Begegnung von Norrsken ================================================================================ James & die Nachbarin --------------------- Mit einem kritischen Blick auf den Kalender trank James Sirius Potter den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. Es war der vierte Dezember und das bedeutete, es waren noch zwanzig Tage bis Weihnachten. Nur noch zwanzig Tage bis Weihnachten wie es wohl viele ausdrücken würden und eigentlich müsste auch James sich dieser Beschreibung bedienen. Denn er hatte nur noch zwanzig Tage, um allen Erledigungen für Weihnachten nachzukommen und bisher hatte er überhaupt noch nicht angefangen. Mit einem leicht frustrierten Stöhnen auf den Lippen strich er sich das unordentliche, ebenholzfarbene Haar zurück. Die ganze Woche war er stets mit Arbeit zugedeckt. Das hatte er so nie erwartet, als er sich für die Geisterbehörde beworben hatte, doch im Gegensatz zu früher, scheute er anstrengende Arbeit nicht mehr. Sie war fast so etwas wie erfüllend. Doch das Verständnis seiner Familie würde ausbleiben, wenn er Weihnachten für sich ausfallen lassen würde. Es wurde also Zeit, dass auch James sich in den Rausch von Schnee, Zimt und Zuckerstange begab und mit den Vorbereitungen für Heiligabend begann. Vorsorglich sah er aus dem Fenster und entschied, dass für das Wetter sein grauer Mantel reichen sollte. Schnell überprüfte er seinen Geldbeutel, ob er auch genug Bargeld dabei hatte und kam zu dem Schluss, zu Anfang einen Abstecher bei Gringotts zu machen. Den Zauberstab in der Manteltasche verstaut und in die Schuhe geschlüpft verließ er sein Heim am Grimmauldplatz. Nach Hogwarts hatte er entschieden, das Haus seiner Eltern zu verlassen und von Godric’s Hollow nach London zurück zu ziehen. Da ihr Haus am Grimmauldplatz zu der Zeit leer gestanden hatte, überließen Harry und Ginny dieses ihrem älteren Sohn. Mit federnden Schritten stieg er die Treppe vom Hauseingang hinab und trat auf den öffentlichen Platz. Gemütlich schlenderte er diesen ein Stück weiter abwärts, zum Eingang eines kleinen Parks, der mit altem Ziergitter umzogen war. Schon auf dem Weg hatte er sein Umfeld im Auge behalten und als er auch im Park keine Leute in seinem näheren Umfeld ausmachen konnte apparierte er auf direktem Wege zu Gringotts. Bei der magischen Bank hatte er sich Gold aus seinem Verlies geholt und einen Teil davon in Londoner Pfund umtauschen lassen. In der Winkelgasse konnte er eine erhebliche Menge seiner Weihnachtseinkäufe erledigen. Herzlich wurde er im Familiengeschäft Weasleys Wizard Wheezes von seinem jüngeren Cousin Hugo empfangen, der ihm die wärmsten Empfehlungen für Geschenke an die Familie gab. Dafür war James ihm ehrlich dankbar, denn nicht einmal Gedanken hatte er sich um die Geschenke gemacht, die er endlich besorgen wollte. Seine Einkäufe würde Hugo ihm per Eule noch am selbigen Tag zuschicken, sodass am Abend alles bei ihm zuhause bereit lag. Zwar war dies nicht unbedingt notwendig, da es immerhin doch noch zwanzig Tage bis Weihnachten waren, aber wenn man das Angebot bekam, nahm man es natürlich gerne an. Für die restlichen Besorgungen wollte James in die Londoner Innenstand, auch wenn er sich bewusst war, dass diese von wahnwitzigen Menschen überfüllt sein würde. Schon sehr bald hatte James diese Entscheidung bereut. Wieso kam er auch ausgerechnet an einem Samstag auf die grandiose Idee Weihnachtseinkäufe erledigen zu wollen? Die Leute waren völlig verrückt! Waren die Fußwege schon an normalen Tagen dicht bedrängt, so hätte man an diesem Tag nicht damit gerechnet, dass sich überhaupt jemand zwischen den vielen Menschen fortbewegen konnte. Mit viel Wendigkeit und dem ein oder andern Einsatz von Ellbogen kämpfte sich James seinen Weg voran. Um die Handgelenke hatten sich bereits die ersten Tüten gesammelt – mit Geschenken für die Groß- und Pateneltern. Im Moment war sich der Potter zwar nicht sicher, ob es ein Vorteil war Liebhaber von Muggeldingen in der Verwandtschaft zu haben (sie waren für die unsinnigsten Dinge zu begeistern) oder doch eher eine Plage. Selbst zu Stoßzeiten würde nie so ein Andrang in der Winkelgasse entstehen. Und wenn doch – James‘ Gesicht war bekannt genug, dass die Leute ihm aus den Weg gingen. Das Gesicht des Erstgeborenen vom Auserwählten behielt man eben im Gedächtnis. Egal, ob er keine ganz so steile Karriere hingelegt hatte. Sein Blick ging zu den geschmückten Schaufenstern und der viele Kitsch ließ ihn lächeln. Bei einem mit allerlei Utensilien für Tee kam ihm ein Gedanke. Den ein oder andern in seiner Familie würde er sicher mit einer Packung des Lieblingstees von Twinings glücklich machen. Damit hatte er seine nächste Anlaufstelle. Ein kleiner Junge mit goldenen Löckchen hopste an ihm vorbei und James beobachtete noch aus dem Augenwinkel wie die Mutter versuchte mit ihrem Kind Schritt zu halten. Wenn er so darüber nachdachte hätte das auch seine Cousine Molly sein können. Grinsend schüttelte er den Kopf und bog an der nächsten Ecke ab. Seiner liebsten Cousine würde er einfach ein paar Gutscheine fürs Babysitten schenken. James war versucht sich selbst auf die Schulter zu klopfen, denn inzwischen war er so gut wie fertig mit seinen ganzen Einkäufen. Es fehlten vielleicht noch ein, zwei Präsente, aber auch die würde er, bevor er sich wieder auf den Heimweg begab, eingeholt haben. Doch vorläufig wollte er sich eine Pause gönnen und etwas essen. Das Frühstück lag eine Weile zurück und die Beschwerden seines knurrenden Magens, waren nicht mehr zu ignorieren. Neugierig blickte er sich nach einem passenden Lokal um und entschied sich schließlich für ein etwas kleines, nicht ganz in die Umgebung passendes Pub. Die Karte war vielversprechend und seine vielen Tüten, mit großen und kleinen Päckchen, konnte er auf der Bank seines Tisches verstauen. Nachdem er das Tagesgericht bestellt hatte, vibrierte sein Blackberry in seiner Hosentasche. Stirnrunzelt zog er es hervor. Nur wenige kannten seine Nummer, was nicht zuletzt daran lag, dass