Creepypasta Extra: Umbra von Sky- (Schatten einer Tragödie) ================================================================================ Kapitel 6: Ein kleines Licht inmitten einer tiefen Finsternis ------------------------------------------------------------- Im Mai 1937, zu einer Zeit in der Deutschland sich in einer kritischen Situation befand und damit auch kurz vor dem Beginn des zweiten Weltkrieges stand, erblickte Hannah das Licht der Welt. Und schon die Umstände standen unter keinem guten Stern. Ihre Mutter war ihrem Mann schon seit langem nicht mehr treu und betrog ihn mit einer Unzahl von Männern und aus einer dieser Affären ging Hannah hervor. Für sie war dies eine Katastrophe, denn da ihr Ehemann selbst keine Kinder zeugen konnte, würde sofort klar sein, dass das Kind nicht von ihm war. Also versuchte die untreue Mutter alles Mögliche, um das Kind abzutreiben. Sie ließ nichts unversucht, doch das Kind hatte einen außergewöhnlich starken Überlebenswillen und hielt durch. Die Mutter, die das Kind unbedingt und unter allen Umständen loswerden wollte, versuchte ihre Schwangerschaft zu vertuschen. Nachdem das Baby auf einer Bahnhofstoilette zur Welt gebracht wurde, versteckte die Mutter es zwischen Müllsäcken mit der Absicht, es dort verenden zu lassen und verschwand. Ein Pärchen fand das Baby schließlich und brachte das Kind zur städtischen Polizei, die nach der Mutter des Kindes suchte. Da die Suche erfolglos blieb, wurde das Baby in ein Heim gebracht und dort auf den Namen Hannah Ackermann getauft. Trotz der unzähligen giftigen Substanzen, mit der die Mutter versucht hatte das Kind abzutreiben, entwickelte sich Hannah prächtig und lernte recht schnell das Laufen und Sprechen. Doch stand es mit ihrer Kondition nicht immer zum Besten, was man auf die missglückten Abtreibungsversuche zurückführen konnte. Sie war etwas anfälliger für Krankheiten als andere Kinder ihres Alters und ihr Herz bereitete dem Arzt Sorgen. Deswegen verbot er allzu große Anstrengungen, die das Mädchen verausgaben könnten. Also durfte Hannah nur sehr selten mit den anderen Kindern draußen spielen. Sie durfte nicht mit ihnen herumtoben, um die Wette laufen oder Ähnliches. Stattdessen spielte sie immer im Haus und bekam nur wenig von der Welt da draußen mit. Sie war aber nicht traurig deswegen, nein Hannah besaß die außergewöhnliche Gabe, immer das Gute zu sehen und nicht aufzugeben. Wenn sie schon die Abtreibungsversuche der eigenen Mutter überleben konnte, dann würde sie auch mit ihrem schwachen Herzen fertig werden. Hannah besaß eine ungewöhnliche positive Ausstrahlung, die auch Wirkung auf die anderen Kinder zeigte. Ihr herzliches Lachen steckte andere an und sie selbst liebte es, Zeit mit den anderen zu verbringen und ihnen zu helfen. Dabei zeigte Hannah nicht immer absoluten Gehorsam den Erwachsenen gegenüber. Die Erzieher dieser Anstalt waren äußerst streng und militärisch und schon die Kleinsten, die gerade erst die ersten Worte lesen konnten, wurden an die Arbeit geschickt. Hannah verbrachte den ganzen Tag mit Putzen und Waschen und wurde für jeden kleinen Fehltritt hart bestraft. Als sie ein Mal einen Teller fallen ließ, verprügelte der Erzieher sie und Hannah musste einen ganzen Tag ohne Essen auskommen. Sie ertrug die Strafen, doch konnte sie einfach nicht mit ansehen, wenn andere leiden mussten. Wenn sie sah, wie jemand versehentlich etwas zu