas Schreckliches würde er nicht tun. Moment mal, ich überprüfe das.“ Christine holte ein Handy mit einem kleinen Totenkopfanhänger heraus und wählte eine Nummer. Nach einiger Wartezeit wurde das Gespräch angenommen und eine Stimme am anderen Ende der Leitung meldete sich. „Hallo, hier ist Christine.“ „Christine, was gibt es? Kommst du gut voran?“ „Wie man’s nimmt. Sag mal, kann es sein, dass es noch einen Nekromanten außer dir gibt, den du übersehen hast?“ „Hm… das kann eigentlich nicht sein. Soweit ich weiß, habe ich allen ihre Kraft genommen und somit wäre ich eigentlich die Letzte. Wovon sprichst du denn?“ „Wir haben hier ein Problem. Doktor Helmstedter ist noch am Leben und er ist ebenfalls ein Nekromant. Das fällt eigentlich nicht mehr in meinen Zuständigkeitsbereich, dafür bist du zuständig, meine Liebe. Der Doktor hat seine verstorbenen Experimente wieder zurückgeholt und erhält sie zwangsweise am Leben. Das sind Zustände, über die wir beide unmöglich hinwegsehen können.“ „Schon gut, reg dich nicht auf! Ich werde schauen, dass ich mich darum kümmere.“ „Na gut… ich werde sehen, dass ich meine Angelegenheit so schnell wie möglich erledigt bekomme. Aber ich verlasse mich darauf, dass du dich darum kümmerst.“ Damit legte Christine auf und steckte das Handy wieder in die Hosentasche. Sie fuhr sich durch ihr leuchtend rotes Haar und sammelte sich. „So wie die Sache aussieht, haben wir ein echt dickes Problem. Hinrich Helmstedter ist offenbar ein Nekromant und als solcher verfügt er über Fähigkeiten, gegen die man kaum etwas ausrichten kann.“ „Ein Nekromant?“ fragte Anthony und so langsam begann ihm ein Licht aufzugehen. Er hatte in dem Buch „Der lange Weg nach Hause“ von Menschen gelesen, die die Macht besaßen, den Tod zu beherrschen. Für gewöhnlich wurden sie von ihren Mitmenschen verstoßen, misshandelt und ermordet. Aber eines Tages verschwand diese Kraft einfach und die Nekromanten waren nur noch einfache Menschen. Christine bestätigte diese Geschichte. „Man benutzte die Nekromanten, um Zugang zum Jenseits zu erhalten, da machte der Fährmann ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er nahm den Nekromanten ihre Kraft und wendete sie gegen die Menschen an, die sie missbrauchen wollten. Somit wäre der Fährmann der letzte verbliebene und zugleich mächtigste Nekromant. Er wäre in der Lage, das Ende der Welt einzuläuten. Eigentlich wurde mir versichert, dass es außer dem Fährmann keine anderen Nekromanten mehr gäbe aber so wie es aussieht, wurde da jemand übersehen.“ „Sind die Nekromanten sehr gefährlich?“ „Erinnert sich einer von euch an den entstellten Jungen, der seine ganze Klasse umgebracht hat, aus Rache für den Mord an seiner Familie? Die Nekromanten können Menschen sterben lassen, ohne selbst Hand anzulegen. Die meisten von ihnen sind eigentlich friedlicher Natur aber wenn ausgerechnet Helmstedter ein Nekromant ist, dann sieht das ganz anders aus. Wie es aussieht, muss sich der Fährmann selbst darum kümmern.“ Christine sah besorgt über diese neue Entwicklung aus und auch Thomas wirkte beunruhigt. Verdenken konnte man es ihnen nicht, aber Anthony traf diese Nachricht am schlimmsten. Hinrich Helmstedter war sein Halbbruder und als solcher fürchtete er, dass diese Fähigkeit vielleicht auch in ihm steckte. Womöglich war sie ja vererbbar! „Ist Nekromantie vererbbar?