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A Place To Call Home

Heimat ist, wo das Herz ist
von

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Home


 

"Home is people. Not a place. If you go back there after the people are gone, then all you can see is what is not there any more."

- Robin Hobb

 

Der Weg zurück war einer der schwersten, den er je hatte zurücklegen müssen. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, allein durch die Wildnis zu streifen, sich alleine Nahrung und Wasser suchen zu müssen, nicht ein einziges Mal in seinem gesamten Leben. Aber wahrscheinlich nur deswegen, weil er sich dennoch nie so alleingelassen gefühlt hatte.

Die Sonne würde innerhalb der nächsten Stunde komplett untergegangen sein und schon jetzt war die Sicht im Licht der Dämmerung eher eingeschränkt, er musste aufpassen, dass ihn kein Beißer aus dem toten Winkel überfiel. Es waren verhältnismäßig wenige gewesen, die ihm bisher begegnet waren und die meisten davon hatte er ignoriert. Er war ohnehin schneller als sie, und jeden einzelnen von ihnen konnte er nicht beseitigen, ohne noch mehr Zeit zu verlieren.

Sein Weg führte ihn zurück in die kleine Siedlung voller ausgeraubter und zerstörter Häuser, voller toter Beißer (den richtig toten) in der er zuvor schon gewesen war. Und mittlerweile hatte seine sowieso schon zerschlissene Jeans noch ein paar Löcher mehr an den Knien, die Schuhe waren nur noch schmutziger geworden. Es war nicht so, als würde es ihn großartig kümmern. Hatte es nie, würde es auch nie, erst recht jetzt nicht mehr. 

Schweigend wischte er sich die dunklen, fettigen Haarsträhnen und den Schweiß aus dem Gesicht (denn alles Nasse konnte nur Schweiß sein und nichts anderes, zumindest redete er sich das gerade recht erfolgreich ein), das hier war der Platz gewesen, an dem er Michonne getroffen hatte und das bedeutete zeitgleich auch, dass er nun in etwa die Hälfte des Weges hinter sich gelassen haben musste. Nicht mehr lange, und er wäre wieder im Gefängnis, dem Ort, an dem sie im Moment ihr Dasein eher fristeten, als ein wirkliches Leben zu leben. Aber die Aussicht darauf, dass die anderen noch dort waren - Rick und die kleine Nervensäge und Carol und Hershel und... alle eben - war das einzige, das ihn noch dazu antrieb, weiter zu gehen.

Was, wenn der Governor sich gleich auf den Weg ins Gefängnis gemacht hatte? Seine Schritte wurden etwas schneller, als ihm der Gedanke kam, dass ihr momentan größter Feind vielleicht schon wieder vor den Toren der Haftanstalt stehen und Rick und die anderen bedrohen könnte. Der Deal, den er mit dem Anführer ihrer Gruppe ausgemacht hatte, war immerhin heute geplatzt und dieser Mann war wahnsinnig genug, um seine Rache sofort und ohne weitere Umschweife zu nehmen.  Sicher, er hatte einige seiner Leute heute verloren, aber wenn sie noch immer genug waren, um das Gefängnis anzugreifen, was dann? Denn niemand sollte sterben müssen, weil vorher so eine unsägliche Dummheit aus unsagbar guten Absichten heraus begangen worden war.

Mittlerweile rannte er. Erst über den Asphalt, vorbei an unbrauchbaren, verschmutzten Autos und toten wie wandelnden Leichen, und dann durch das nahe gelegene kleine Dickicht, in dem sich ihm einer der Untoten in den Weg stellte, die gierigen Hände mit den abgerissenen Fingernägeln nach ihm ausgestreckt, die weißlichen Augen auf ihn fixiert und den Mund mit den verfaulten Zähnen weit aufgerissen, bereit, ein Stück Fleisch aus dem lebenden Körper vor sich zu reißen. Ein kehliges, gequältes Stöhnen verließ den Mund des Beißers, aber noch ehe sie sich auf gute fünf Meter Entfernung angenähert hatten, schoss er ihm mit einem "Halt dein Maul!" den Pfeil seiner Armbrust mitten zwischen die Augen. Der Zombie kippte mit einem leisen Gurgeln nach hinten um, als sich die Pfeilspitze durch sein Gehirn bohrte und ihm damit den letzten Funken Leben aushauchte - insofern man so etwas ein Leben nennen konnte.