immer noch viele Hexen und Zauberer sich etwas schwer mit der Muggeltechnologie taten (gut, sie ging inzwischen so große Schritte, dass es schwer war hinterher zu kommen, wenn man nicht von Anfang an damit gelernt hatte umzugehen). Selbst würde sich James zwar nie als Experte bezeichnen, aber mit den kleinen Apparaten, die sich Smartphone schimpften, hatte er sich anfreunden können. Seine kleine Schwester hatte ihm eine WhatsApp-Nachricht geschrieben. Mit überraschtem Gesicht las er die von Smileys und Herzchen gespickte Kurznachricht. Zum Glück sah Lily ihn dabei nicht und hatte über den Messenger nicht die Möglichkeit sein Schweigen auszunutzen. Allerdings war das auch gar nicht nötig, denn er gab ihr mit einem Lächeln auf den Lippen die Bestätigung für ihre Bitte. Sein Imbiss wurde ihm, kaum dass er die Nachricht abgeschickt hatte, serviert und endlich konnte er dem hungrigen Knurren seines Magens beikommen. Seine wohlverdiente Pause rundete er mit einer Tasse Tee ab, die er nachträglich zum Essen bestellte. Die Rechnung ließ er auch gleich kommen, sodass er, sobald er mit seinem Heißgetränk fertig war, losgehen konnte. Und während er sich diesen munden ließ, ging er die weitere Tagesplanung durch. Die Bitte von Lily hat alles ein wenig umgeworfen, sinnierte James mit grübelnder Miene. Aber wirklich durcheinander brachte ihn das nicht. Es war ja noch etwas Zeit. Er stellte die leere Tasse zurück auf den Tisch und griff nach seinem Mantel, den er in dem warmen Stübchen abgelegt hatte. Als letztes griff er sich seine Einkaufstüten, die er wieder ordentlich um seine Handgelenke nahm, obgleich sie ihm das Blut abschnüren. Auf dem Weg zur Tür bemerkte James wie der junge Mann hinter dem Tresen nach ihm winkte. Mit hochgezogener Augenbraue wandte er sich um und folgte der Aufforderung etwas näher zu kommen. »Das hier war wohl für Sie gedacht.« Seine Stimme klang etwas unsicher und sein Blick war verwirrt. James sah ihn vermutlich ähnlich an, als er den leicht verknitterten Zettel entgegen nahm und drauf sah. Egal, wer da versucht hatte ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, er schien nicht die richten Worte gefunden zu haben – oder zum Ende gekommen zu sein. Die halben Sätze waren durchgestrichen und nicht mehr so gut zu entziffern. ›Hallo‹ stand dort auf jeden Fall – und etwas über Fotos? Allerdings nichts, was einem Namen entsprechen könnte. Stirnrunzelnd sah er wieder auf und der Überbringer der Nachricht zuckte nur mit den Schultern. Er nahm den Blick von James als stumme Frage. »Sie hat sich nicht vorgestellt, war aber sehr energisch und irgendwie zerstreut.« Die Beschreibung passte auf einige seiner Familienmitglieder. »Und wie sah sie aus?« »Ihr Haar war glatt und braun, so wie ihre Augen.« Keine seiner Cousinen, wie James feststellte. Mit einem freundlichen ›Danke‹ und einem Lächeln verabschiedete er sich. Den Zettel stopfte er lieblos in seine Hosentasche und ermahnte sich, ihn nicht zu vergessen, bevor er die Jeans in die Wäsche gab. Vorläufig wollte er die Sache auf sich beruhen lassen, denn immerhin musste er sich noch ein paar Geschenke einfallen lassen und anschließend Essen einkaufen – und vielleicht auch ein wenig Dekoration. Aber bloß nichts zu kitschiges. Bevor James seinen Wocheneinkauf erledigte, apparierte er von einem stillen Fleckchen (das gar nicht so leicht zu finden gewesen war!) aus nach Hause, um die unhandlichen Tüten abzulegen. Tief atmete er durch und ließ die Handgelenke kreisen, die von der Kälte und den dünnen Riemchen der Tüten schmerzten. Es war ihm egal, ob er einem Klischee entsprach, aber Shoppen war und würde nie eine seiner bevorzugten Beschäftigungen werden, denen er in seiner Freizeit nachgehen würde. Nicht einmal für eine Frau! – Die es im Moment nicht gab. Um die müden Glieder zu wecken streckte er sich ausgiebig und machte anschließend einen Abstecher ins Bad und in die Küche für den Einkaufzettel. Einen Liter Milch, Eier und etwas Gebäck hatte er sich schon aufgeschrieben. Weitere unabdingliche Utensilien für den Haushalt folgten auf seiner Liste und mit einem leichten Seufzen auf den Lippen realisierte er, dass auch diese Einkaufstüten wieder unhandlich und schwer würden. Er musste sich unbedingt angewöhnen, öfter zu gehen. Den Zettel in der Manteltasche verstaut verließ er wieder das Haus. Der Wind war schneidender geworden, weshalb er den Mantel enger zuknöpfte und mit eingezogenem Kopf loslief. Das Wetter war für ihn ungemütlich und so machte er große, schnelle Schritte, um schnell die Einkäufe hinter sich zu bringen. Im nächsten Tesco würde er alles finden, was er bräuchte, ohne zwischen mehreren Läden zu pendeln. Und der war gar nicht so weit weg. In Gedanken mit dem schnellsten Weg dorthin beschäftigt und die Möglichkeit abwägend, ob apparieren eine Option war, achtete James zu wenig auf seine Umgebung und wurde direkt nach Überquerung des Platzes umgerannt – oder viel mehr angerempelt, aber auch, wenn die Person sehr viel mehr Schwung in der Bewegung hatte, prallte sie von James' Schulter ab und ging zu Boden. Nicht jedoch ohne ihm einige Päckchen in die Magengrube zu rammen, die ihn leise aufkeuchen ließen. Ein Fluchen zwischen Zähneknirschen unterdrückt, hielt er die Sachen reflexartig fest und sah die junge Frau am Boden knien. Schon eifrig dabei ihre Sachen wieder einzusammeln und hastig Entschuldigungs-Floskeln auf den Lippen. »Schon okay«, murmelte James mehr zu sich selber und war sich ziemlich sicher, dass sie ihn nicht gehört hatte. Ihr überraschter Blick ließ ihn blinzeln und sich etwas unwohl in seiner Haut fühlen, doch er versuchte es mit einem gewinnenden Lächeln zu kaschieren. »Hier, bitte.