“ Thomas verstand die Frage nicht, doch Christine schien zu wissen, was ihm durch den Kopf ging und sie klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter. „Nein, diese Kraft tritt eher zufällig auf und hat nichts mit Vererbung zu tun.“ John, der immer noch in der Ecke kauerte, hustete schwarzes Blut aus und sah sie mit einem flehenden Blick an. „Ihr müsst dieses Monster töten. Bitte, ihr müsst diese schrecklichen Versuche beenden, die sie selbst Kindern antun. Zerstört diese Anlage hier, verbrennt alles und uns gleich mit dazu! Vielleicht können wir dann endlich sterben!“ „Keine Sorge“, sagte Christine schließlich. „Dafür werde ich schon sorgen.“ John senkte den Kopf und vergoss Tränen, aber er wirkte erleichtert. „Danke“, sagte er mit zitternder Stimme. „Vielen… Dank…“ Sie verließen die Zelle und verschlossen sie hinter sich. Christine senkte den Blick und sah bestürzt aus. So hatte noch niemand sie erlebt. Diese Sache nahm sie mit, auch wenn sie normalerweise solch emotionale Dinge auf Abstand hielt und versuchte, es sich nicht zu Herzen zu nehmen. Aber dass Menschen gewaltsam vom Sterben abgehalten wurden und sie in solch einem Elend dahin vegetierten, obwohl ihre Zeit schon lange abgelaufen war, berührte sie trotzdem. Wie grausam konnte man nur sein und diese armen Seelen dermaßen quälen, nur um sie sich als lebende Trophäen zu halten? Sie hatte in ihrem langen Leben vieles erlebt und gesehen, aber dies hier ging ihr nahe. Das durfte es nicht! Sie musste versuchen, neutral und objektiv zu bleiben, damit sie stets richtig handelte. Wenn sie sich von ihren Gefühlen leiten ließ, war sie nicht mehr in der Lage, das Richtige zu tun. „Alles in Ordnung?“ fragte Anthony und riss Christine aus ihren Gedanken. Sie sah zu ihm auf und nickte. „Ja. Wir… wir sollten jetzt besser gehen und Mary und Hannah finden.“ Sie verließen den Zellentrakt und bogen nach rechts ab, wo eine Treppe in die untere Ebene führte. Dort gelangten sie in eine Art riesiges Labyrinth von Gängen und Treppen, welches wahrscheinlich größer und verzweigter war, als der überirdische Bau. Sie entschieden sich, geradeaus zu gehen und bemerkten, wie still es hier doch war. Es war ein wenig zu ruhig. Schließlich erreichten sie eine Abzweigung und mussten sich nun für einen Weg entscheiden. Jemand klopfte Anthony auf die Schulter und als er bemerkte, dass es Thomas war, folgte er seinem Blick und sah Blutstropfen auf dem Boden. Sie waren frisch, also war erst kürzlich jemand hier gewesen. „Wir sollten uns aufteilen“, schlug der Ex-Stasi schließlich vor. „Christine geht nach rechts, wir beide nach links.“ So wurde es gemacht und so eilten die beiden Konstrukteure in die eine Richtung, während Christine in die andere verschwand. Diese erreichte schon nach wenigen Augenblicken eine offen stehende Zellentür, an der ein blutiger Handabdruck zu sehen war. Ein leises Stöhnen kam aus der Dunkelheit und so schaltete sie das Licht an. Auf dem Boden lag Mary Lane, deren halber Körper bereits völlig zerfallen war. Lediglich ein Teil ihres Torsos sowie ihr Kopf waren noch unversehrt, aber von Rissen übersäht. Noch nie hatte Christine so etwas gesehen. Es schien so, als verwandle sich Marys Körper langsam in eine porzellanartige Struktur und zerfiel dann einfach. Vorsichtig kniete sie sich neben den Überresten Marys hin und drehte sie auf den Rücken. Sie lebte noch, wenn auch nicht mehr für lange. „Was ist denn mit dir passiert?