Im Vorbeilaufen riss er dem Toten den Pfeil aus der Stirn und lud seine Armbrust nach, behielt sie im Anschlag, während er sich durch das Dickicht kämpfte. Die Sicht wurde zunehmend schlechter und immer mehr dunkle Ecken taten sich zwischen den Bäumen auf, er musste hier raus, ehe sich noch mehr von den verfaulenden Kerlen hier einfanden - denn wo einer von denen war, war der Rest bekanntlich gar nicht weit.

Sein Atem ging irgendwann bedeutend schwerer. Von allen aus ihrer Gruppe glaubte er sicher, dass er die meiste Ausdauer hatte, aber einen solchen Sprint hatte er selten zurücklegen müssen. Doch es war besser, nicht noch mehr Zeit zu vertrödeln, weder mit den Beißern, noch dadurch, dass er sich eine Pause gönnte. Hinter sich hörte er irgendwo ein weiteres Stöhnen und das Knacken von Ästen, aber er wartete nicht und sah sich auch nicht um, es gab Wichtigeres zu tun, sehr viel Wichtigeres.

Es war bereits dunkel geworden, als er in der Ferne die Wachtürme sah, als der Stacheldraht in Sicht kam - zusammen mit den ersten Untoten, die um und innerhalb des Geländes schlurften, immer in der Hoffnung, irgendwann doch noch etwas Essbares in die fauligen Finger zu bekommen.

Und seltsamerweise beruhigte ihn dieser Anblick ungemein. Es waren keine fremden Fahrzeuge hier, es wurde nicht geschossen, nichts stand in Flammen. Und all das konnte nur bedeuten, dass der Governor noch nicht hier gewesen sein konnte, denn hätte der Kampf schon stattgefunden, wären eindeutige Spuren zu sehen gewesen.

Und mit der Erkenntnis, dass die anderen bisher noch in Sicherheit waren, kam auch die Erschöpfung zurück. Jetzt, wo das Gefängnis wieder in Sichtweite war, wurden seine Schritte wieder schwerer. Noch wusste er nicht, wie er Rick und den anderen alles erklären sollte, ob er nun glauben sollte, dass sie durch all das Unglück heute eine Chance bekommen hatten oder dem Feind doch nur einen weiteren Grund geliefert hatten, mit ihnen kurzen Prozess zu machen. Doch er war sich sicher, dass es schlimmer geworden wäre, wären Rick und er heute mit Michonne dorthin gegangen. Philip Blake hatte so viele seiner Soldaten mitgebracht, dass es schwer für sie gewesen wäre zu entkommen, selbst, wenn sie zu dritt gewesen wären.

Und er ist alleine gewesen.

Der Gedanke traf ihn wie ein Messerstich mitten in die Brust, während er sich im Laufschritt durch das zerstörte Eingangstor kämpfte und über die Wiese lief, auf der im Dunkel einige wankende Gestalten auszumachen waren. Vom Wachturm aus hörte er jemanden etwas rufen und schon Sekunden später wurde das letzte Tor geöffnet, das sich zwischen ihnen und den Beißern befand. Er huschte durch die schmale Lücke, darauf achtend, dass ihm kein Beißer zu nahe kam und erst dann genehmigte er sich ein leises Aufatmen. Der Begriff Zuhause traf das verlassene und halb zerstörte und heruntergekommene Gefängnisgelände hier zwar nicht wirklich, aber... es war gut, wieder da zu sein, das konnte er nicht leugnen. Dieser Ort gab ihn mit seinen Zäunen genug Sicherheit, damit sie sich zumindest ein wenig wohlfühlen konnten. Und dieses Gefühl war noch stärker gewesen, bevor der Governor die Tore durchbrochen und Beißer im inneren Bereich freigelassen hatte. Zwischen denen und ihrer Gruppe war nur noch ein Zaun, der sie schützte, aber das musste einfach reichen.