Bruch gehen ließ, die Milch verschüttete oder Dreck hinterließ, nahm sie die Schuld auf sich und wurde von den dankbaren Kindern heimlich mit Essen versorgt. Unter so harten Bedingungen durchzuhalten war nur möglich, wenn alle fest zusammenhielten und Hannah war das Bindeglied für die anderen. Immer, wenn jemand zur Strafe hungern musste, so fand sich immer jemand, der heimlich Essen aus der Küche mitgehen ließ. So war Hannah glücklich, trotz der unerbittlichen und grausamen Erzieher und der Isolation. Doch dann geschah etwas Schreckliches. Etwas, das sich für immer tief in Hannahs Gedächtnis einbrennen sollte. Der Krieg kam ins Land und mit ihm kamen Terror, Angst, Schrecken und Tod. Fast täglich wurde Bombenalarm ausgerufen und die Schutzbunker waren nicht groß genug. Und da Familien Vorrang vor einem Haufen Waisen hatten, mussten Hannah und ihre Freunde im Waisenhaus Deckung suchen und hoffen, dass es sie nicht treffen würde. Um sie von der Angst abzulenken, sangen die älteren Kinder Lieder oder spielten unter den Tischen, wo sie sich in Sicherheit gebracht hatten. Aber dann schlug nicht weit vom Waisenhaus eine Zehnzentnerbombe ein, die wahrscheinlich von den Amerikanern oder den Engländern abgeworfen worden war. Die Luftalarmsirene war an diesem Tag still geblieben, als es passierte, sodass es die Waisenkinder völlig unvorbereitet traf. Durch die Wucht der Explosion zersprangen die Fensterscheiben und zerfetzten Elsa, Hannahs bester Freundin, das Gesicht und ein großer Splitter durchbohrte ihre Kehle. Einem Jungen zerstörte es die Augen und mehrere weitere Kinder wurden verletzt. Sie schrieen und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen, doch der Altbau konnte der Druckwelle nicht standhalten und stürzte in sich zusammen. Alle 112 Kinder wurden begraben und von den Trümmern erschlagen oder unter ihnen eingeklemmt. Hannahs untere Hälfte wurde von einem großen Mauerstück eingeklemmt und sie schaffte es nicht aus eigener Kraft, herauszukommen. Sie rief verzweifelt um Hilfe, aber niemand antwortete ihr. Selbst als sie die Namen ihrer Freunde rief, blieb es still. Und als sie sich umsah, wurde ihr klar warum: Sie alle waren tot. Sie alle waren von den Trümmern erschlagen und unter ihnen begraben worden. Verzweiflung überkam Hannah und sie schrie sich die Seele aus dem Leib, damit irgendjemand sie retten kam. Aber es kam niemand. Das Einzige, was vorbei kam, waren Panzer und Transportwagen. Blut und Tränen verwischten Hannahs Sicht, sie versuchte mit aller Kraft, sich unter den Trümmern hervorzuziehen, aber sie schaffte es einfach nicht. Warum nur? Warum kam denn keiner sie retten? Sie war doch so nahe bei ihnen. Nach und nach verschwanden die Transportwagen und Panzer, die Infanteristen kamen. Wieder schrie sich Hannah die Seele aus dem Leib und tatsächlich schaute hin und wieder jemand zu ihr hin, doch keiner kam zu ihr hin um zu helfen. Hannah blieb stundenlang unter den Trümmern, unfähig um Hilfe zu rufen, da sie sich vollkommen heiser geschrieen hatte. Völlig entkräftet und ausgekühlt wurde sie ins Hospital gebracht, wo man feststellte, dass beide Beine gebrochen waren. Hannah sagte nicht ein Wort sondern weinte nur still. Schließlich wurde sie in ein Heim gebracht, welches sich außerhalb der Stadt befand und wo die Zustände auch nicht besser waren als in ihrem alten. Aber einer der Erwachsenen war nicht so hartherzig und das