Einsamer Engel von YvaineLacroix ================================================================================ Prolog: -------- Der Schuss, welcher der friedlichen Stille auf dem nächtlichen Friedhof ein jähes Ende bereitete, hallte in meinen Ohren entsetzlich laut wider. Nein. N e i n! Das konnte sich nicht wirklich soeben ereignet haben. Es durfte einfach nicht sein! In einer Sekunde war alles noch in Ordnung und in der nächsten geschah etwas, dass meine Welt zum Einstürzen brachte und mein Herz in tausend Einzelteile zerspringen ließ. Ungläubig starrte ich den Mann an, der nur wenige Schritte von mir entfernt stand und sich mit schmerzverzerrten Gesicht eine Hand auf die Brust presste. Zwischen seinen Fingern sickerte dunkelrotes Blut hervor und tropfte erbarmungslos zu Boden. Sein Blick suchte und fand den meinen. „Emilie,“ hauchte er mit brüchiger Stimme, bevor er in sich zusammensackte und regungslos im Staub liegen blieb. Fassungslos starrte ich hinunter auf seinen leblosen Körper, unfähig zu begreifen wie das hatte passieren können. Dann überrollte mich eine Welle unglaublichen Schmerzes, die mir die Luft ab zu schnüren drohte. „NEIN!“ schrie ich immer wieder, geschüttelt von herzzerreißenden Schluchzern. „NEIN!!“ Meine Schultern bebten und meine Wangen waren tränenüberströmt, als ich schließlich den Blick von dem Mann abwandte, den ich über alles liebte und der ganz allein meinetwegen hatte sterben müssen. Meine schönen grünen Augen, in denen sonst so viel Wärme und Güte gestanden hatten, verdunkelten sich vor glühendem Hass, als ich mich Victor zu wandte. Er hatte ihn getötet. Er hatte mir den Mann genommen, der mich verstanden und mich so angenommen hatte wie ich war. Den Mann, mit dem ich den Rest meines Lebens hatte verbringen wollen, um ihm zu zeigen, dass er nicht das schreckliche Geschöpf war für das er sich hielt. Den Mann, den ich mehr als alles andere auf der Welt geliebt hatte. Nun war er tot. Fort. Für immer. Unwiederbringlich. Und ich fühlte mich als wäre ich mit ihm gestorben. Schwankend richtete ich mich auf und näherte mich Victor, der mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht da stand und sich an meinem Schmerz weidete. Aus einer kleinen Platzwunde an meiner Schläfe blutete es stark, doch ich bemerkte nicht einmal, dass ich mich verletzt hatte. Mein Blick war fest auf die Pistole in Victors rechter Hand gerichtet, deren Lauf nun harmlos nach unten zeigte, so als hätte nicht soeben ein Schuss aus ihr mein Leben zerstört. Bebend vor stummen Zorn und Schmerz verharrte ich direkt vor ihm und betrachtete ihn mit all der Verachtung, die ich für ihn empfand. Meine Furcht vor ihm war verschwunden, verdrängt von dem unermesslichen Leid, dass er mir mit der eiskalten Ermordung meines Geliebten angetan hatte. Ihn schien es nicht im Mindesten zu berühren, dass ich ihn so hasserfüllt betrachtete. Mit einem böswilligen Lächeln meinte er: „Damit wäre das Biest, das irrtümlicherweise annahm mit der Schönen glücklich werden zu dürfen, ein für alle mal erledigt.“ Kaum hatte er zuende gesprochen, stürzte ich mich wie eine Furie auf ihn. „Du widerwärtiges Monster!“ schrie ich und schlug so fest ich konnte immer wieder auf ihn ein. Ich wollte ihm weh tun, meine Wut an ihm auslassen und diesen schrecklichen selbstzufriedenen Ausdruck aus seinem Gesicht prügeln. Im ersten Moment war er zu perplex um auf meinen Angriff zu reagieren, doch dann packte er mich grob am Handgelenk und schlug mir so hart ins Gesicht, dass ich nach hinten taumelte und wimmernd zu Boden ging. Misshandelt und mit gebrochenem Herzen blieb ich auf der Erde liegen und gab mich ganz dem Schmerz über den Tod des Menschen hin, der mir von allen am wichtigsten gewesen war. Oh Erik...! Kapitel 1: Lost in the Dark --------------------------- Paris 