Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 58: Böses Erwachen -------------------------- Das erste, was Luca sag, als er aufwachte, war eine weiße Decke. Dann kamen die Schränke und Wände ebenfalls in weiß. Erst danach bemerkte er, dass er in einem Bett lag. Krankenhaus, schlussfolgerte er, was nicht sonderlich schwer war. Doch wie war er hier hergekommen? Das letzte, an das er sich erinnerte, war der Bilderrahmen, den er Nicholas in den Briefkasten gesteckt hatte. Danach hatte er von der Brücke springen wollen, nur war ihm ein Polizist dazwischengekommen. Er war weggerannt. Luca erinnerte sich noch an zwei Lichter, die schnell näher kamen, dann nichts mehr. Ob er in ein Auto gerannt war? Mit seinem Glück war das sehr wahrscheinlich. Erst jetzt bemerkte er, dass er an einen Tropf und noch zwei weitere Automaten angeschlossen war. Wie lange die wohl blieben? Am liebsten hätte er sofort die Nadel aus seinem Arm gezogen, doch damit würde er sich nur unnötigen Ärger machen, also ließ er sie, wo sie war. „Wie ich sehe, bist du aufgewacht“, sagte die Krankenschwester, die gerade das Zimmer betreten hatte, erfreut, „Wie geht es dir?“ Luca schaute auf, wollte gerade etwas antworten, als die Tür aufgerissen wurde und Jochen in das Zimmer stürmte. Ihm folgten Sonja und ein Arzt, jedenfalls trug der Mann den typischen Kittel. Obwohl Luca noch etwas benommen war, war er zusammengezuckt, als die Tür so heftig aufgestoßen worden war. Er versteckte seine Hände unter der Decke, um das Zittern zu verbergen. Der Arzt lächelte ihn freundlich an. "Du hast uns einen ziemlichen Schrecken eingejagt", meinte er. Die Situation kam Luca falsch vor. Normalerweise erkundigen sich die Eltern, wie es ihren Kindern geht, nicht der Arzt. „Wann können wir ihn wieder mit nach Hause nehmen?“, wollte Jochen vom Arzt wissen. „Immer mit der Ruhe", erwiderte der Mann im Kittel grinsend, „Ihr Sohn ist gerade erst aufgewacht. Ein bis Zwei Wochen werden wir ihn mindestens noch hierbehalten. Aber mit etwas Glück kann er Weihnachten wieder nach Hause.“ Beinahe hätte Luca erleichtert ausgeatmet. Er konnte es sich gerade noch verkneifen. Er hatte noch etwas Zeit, bevor er in diese Hölle zurück musste. „Wir lassen Sie mal kurz allein“, sagte der Arzt, „Dann können Sie kurz mit Ihrem Sohn sprechen. Aber nicht länger als zehn Minuten. Er braucht Ruhe und die Besuchszeit ist auch schon um.“ Gemeinsam mit der Krankenschwester verließ er das Zimmer. Er hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, da stand Jochen schon an Lucas Bett. Er beugte sich etwas über den Blondhaarigen und griff mit einer Hand nach seiner Kehle, die er auch sogleich zudrückte. „Das wird noch ein Nachspiel haben“, zischte der Mann leise, „Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass du damit durchkommst?“ Er ließ den Siebzahnjährigen wieder los und spazierte aus dem Zimmer als sei nichts gewesen. Sonja folgte ihm. Es dauerte nicht lange, dann kam der Arzt zurück. Doch anstatt ihn zu untersuchen, was man normalerweise von ihm erwarten würde, setzte er sich zu Luca auf die Bettkante. „Ich habe bei deiner Behandlung einige Verletzungen gefunden, die nicht von dem Unfall stammen, darunter die aufgeplatzte Lippe. Woher hast du sie?“ Der Blondhaarige schüttelte seinen Kopf. Er wollte nicht darüber sprechen. Es brachte doch eh nichts. Spätestens zu Weihnachten schickte man ihn zu Jochen zurück und nach Lucas Flucht letztens, würde ihm sonst was blühen. Es würde nicht bei den üblichen Prügel bleiben. Wenn er doch nur den Unfall nicht überlebt hätte. Der Arzt seufzte. „So kann ich dir nicht helfen. Sag bescheid, wenn du deine Meinung geändert hast und doch darüber sprechen möchtest.“ Dann ging er wieder. Luca starrte an die Decke. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Auf keinen Fall konnte er zurück. Jochen würde ihn umbringen, da war er sich sicher, und zuvor wahrscheinlich noch ordentlich foltern. Sonja würde, wie immer, nur danebenstehen. Doch wo sollte er sonst hin? Nicholas hatte ihn rausgeworfen, ohne ihn überhaupt zu Wort kommen zu lassen und Peter, sein leiblicher Vater, wollte nichts von ihm wissen. Er wäre besser dran, wenn er tot wäre. Dann müsste er wenigstens nicht mehr in dieser ständigen Angst leben. Außerdem interessierte es doch eh keinen, warum sollte er sich also noch weiter abkämpfen? Es hatte keinen Sinn mehr, hatte wahrscheinlich noch nie einen gehabt. Der Blondhaarige zuckte zusammen, als er plötzlich laute Stimmen im Flur vernahm, gefolgt von schnellen Schritten. „Sie können da nicht rein“, hörte er eine Frauenstimme rufen, „Nur seine Familie darf zu ihm!“ „Ich bin Familie!“, antwortete eine Männerstimme, die Luca seltsam bekannt vorkam, laut. Dann wurde die Tür erneut geöffnet und der Mann, gefolgt von einer Krankenschwester, trat herein. „Machen Sie Ihre Augen auf“, schimpfte er, „Es sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass wir verwandt sind!“ Erschrocken, aber auch verwirrt, starrte Luca zur Tür. Dort stand kein anderer als Peter Mertens. Die Krankenschwester schaute zwischen ihm und seinem Vater hin und her, ehe sie leise seufzte. „Und wie genau stehen Sie zueinander?“, wollte sie wissen. Peter schnaubte: „Er ist mein Sohn!“ „Das kann nicht sein. Seine Eltern sind eben hier gewesen“, sagte die Krankenschwester verwundert. „Jochen ist nicht mein Vater“, antwortete Luca leise, womit er die Aufmerksamkeit der beiden anderen auf sich zog, „Sonja hat ihn nur vor zehn Jahren geheiratet.“ Die Krankenschwester gab nach. „Bleiben Sie nicht zu lange, Ihr Sohn ist vorhin erst aufgewacht.“ Dann verschwand sie wieder aus dem Zimmer. Peter schaute sich kurz in dem Zimmer um, dann ließ er sich auf den Stuhl, der neben Lucas Bett stand, fallen. „Warum bist du am Sonntag zu mir gekommen?“, fragte er sogleich. Kein „Wie geht es dir“, keine Begrüßung, nur diese Frage. Der Siebzehnjährige hatte nicht bemerkt, dass er wieder begonnen hatte, zu hoffen, bis seine Hoffnung erneut zerplatzte. Wann lernte er es endlich? Luca wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster. Er war in einem der oberen Stockwerke, stellte er fest, denn es ging ziemlich weit nach unten. Auf die Frage antwortete er nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Peter hatte ihm schon letztes Mal nicht zugehört, warum sollte das heute anders sein. Allerdings schien der Mann so leicht nicht aufzugeben. „Es muss wichtig gewesen sein, sonst hättest du bis zum nächsten Tag gewartet und nicht mitten in der Nacht geklingelt.“ Jetzt schaute Luca ihn doch an. „Was würde es bringen, es Ihnen zu sagen?“, fragte er. Er gab sich keine Mühe den resignierten Klang seiner Stimme zu verbergen, dazu hatte er keine Kraft mehr. „Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen und Sonja in der Vergangenheit vorgefallen ist, aber Ihren Briefen und Ihrer Reaktion am Sonntag zufolge, muss es eine Menge sein.“ Er hielt kurz inne, überlegte, wie er seine Worte am besten formulierte, bevor er weitersprach: „Ich habe Ihnen nichts getan, bis vor wenigen Wochen kannte ich noch nicht einmal Ihren Namen. Trotzdem haben Sie mich rausgeworfen, ohne mir die Chance zu geben, mich zu erklären. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich glaube nicht, dass Sie gewillt sind, mir zu helfen.“ Luca war erstaunt, wie ruhig und sachlich er gesprochen hatte. Normalerweise konnte er seine Gefühle nicht so gut beherrschen. Aber vielleicht lag es auch daran, dass er bereits aufgegeben hatte. Er fühlte sich, als würde nicht er diese Worte sprechen, sondern jemand anderes. „Jetzt sag es schon endlich, bevor die Krankenschwester wiederkommt und mich rauswirft“, verlangte Peter. Kurz zögerte Luca. Sollte er wirklich? Warum nicht? Er hatte schließlich nichts mehr zu verlieren. Mehr als ablehnen konnte Peter nicht. Es konnte nur noch besser werden. „Hol mich da raus“, flüsterte er leise, dennoch verständlich. „Was?“, fragte Peter. Er schien ihm nicht folgen zu können. „Du bist mein Vater, richtig? Dann solltest du auch etwas ausrichten können“, erklärte Luca, „Hol mich von diesen Leuten weg.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)