« Er gab ihr die Tüten mit den Päckchen zurück und überlegte, noch etwas zu sagen, da zuckte die junge Frau zusammen und griff hastig zu ihrem iPhone. Wohl vollkommen vergessen stand James da, betrachtete ihr hektisches Gesicht mit den geröteten Wangen und entschied ihr die unangenehme Situation, sich wieder ihm zuzuwenden, zu ersparen. Immer noch lächelnd ging er seiner Wege und sah noch aus dem Augenwinkel, wie die junge Frau mit dem kastanienbraunen Haaren einen Hausaufgang hoch ging. Sie wohnte also hier? Gut zu wissen. ❅ Von einem Fenster im obersten Stockwerk blickte James auf die Straße. In seiner Hand hielt er eine Tasse mit frisch aufgebrühten Tee und wartete, dass er abkühlte, um einen Schluck trinken zu können. »Was treibst du denn hier oben, Jam?« Seine Augen verdrehten sich hoch zu den zusammengezogenen Brauen. Wie er je auf die dumme Idee gekommen war, seiner kleinen Schwester zu erlauben, ihn so zu nennen, war James heute ein Rätsel. Damals waren sie noch Kinder gewesen und er konnte es nur darauf schieben, dass er jung gewesen war. »Ich schau nach dem Schnee, der heute Nacht gefallen ist«, erklärte er mit monotoner Stimme und wandte sich auch nicht zu der Jüngeren um, die sich in den Türrahmen gelehnt hatte. »Schon die ganze Zeit?«, horchte Lily skeptisch nach und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, schon die ganze Zeit. Mir ist da unten zu viel los.« »Ach so.« James hörte wie sich die Schritte von Lily entfernten. Vermutlich verstand sie ihn, denn normalerweise hatte er das Haus für sich und musste es sich nicht mit seiner Schwester oder anderen Familienangehörigen teilen. Doch Lily wollte den Dezember einmal wieder in England verbringen und hatte um Unterkunft gebeten. Alternativ hätte sie zwar zu ihren Eltern gekonnt oder in den Fuchsbau, aber hier war es James der sie verstand, dass sie das geräumige Haus, welches nur von ihm bewohnt wurde, vorzog. Die Rückkehr der kleinen Prinzessin hatte einen Freudentaumel bei Harry und Ginny Potter verursacht und so war am Vortag, nachdem Lily eingetroffen war und eine Eule Heim schickte, um die Botschaft zu überbringen, ein Brief zurück gekommen, in dem sich die Familie selbst einlud. Das war nichts Ungewöhnliches und so hatte James alles mit Lilys Hilfe für die Ankunft ihrer Eltern vorbereitet. Nun waren alle in der Küche versammelt und Lily erzählte von ihren Reisen, während Ginny ein Auge auf das Essen hatte, das sie kochte. Harry hörte seiner Tochter mit gemischten Gefühlen zu und Albus, der auf Bitten seiner kleinen Schwester auch gekommen war, tat es seinem Vater gleich. James brauchte davon eine Pause und hatte sich daher nach oben verzogen. Leider konnte er sich selber nicht so gut einreden, dass ihn bloß die Straße und seine Passanten interessierten, während er aus dem Fenster sah, denn da gab es etwas weitaus spannenderes. Im Wohnhaus gegenüber saß, ein Stockwerk tiefer die junge Frau, der er gestern vor der Haustür begegnet war, auf einer kleinen Couch mit einem Laptop auf den Knien. Nachdem sie den Treppenaufgang hinauf gegangen war, hatte es ihn beschäftigt, ob er von seinen Fenstern aus vielleicht zu ihr herüber sehen konnte. Die Bestätigung hatte er schnell bekommen und seit dem ließ es ihn nicht locker und er sah immer wieder zu ihr. Das grenzt an Stalking, tadelte sich James selbst. Zu seinem Glück war sein eigenes Haus für sie nicht sichtbar, aber vielleicht war das auch das Pech. So würde sie nie zu ihm herüber sehen können und ihn bemerken. Unschlüssig strich er sich das Haar zurück. Gemeinsam aß die Familie Potter an diesem Advent zu Abend. James zollte seiner Mutter schweigend Respekt, da sie aus dem wenigen brauchbaren, was er in seiner Küche da hatte, etwas Anständiges gezaubert hatte. Lebhaft wurde sich unterhalten und für die Feiertage geplant und endlich waren die Kinder mündig genug, um gemeinsam gegen die kitschigen Vorstellungen ihrer Eltern vernünftig zu rebellieren. Gegen den gemeinsamen Feiertag im Fuchsbau gab es jedoch keinerlei Einwände. Dies war eine Tradition, der mit Freude gefrönt wurde. Insgesamt weckte der Abend wundervolle Erinnerungen an die Kindheit in Godric’s Hollow und James musste sich gestehen, dass er vielleicht doch nicht immer so glücklich war endlich alleine zu Leben, die Arbeit nicht alle Lücken füllte und der ganze Weihnachtswahn, der jedes Jahr immer viel zu früh startete, auch seine schönen Seiten hatte. Albus hatte sich mit vollem Bauch schon zurück gelehnt und seufzte zufrieden. »Pennst du eigentlich hier?«, fragte James seinen jüngeren Bruder und sah ihn argwöhnisch von der Seite an. Die Antwort wusste er längst. »Nur wenn ich mein altes Zimmer bekomme.« »Ich hab das Bett durch einen Billardtisch ersetzt. Wenn du darauf schlafen willst.« Der Schlag gegen seinen Oberarm war halbherzig, aber doch kräftig genug, dass James ins Schwanken geriet. »Wenn das stimmt, jag ich deins gleich in die Luft«, schwor Albus und stand auf, um es überprüfen zu gehen. Der Nachtisch war noch in Arbeit, sodass eine kurze Pause möglich war. »Jungs«, stöhnte Harry, als er zusah wie auch sein zweiter Sohn aufstand und beide erst langsam, dann schneller die Treppe hochpolterten. Dabei hatte er Jahrelang die Hoffnung gehegt, dass es mit dem älter werden besser mit ihnen würde. Die Geschichte mit dem Billardtisch war natürlich erfunden und so musste sich James keine Sorgen um die Inneneinrichtung machen. Albus verschwand durch die Tür in sein Zimmer und James blieb im Flur stehen und steckte die Hände in die Hosentaschen. Als er in sein eigenes Zimmer zum Fenster sah hatte er eine kleine Aussicht auf das Gegenüberliegende Haus und dessen Bewohner derselben Etage. Dort wohnte das Fräulein von gestern und sie saß immer noch auf der gleichen Couch und unterhielt sich mit jemandem. Er fixierte die junge Frau und es war als wirkte sie gar nicht mehr so weit weg wie es eigentlich der Fall war. Als säße sie in seinem Zimmer – und der Gedanke behagte ihm. Er ging auf das Fenster zu und öffnete es. Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen, der ihm ein Lied vom Winter erzählte. Mit zusammengepresstem Kiefer stand er da und blieb unschlüssig. Was sollte er denn machen? Rüber rufen? Konnte sie das überhaupt hören? Und selbst wenn, konnte sie ihn ja immer noch nicht sehen. Zudem wäre es megabescheuert und er würde sich zum Troll machen. Und was soll das auch geben? Sie ist ein einfacher Muggel, moserte er in Gedanken. Dabei war die Abstammung eines Menschen für ihn nie eine Streitfrage. Der Gast in ihrem Zimmer verließ den Raum und sie wechselte von der Couch an ihren Schreibtisch, der direkt vor dem Fenster stand. Es war als hätte sie sich ihm zugewandt. Seine Lippen wurden zu einer schmalen Linie und die Gedanken stoben wild durch seinen Kopf, aber ihr Ziel war eindeutig und es schrie nach dem verkümmerten Idioten aus Schulzeiten, der dem Hause Gryffindor zugeordnet gewesen war. Okay! Ohne weiter darüber nachzudenken griff er von seinem Arbeitsplatz ein Blatt Papier und begann in schnellster Krakelschrift eine Notiz drauf zu schmieren. Er durfte sich nicht zu lange damit aufhalten, sonst würden ihm noch ganz andere Dinge in den Kopf schießen und am Ende trat sein langweiliges ›Ich‹ wieder zu Tage. Versucht ordentlich, aber doch sehr hektisch und mit leicht zitternden Händen begann er das Blatt systematisch zu falten. Etwas, das er noch vor Hogwarts gelernt und immer als irgendwie nützlich gesehen hatte. Am Ende hielt er einen Papierflieger in den Händen und begutachtete ihn kennerisch. Nicht seine beste Arbeit, aber er würde fliegen können. Aber sollte er ihn auch fliegen lassen? Den Blick starr auf sie gerichtet, die ihn nicht sah, ihn nicht sehen konnte, egal, ob sie in irgendwelche Arbeiten vertieft war oder auf die Straße sehen würde, zielte er mit dem Papiervogel und blieb regungslos. Sollte er? »Was treibst du da?«, drang die irritierte Stimme seines Bruders an sein Ohr. »Ähm – wonach sieht’s denn aus?« »Nach etwas idiotischem.« Kurz ließ sich James die Worte durch den Kopf gehen. »Da hast du wahrscheinlich Recht.« Ohne darauf zu warten, dass Albus nach einer genaueren Erklärung verlangte, ließ er den Flieger starten. Im Nachhinein war ihm klar, wie undurchdacht dieser Versuch gewesen war. Sicherer wäre es gewesen, von einer höheren Stelle aus zu starten, denn eigentlich hätte der Flieger weit unter dem angestrebten Fenster landen müssen, durch den Abfall an Höhe. Doch der kalte kräftige Wind, der über den Platz zog, trug den Papiervogel den ganzen Weg bis zu ihr und ließ ihn im Spalt von Rahmen und Fenster landen. Selber überrascht blinzelte James herüber und nahm gar nicht mehr wahr wie sie den Flieger registrierte. Albus hatte sich neben ihn gestellt und sah an seiner Stelle dabei zu. »War das so beabsichtigt?« »Jupp« Schwungvoll wandte sich James vom Fenster ab und lief auf den Flur und die Treppe hinab. Vielleicht hätte er sich ein wenig mehr Zeit verschaffen sollen, aber es reichte für einen kurzen Stopp im Bad, um sich ansehnlich herzurichten. Mit der Hand noch einmal sicher durch das Haar warf er sich Mantel und Schal über. »Bin gleich zurück! Oder etwas später. Mal sehen«, verabschiedete er sich und trat raus in die eisige Kälte. Übermütig sprang er die Treppe runter und lief auf den kleinen Platz. Er war zu früh, aber anders ging es nicht. So konnte sie nicht ahnen, woher er kam und er war nicht gleich in Erklärungsnot. Den Kopf eingezogen und die Hände in den Taschen vergraben, blickte er zu ihrer Haustür. Es war nicht sicher, dass sie runter kommen würde, um ihn zu sehen. Immerhin waren sie sich gestern nur flüchtig begegnet und sie waren sich völlig Fremd – außer das sie eigentlich Nachbarn waren und er direkt gegenüber wohnte. Ein winziges Detail, dass er sich aufsparen würde. Aber vielleicht – und darauf hoffte er sehr – war sie neugierig wegen des ollen Papierfliegers und würde allein dafür schon runterkommen. Während er in Gedanken darüber sinnierte, wie lange es klug war zu warten und wann es bemitleidenswert wurde, verstrich die Zeit und die blaulackierte Tür des Wohnhauses öffnete sich. Seine Nachbarin, eingepackt in den gleichen Trenchcoat, den sie schon am vorherigen Tag angehabt hatte, trat heraus. Etwas wackelig stieg sie die Treppe hinab und war vollkommen darauf konzentriert. Erst als er auf sie zukam, bemerkte sie ihn und er meinte zu sehen wie sich ihre Augen für einen kurzen Augenblick weiteten. War sie überrascht? Vor ihr blieb er stehen und betrachtete das schöne Gesicht, das zu ihm aufschaute. Die dunklen Augen strahlten etwas Verträumtes aus. Ihre blassen Wangen gewannen einen leichten Rosaschimmer und ihr kastanienbraunes Haar war vom Wind leicht zerzaust. Es kostete James viel Selbstbeherrschung, sie nicht wie der letzte Volldepp anzugrinsen, sondern nur ein kleines charmantes Lächeln zu zeigen. »Hey«, war seine geistreiche Begrüßung, um die peinliche Stille zwischen ihnen zu durchbrechen. »Also, nach dem kurzen Zusammenstoß gestern, war ich der Meinung, wir sollten- Hast du Lust, mit mir eine heiße Schokolade bei Starbucks trinken zu gehen?« Julie & der Unbekannte ---------------------- Sie war spät dran. Eigentlich hätte sie die U-Bahn vor einer Minute nehmen sollen aber dann war Julie Long auf dem Klo mit der Zahnbürste im Mund eingeschlafen und der Drucker hatte einen Papierstau gehabt und nun musste sie dringend in die Gänge kommen um überhaupt noch vor Mrs. Rangarajan in der Redaktion anzukommen. Während sie ihre Stiefel schnürte wurde noch kurzerhand ihr Instagram-Account gecheckt — ihr iPhone hatte ihr beim hektischen Frühstück mitgeteilt, dass auf eines ihrer Fotos ein Kommentar veröffentlicht worden war — und sie versuchte ihre Atmung etwas zu verlangsamen. Panik würde ihr nun auch nicht weiterhelfen. ›lol, du wurdest schon wieder fotogebombt. sicher dass das keine absicht ist? liebe deine bilder‹, stand da auf dem Display und für eine Sekunde musste Julie breit lächeln. Nein, Absicht war es nie, dass der schwarze Haarschopf ihres mysteriösen Beinah-Nachbars häufig auf den Fotos, die sie von ihrem WG-Zimmer aus schoss, auftauchte. Sie kannte, um Himmels Willen, nicht mal seinen Namen oder seine Hausnummer. Nur dass er immer wieder mal – etwas besser, etwas weniger gut zu erkennen – auftauchte, das war ein witziger Fakt und sie fragte sich hier und