1886 Allein. Dieser Zustand beschrieb mein Leben in den letzten fünf Jahren treffend. Obwohl ich in einem großen prächtigem Haus lebte, umgeben von zahllosen Dienstboten, die sich um mein leibliches Wohl kümmerten, fühlte ich mich einsam. Ich hatte niemanden mit dem ich reden konnte, niemanden der sich für mich als Person und meine Wünsche und Hoffnungen interessierte. Freundinnen gab es nicht, hatte es nie gegeben. Meine Eltern waren schon vor Jahren aus ihrem irdischen Dasein geschieden und hatte mich in dieser kalten Umgebung zurückgelassen. Ohne Wärme und ohne Liebe. Ich war allein. Das energische Klopfen an meiner Zimmertür riss mich jäh aus meinen düsteren Grübeleien. Noch bevor ich den Besucher vor meiner Tür hereinbitten konnte, wurde diese aufgerissen und mein Vormund Victor Rigaud stolzierte mit einem arroganten Lächeln im Gesicht in den Raum. In den Händen hielt er ein großes Paket, welches er achtlos auf mein Bett fallen ließ. Dann setzte er sich ungefragt neben mich aufs Sofa und ergriff meine Hände. „Meine liebste Emilie, ich habe mir erlaubt dir ein Geschenk mitzubringen.“ Er blickte mich mit seinem üblichen lüsternen Funkeln in den Augen an und hob meine linke Hand an seine Lippen, um sie zu küssen. Hastig entzog ich sie ihm und erhob mich. Ich eilte zum Fenster, nur weg von ihm, wo ich nach draußen blickend verharrte. Ich ertrug es schon lange nicht mehr, wenn er mich berührte. „Ich bin nicht deine Liebste, Victor, und das werde ich auch nie sein. Und gleich was du mir auch mitgebracht haben magst, ich will es nicht.“ sagte ich mit ruhiger Stimme. Das einzige Zeichen meiner inneren Anspannung waren meine Finger, die sich in den Stoff des Vorhangs krallten, so dass meine Fingerknöchel weiß hervor traten. Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, spürte ich wie eine Welle des Zorns über ihm zusammenbrach. Er war ein sehr jähzorniger Mensch und ertrug es nicht, wenn ich mich ihm widersetzte, was ich trotz besseren Wissens immer wieder tat. Mit wenigen Schritten war er hinter mir und legte seine Hand trügerisch sanft in meinen Nacken, der daraufhin unangenehm zu kribbeln begann. Noch hatte er sich unter Kontrolle, doch ich fühlte nur zu deutlich wie die Wut unter seiner kühlen Fassade brodelte. Ein weiteres falsches Wort von mir und er würde mich das ganze Ausmaß seines Zorns spüren lassen. Und was das bedeutete wusste ich nur zu gut. „Na, na. Redet man so etwa mit seinem zukünftigen Gemahl? Du solltest nicht vergessen wer hier der Gnade des anderen ausgeliefert ist, meine Liebe.“ säuselte er dicht an meinem Ohr. Ich wagte nicht mich zu bewegen, als er begann mit seinen Fingern die empfindliche Haut meines Nackens zu streicheln. „Wenn du dich ab und an etwas zugänglicher zeigen würdest, dann wäre ich nicht immer so hart zu dir, weißt du? Also öffnest du nun das Paket oder wollen wir uns... anderweitig vergnügen?“ Er stand so dicht hinter mir, dass ich seinen heißen Atem auf meiner Wange spüren konnte. Er wollte mich. Wie schon so oft. Doch gleich was ich sonst von ihm halten mochte, er hatte sich mir nie unsittlich genähert. Nicht einmal einen Kuss hatte er mir gestohlen. Bisher nicht. Sein höhnisches Gelächter verfolgte mich, als ich fluchtartig Richtung Bett eilte, wo ich das Päckchen näher in Augenschein nahm. Es war lang und rechteckig, verziert mit einer schlichten Schleife. Ich zog sacht an deren Enden und hob den Deckel ab. Verblüfft nahm ich das weiße Kleid heraus und breitete es auf dem Bett aus. Es war ein Traum aus Spitze und Seide mit wunderschönen Applikationen am Saum und Oberteil. Ein Kleid wie geschaffen um darin zu heiraten. Ich gab ein ersticktes Keuchen von mir, als ich begriff was dieses Geschenk bedeutete. Mein Gesicht war schreckensbleich, als ich mich zu Victor um wandte. „Wann?