"Daryl?" Die Stimme neben ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Rick Grimes hatte augenscheinlich die Wache am Tor gehabt, die Stimme oben im Wachturm hatte nach Glenn geklungen. Der ehemalige Sheriff sah ihn durchdringend an. Etwas unbeholfen schulterte Daryl seine Armbrust und blickte dem anderen Mann in die Augen, brachte nur ein schwaches Nicken zustande, während er um die richtigen Worte rang.

"Ich denke, der Governor wird bald wieder hierher kommen, jetzt, wo der Deal geplatzt ist", sagte er schließlich nur und ging in Richtung Wachturm. "Glenn? Komm runter, ich übernehme ab hier!"

Noch ehe er die Tür aufmachen konnte, die zur Treppe führte, spürte er Ricks Hand auf seiner Schulter. Nur widerwillig wandte er sich zu dem Mann um, der Daryls Meinung nach der Bezeichnung Freund seit geraumer Zeit am nächsten kam. Wahrscheinlich brauchte Rick nicht einmal nach Merle zu fragen, Daryl war ihm sogar dankbar, dass er es nicht tat, dass sie sich einen Augenblick lang einfach nur anschwiegen, bis der Anführer ihrer kleinen Gruppe schließlich die Stille durchbrach.

"Du warst den ganzen Tag auf den Beinen, lass jemand anderen die Wache übernehmen."

"Nein, schon gut." Daryl schüttelte schwach den Kopf und trat einen Schritt zur Seite, als Glenn den Wachturm durch die verrostete Tür verließ. "Das ist jetzt... genau das, was ich brauche."

Die Vorstellung, mit den anderen in diesem Zellentrakt zu sein und die Stille und die Blicke ertragen zu müssen und sich wieder vorzukommen wie ein Tiger in einem viel zu kleinen Käfig... Nein, lieber hörte er sich das monotone Stöhnen und Schlurfen der Untoten an, lieber war er hier draußen unter freiem Himmel.

"Du solltest die anderen wecken, ihnen sagen, was hier wahrscheinlich bald passieren wird." Er nahm das Scharfschützengewehr von Glenn entgegen und verdammt, selbst der Asiate sah ihn mitleidig an, dabei brauchte er das am Allerwenigsten. Er wusste, wo seine Aufgaben und Prioritäten lagen. "Ich schlag' Alarm, sollte was passieren."

Er sah Rick in der Dunkelheit nicken, hörte, wie er sich kurz mit dem Koreaner beratschlagte, ehe er sich wieder an Daryl wandte.

"In Ordnung." Rick verstaute seine Waffe in der vorgesehenen Halterung und strich sich über den mittlerweile mindestens schon fünf Tage alten Bart. Daryl hingegen öffnete die Tür zur Treppe des Wachturms und wandte sich nur noch einmal um, als er Rick seinen Namen sagen hörte. "Es tut mir leid."

Daryl schüttelte lediglich den Kopf. Ihm musste nichts leid tun, ihm von allen Leuten am allerwenigsten. "Gibt's keinen Grund für. Du hast dich entschieden, das Richtige zu tun. Er... irgendwie auch."

Er ließ den Sheriff stehen und stieg die Treppe zum Wachturm hinauf. Ein bisschen Ruhe und Freiheit waren wahrscheinlich genau das, was er gerade brauchte, genau das, was er gerade wollte. Schweigend lehnte er sich gegen die Mauer des oberen Ausgucks und genehmigte sich eine der Zigaretten, die er von dem Beißer hatte, den er und dieser Helfer des Governor vor ein paar Tagen getötet hatten. Und erst dann ließ er sich an der Wand nach unten sinken, das Gesicht in der Armbeuge vergraben.

Allein sein war genau das, war er brauchte – und auch das, was er verdient hatte.
 

Irgendwann hatte er sich wieder so weit gefasst, dass er wieder aufgestanden war und damit begonnen hatte, im Ausguck auf und ab zu laufen, die Augen immer auf den Eingang des Gefängnisses gerichtet, als fürchtete er, dass Blake samt seinen Leuten in der nächsten Sekunde durch das Tor brechen würde. Er hoffte inständig, dass sich Rick irgendetwas überlegen würde, dass er irgendwie einen Weg finden würde, wie sie die Sache endlich beenden konnten. Auch, wenn sich Daryl nichts sehnlicher wünschte, als dem Governor höchstpersönlich einen Pfeil in den Kopf zu schießen, so würde er doch den Anweisungen des Sheriffs folgen und tun, was auch immer er für das Richtige hielt. Wenngleich Rick mittlerweile manchmal auch mehrere Anläufe brauchte, bis er falsch von richtig unterschieden hatte. Aber dennoch hatte er sie bis hierher geführt, und er würde sie ganz sicher noch weiter bringen.