da, ob er ihr vielleicht nicht auch folgte und sich immer darüber kaputtlachte, dass er ein Dauergast auf ihrem Account zu sein schien. Schnell scrollte sie hoch zum Foto selbst und suchte es nach ihm ab und — ja, da war er! Es war ein freundliches Lächeln in die Kamera und für eine Sekunde wünschte sie sich, die Auflösung wäre besser damit sie wenigstens wusste wie sein Gesicht genau aussah. Eigentlich hätte sie gerne noch weiter das Bild inspiziert, aber da fiel ihr Blick auf die Zeit und sie sprang entsetzt auf – die Stiefel nur halb geschnürt – und stolperte zur Tür hinaus. Beinahe hätte sie das Wichtigste, ihre Tasche und das Mäppchen mit ihrer Kolumne daneben, vergessen. Der Grimmauldplatz war still, so früh am Morgen, aber Julie sah gut zur Hauptstrasse, wo bereits reges Treiben herrschte. Blinkende Lichter machten sie darauf aufmerksam, dass es bald auch für sie an der Zeit war Geschenke für ihre Liebsten zu suchen. Veronica von der Arbeit hatte sie gefragt, ob sie diesen Sonntag Lust darauf hätte, mit ihr in Covent Garden bummeln zu gehen und eigentlich freut sich die junge Kolumnistin sogar darauf. Veronica redete ohne Punkt und Komma, folgte Julies Blog und ihrem Instagram und war die gewesen, die sie auf die Existenz des Fotobombers aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht machte die Anwesenheit ihrer Mitarbeiterin Julie deshalb so nervös. Veronica war aufmerksam — fast schon zu aufmerksam. Und ihre Entdeckungen mussten mit der Welt geteilt werden. Ohne wirklich darauf zu achten wohin sie lief, ließ sie sich von ihren Füßen zu ihrem Ziel, der U-Bahn Station einen Block weiter, tragen und eigentlich wären ihre Gedanken auch noch etwas länger bei Veronica geblieben, hätte sie nicht eine ihr bekannte Silhouette in ihrem peripheren Blickfeld an ihr vorbeigehen bemerkt. Auch wenn sie ihn nie in Person vor sich gesehen hatte, in Bewegung und im schwachen Morgennebel, der ohne Sonnenlicht eher matschig als romantisch wirkte, sie wusste ganz genau wer das war. Und bevor sie sich genau überlegen konnte was sie da tat hatte sie bereits auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre beinahe losgerannt. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich in Erinnerung rufen, dass man auf Beschattung normalerweise nicht einfach dem Zielobjekt hinterherrannte. Julie zögerte für eine Sekunde, beschloss dann, dass sie den Herren einfach ansprechen würde und rennen doch eine angemessene Aktion war und setzte wieder zum Sprint an. Doch sie sah kaum mehr als seine rechte Ferse, bevor auch die hinter einer Biegung verschwand. Und dann, zu dem Zeitpunkt an dem sie genug aufgeholt hätte, um wenigstens wieder einen Blick von ihm zu erhaschen war Mystery Man einfach weg. Wie von Zauberhand. Okay, nein, der Park war groß genug, um sich zwischen Bäumen und Büschen etwas unsichtbarer zu machen als man war. Vielleicht hatte er eine Abkürzung genommen. Oder er war wie Perry, das Schnabeltier aus Phineas und Ferb, in einem hohlen Baumstumpf untergetaucht und— Julie schielte auf ihr Handy und quietschte erschrocken. Oh nein, ihre U-Bahn fuhr in drei Minuten! Schwer atmend erreichte Julie das Bürogebäude des Guardians, beinahe zwanzig Minuten nachdem sie ihre Wohnung verlassen hatte. Mrs. Rangarajan stand bereits in der Tür ihrer kleinen Räumlichkeiten, die Arme verschränkt und streng wie eh und je mit dem dunklen, bereits silbern gesträhnten Haar zu einem straffen Knoten gebunden. Ihre Augen waren jedoch freundlich als sie der jüngeren Frau zum Gruß zunickte. »Schön dass sie mich heute doch noch beehren, Miss Long. Ich dachte bereits, wir würden auf ihre Kolumne verzichten müssen.« Zerknirscht streckte Julie ihrer Chefin den Text entgegen, säuberlich in einem Klarsichtmäppchen verstaut, und antwortete kleinlaut mit einem genuschelten: »Guten Morgen, Mrs. Rangarajan.« Aber innerlich – innerlich beweinte sie immer noch den Fakt, dass sie den Unbekannten einfach so verloren hatte. Es hatten sie doch kaum 150 Meter voneinander getrennt und auch wenn es albern war — sie glaubte tatsächlich daran, dass ihr Schicksal ihr etwas sagen wollte, wenn es ihn auf so vielen von ihren spontanen Fotos auftauchen liess. Immerhin liess sich nicht mal des Nachbars Katze (ein fettes, hässliches Vieh das aussah, als hätte es einen Strassenkampf gegen eine Taube verloren) so regelmäßig von ihr belichten. »Es ist okay, Miss Long. Sie dürfen gehen. Genießen sie ihren Tag, ein Kaffee würde ihnen für den Anfang bestimmt nicht schaden«, riss die Stimme ihrer Vorgesetzten sie aus ihren Gedanken. Sie würde nie darüber hinwegkommen wie süß dieser Anflug eines indischen Akzents klang. »Danke, Mrs. R. Nächstes Mal bin ich pünktlicher«, versprach sie verlegen und vergrub die Hände in den Taschen ihres warmen Trenchcoats. Mrs. Rangarajan lachte schallend und winkte mit dem Klarsichtmäppchen. »Na, versprechen sie mir da mal nicht zu viel. Bis nächste Woche, Miss Long.« Dafür, dass sie sich jedes Mal vor einer Abgabe so verrückt machte, so fand Julie, rentierte sich das viele Adrenalin so gar nicht. Nicht wenn sie jedes Mal mit einer leichten Mahnung im Unterton ihrer Chefin in die Freiheit entlassen wurde. Also brauchte sie erst mal einen Kaffee, um ordentlich wach zu werden. Trotz all der Zeit, die sie in der Gegend von King’s Cross verbrachte, war sie doch froh, als sie in der Victoria-Linie Richtung Oxford Circus saß und wusste, dass sie vom dortigen Bahnhof aus gut selbstständig zu einem Café Nero navigieren konnte (Starbucks lag auch auf dem Weg, aber das fühlte sich zu hipster an, zumal das garantiert ungesund für ihren Geldbeutel enden würde). Nachdem sie neben dem gewünschten Kaffee auch ein Käsebrötchen im Café gekauft hatte und glücklich auf einem Bissen herum kaute, fühlte sich Julie stark genug, um dem Londoner Stadtleben ins Auge blicken zu können. Sie war in Southwark aufgewachsen und eigentlich, so an und für sich, hatte sie dieses ganze Stadtkind-Dasein so sehr intus, dass sie keine zwei Tage campen fahren