war John, die Hilfskraft der Anstalt. John war der Sohn englischer Immigranten und seit einem schweren traumatischen Ereignis konnte er nicht mehr sprechen. Deshalb musste er sich einer Schreibtafel bedienen, um mit anderen kommunizieren zu können. John war 18-jährig und schielte auf einem Auge. Sein Haar war etwas ungewöhnlich und genauso schwarz wie seine Kleidung. Die anderen Kinder fanden ihn seltsam und unheimlich, was aber ausschließlich an seinen Einschränkungen lag. Hannah hingegen fand in ihm die allererste Bezugsperson und vertraute ihm alles an, was sie bekümmerte. John, der selbst nicht sprechen konnte, war ein aufmerksamer Zuhörer und merkte schnell, dass Hannah sehr viel Zuwendung brauchte. Vor allem aber eine Familie. Ihr Wunsch nach einer Familie war so groß, dass sie an nichts anderes denken konnte als daran, adoptiert zu werden. Aber sie wusste, dass die Chancen einer Adoption sehr niedrig waren. Es gab einfach zu viele Waisenkinder und die Männer wurden alle an der Front erschossen, weshalb sich Witwen nicht auch noch mit Kindern herumschlagen wollten. Die Angst in Hannah wuchs und so vertraute sie sich schließlich John an. Dieser lächelte gutmütig und streichelte ihr den Kopf. Dann schrieb er auf seine Schreibtafel „Keine Sorge Hannah, irgendwann wirst du eine Familie haben. Selbst wenn du nicht adoptiert werden solltest, hast du die Chance, selbst mal eine Familie zu gründen, wenn du erwachsen bist.“ „Und wie soll ich das machen?“ „Das erfährst du noch früh genug. Wenn du erwachsen bist.“ Die beiden wurden ein Herz und eine Seele und für Hannah wurde John so etwas wie ein großer Bruder. In der Zeit, in der sie aufgrund ihrer gebrochenen Beine kaum das Zimmer verlassen konnte, war er stets an ihrer Seite und kümmerte sich liebevoll um sie. Er trug sie die Treppen hinunter und spielte ihr auf einem alten Klavier wunderschöne Melodien vor als Ersatz dafür, dass er ihr keine Geschichten erzählen konnte. Schließlich verheilten Hannahs Beine und John half ihr, wieder zum Laufen zu kommen. Aber auch dieses Glück sollte nicht lange andauern, denn als Hannah acht Jahre alt war, kam der Krieg 1945 langsam zu seinem blutigen und grausamen Ende. Der Alarm kam und man erfuhr, dass die rote Armee auf dem Vormarsch war. Panik brach in den Städten aus, die Menschen liefen davon und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Schließlich erreichte das Chaos das Heim von Hannah und John. Da man die Kinder unmöglich alle auf einmal wegbringen konnte, wurden sie aufgeteilt. John übernahm die letzte Gruppe, Hannah war ebenfalls dabei. Sie eilten auf die Straße und versuchten, dicht beieinander zu bleiben, da schlug neben ihnen auf der anderen Straßenseite ein Panzergeschoss ein und schleuderte Pflastersteine und Staub durch die Luft. Ein Stein traf Judith, die gerade mal vier Jahre alt war, am Kopf und erschlug sie sofort. Panik unter den Kindern brach aus und John versuchte verzweifelt, sie zusammenzuhalten. Er hatte in der letzten Zeit zumindest teilweise seine Stimme zurück gewonnen, jedoch war es eher ein krächzendes Stottern. Die Kinder, völlig in Panik geraten, rannten in alle Richtungen davon und nur Hannah und zwei andere blieben bei John. Ein weiterer Schuss schlug dicht neben sie ein und John versuchte, die drei Kinder zu schützen, indem er sich dazwischenstellte und ihnen somit Deckung bot. „Warum nur schießen die auf uns?