“ war das einzige was ich von mir geben konnte. Er grinste teuflisch und lehnte sich mit verschränkten Armen lässig an die Wand. Offensichtlich genoss er mein Entsetzen in vollen Zügen. Minuten schienen zu verstreichen ehe er endlich antwortete: „Überrascht, Emilie? Du wusstest doch, dass dieser Tag kommen würde. Da du nun das 21. Lebensjahr vollendet hast, wüsste ich nicht weshalb ich noch länger warten sollte. Ich habe eine Sondergenehmigung erwirkt, so dass wir in drei Tagen vermählt werden können.“ Das letzte bisschen Farbe wich aus meinem Gesicht. „In drei Tagen?“ wisperte ich fassungslos. Das durfte einfach nicht wahr sein! Der Tag, vor dem ich mich mehr fürchtete als vor allem anderen, durfte nicht so kurz bevor stehen! Sein Lächeln wurde noch eine Spur boshafter. Er löste sich von der Wand, trat ans Bett heran und nahm meine klamme Hand in die seine, um einen feuchten Kuss darauf zu drücken. „Ja, in drei Tagen ist es endlich soweit. Du ahnst nicht wie sehr ich diesen Tag all die Jahre herbeigesehnt habe; der Tag, an dem du endlich die Meine wirst.“ Seine Finger streichelten provozierend über meine Haut, was mich leicht schauern ließ. Ich hielt den Blick gesenkt, aus Angst ihm zu verraten wie hilflos ich mich aufgrund dieser Nachricht fühlte. Mühevoll gelang es mir tiefe und lange Atemzüge zu nehmen, obgleich ich viel lieber dem beklemmenden Gefühl in meiner Brust freien Lauf gelassen hätte. Doch ich durfte in seiner Gegenwart keine Schwäche zeigen. Die Genugtuung würde ich ihm nicht auch noch gönnen. Ich schaffte es meine Fassade aufrecht zu erhalten, als er nun mein Kinn anhob und mich mit einem bedrohlichen Funkeln in seinen kalten blauen Augen ansah. „Ich warne dich, Emilie. Wenn du zu fliehen versuchst, dann wirst du es bitter bereuen, das schwöre ich dir. Also denk erst gar nicht daran, sonst musst du mit den Konsequenzen leben, die ich dann nur zu gern vollstrecke. Und du weißt was dir blüht, solltest du meinen Plänen einen Strich durch die Rechnung machen, nicht wahr?“ Ich nickte schwach. Oh ja, das wusste ich nur zu gut! Mich fröstelte. „Braves Mädchen,“ raunte er und tätschelte meine Hand. Dann wandte er sich zur Tür. „Ich lasse dich nun allein, damit du dein Hochzeitskleid in Ruhe anprobieren kannst. Wir sehen uns dann später beim Essen.“ Die Tür fiel mit einem vernehmlichen Laut ins Schloss und ich hörte wie Victor dem Mann, der davor Wache stand, harsch den Befehl erteilte mich nirgends ohne Begleitung hingehen zu lassen. Ich saß in der Falle, ohne Aussicht auf Rettung. Das Entsetzen darüber Victor schon so bald ehelichen zu müssen, war so groß, dass ich unkontrolliert zu zittern anfing. Meine schmalen Schultern bebten und ich umschlang meinen Oberkörper mit den Armen, bevor ich begann mich sacht vor und zurück zu wiegen. In meinen Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Fieberhaft überlegte ich was ich nun tun sollte. Denn eins stand für mich fest. Ich konnte Victor nicht heiraten. Ich verabscheute ihn aus tiefstem Herzen, für das was er mir angetan hatte und noch antun würde. Es gab nur einen Weg, der mich davor bewahren würde als seine Frau zu enden. Ich musste fliehen und hoffen, dass er mich nie wieder fand. Denn dann würde er seine Drohung wahrmachen und mich das ganze Ausmaß seines Zorns spüren lassen. Ganz gleich welche Gefühle er auch für mich hegte, vor Gewalt hatte er noch nie zurück geschreckt. Flucht war also der einzige Ausweg, den ich sah und so verbrachte ich die nächste Stunde damit mir einen Fluchtplan zurecht zu legen. Mir kam zugute, dass ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr versucht hatte Victors Einfluss zu entkommen. Die Wachen waren zunehmend träger und unvorsichtiger geworden. Soweit ich wusste, patrouillierten nur noch zwei Männer im Garten