konnte — etwas das ihrem Ex, Berry, unkontrollierte Lachanfälle beschert hatte — aber alleine, selbstständig zurechtkommen zu müssen, das fühlte sich für sie immer noch etwas einsam und schwierig an. Alles ging etwas leichter, wenn sie Essen im Magen hatte. Hey, vielleicht fand sie sogar ihre Weihnachtsgeschenke heut schon. Sie war immerhin auf der Oxford Street, wieso nicht gleich Ausschau halten? Für ihre kleine Schwester Ruby würde sie in den zahlreichen Bekleidungsgeschäften fündig werden. Sie trugen auch beide dieselbe Größe, was bedeutete dass sie sich sicher sein konnte, dass das, was auch immer sie kaufen würde (wahrscheinlich ein Oberteil), gut saß. Ob die es dann effektiv anziehen würde oder nicht, das konnte sie nicht so recht sagen. Ruby war im schweren Alter am Ende der Pubertät und stand darauf, Haut zu zeigen, auch wenn es rein praktisch keinerlei Sinn machte. Aber weggeben, das wusste Julie, das würde ihre Schwester ein Geschenk von Familienmitgliedern nie. Vielleicht erkannte sie in zwei, drei Jahren den wirklichen Wert hinter einer hübschen, unifarbenen Bluse, die keinen Ausschnitt bis zum Bauchnabel hatte. Ihr Bruder George war schon schwerer und Julie fand sich versucht, ihm eine Tüte superteuren Tee zu kaufen von dem sie wusste, dass er ihn gerne trank, aber es nie zugeben würde. Wenn sie ihm eine Packung schenkte, dann hätte er wenigstens einen Anlass so zu tun, als ob er ihn nur aus Pflichtgefühl konsumierte. In der Hinsicht waren alle drei Long-Kinder ziemlich gleich. Gerade hatte sie ein besonders hübsches Teesieb im Schaufenster erspäht, da zog eine Bewegung im Glas ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das konnte ja nicht wahr sein! War der Unbekannte vom Grimmauldplatz gerade an ihr vorbeigelaufen? Und sie hatte es gemerkt? Sie wirbelte herum und starrte für eine Sekunde auf seinen Rücken. Dann setzte sie sich in Bewegung. Aber jetzt! Für einen Augenblick waren die seltsamen Blicke die sie erntete auch egal, denn sie hatte ihn beinahe eingeholt. Fast! Wenn sie nun die Hand ausst– Julie kam zu einem abrupten Stop als ein Kleinkind ihr vor die Beine lief und sie beinahe den lauen Rest Kaffee auf das goldene Lockenschöpfchen leerte. »Warten sie!«, rief sie dem Unbekannten hinterher, allerdings viel zu leise, als das er sie über den Strassenlärm hören konnte. Und selbst wenn, er war schon zur Hälfte um die Ecke. Von seinem Standpunkt aus hätten jenste Leute nach ihm rufen können. Julie spürte wie die Luft aus ihr wich und sie entschuldigte sich halbherzig beim Kind und seiner Mama, die ihr ein zögerliches Lächeln schenkte. Die Frau sah ein, zwei Jahre jünger als Julie selbst aus und für einen Moment fühlte sie denselben Stich den sie auch jedes Mal verspürte, wenn sie bei ihrer besten Freundin Tara im Wohnzimmer saß und deren Kindern beim Spielen zusah. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass ihr Job, ihre Ziele alle so viel schwerer zu erreichen wären, wenn sie ein Kleinkind an der Backe hätte. Nein, für den Moment ging es ihr besser so. Und um dafür zu kompensieren, dass sie keine Sprösslinge hatte, würde sie George jetzt das verflixte Teesieb gleich mitkaufen. Ja, das klang nach einem guten Plan. Sie würde ein Teesieb kaufen, das das Doppelte des Eigenwertes kostete und Kinder oder mysteriöse Unbekannte, die immer auf ihren Fotos aufkreuzten, vergessen. Gegen Mittag hatte Julie eine beträchtliche Menge an Geschenken zusammenbekommen. Nun war nur noch ihr knurrender Magen zu bekämpfen und dann wäre sie glücklich. Sie hatte sogar Zeit gefunden, um in einem Buchladen und einer Papeterie zu stöbern. Sie wäre auch weiter auf der Suche nach einem Lokal durch die Gassen in der Gegend des Oxford Circus gestolpert, wenn sie nicht vor einem kleinen, verhuddelt wirkenden Pub inne gehalten hätte, um durch das staubige Schaufenster ins Innere zu linsen. Die Speisekarte, die ans Glas geklebt worden war, sah auch nicht allzu unappetitlich aus und viel, viel Wichtiger! – ihr mysteriöser Unbekannter saß, etwas abgewandt von ihr, zwei Tische vom Schaufenster entfernt! »Los, Julie Long, reiss’ dich zusammen«, flüsterte sie sich selbst Mut zu und betrat den Pub. Ihre vielen Plastiktüten machten viel zu viel Lärm und sie war ganz froh saßen nicht so viele Leute da, vor denen sie sich blamieren konnte. Zielstrebig marschierte sie auf den Tresen zu, wo ein Typ, der in seinem schicken weissen Hemd und mit einer Krawatte lose um den Hals nicht so wirkte als gehöre er in diesen verstaubten, kleinen Laden, den Tresen säuberte. »Äh, hätten sie einen Bierdeckel oder so? Ich würde dem Herren dort drüben gerne eine Nachricht hinterlassen.« Der Barista, einen Lappen in der Hand (ob er die scheinbar sinnlose Arbeit, den Pub staubfrei zu halten, hatte?), warf ihr einen skeptischen Blick zu und Julie riskierte es gehetzt über ihre Schulter zu schielen. Was sie da sah gefiel ihr allerdings weniger gut — ihr Zielobjekt sammelte langsam seine Besitztümer zusammen und sein Teller sah bedrohlich leer aus. »Wird’s bald?«, zischte sie und trommelte mit den Fingern auf das Holz unter ihren Händen. Herr Barista folgte ihrem Blick zögerlich, dann rückte er langsam mit einem Zettel heraus, den sie anscheinend für ihre unlauteren Zwecke verwenden durfte. »Danke«, stieß Julie etwas sarkastisch hervor, zückte einen Kugelschreiber und fand sich auf das Stück Papier starrend wieder, unsicher was sie nun schreiben sollte. Naja, ›Hallo‹ kommt nie schlecht an, lautete das erste Argument das ihr Hirn produzierte. Also malte sie in ihrer ordentlichsten Schrift erst mal besagte fünf Buchstaben. Dann stockte es wieder. Sie fühlte sich in diese ekligen Schreibblockaden hineinversetzt, als ob die Worte, die man will, im Kopf verborgen sind, aber man einfach nicht weiß, wo man sie zuletzt gesehen hat. ›Hallo. Du tauchst immer auf meinen Fotos auf.