“ „Ich hätte es fast geschafft… ich hätte ein Dream Weaver werden können, wäre dieses Balg nicht schon mit dieser Gabe zur Welt gekommen.“ Was für ein Kind? Sprach sie da etwa von Hannahs Kind? „Wo ist Hannah?“ „Sie ist losgegangen, um ihr Kind zurückzuholen. Diese naive dumme Gans glaubt doch tatsächlich, sie kann noch etwas ausrichten. Sie wird sterben… Wenn nicht durch die Verletzungen, dann wird er sie töten.“ „Meinst du Helmstedter?“ Mary keuchte erschöpft, ihr Gesicht war von Rissen übersät und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie endgültig zerfallen würde. „Er hat mich betrogen. Er sagte, er würde mir helfen, ein Dream Weaver zu werden, weil ich seine größte Schöpfung sei. Aber er hat mich einfach weggeworfen, dieser Dreckskerl. Ich hatte gedacht, ich benutze ihn, um an mein Ziel zu kommen und töte ihn dann ganz einfach, wenn ich ihn nicht mehr brauche. Aber letzten Endes war er es, der mich weggeworfen hat, als ich nicht mehr von ihm gebraucht wurde. Was für eine bittere Ironie…“ Es knackte leise und Marys Becken löste sich auf. Sie weinte nicht einmal, sondern lächelte nur hoffnungslos. „So einfach werde ich es diesem Hurensohn nicht machen. Selbst wenn ich wie Jackson als hässliche Vogelscheuche zurückkehren sollte, werde ich nicht aufgeben. Ich werde diese Welt in Schutt und Asche legen und aus den Leichenbergen blühende Gärten erschaffen…“ „Wie aus dem Kinderlied, nicht wahr? Mary, Mary quite contrary How does your garden grow? With silver bells and cockle shells And pretty maids all in a row...” Mary nickte und vergoss doch noch eine einzelne Träne. „Eines Tages werde ich es schaffen. Dann wird diese Welt, die nichts als Verfall und Elend bereithält, aufhören zu existieren und ich werde eine bessere aus meinen Träumen erschaffen. Und wenn ich die ganze Menschheit dafür abschlachten muss!“ Marys Augen weiteten sich, sie brachte ein leises Stöhnen hervor, als ihr Gesicht zu zerbröckeln begann. Christine stand auf und ging zwei Schritte von ihr zurück, da zerfiel Mary Lane Johnson, geborene Marie Lena Johann in unzählige Scherben, die sich langsam in Staub verwandelten. „Was für ein Ende“, seufzte Christine, schüttelte den Kopf und verließ die Zelle. „Zerstört von den Träumen eines Säuglings. Das ist wirklich Ironie.“ Damit schloss sie die schwere Tür hinter sich und ging los, um nach Anthony und Thomas zu suchen. Diese waren der Blutspur in die andere Richtung gefolgt und sahen, dass neben den Blutspuren auf dem Boden auch Handabdrücke an der Wand klebten. Thomas lief schneller, sodass Anthony kaum Schritt halten konnte und als sie um eine Ecke bogen, sahen sie eine junge Frau auf dem Boden liegen. Sie war schwer verletzt und völlig am Ende ihrer Kräfte. Ihr brünettes Haar war blutverklebt und ihre ebenso blutigen Hände fanden an den Wänden kein Halt. Sie versuchte verzweifelt aufzustehen, doch ihre Beine versagten. Zum ersten Mal in seinem langen Leben sah Anthony, wie sich Thomas’ Augen weiteten und er erstmals in seiner Gegenwart so etwas wie Gefühle zeigte. „Hannah!“ rief er und eilte zu ihr. Er kniete sich neben sie hin und hob sie vorsichtig hoch. Sie atmete noch, doch sie war durch den Blutverlust sehr geschwächt. Ihr Gesicht war geschunden und ein Zahn war ihr herausgeschlagen und ihr Unterleib aufgeschlitzt worden. Sie war es tatsächlich und trotz der Verletzungen und des vielen Blutes war sie genauso hübsch wie vor 58 Jahren. Hannah schaffte es, bei Bewusstsein zu bleiben und sie diese vertrauten Augen, die von dunklen Schatten umgeben waren und die auf andere Menschen so finster und kalt wirkten. Nur nicht auf sie… „Ich muss tot sein, wenn ich dich so sehe, wie du damals warst…“ Sie lächelte und strich ihm über die Wange. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wieder sehen werde. Und du hast dich kein bisschen verändert.“ „Wer hat dir das angetan, Hannah? Was ist passiert?“ Hierauf wich Hannahs schwaches Lächeln und Thomas sah den Schmerz und den Kummer in ihren Augen. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln und sie ergriff schluchzend seine Hand, während sie die andere auf ihre blutende Wunde presste. „Er hat… er hat unser Kind mitgenommen, Thomas. Er hat unser Kind!“ Hannah, die die ganze Zeit stark geblieben war, konnte die Tränenflucht nicht mehr zurückhalten und gab sich all ihrer Verzweiflung hin. Sie weinte nur noch und drückte sich fest an Thomas. Er seinerseits blieb ruhig und starrte ins Leere. Sein Gesichtsausdruck war wieder genauso kalt wie zuvor und für fremde Augen sah es aus, als würde ihn dieses unendlich traurige Bild, was sich ihm bot, nicht berühren. Doch Anthony wusste es jetzt besser, denn er sah, dass auch Thomas litt. Nur litt er allein in seinem Inneren, während er nach außen hin stark für Hannah blieb. „Es tut mir so Leid“, schluchzte sie und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. „Ich habe wirklich alles falsch gemacht. Ich wollte dir eine gute Frau werden und dir Kinder schenken. Aber ich habe in allen Dingen versagt, ich bin dir weder eine gute Frau, noch dem Kind eine gute Mutter gewesen. Ich war nicht mal in der Lage, unser Kind zu retten…“ „Du hast getan, was du konntest“, sagte Thomas ruhig und hielt ihre Hand, an der sie immer noch den Ring von damals trug, fest. Er selbst trug ihn auch und als Hannah das sah, fehlten ihr die Worte. Nach all der Zeit, nach fast sechzig Jahren trug er den Verlobungsring immer noch. Selbst wenn sie niemals ein Kind hätte zeugen können, wäre er trotzdem bei ihr geblieben. Obwohl sie sich in ein Monster verwandelt und versucht hatte, ihn zu verschlingen, hatte er sie nicht aufgegeben. Schließlich wagte sie die eine Frage. „Würdest du mich nach alledem, was passiert ist, trotzdem heiraten?“ Und Thomas antwortete ruhig „ja“. Glücklich schloss sie die Augen und ihr Atem verlangsamte sich. Ihr Körper wurde schlaff und sank zurück, doch er hielt sie und drückte sie fest an sich. Er senkte den Kopf, sodass Anthony sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, aber ihm entging nicht, dass Thomas zitterte. Schritte kamen rasch auf sie zu und als Anthony zurückschaute, sah er Christine. Diese war sichtlich außer Atem und wollte gerade von ihrer Entdeckung berichten, da erblickte sie Hannah und lief zu ihr. Sie legte die schwer Verletzte vorsichtig zu Boden und fühlte ihren Puls. „Das ist nicht gut“, murmelte sie ernst. „Sie ist zu schwach und sie hat bereits zu viel Blut verloren.“ Schließlich legte sie ihr Ohr an Hannahs Brust, um den Herzschlag zu kontrollieren. „Ihr Herz schlägt unregelmäßig. Sie wird es nicht mehr lange machen.“ „Dann heißt das, sie wird sterben?“ „Wenn nicht sofort ein Wunder geschieht, dann ja. Aber zum Glück haben wir alles für ein Wunder parat. Anthony, komm mal her, ich brauch dich hier.