“ rief Hannah ängstlich, während sie sich an ihn klammerte. „I-i-ich weiß es n-nicht.“ John sah sich um und entdeckte zwei Panzer und eine Infanterieeinheit, die das Banner der roten Armee mit sich trug. Die sowjetische Armee war da. „Sind die denn verrückt geworden? Ich dachte, sie haben es auf die Nazis abgesehen.“ Offenbar erkennen sie uns nicht auf die Entfernung, dachte Hannah beunruhigt. Vielleicht denken sie, wir sind bewaffnet und wollen sie angreifen. Das Gleiche dachte auch John. Er wies die drei an, hinter ihm zu bleiben, während er selbst mit erhobenen Armen auf die Soldaten zuging. „Hey!“ rief er und winkte mit den Armen als Zeichen, dass er keinerlei Widerstand leisten würde. „Wir sind unbewaffnet. Hier sind Kinder, bitte nicht schießen!“ Doch das Abschussrohr des Panzers wurde neu ausgerichtet und die Soldaten richteten ihre Gewehre auf ihn. John blieb stehen, immer noch die Hände erhoben. Schließlich wiederholte er seine Worte auf Englisch, da er glaubte, sie hätten ihn nicht verstanden. Da sie immer noch keine Anstalten machten, wandte er sich Hannah und den anderen beiden zu und wies sie an, sich in Sicherheit zu bringen. Aber sie konnten nicht gehen. Sie hatten zu viel Angst und waren wie erstarrt. Schließlich gab es John auf, die Soldaten vom Angriff abzuhalten. Er nahm Emma, die Jüngste der drei auf den Arm und Hannah an die Hand, dann eilte er los. Hinter ihnen schossen Kugeln vorbei und erneut feuerte der Panzer einen Schuss ab. Überall auf den Straßen schrieen die Menschen, rannten um ihr Leben und trampelten sich gegenseitig zu Tode. Mehrere von ihnen wurden getroffen und fielen tot oder schwer verletzt zu Boden. Alte und Junge, Erwachsene und Kinder. Sogar ein kleiner Junge, der ein Baby im Arm hielt, wurde von den Soldaten niedergeschossen und sank tot zu Boden. Fassungslos sah Hannah das Blutbad und zitterte am ganzen Körper. Warum taten sie das? Warum nur erschossen sie unbewaffnete Kinder? Hatten sie nicht vor, Hitlers Terrorherrschaft und damit auch den Krieg zu beenden? Wie konnten sie das, wenn sie auf Kinder schossen? Das war kein Krieg mehr, das war eine gezielte Abschlachtung. Sie rannten um ihr Leben, hörten den Kugelhagel und achteten schon gar nicht mehr auf den anderen. Doch dann, als Hannah sich nach John umdrehen wollte, spritzte ihr etwas ins Gesicht und sie sah, wie John zusammenbrach. „John!“ rief sie und wollte zu ihm und ihm hochhelfen, doch er schlug ihre Hand weg. „Mach dass du wegkommst!“ „Nein, ich lass dich hier nicht zurück. Ich will nicht wieder alleine sein!“ Hannah kniete weinend neben ihm nieder und hielt weinend seine Hand fest. Sie konnte nicht mehr klar denken, alles was sie wollte war, dass John bei ihr blieb und überlebte. Warum nur? Womit haben wir es verdient, getötet zu werden? Wir haben doch nichts Falsches getan, wir haben diesen Krieg doch nicht angefangen! Zwei Soldaten richteten ihre Gewehre auf Hannah, sagten etwas auf Russisch und traten sie direkt ins Gesicht. Sie fiel zu Boden und der schwer verletzte John versuchte, sie zu schützen, indem er sich über sie beugte und die Tritte abfing. Einer der Soldaten lachte verächtlich und sagte wieder etwas, das Hannah nicht verstand. Aber so viel wusste sie: Er würde sie erschießen. Sie und John hielten sich fest umschlungen und erwarteten den tödlichen Schuss, doch da schrie der Soldat plötzlich auf und fiel tot neben ihnen