"Wie damals auf Hershels Farm. Du hältst dich fern von uns." Dass sich plötzlich noch jemand auf dem Wachturm befand, überraschte Daryl nicht. Er hatte schon vor ein paar Minuten gehört, wie sich die Tür zum Zellenblock geöffnet hatte, es hatte ihn eher verwundert, wie lange die Person gebraucht hatte, hier hinauf zu kommen.

"Hast du jetzt die Patrouille unten am Tor?" Daryl wandte den Blick nicht vom Eingang ab, er wusste doch ohnehin, wer da jetzt neben ihm stand.

"Rick meinte, jemand solle dich zur Besprechung holen. Deswegen bin ich hier."

"Jemand muss hier Wache halten", erwiderte Daryl und blickte nun doch zur Seite, betrachtete die Frau neben sich mit den kurzen, mausgrauen Haaren und den freundlichen und zeitgleich doch so müde und traurig wirkenden Augen. Sie hatte die Arme verschränkt und rieb über den Stoff ihres weinroten Pullovers. Der Wind ging hier oben im Ausguck ziemlich stark, kein Wunder also, dass sie zu frieren schien. Er hatte zumindest noch die Lederjacke, die sie im Winter in einem sonst fast vollständig ausgeräumten Bekleidungsgeschäft gefunden hatten - und auch generell war er niemand, dem sonderlich schnell kalt wurde.

Er hörte das leise Seufzen neben sich, hörte, wie Carol etwas näher kam, ihn augenscheinlich besorgt und etwas verärgert zugleich musterte. Allein zur Ablenkung blickte Daryl wieder hinaus auf den Vorgarten der Hölle, wie das Grasfeld mittlerweile schon gerne genannt wurde.

"Daryl, was mit Merle passiert ist -"

"Ich hätte bei ihm sein sollen", unterbrach er sie wütend, festigte den Griff um das Gewehr so sehr, dass die Knöchel bereits weiß hervortraten. Er hätte mit ihm gehen oder ihn zumindest von dieser Dummheit abhalten sollen! Er hätte eben einfach schlicht und ergreifend irgendetwas tun sollen! Etwas anderes, außer ihm erst zu folgen, nachdem ihm bewusst geworden war, dass sein Bruder die Dinge wie immer auf seine überaus eigenwillige Art und Weise regeln wollte.

"Du musst dir überhaupt keine Vorwürfe machen."

Das sagte sie so einfach. Dass es nicht leicht war, sich eben nicht die Schuld für den Tod seines Bruders zu geben - für beide Tode - das war schlichtweg nicht möglich.

"Er war allein da draußen", sagte Daryl nach einem Augenblick unangenehmen Schweigens. "Er war schon wieder allein da draußen."

Und wieder war er Merle gefolgt, um ihn zu retten und wieder hatte er dabei spektakulär versagt. Wie schon beim ersten Mal, auf dem Dach des Kaufhauses in Atlanta, bei dem sie von seinem Bruder nichts weiter gefunden hatten als seine abgesägte Hand. Zwei Mal in Folge bei der Rettung seiner Familie so zu versagen... er konnte nicht behaupten, dass das einen sonderlich aufbaute.

Alles, was aus seinem alten Leben noch übrig geblieben war, war heute mit seinem Bruder gestorben. Von der Zeit vor dieser Apokalypse war nicht mehr übrig. Gar nichts mehr.

Er sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Carol zusammenzuckte, als er den Kolben des Gewehrs mit einem leisen Aufschrei gegen die Mauer schlug. Er legte den Arm auf das Geländer, presste mit zusammengebissenen Zähnen die Stirn gegen den kühlen Stoff der Lederjacke und gönnte sich ein paar tiefe Atemzüge. Drei. Vier. Fünf...