“ Damit winkte sie den Lichtscheuen, der aus Rücksicht auf Thomas’ Gefühle im Hintergrund geblieben war, zu sich heran. Sie erklärte ihm, dass er versuchen sollte, Hannahs Körper dazu zu bringen, die Wundheilung zu beschleunigen und die Blutzellenproduktion zu erhöhen. „Aber selbst wenn, dann wird es sehr knapp werden!“ „Ich weiß. Wenn es nicht anders geht, dann gehen wir zu Plan B: Wir versetzen Hannah ins Koma. Somit werden alle Körperfunktionen auf ein Minimum heruntergefahren und das verschafft uns Zeit.“ „Gut, ihr zwei kümmert euch um Hannah und ich gehe mein Kind suchen.“ Es klang seltsam, als er das sagte. Sowohl für ihn selbst als auch für Anthony und zugleich spürte Thomas so etwas wie Angst. Er hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr verspürt, nämlich als er Hannahs Verwandlung mit ansehen musste und wie sie beide das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Wenn er jemals vor etwas Angst gehabt hatte, dann davor, dass er Hannah verletzen könnte. Und jetzt war es eine völlig neue Angst. Fragen schossen ihm durch den Kopf, die er sich noch nie zuvor gestellt hatte. Er fragte sich, ob er überhaupt imstande sein würde, ein Kind aufzuziehen und ihm ein guter Vater zu werden. Aber vor allem beherrschte ihn die Angst um das Leben dieses kleinen Wesens, welches so zerbrechlich war, dass er es sich niemals vorstellen konnte, so eines jemals im Arm zu halten. In seinem langen Leben hatte er schon viele Familien gesehen und beobachtet, wie Mütter ihre Babys, die kaum die Augen öffnen konnten, liebevoll im Arm hielten und wie glücklich sie ausgesehen hatten. Er hatte eigentlich nie etwas dabei empfunden, denn er hatte sich mit so einem Thema nie auseinander gesetzt. Und nun hatte er erfahren, dass er selbst Vater war und dass sein Kind der Mutter gewaltsam weggenommen und entführt worden war. Und Hannah hatte sich mit letzter Kraft weitergeschleppt, um ihr Kind zu retten. Jetzt war es seine Aufgabe und er hatte Angst, dass er es nicht schaffen könnte… dass er seiner neuen Rolle nicht gerecht werden würde. Aber sofort verbannte er diese Gedanken wieder und konzentrierte sich einzig und allein auf sein jetziges Ziel: Helmstedter zu finden und ihn zu töten! Christine und Anthony waren hochkonzentriert und versuchten ihr Bestes, um Hannahs Leben zu retten. Doch es erwies sich als schwieriger als gedacht, denn etwas in Hannah schien nicht weiterkämpfen zu wollen. Sie war bereits nicht mehr ansprechbar und reagierte auf nichts mehr. Auch ihr Herz hörte immer wieder zu schlagen auf, woraufhin Christine sie reanimieren musste. „Wir verlieren sie“, rief Anthony beinahe hilflos, während er alles in seiner Macht stehende tat, um Hannah vor dem Tode zu bewahren. Aber selbst seine Kraft war begrenzt. Wenn die Wundheilung und die Blutproduktion zu schnell wurden, konnte das bei Hannah zu einem Herzinfarkt führen, den sie nicht überleben würde und es konnte sehr gut geschehen, dass sich ihr Körper dagegen sträubte. Christine ihrerseits konzentrierte sich darauf, Hannah durch Herzmassage und Mundzumundbeatmung am Leben zu halten. Doch egal wie sehr sie sich auch anstrengten, Hannah starb langsam. „Anthony, du machst weiter mit der Herzmassage, ich muss kurz telefonieren.“ Sie holte erneut ihr Handy hervor und wählte eine Nummer. „Hey, ich bin es noch mal. Hör zu, wir haben hier eine junge Mutter, die uns gerade wegstirbt… Hannah Ackermann… ja? Das habe ich mir bereits gedacht. Hör zu, du musst mir einen Gefallen tun und uns helfen, sie am Leben zu erhalten. Ja das ist gut, okay.