Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 5: Nachts allein auf der Straße --------------------------------------- Zusätzlich zu den Hausaufgaben, die Luca ein zweites Mal hatte erledigen müssen, musste er auch noch das Zimmer putzen. Dabei hätte Peters doch wissen müssen, dass nicht er es gewesen war, der die Papierkugeln geschossen hatte. Während er beobachtet hatte, wie Luca das Zimmer fegte, hatte er bei ihm zu Hause angerufen. Viel hatte Luca von dem Gespräch nicht mitbekommen. Peters hatte sofort die Tür geschlossen, nachdem er den Grund seines Anrufes genannt hatte. Luca wusste, wenn er heute nach Hause kam, gab es Ärger, großen Ärger. Dabei hatte er nichts getan. Hatte sich denn die gesamte Welt gegen ihn verschworen? Wäre er heute doch nur zu Hause geblieben. Er hätte sich eine Menge Ärger erspart. Wie erwartete, stand Jochen bereits vor der Tür, als Luca zu Hause ankam. Sein Stiefvater packte ihn unsanft am Oberarm und zerrte ihn in die Wohnung. „Ich glaube, wir müssen mal ein ernstes Wörtchen reden, Freundchen", bellte er. Lucas Schultasche wurde vom Rücken gerissen und auf den Boden geworfen, ehe Jochen ihn am Kragen packte und gegen die Wand im Flur stieß. „Ich habe vorhin einen Anruf von deinem Klassenlehrer bekommen. Dreimal darfst du raten, was er mir erzählt hat!" Luca antwortete nicht. Wenn er es jetzt abstritt, würde er die Sache nur schlimmer machen. Seine Mutter trat in den Flur und blickte Luca enttäuscht an. „Ich dachte, ich habe dich besser erzogen!", brauste Jochen auf und ein Faustschlag traf Luca in die Seite. Er stöhnte vor Schmerz auf. „Hast du gedacht, ich bekomme das nicht mit?" Weitere Schläge folgten. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Zehn Jahre", tobte sein Stiefvater, „Zehn Jahre habe ich dich durchgefüttert, dir Klamotten und ein Dach über den Kopf gegeben. Ich habe dir sogar erlaubt, das Abitur zu machen! Und so dankst du es mir?" Er ließ Luca los. Der Sechzehnjährige rutschte an der Wand herunter und blieb regungslos am Boden liegen. Das einzige Geräusch, das er von sich gab, war ein leises Stöhnen, als Jochen nach ihm trat. „Antworte mir", schrie dieser, „Was hast du dir dabei Gedacht?!" Luca warf einen Hilfe suchenden Blick zu seiner Mutter. Sie schaute ihn nur tadelnd an. „Wann lernst du endlich, dich zu benehmen? Jochen meint es doch nur gut mit dir! Warum musst du es ihm so unnötig schwer machen?", sagte sie leise. Erneut trat Jochen nach ihm und Luca schloss seine Augen. Er konnte es nicht länger ertragen, das Gesicht seiner Mutter zu sehen, wie sie in ihm die Schuld suchte und nicht mal auf den Gedanken kam, dass vielleicht ihr Mann der Schuldige war. „Nimm es nicht so schwer, Sonja", sagte Jochen zu ihr, „Dein Sohn wird schon noch lernen, wie er sich zu benehmen hat. Und wenn ich es eigenhändig in ihn rein prügeln muss!" Er wandte sich zu Luca, packte den Sechzehnjährigen am Kragen und stieß ihn rückwärts durch den Flur, in Richtung der Tür. „Und du, mein Freundchen, siehst zu, dass du hier raus kommst. Du bleibst heute Nacht draußen. Vielleicht lernst du dann zu schätzen, was ich für dich getan habe." Die Tür wurde vor Lucas Nase zugeknallt. Eine Weile blieb er vor der verschlossenen Tür stehen, dann wandte er sich ab und lief die Straße entlang. Jochen hatte ihn noch nie rausgeworfen. Klar, er hatte ihn geschlagen, verprügelt und auch schon für ein oder zwei Tage irgendwo mit nur einer Flasche Wasser eingesperrt. Aber rausgeworfen hatte er ihn noch nie. Zum Glück war es noch Sommer und dementsprechend warm, also musste er sich keine Gedanken machen, dass er in der Nacht erfrieren könnte. Im schlimmsten Fall holte er sich eine leichte Erkältung. Auch war er froh, dass er die Trainingsjacke trug, nicht, weil sie die Taten seines Stiefvaters verbarg, sondern weil sie ihn in der Nacht wärmen würde. Er schlenderte durch einige Nebenstraßen, sah sich den einen oder anderen Garten an und landete schließlich an einem Spielplatz. Auf dem Klettergerüst turnten zwei Jungen. Auf den Schaukeln daneben saß ein Mädchen mit blonden Zöpfen. Es war vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Der Vater stand hinter ihm und schob es lachend an. Eine Weile beobachtete Luca, wie der Vater mit seiner Tochter spielte. Gern hätte er auch so eine Kindheit gehabt. Seine