"Er war fast wieder einer von uns", murmelte Daryl in den dicken Stoff und wusste doch, dass es nicht stimmte. Glenn, Maggie, all die anderen hätten ihn nie als einen ihrer Gruppe angesehen, aber Merle hatte in seinen letzten Augenblicken so viel für die Gruppe getan, ihnen Zeit verschafft, ihnen eine Chance gegeben.

"Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Merle bei uns geblieben wäre." Bei Carols Worten schüttelte er schwach den Kopf, wandte seine Aufmerksamkeit der porösen Mauer zu, als wäre sie interessanter als alles andere um ihn herum. Merle hätte sich sicher nie geändert. Als Allererstes kam er selbst. Dann kam eine ganze Weile lang gar nichts und dann vielleicht irgendwann Daryl selbst. Und am ganz hinteren Ende kam der Rest der Welt, und dieser Rest hatte ihn immer schon gerne haben können.

"...Wir wollten damals in Atlanta das Camp ausrauben", gestand Daryl leise und blickte zu Carol hinüber. Einen Moment glaubte er, dass sie jetzt wütend werden oder einfach enttäuscht von ihm wieder gehen würde, aber sie blieb auf der Stelle stehen, rieb sich die fröstelnden Arme und betrachtete ihn einfach nur schweigend.

"Aber das habt ihr nicht", schloss sie schließlich und entlockte Daryl einen weiteren ungläubigen Blick. Natürlich hatten sie das nicht, schließlich war Merle kurz darauf auf einem Dach fest gekettet worden und dann war er über Monate hinweg verschollen gewesen! "Und du hast es ohnehin nicht tun wollen, oder?"

Müde fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. Er war nicht sein Bruder, wenngleich er ihm in einigen Punkten auch durchaus ähnlich war, so hätte er sicherlich dennoch nie das Camp ausrauben können. Gut, er hätte gekonnt, wenn er denn gewollt hätte, und dann hätte er es wahrscheinlich auch allein geschafft bei der schlechten Organisation damals. Aber nach allem, was passiert war, nach dem Angriff aufs Lager, nach dem Tod so vieler Leute... da hatten sich die Ansichten irgendwann verschoben. Von diesem Zeitpunkt an war es nur noch ums nackte Überleben gegangen und sogar er hatte einsehen müssen, dass er es niemals so weit geschafft hätte, wäre er allein gewesen. Wenn Rick und die anderen nicht gewesen wären, wo wäre er dann heute? Ganz sicher nicht auf diesem Wachturm, und wahrscheinlich nicht einmal mehr am Leben.

Daryl schüttelte leicht den Kopf. "Ich hatte nur mehr Glück als Merle."

Wenn er damals dort oben auf dem Dach gewesen wäre, dann wäre diese ganze Geschichte vielleicht komplett anders abgelaufen. Er blickte zur Seite, während er die Waffe von der Mauer nahm und sie nur noch lose in seiner Hand baumeln ließ. Aber es war nicht anders gekommen. Er war hier. Dank einer Verkettung glücklicher und noch viel mehr unglücklicher Umstände, dank dem Zusammenhalt dieser Gruppe von Menschen, die ihn vor dem Ausbruch dieser Seuche wohl kaum gekümmert hätten... Dank ihnen war er noch hier und konnte ihnen helfen und für sie da sein.

"Mich hat... einfach die bessere Familie aufgenommen."

Es war ein kleines Wunder gewesen, dass ihn jeder als Teil dieser Gruppe akzeptiert hatte. Rick von allen Leuten als Erster, obwohl er wohl am wenigsten Grund dazu gehabt hätte, ihm zu vertrauen. Er und Carol hatten ihm mehr als einmal gesagt und gezeigt, dass er längst ein Teil von alledem hier war, ein unersetzliches Mitglied der Atlanta-Truppe, ein Freund, ein Stückchen Familie.

Schweigend betrachtete er die Frau neben sich, die ihn herzlich anlächelte und für einen Moment zuckte sein Mundwinkel leicht nach oben, als er ihren Blick erwiderte.