‹ Ja, ja, das klang okay – Moment mal. Was schrieb sie da? Und wie stalkerhaft klang das bitteschön? Nein, das musste man anders angehen. ›Hallo. Ich weiss nicht ob du es merkst, aber ich sehe dich auffällig oft am Grimmauldplatz. Wohnst du dort in der Gegend? Irgendwie landest du immer auf meinen Fotos, die ich vom Zimmer aus mache und–‹ Julie hielt mitten in der Schreibbewegung inne, las ihre Worte erneut durch die sich nach wie vor keinen Deut weiter weg von ›stalkerhaft‹ bewegt hatten. Dann stieß sie einen frustrierten Laut aus, packte ihren Kugelschreiber wieder ein und machte sich daran den Pub so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Sie würde woanders zu Mittag essen, hier hatte sie sich für lebenslänglich blamiert. Nur das verdatterte Gesicht des Typen am Tresen, das war unbezahlbar. Fast Grund genug um noch etwas zu bleiben. Aber nur fast. Tea time preschte unvermeidbar auf sie zu und als Julie das nächste Mal auf das Display ihres Handys schielte war es bereits an der Zeit nach Hause zu gehen. Ihre Kreditkarte würde ihr ohnehin sehr bald danken. Sie hatte es geschafft auch für ihre Freundinnen kleine Präsente aufzugabeln und das schränkte ihre Einkaufsliste für Covent Garden stark ein. Es bestand Hoffnung, dass sie nicht genug Zeit mit Veronica verbrachte, um über ihr Privatleben ausgequetscht zu werden. Dass sich dieses ohnehin mehrheitlich aus dem Herumsitzen auf der Couch und dem Fotografieren von allem Möglichen, angefangen bei Essen, zusammensetzte, würde sie nicht mal erwähnen. Das wäre peinlich und irgendwie klang das in ihren Ohren äusserst tragisch. Der große Nachteil an ihrer erfolgreichen Geschenkjagd war dass sie sich mittlerweile so gut wie ein Sumoringer durch die Masse bewegen konnte — ohne in Betracht zu ziehen, dass Sumoringer wahrscheinlich trotzdem flexibler als sie waren und man für einen japanischen Ringer-Koloss auch Platz machte. Ihre Erleichterung als sich die Türen der Bahn hinter ihr schlossen und sie die vertraute Umgebung der Station Highbury & Islington wahrnahm. Hier konnte sie sich wenigstens auch so bewegungsunfähig wie sie aktuell war ordentlich genug zum Ausgang lotsen. Sie schlug sich auch verhältnismässig gut, denn nach dem Stosszeitverkehr in der U-Bahn wirkten die Strassen von Islington beinahe leer (was eine glatte Lüge war, die Strassen in London waren selten wirklich ganz leer). Sie schaffte es am Supermarkt und am Buchladen vorbei ohne einen Unfall zu bauen und dann – dann war ihre Glückssträhne zu Ende. In der Hast einer alten Dame etwas Platz zu machen warf sich Julie einem anderen Passanten in den Weg und sie konnte nicht so recht sagen wie viele unterschiedliche Geschenkschachteln der arme Mann in die Magengrube bekam, denn kaum einen Augenblick später befand sie sich auf Kollisionskurs mit dem Asphalt. »Oh Mist, das tut mir furchtbar leid!«, hörte sie sich selbst sagen, schrill und etwas in Panik, während ihre nun aufgeschürften Handflächen hastig über den Boden strichen und versuchten, ihre gefühlte halbe Tonne Plastiktüten wieder zusammenzusammeln. Gut, dass war eigentlich nichts Zerbrechliches dabei. Wenn die Schokolade für ihre Mutter darunter gelitten hatte, würde sie eben woanders ein Geschenk suchen und die Schoki selbst essen. Für etwas gab es Schokolade ja. »Alles okay bei ih– ihnen?« Rot im Gesicht sah Julie auf, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass sie sich das Gesicht ihres Opfers merken wollte. Wer ihr da entgegenstarrte war erwartet unerwartet. Manchmal war Karma doch keine so fiese, gemeine Macht. Sie hätte ein Gespräch anfangen sollen, so viel war klar, oder wenigstens noch ein, zwei nette Worte zu seinem Haar oder seinem Mantel sagen sollen; der stand ihm wirklich gut. Und vielleicht hätte sie es auch wirklich getan, hätte nicht just in diesem Moment ihr Handy lautstark geklingelt und Julie das als Stichwort dazu gesehen sich aufzurappeln und gehetzt abzunehmen. »Hallo? Olivia? Ja, klar, äh, nur ist gerade etwas doof, ich bin gerade mitten auf der Stra-« Sie stockte. In der Sekunde, in der sie den Unbekannten außer Sicht gelassen hatte, war er wieder verschwunden. Wenigstens wusste sie nun, dass er im Licht des Schaufensters in dem sie kurz gesessen hatten einen Ansatz eines Grübchens in seiner linken Wange hatte und seine Augenfarbe kastanienbraun war. Und dass sein Haar von Nahem nicht zu einhundert Prozent pechschwarz sein konnte; eher war es ein dunkles Braun mit ganz, ganz leichtem Rotschimmer das in Kombination ziemlich gut aussah. »Was? Ob ich noch- Klar bin ich noch da! Sorry, ich war mit dem Kopf woanders.« ❅ Nachdem sich Julie erfolgreich durch das eisige Treppenhaus gekämpft hatte (und sich dabei nicht übel wie ein Adipose aus Doctor Who vorgekommen war, mit den Armen so voll beladen) und sich eine Tasse Tee gebrüht hatte stand eine wohlverdiente Runde Nichtstun auf dem Sofa in ihrem Zimmer an. Julie lebte nach wie vor mit der Annahme, dass die Anschaffung des Möbelstücks das Beste war, das ihr je eingefallen war. Und so saß sie für eine Weile nur da, tief in den weichen Kissen vergraben, und checkte alles Mögliche auf ihrem iPhone, bevor sie sich dazu entschloss, ihren Laptop anzuwerfen und nachzuschauen, ob Mrs. Rangarajan eine Mail geschickt hatte. So praktisch das Weiterleiten der elektronischen Post aufs Handy auch war, Julie las lieber am großen Bildschirm. Außerdem konnte sie so gleich wieder mit dem Tippen für die nächste Woche anfangen. Wenigstens so tun, als tat sie etwas dafür, dass sie nächste Woche nicht wieder so eine Hetze hatte. Sie zog die Beine dicht an ihren Oberkörper heran, zückte ihr kleines Notizbuch und ihren Kugelschreiber und begann mit der Recherche. Irgendwann, im Laufe des frühen Abends, tauchte auch ihre Mitbewohnerin Angela auf, einen Teller Irish Stew in der Hand. »Da, du Wahnsinnige«, meinte sie und stellte das Abendessen auf den Schreibtisch. »Dachte mir doch, dass du jetzt Schuldgefühle schiebst und versuchst vorzuschreiben, obwohl du nächste Woche trotzdem einen Mordsstress haben wirst.