Mutter war nie mit ihm auf einem Spielplatz gewesen, nicht einmal, bevor sie Jochen kennengelernt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie auch nur einmal etwas mit ihm unternommen hatte. Sie liebte ihn nicht, das wusste er. Doch warum hatte sie ihn dann behalten, wenn sie ihn nie gewollt hatte? Sie hätte ja nicht abtreiben müssen, eine Adoption hätte es auch getan und durch die vielen Babyklappen ging das sogar anonym. Dann hätte er nicht in dieser Hölle, die sich sein Zuhause schimpfte, aufwachsen müssen. Er hätte jetzt eine Familie, die ihn liebte und sich um ihn kümmerte. Er wäre nicht allein. Luca fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Wange, als er etwas Nasses auf ihr spürte. Wann hatte er angefangen zu weinen? Die Kinder gingen nach Hause und es wurde langsam dunkel. Luca war noch lange am Spielplatz geblieben. Erst als er anfing, zu frieren, hatte er sich abgewandt und war zurück gelaufen. An der Bushaltestelle blieb er stehen. Die Busse waren geheizt. Und durch seine Monatskarte konnte er kostenlos fahren. Er zog die Karte aus seinem Turnschuh, wo er sie versteckte, damit Thomas und dessen Freunde sie ihm nicht wegnehmen konnten. Wenigstens die hatte er noch. Als ein Bus an der Haltestelle hielt, stieg er ein und zeigte dem Fahrer seine Monatskarte, als dieser ihn argwöhnisch musterte. Er ließ sich auf einen freien Platz fallen und lehnte seinen Kopf gegen das Fenster. An der Endhaltestelle, dem Busbahnhof, warf der Fahrer ihn raus. Inzwischen war es dunkel draußen. Luca schaute kurz auf den Fahrplan, um festzustellen, dass der Bus, mit dem er zurück musste, erst morgen früh fuhr. Erschöpft ließ er sich auf eine der für die Fahrgäste aufgestellten Bänke nieder und schloss die Augen. Die Monatskarte hatte er wieder in seinem Turnschuh versteckt. Ihm knurrte der Magen, aber er hatte kein Geld, um sich etwas kaufen zu können, also musste er bis morgen warten. Vielleicht konnte er sich eine Kleinigkeit aus dem Kühlschrank nehmen, während Jochen arbeitete. Oder er wartete, bis er und seine Mutter schliefen und schlich dann in die Küche. Allerdings war da die Chance größer, dass er erwischt wurde und als Strafe das ganze Wochenende nichts zu essen mehr bekam. „Na, was haben wir denn da?", wurde Luca aus seinen Gedanken gerissen. Als er seine Augen öffnete, sah er zwei Jugendliche, die sich vor ihm aufgebaut hatten. Beide waren kräftig gebaut und mindestens zwei Jahre älter als er. In den Händen trugen sie jeweils eine Flasche Bier und ganz nüchtern schienen sie auch nicht mehr zu sein. „Hast du dich verlaufen, Kleiner?", fragte der erste der Beiden. Luca wich zurück. Scheiße! Wo war er denn jetzt wieder hineingeraten? „Hey, keine Panik, wir tun so 'nem Süßen wie dir schon nichts", meinte der Zweite und strich sich durch sein kurzes, hellbraunes Haar, „Ich bin Julian und das ist Benjamin. Aber nenn ihn lieber Benni. Er kann seinen Namen nämlich nicht ausstehen." Julians braune Augen blitzten ihn fröhlich an. Luca nickte, nicht wissend, was er sonst tun sollte. Benni brummte etwas unverständliches, was sich nach einem „Nenn mich nicht Benjamin", anhörte. „Du bist nicht besonders Redefreudig, oder?", fragte Julian munter weiter und setzte sich neben Luca auf die Bank. Dabei kam er dem Sechzehnjährigen so nah, dass ihre Oberschenkel sich berührten. Luca schaute ihn erschrocken an und rutschte ein Stück von ihm weg. Doch Julian folgte ihm nur. „Du bist wohl etwas schüchtern, was?" Am liebsten wäre Luca aufgesprungen und weggelaufen, doch er konnte sich nicht rühren. Es war, als sei er plötzlich an der Bank festgeklebt. „Sag mal, musst du eigentlich alles abschleppen, was nicht bei drei auf dem Baum ist?", erklang eine genervte Stimme hinter ihm. Er kannte diese Stimmt. Überrascht, was der Andere hier tat, drehte Luca sich um und blickte in die leuchtend grünen Augen von Nicholas. „Jetzt sei nicht immer so ein Spielverderber", meinte Julian und zog einen Schmollmund, „Was, wenn du mich gerade um die Nacht meines Lebens gebracht hast?" Luca beachtete ihn nicht weiter. Immer noch starrte er seinen schwarzhaarigen Klassenkamerad an, als sei dieser eine Erscheinung. „Ni- Nicholas?", stotterte er. „Ihr kennt euch?", fragte Julian unnötigerweise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)