"Weißt du, was das Netteste war, das Merle jemals für mich getan hat?", fragte er schließlich und sah Carol nur verwundert den Kopf schütteln. Natürlich wusste sie es nicht, woher denn auch? Er hatte ja noch nie sonderlich viel von sich preis gegeben. "Als mich vor Jahren ein Junge aus unserer Nachbarschaft verprügelt hat, ist er mir zu Hilfe gekommen. Am Ende hatte ich nur eine geprellte Rippe, aber der Kerl hatte ein paar Zähne weniger und eine gebrochene Nase."

Es war erstaunlich, wie genau er sich noch daran erinnerte, wie Merle auf den Jungen zu gestürmt war und ihn zu Boden gerungen hatte, nur, um dann auf ihn einschlagen und -treten zu können. Aber vermutlich brannten sich manche Dinge einfach ins Gedächtnis ein und kamen dann wieder hoch, wenn man sie am wenigsten gebrauchen konnte.

"Danach hat er mich nach Hause gezerrt und mir dort eine verpasst. Ich bin eine Woche lang mit einem geschwollenen Auge herumgelaufen. Er meinte nur, es wäre seine Pflicht als älterer Bruder, mich abzuhärten."

Daryl konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob ihm das gelungen war, aber zumindest hatte er sich seitdem von niemandem mehr verprügeln lassen – abgesehen von Merle selbst - und das hatte sein Bruder sicherlich als Erfolg verbucht.

Carol sah ihn mit einem etwas verständnislosen Blick in den Augen an und er konnte verstehen, dass diese Begebenheit für sie keine sonderlich nette Geste sein musste.

"Mein Bruder war kein schlechter Kerl", meinte Daryl schließlich leise und wischte sich über das Gesicht. "Er hatte nur eine echt komische Art und Weise, seine Gefühle auszudrücken."

Und wenn ihm all das hier nichts bedeutet hätte, dann wäre er nicht allein zum Governor gegangen. Dann hätte er sich nicht für die Gruppe geopfert. Dann hätte er einfach nicht versucht, sie alle mit dieser wahnwitzigen Aktion zu retten, in der er es allein mit dem Anführer der Stadt Woodbury und seinem guten Dutzend Soldaten aufnahm.

Nein, Merle war kein schlechter Mensch gewesen, er hatte bloß zu viel Zeit mit diesen verbracht. Und wenn er die Frau neben sich so betrachtete, sah, wie sie nickte und ihm wohl im Stillen Recht gab, dann war er sich sicher, dass sie das auch wusste.

"Gehen wir rein. Ich will wissen, was Rick und die anderen geplant haben." Daryl ging an Carol vorbei legte ihr im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. Wahrscheinlich musste er nichts mehr sagen, sie wusste sicherlich, wie viel ihm ihre Anwesenheit hier bedeutete, aber er wollte es dennoch tun. "Danke."

Er hatte Merle verloren, aber der Rest seiner kleinen, kaputten Familie war noch immer hier. Und er würde ganz sicher nicht zulassen, dass Blake daher kam und ihm auch noch den Rest von dem nahm, was ihm in dieser zerstörten Welt noch geblieben war.

Er hielt Carol die Tür auf, nachdem sie den Wachturm verlassen hatten. Die kurzhaarige Frau wandte sich noch einmal zu ihm um, als die schwere Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

"Ich bin froh, dass du hier bei uns bist", sagte sie leise, während sie das Gewehr auf ihrer Schulter zurechtrückte. Noch immer lag ein schwaches, fast schon trauriges Lächeln auf ihren Lippen, das Daryl versuchte zu übersehen, indem er in den sternenklaren Nachthimmel hinauf sah. Vielleicht war das hier schon eine Art Zuhause. Nicht dieser Ort an sich, aber die Leute, die hier lebten. Seine Familie war seine Heimat, nicht die Mauern, die sie umgaben, nicht die Zäune, innerhalb derer sie lebten. Das alles war austauschbar, aber ein Ort, an dem man sich willkommen fühlte, ein Platz, an den man gehörte – das konnte man nicht so einfach ersetzen.

Er legte vorsichtig und nur mit einiger Überwindung und noch größerer Vorsicht einen Arm um Carols Schulter, als sie sich auf den Weg zum Zellentrakt C machten. Noch war nicht alles verloren, nicht, so lange sie alle noch zusammen waren.

"Das ist doch das, was eine Familie ausmacht, oder?"

