Auf den zweiten Blick von Seira-sempai ================================================================================ Kapitel 96: Warten und Bangen ----------------------------- Am Abend konnte Luca nicht einschlafen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er wieder das Kätzchen verletzt auf der Straße liegen, hörte Hans‘ wütende Rufe und das vorbeifahrende Auto. Kurz überlegte er, Nicholas anzurufen. Doch als er einen Blick auf seinen Wecker warf, der anzeigte, dass es schon weit nach Mitternacht war, verwarf er den Gedanken wieder. Stattdessen schälte er sich aus der Decke, stieg in seine Hausschuhe und warf sich seinen Morgenmantel über. Leise schlich er aus seinem Zimmer, schließlich wollte er seinen Vater und Nina nicht wecken. Bemüht, keinen Laut von sich zu geben, humpelte er die Treppen hinunter. Dabei hielt er sich mit einer Hand am Geländer fest, damit er nicht versehentlich die Treppe hinunterfiel. Eine Etage weiter unten angekommen, lief er in die Küche. Dort holte er sich ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser, ehe er einen großen Schluck nahm. „Ist dir nicht gut?“, hörte er die leise Stimme seines Vaters hinter sich. Erschrocken, da er nicht damit gerechnet hatte, drehte der Siebzehnjährige sich um. Der Mann stand, ebenfalls im Morgenmantel, in der Tür und stützte sich mit einer Hand am Rahmen ab. Luca schüttelte den Kopf. „Ich kann nur nicht schlafen“, sagte er leise und stellte das Glas auf dem Schrank bene sich ab. „Wegen dem, was heute passiert ist?“, fragte Peter. Der Siebzehnjährige nickte. „Ich bekomme die Bilder nicht aus dem Kopf.“ Langsam, wohl um Luca eine Chance zu geben, ihn aufzu-halten, ging Peter auf seinem Sohn zu und zog ihn in eine Umarmung. „Ich wünschte, ich könnte dir versprechen, dass alles gut wird. Aber das kann ich nicht. Du hast die Tierärztin gehört.“ Luca nickte. Zu mehr war er nicht in der Lage. Der Kloß in seinem Hals hinderte ihn erfolgreich am Sprechen. Die Tränen, die er den ganzen Abend versucht hatte, zu ver-drängen, stiegen ihm in die Augen und er schluchzte leise. „Shhh“, flüsterte Peter, während er ihm mit einer Hand beruhigend über den Rücken strich, „Lass es raus. Es ist in Ordnung, zu weinen. Danach geht es dir besser.“ Jetzt konnte Luca sich nicht mehr bremsen. Hemmungslos begann er zu schluchzen. Er krallte sich in den Morgenmantel seines Vaters fest und lies sich gegen ihn sinken. „Du hängst sehr an dem Kätzchen, oder?“, flüsterte Peter, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte. Luca nickte. Es war noch immer etwas ungewohnt für ihn von jemandem umarmt zu werden, aber langsam gewöhnte er sich daran. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sowohl er als auch sein Vater auf dem Boden knieten. Doch das schien Peter nicht weiter zu stören. Ruhig fragte er: „Möchtest du heute zu Hause bleiben?“ Die Frage verwirrte den Siebzehnjährigen. Bot sein Vater ihm gerade an, die Schule zu schwänzen? Er schüttelte seinen Kopf. „In der Schule bin ich wenigstens abgelenkt.“ „Das ist dir überlassen“, antwortete Peter, „Du weißt am besten, wie es dir geht.“ Luca löste sich von seinem Vater und als er aus dem Fens-ter sah, bemerkte er, dass es langsam zu dämmern be-gann. „Ich mach mich dann langsam fertig“, beschloss er. Es würde nichts mehr bringen, sich wieder ins Bett zu legen, selbst wenn er es doch schaffen würde, einzuschlafen. „Lass dein Handy heute an“, schlug Peter vor, während er sich wieder erhob, „Ich schreibe dir, sobald die Tierärztin angerufen hat. Aber stell es lieber auf lautlos, nicht dass es dir noch einer der Lehrer wegnimmt.“ Den letzten Satz hatte Peter in einem belustigenden Ton gesprochen. Der Siebzehnjährige vermutete, er würde also keinen Ärger bekommen, selbst wenn die Schule seinen Vater anrief, weil er mit dem Handy gespielt hatte, zumindest heute. Eine knappe Stunde später saß er mit Nina, Peter und Ute am Frühstückstisch. Die Haushälterin lud ihm gerade großzügig Rührei auf den Teller, als Nina plötzlich aufsprang und aus dem Esszimmer stürmte. Peter blickte ihr besorgt hinterher. Er wartete einen Au-genblick, doch als sie nicht wiederkam, stand er auf und verließ ebenfalls das Zimmer. Ute seufzte leise: „Ich habe ihr doch gesagt, sie soll zum Arzt gehen. Aber nein, die gute Frau ist ja kerngesund.