zu Boden. Verwundert sahen sie auf, da regnete eine Fontäne von Blut auf sie nieder, als der zweite Soldat mit aufgeschlitzter Kehle ebenfalls zusammenbrach. Ein Junge von vielleicht 13 Jahren, recht klein für sein Alter und mit einer Gasmaske im Gesicht war aufgetaucht und hielt ein blutiges Armeemesser in den Händen. Wie aus dem Nichts war er einfach aufgetaucht und griff ohne zu zögern die sowjetischen Soldaten an. Bevor sie ihre Gewehre überhaupt ansetzen konnten, entsicherte er eine Granate und schleuderte diese auf sie. Die Soldaten sprangen zur Seite, konnten aber nicht rechtzeitig fliehen und wurden von der Sprengkraft in Stücke gerissen. Bevor die Druckwelle vollständig an ihnen vorübergezogen war, stürzte sich der Junge auf die Überlebenden und schlitzte ihnen die Kehlen auf oder stieß ihnen die Klinge in die Brust. Als noch mehr Soldaten kamen, ließ er das Messer fallen, nahm eines der Maschinengewehre in die Hände (obwohl das Gewicht eigentlich zu groß für solch einen schmächtigen Jungen war) und feuerte auf die Menge. Als der Rest der Überlebenden floh, kletterte er auf den Panzer und zerrte den Fahrer heraus. Diesen hielt er am Haarschopf gepackt und sprach „Sic Semper Tyrannis“, dann schlitzte er auch ihm die Kehle auf. Nachdem er den Panzer unbrauchbar gemacht hatte, kletterte er wieder herunter und eilte zu Hannah und John. Er nahm die Maske ab und tatsächlich kam ein Junge zum Vorschein. Ein Junge mit eiskaltem Blick und dunklen Schatten um den Augen. „Seid ihr schwer verletzt?“ „Mir geht es gut, aber sie haben John erwischt. Er wird verbluten, wenn er keine Hilfe bekommt.“ Der Junge schob Hannah zur Seite und sah sich die Verletzung an. John hatte es im Rücken erwischt. „Ein glatter Durchschuss, aber lebenswichtige Organe wurden verfehlt.“ Der Junge kramte in den Taschen der Soldaten herum und holte ein Feuerzeug heraus. Unter dem Feuer begann er eine Nadel zu erhitzen, dann zog er einen Faden durch, den er von seiner Kleidung gelöst hatte und begann die Wunde provisorisch zusammenzunähen. Zuvor goss er etwas Wodka über die Verletzung. „Steh auf“, forderte der Junge und ging von John zurück. Er kam langsam wieder auf die Beine, hatte aber starke Schmerzen und man sah ihm an, dass er nicht lange durchhalten würde. „Nicht weit von hier ist eine Auffangstation für Verletzte. Dort wird man euch weiterhelfen.“ Der Junge wandte sich zum Gehen, aber Hannah hielt ihn zurück. „Warte, wer bist du eigentlich?“ „Ich habe keinen Namen. Es ist sowieso das Beste für euch, wenn ihr mich vergesst.“ Damit verschwand der Junge und ließ John und Hannah zurück. Sie kamen tatsächlich zu einer Auffangstation, wurden aber schließlich getrennt. John wurde von den Sanitätern versorgt und in ein Krankenhaus gebracht. Da Hannah nicht verletzt war, wurde sie fortgeschickt. Sie irrte durch die zerbombten Straßen, floh vor den Soldaten und fragte sich, wer dieser Junge war, den sie getroffen hatte. So wie er gegen die Soldaten gekämpft hatte, schien er ausgebildet fürs Töten zu sein. Aber er trug nicht die Uniform der HJ. Wer auch immer er gewesen war, er hatte sie beide vor dem sicheren Tod gerettet. Hannah schlief nachts in kleinen Verschlägen und ernährte sich von dem, was sie fand oder erbeuten konnte. Eine Zeit lang hatte sie Glück, bis sie jedoch von einem sowjetischen Infanteristen erwischt und festgehalten wurde. Er zog sie an den Haaren und sagte ihr etwas auf Russisch, das wie Spott und Beleidigung klang. Mit einem verächtlichen Grinsen stieß er sie zu Boden und trat ihr ins Gesicht. Dann richtete er eine Pistole auf sie und nannte sie in gebrochenem Deutsch „Naziabschaum“. Er wurde durch einen Schuss niedergestreckt und brach tot zusammen. Es war wieder der Junge mit der Gasmaske. „Du bist ganz schön leichtsinnig“, sagte er und ergriff Hannahs Hand. „Es ist gefährlich hier. Komm mit, ich bringe dich dorthin, wo du sicher bist.