Niemals allein zu sein, was auch immer passieren würde. Sich gegenseitig zu beschützen, was auch geschah. Und dass er dazu bereit war, würde er dem Governor nur allzu gerne beweisen, wenn er sich hierher wagen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2014-06-20T19:17:33+00:00 20.06.2014 21:17
Ich musste die FF einfach kommentieren! *_* Ich hab mich riesig gefreut, dass es mal eine gute TWD FF hier gibt. Und Daryl und Carol sind ja sowieso meine absoluten Lieblinge. Ein Grund mehr, dass ich diese Geschichte einfach lesen MUSSTE!
Die Charaktere hast du auch total gut getroffen und ich finds süß, dass man merkt, wie viel sie sich gegenseitig bedeuten. Und deinen Schreibstil mag ich sowieso. Passt einfach alles zusammen. *_*
Würde mich freuen, wenn du noch mehr über die beiden schreiben würdest, oder generell über TWD. :)

LG, Phoenix
Antwort von: Kathey
20.06.2014 23:36
Awww, danke dir für den lieben Kommentar <3
Mir geht es da genau wie dir, ich mag die beiden so unglaublich gerne (und warte noch drauf, die 4. Staffel endlich mal auf Deutsch sehen zu können xD"), und wenn es sich ergibt, werde ich auf jeden Fall noch mal was zu den beiden schreiben!
Und danke für dein Lob ;/////; ♥

Liebe Grüße,
Kat
Von:  Rooro
2013-12-04T19:10:54+00:00 04.12.2013 20:10
Ich find Daryl vor allem im zweiten Teil herrlich IC, wie er wütend wird, immer etwas anderes anschaut, wie er das Gewehr gegen die Mauer rammt, all diese kleinen Dinge, die er da tut, ich liebe das voll an ihm <3 Und du hast ihn wie gesagt super rüber gebracht, der arme Kerl :(
Und das war das Netteste von Merle? Nun, er hat nicht zugelassen, dass jemand seinen kleinen Bruder verprügelt, vermutlich hat er das nie, Daryl hats nur nicht gewusst. Muss schwer für die beiden gewesen sein, einerseits sind sie nicht wirklich eine Art, andererseits sind sie alles, was sie voneinander haben...
Schöner kleiner Oneshot :)
Antwort von: Kathey
04.12.2013 20:39
Dankeschön. Freut mich, wenn es dir trotz kleiner Pairing-Hints gefallen hat. Und freut mich vor allem, wenn Daryl IC rüber kam.
Von:  Votani
2013-12-04T06:34:08+00:00 04.12.2013 07:34
Zuckerschock! *-*
Endlich mal eine anständige TWD-FF auf mexx und dann auch noch zu meinen absoluten Lieblingen. Du weißt ja, dass ich deinen Schreibstil mag und hier ist er auch wieder super und drückt Daryls Gedanken und Gefühle ziemlich gut aus. MMn hast du ihn und Carol auch wahnsinnig gut getroffen. Die beiden sind so niedlich zusammen und selbst ohne richtige Romanze drin, merkt man einfach, wie viel sie einander bedeuten. :)
Ich find’s auch klasse, dass du dir die Lücke mit Daryls Rückkehr zum Anknüpfen ausgesucht hast. Davon hab TWD ja doch einige und ich hab mir auch immer gedacht, dass Carol da eine entscheidende Rolle gespielt hat. Mehr gibt’s eigentlich auch nicht zu sagen. Hat mir sehr gefallen. :)

LG
Antwort von: Kathey
04.12.2013 09:24
Aaah, danke dir für deinen lieben Kommentar >/////<
Ich war auch echt überrascht, dass TWD überhaupt eine Kategorie auf Mexx hat, aber hey... Ich finds klasse :3
Auf jeden Fall danke ich dir für dein Lob und freu mich wie ein Schnitzel, dass dir die Geschichte gefallen hat (und dass ich die Charaktere getroffen habe, davor hab ich immer die meiste Angst) <3
Das gute an TWD ist ja, dass es so schöne viele Lücken gibt... Allein die Monate zwischen Hershels Farm und dem Gefängnis... Aaah, ich glaube, ich muss mehr zu den beiden schreiben, weil... OTP. Schlicht und ergreifend <3


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