“ „Was hat sie denn?“, fragte Luca. „Das weiß ich nicht“, antwortete Ute, „Seit ein paar Tagen erbricht sie mehrmals am Tag. Aber jedes Mal wenn ich sie darauf anspreche, sagt sie, ihr ginge es gut. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, sie ist schwanger.“ Schwanger? Luca verschluckte sich an seinem Rührei und hustete laut los. „Junge“, meinte Ute leise tadelnd, „Du sollst das Ei essen, nicht auf Lunge ziehen.“ Sie klopfte ihm kräftig auf den Rücken, was nicht besonders viel brachte. Aber nach einer Weile wurde es von allein wieder besser. Luca ließ sich in seinem Stuhl nach hinten fallen und atmete tief durch. Jetzt kamen auch Peter und Nina zurück. Die junge Frau war etwas blass im Gesicht. Sie setzte sich zurück an den Tisch, wobei Peter nicht von ihrer Seite wich und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. „Und du bist sicher, dass du nicht doch zum Arzt willst?“, fragte Ute. „Mir geht es gut“, wehrte Nina sofort ab. „Du solltest dich wirklich untersuchen lassen“, meinte jetzt auch Peter. Nina stöhnte genervt auf. „Na gut. Wenn es morgen noch nicht wieder weg ist, gehe ich zum Arzt.“ Damit war das Thema beendet und die Familie widmete sich schweigend wieder ihrem Frühstück. Luca war froh, als er wenig später mit seinen Schulsachen ins Freie trat, denn auch wenn er die Nacht keine Ruhe gefunden hatte, merkte er doch langsam, wie müde er war. Die frische Luft hatte eine belebende und aufmun-ternde Wirkung auf ihn. Und als er Nicholas an der Ein-fahrt stehen sah, verbesserte sich seine Laune schlagartig. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, fing er an zu lächeln und ging zügig auf seinen Freund zu. „Morgen“, begrüßte Nicholas ihn. Lucas Lächeln wurde breiter. „Morgen“, antwortete er und küsste seinen Freund. Kurz überlegte er, ob er von dem Vorfall Gestern erzählen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Er wollte die Stimmung nicht ruinieren. Außerdem konnte er es Nicholas auch noch später sagen. Der Vertretungsplan verriet den beiden, dass sie heute in den ersten zwei Stunden selbstständig eine Aufgabe erledigen sollten. Die Tochter ihrer Französischlehrerin war anscheinend krank, weswegen die Frau den Tag zu Hause geblieben war. Eine Vertretung gab es nicht, dafür stand eine Aufgabenstellung auf dem Plan. Sie mussten im Buch einen Text durcharbeitet, einige Fragen zum Text beantworten und einen Teil übersetzen. Nächste Woche würde die Aufgabe kontrolliert werden. Froh darüber, eher wieder nach Hause zu können, lief er gemeinsam mit Nicholas zu ihrem Klassenzimmer und ließ sich auf seinen Platz fallen. Seine Freunde begrüßte er mit einem kurzen „Guten Morgen“. Hätte Nicholas am Nachmittag nicht Fahrschule und da-nach Karatetraining gehabt, hätte Luca ihn gefragt, ob er nach der Schule mit zu ihm kommen wollte. So beschränkte er sich auf den Abend. „Schläfst du heute bei mir?“ René, der die Nacht vermutlich bei Rebecka verbracht hatte, da er nicht mit ihnen im Bus gesessen hatte, lachte laut auf. An Nicholas gewandt meinte er: „Hat er dich gerade nach Sex gefragt?“ Luca, dem die Zweideutigkeit seiner Frage erst jetzt auffiel, spürte, wie er errötete. Der Schwarzhaarige verpasste seinem besten Freund eine Kopfnuss. „Das“, sagte er mit ernster Stimme, obwohl seine Mundwinkel verdächtig zuckten, „geht dich überhaupt nichts an. Ich frag dich doch auch nicht über dein Sexleben mir Rebecka aus.“ René öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Doch als er den empörten Blick seiner Freundin sah, schloss er ihn schnell wieder und wandte sich ab. Luca war froh, dass die Zwillinge noch nicht hier waren. Die zwei hätten sich sonst wahrscheinlich den ganzen Vormittag über ihn lustig gemacht. Er lehnte sich gegen seinen Freund und schloss für einen Augenblick die Augen. „Geht es dir nicht gut?“, erkundigte sich Nicholas leise. Der Blonde schüttelte den Kopf. „Nur müde“, murmelte er, „Konnte heute Nacht nicht schlafen.“ Er spürte, wie Nicholas einen Arm um ihn legte und an sich zog. „Dann schlaf. Ich bin mir sicher, Rebecka lässt und abschreiben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)