« Julie warf Angela einen düsteren Blick zu und schälte sich zögerlich aus dem weichen, warmen Umfeld, das sie sich aus Decken und Kissen geschafft hatte. Sie liebte ihre neue Wohnstätte, aber manchmal wünschte sie sich, sie wäre an eine gut bezahlbare WG mit besserem Heizungssystem geraten. Bevor sie an Angela und Wally dachte, die beide kein Problem damit hatten ihr Essen zu bringen, wenn sie bis spät in die Nacht furios vor sich hintippte oder sie zu Trinkabenden entführten. »Jetzt schau mich nicht so finster an, wir wissen beide, dass es die pure, ungeschminkte Wahrheit ist. Ich will gar nicht wissen wie das wird wenn du erst mal in einem Verlag angestellt bist. Dann werden wir die Manuskripte vor dir verstecken müssen und so.« Angelas Ton war trocken wie die Wüste Gobi und beim Gedanken daran, dass sie so etwas wahrscheinlich wirklich tun würde — Julie bei der Arbeit behindern bis sie sich ansatzweise wieder wie ein normales, menschliches Wesen verhielt und zu orthodoxen Zeiten ihren Bedürfnissen nachging — war irgendwie zum Lachen. Verkneifen konnte Julie es sich nicht so recht. »Erzählst du mir von deinem Tag?«, fragte sie stattdessen und schenkte ihrer Mitbewohnerin ein strahlendes Lächeln. Angela seufzte und ließ sich neben Julies Fleckchen auf dem Sofa nieder. Ha! Niemand konnte dem Zauber der Couch widerstehen. Auch Angela nicht. Und du bist dir sicher, dass der Typ hier in der Gegend wohnt?“ Das Gesicht ihrer Gesprächspartnerin war skeptisch, aber Julie nickte bekräftigend. »Aber ja doch! Ich meine, das kann kein Zufall sein, dass er auf so vielen Bildern, die ich vom Fenster aus mache, zu sehen ist!« Angelas Augenbraue wanderte noch etwas zu ihrem Haaransatz und Julie wusste, jetzt hatte sie verloren. Für ihre realistische Mitbewohnerin war das seltsame Konzept des unbekannten Fotobombers wohl statistisch zu unrealistisch oder so. Mathematiker. »Sieh’ bloß zu, dass du da nicht an einen Stalker gerätst oder so«, mahnte Angela nach einem stillen Augenblick und erhob sich seufzend aus der Couch. Julies leeren Teller nahm sie gleich mit sich mit und dann war Julie wieder alleine. Als ob die Stille sie plötzlich erdrücken würde, entwich ihr alle Luft und sie sackte für eine Sekunde in sich zusammen, bevor sie sich nach dem Laptop ausstreckte. Oder- nein. Nein, sie würde jetzt nicht weiterschreiben. Irgendwie hakte da ein Satz schon seit einer gefühlten Ewigkeit und vielleicht brauchte die Formulierung Raum zum Atmen. Außerdem war ihr Kugelschreiber tot und der nächste Vorrat befand sich in der Schublade ihres Schreibtisches. So sehr sie lieber auf dem warmen, weichen Sofa sitzen würde, irgendetwas musste sie nun tun. Mit einem gequälten ›uff‹ hievte sie sich also auf die Füße und tapste zum Schreibtisch. Der Flieger überraschte sie und beinahe wäre sie quiekend zurück aufs Sofa gestolpert. Es benötigte viel mehr Akrobatik als man glauben würde, um das Fenster zu öffnen und den Papierflieger erfolgreich ins Innere des Hauses zu holen. Zweimal hätte Julie ihn beinahe fallen gelassen und dann hätte sie in Mrs. Smythes Garten klettern müssen, um ihn zurückzubekommen. Ob das ein Unfall gewesen war? Wer warf schon mit Papierfliegern, um diese Jahreszeit? Und gegenüber sah sie niemanden am Fenster stehen, diese Option fiel also auch weg. Vorsichtig faltete sie das Blatt auf und musste sich zusammenreißen, um sich nicht an der Sauklaue, die sich ihr präsentierte zu erschrecken. »Du kannst das entziffern«, sprach sie sich Mut zu, bevor sie damit begann, den Sinn hinter den Glyphen zu suchen. Sie las die Nachricht gerade oft genug, damit der Sinn dahinter zu ihr durchsickern konnte, bevor ein Licht bei ihr aufging. Ein schneller Blick aus dem Fenster bestätigte ihre Hoffnungen. Tatsächlich. Das war ihr Fotobomber. Nun stellte sich nur noch die Frage wie er dazu gekommen war, ihr eine Nachricht über Papierflugzeug zu schicken — ach was, wie diese Nachricht überhaupt zu ihr gekommen war! Aber dafür war gleich Zeit, erst mal sollte sie raus auf die Straße! Hastig schnappte sie sich ihr Smartphone und rannte aus dem Zimmer. Draußen auf der Straße angekommen sah Julie wohl aus, als wäre sie vor Wölfen davongelaufen. Sie konnte sich gut denken, dass ihr Haar vollkommen geladen, durch die Reibung von Schal und Trenchcoat, und der ganzen Eile in alle Richtungen abstehen musste. Sie erwischte sich dabei wie sie sich, trotz des schnellen Blicks aus dem Fenster, überrascht fühlte. Irgendwie hatte sie während der Hast des Mantelanziehens, Schuhefindens und Schalaufstöberns beinahe damit gerechnet, dass sie sich verguckt hatte und der Typ auf der Straße wer völlig anderes war — oder, noch schlimmer, bloß ein Hirngespinst! Sie brachte keine Grußworte hervor, aber hob zögerlich die Hand um zu winken, auch wenn es wohl etwas sinnlos war. Aber wer hätte ihr schon geglaubt, dass ihr das Herz bis zum Hals schlug? Es schlug sogar so laut, dass sie erst eine Weile brauchte bevor sie seine Worte richtig verarbeiten konnte. Lud’ er sie gerade zu einer heißen Schokolade ein? Weil sie ihn mit ihren Weihnachtseinkäufen gerammt hatte? Solche Dinge passierten doch nur in Filmen wie Love Actually oder so! »Äh. Ich meine, ich würde mich freuen!«, antwortete sie, sich dessen bewusst, dass die Sekunden die ihr Hirn zum Rattern gebraucht hatten bereits das Maß an Anstand, das gängig war, überschritten hatten. Zögerlich streckte sie die Hand aus. »Ich gebe aber zu, dass die, äh, Umstände unserer Begegnungen wohl etwas seltsam sind, deshalb – können wir von Vorne anfangen?« Sie fühlte wie sich ihr Gesicht noch etwas mehr rötete. »Ich bin Julie. Du bist auf total vielen von meinen Fotos, ganz ohne Absicht. Und ich würde mich sehr darüber freuen, mit dir eine heiße Schokolade zu trinken.« Entzückt beobachtete sie wie sich sein Lächeln weitete, Zähne blitzten und da – tatsächlich, sich Grübchen in beiden Wangen bildeten. »Hi Julie, ich bin James.« Und seine Hand war warm und groß, sicher doppelt so groß wie die ihre, sein Grinsen strahlend. »Schön, dass ich deine Fotos bereichert habe.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)