“ Sie folgte ihm, fragte sich aber, warum er so plötzlich wieder da war. War es Zufall oder hatte er sie verfolgt? Und warum rettete er sie schon zum wiederholten Male? „Bist du mein Schutzengel?“ Der Junge sah sie ungläubig an, als wolle er sagen „Bist du bescheuert?“ und antwortete „Ich hab dich nur zufällig gefunden.“ Da Hannah zu müde war um weiterzulaufen, rasteten sie und der Junge gab ihr etwas Brot. Hannah nahm es dankend an und fragte, was nun passieren würde. Er erklärte, dass er sie in ein Heim bringen würde, wo sie erst einmal sicher wäre und wo sie ein Bett und Verpflegung bekäme. „Und was ist mit dir?“ „Nichts.“ „Hast du keine Familie mehr oder ein Zuhause?“ „Nein.“ „Was hatte das zu bedeuten mit diesen komischen Worten, die du dem Soldaten gesagt hast?“ „Sic Sempre Tyrannis bedeutet: Tod den Tyrannen. Das ist meine Mission.“ „Du tötest Tyrannen?“ „Jeden, der seine Macht über andere Menschen ausnutzt, um sie nach seinem Vergnügen zu quälen und zu töten. Dafür allein wurde ich ausgebildet.“ „Und warum hilfst du mir?“ „Keine Ahnung. Menschen zu retten gehörte jedenfalls nicht zu meiner Ausbildung.“ „Dann hat man dir also befohlen, Menschen zu töten aber nicht, welche zu retten?“ Der Junge nickte und schaute mit einem ernsten Blick auf den Himmel. In der Ferne waren Rauchschwaden zu sehen und in der Ferne ertönte Donnergrollen, das von Bomben und Panzergeschossen stammte. Hannah, die kaum noch die Augen aufhalten konnte, legte ihren Kopf auf seine Schulter ab. Er nahm dies schweigend hin und sah sie mit einem unbestimmten Blick an. Das Mädchen schloss die Augen und fragte „Findest du es richtig, dass man dir aufgetragen hat, Menschen zu töten, aber nicht zu retten?“ „Darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich gehorche einfach und tue das, wofür ich ausgebildet wurde.“ „Aber du musst doch auch deine eigene Meinung dazu haben, ob das richtig ist oder nicht. Ich finde es jedenfalls schlimm, wenn man nur tötet, aber nicht den Versuch macht, andere zu retten. Du hast doch das Recht, selber zu entscheiden, was du tust. Immerhin hast du mich und John doch auch gerettet.“ Der Junge sagte dazu nichts, aber man konnte ihm ansehen, dass er über Hannahs Worte nachdachte. Selbst zu entscheiden, was er tat, das hatte man ihm niemals beigebracht. Man hatte ihn ausgebildet, Gehorsam zu leisten und eine einzige Priorität zu setzen: Jeden zu töten, der seine Macht ausnutzte, um andere Menschen zu töten. Und dabei spielten andere Menschenleben keine Rolle. Er hatte das befolgt und doch hatte er dieses Mädchen gerettet. Warum, das wusste er selbst nicht. Aber irgendetwas an diesem Mädchen war anders. Er konnte es nicht in Worte fassen, aber es erfüllte ihn mit einem Gefühl der Wärme, wenn er in ihrer Nähe war. Darum war er wohl auch nie ganz von ihrer Seite gewichen und hatte auf sie aufgepasst. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)