“ Damit legte Christine auf und übernahm wieder ihre Aufgabe. „Und? Was ist?“ fragte Anthony. „Wie es aussieht, versucht unser feiner Herr Doktor, Hannah übern Jordan gehen zu lassen. Offenbar versucht er mit Gewalt, Hannah auf die andere Seite zu drängen, damit sie stirbt. Der Fährmann wird sich darum kümmern und Hannah zurückbringen. Wir konzentrieren uns jetzt darauf, dafür zu sorgen, dass ihr Zustand stabilisiert wird.“ Allmählich, ganz langsam aber trotzdem erkennbar, hörte die tiefe Schnittwunde auf zu bluten und das war schon mal ein gutes Zeichen. Anthony musste kurz unterbrechen, da sein Kopf heftig schmerzte und er ein Sausen in den Ohren bekam. Seit Ewigkeiten hatte er so etwas nicht mehr gemacht und das Unbewusstsein anderer Menschen zu steuern, war ungeheuer anstrengend und vor allem extrem belastend. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. „Das hast du gut gemacht“, lobte Christine und klopfte ihn auf die Schulter. „Ich glaube, sie wird es schaffen…“ „Darf ich dir eine Frage stellen?“ „Klar doch.“ „Was genau hast du eigentlich mit Thomas ausgehandelt?“ Christine schaute ihn unsicher an, da sie überlegen musste, ob sie ihm das wirklich sagen sollte. Dann aber entschied sie sich dafür und erklärte „Thomas tötet eine gewisse Zahl von Leuten, die auf meiner Liste stehen und erledigt andere Aufgaben für mich. Dafür sorge ich, dass er mit Hannah wieder zusammen kommt. Egal ob in dieser Welt, oder im Jenseits. Das heißt, wenn Hannah stirbt, dann wird auch Thomas sterben. Und da ich nur ungern will, dass das Kind zur Vollwaise wird, muss ich eben alles daran setzen, dass Hannah so lange wie möglich am Leben bleibt. Außerdem hab ich Thomas irgendwie gern und ich fände es schade, wenn alles so ein tragisches Ende nehmen würde.“ Unfassbar wie weit Thomas gehen würde, nur damit er wieder bei Hannah war. Selbst den Tod würde er ohne zu zögern in Kauf nehmen. Er musste sie wirklich lieben. „Glaubst du, er wird etwas gegen den Doktor ausrichten können?“ „Um ehrlich zu sein: Nein, er wird nicht die geringste Chance gegen ihn haben. Aber keine Sorge, wir bekommen Unterstützung und wenn die Anlage hier erst mal zerstört ist, bin ich raus aus der Sache. Dann wird jemand anderes den Fall übernehmen.“ „Wieso steigst du aus?“ „Ich kümmere mich um ungesühnte Verbrechen. Alles, was mit Nekromantie und ähnlichen zu tun hat, fällt nicht in meinen Aufgabenbereich und ich will es lieber vermeiden, in Konflikt mit Kollegen zu geraten. Ein Mal ist mir das passiert und es hatte wirklich böse Folgen.“ Christine holte einen Flachmann aus ihrer Innentasche, nahm einen Schluck und reichte ihn Anthony, der irgendwie sehr niedergeschlagen aussah. „Erzähl schon, was genau bedrückt dich?“ „Es ist Helmstedter…“, murmelte er und nahm die Sonnenbrille ab, mit der er seine Augen vor dem künstlichen Licht geschützt hatte. „Ich hatte echt gehofft, dieses Monster wäre tot. Mein bester Freund hat sein Leben riskiert und sein Gedächtnis gelöscht, nur um uns vor diesem Schwein zu retten. Aber er lebt immer noch und führt seelenruhig weiter seine kranken Experimente durch. Wie soll das bloß weitergehen?“ „Man kann sich seine Familie eben nicht aussuchen.“ „Da hast du wohl recht. Ich hoffe nur, dass wir ihn überhaupt noch aufhalten können." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)