und der war so groß, dass es ein leichtes sein würde ihnen im Schutze der Dunkelheit auszuweichen. Wenn mir das gelang konnte ich durch die Hecke schlüpfen und wäre frei. Blieb nur noch der Wächter vor meiner Zimmertür, den es auszuschalten galt. Es war von großer Bedeutung, dass ich ihn ruhig stellte, damit meine Flucht nicht so schnell bemerkt wurde. Als mein Blick schließlich auf eine große mit chinesischen Motiven bemalte Vase fiel, wusste ich wie ich vorgehen konnte. Flink traf ich meine Vorbereitungen. Ich schlüpfte in ein schlichtes dunkelblaues Gewand und legte ein dazu passendes dunkles Cape an. In der Innentasche meines Kleides verstaute ich ein paar nützliche Kleinigkeiten. Leider war es mit nicht möglich etwas zu essen und zu trinken mitzunehmen, aber das war mir für den Moment gleich. Zunächst einmal musste ich das Anwesen weit hinter mich gelassen haben, ehe ich mich um die Bedürfnisse meines Körpers sorgen konnte. Dann wartete ich auf den Einbruch der Dunkelheit. *** Lautlos schlich ich durch die Straßen von Paris. Ich bemühte mich mit den Schatten zu verschmelzen und hielt immer wieder atemlos inne um auf die schnellen Schritte etwaiger Verfolger zu lauschen. Offenbar war es mir für den Moment gelungen diese abzuschütteln, aber ich durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Sie konnten mich jederzeit finden solange ich mich im Freien aufhielt. Ich musste sich verstecken. Nur wo? Zitternd presste ich mich an eine Hauswand und zog das durchnässte Cape enger um mich. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber es sah nicht so aus als würde es in dieser Nacht aufhören zu regnen. Ich musste weiter und mir einen Unterschlupf suchen. Wenn ich hier stehen blieb würde ich mir noch den Tod holen. Meine Flucht war bis auf eine winzige Kleinigkeit genauso verlaufen wie ich mir es dutzende Male in meinem Kopf vorgestellt hatte. Der Wächter vor meiner Tür fiel auf meinen schrillen Hilferuf herein, stürzte in den Raum und wurde von mir mit der schweren Vase niedergeschlagen. In den dunklen Korridoren traf ich zum Glück auf niemanden und konnte über die Dienstbotentreppe hinunter und gelangte anschließend unbemerkt ins Freie. Auch die beiden Patrouillen im Garten stellten kein großes Problem dar. Und ich wäre auch nicht bemerkt worden, wenn mein Cape sich nicht dummerweise in den Zweigen der Hecke verfangen hätte. Erst kurz bevor einer der patrouillierenden Männer um die Ecke bog, konnte ich mich befreien und durch die schmale Lücke in der Hecke schlüpfen. Doch er hatte meinen Schemen davon eilen gesehen und sogleich Victor alarmiert. Dennoch konnte ich zufrieden mit mit sein. Ich war noch nicht verloren und Victors Männer hatten für den Moment keine Ahnung wo ich mich befand. Leise huschte ich also weiter um die nächste Ecke und blieb jäh stehen, als ich erkannte wo ich mich befand. Direkt vor mir erhob sich majestätisch die legendäre Opéra Garnier, in die seit den mysteriösen Vorfällen vor sieben Jahren keine Menschenseele einen Fuß gesetzt hatte. Es hieß das Phantom, das noch immer in der Oper hausen sollte, würde jeden bestrafen, der es wagte sein Reich zu betreten. Ich wusste nicht genau was sich vor sieben Jahren an diesem Ort zugetragen hatte; die Menschen sprachen nicht darüber, weil sie vergessen wollten. Ich wusste nicht einmal genau ob das sogenannte Phantom der Oper wirklich existierte oder ob es der Phantasie einer verwirrten Seele entsprungen war. Fest stand, dass die Oper, in die sich niemand hinein wagte, das ideale Versteck für mich war. Wer würde mich schon dort vermuten? Dennoch näherte ich mich nur zögernd dem großen, verlassenen Gebäude. Die Türen des Haupteinganges waren mit Brettern zugenagelt worden und auch alle Fenster waren verriegelt. Dort würde ich also nicht hineingelangen. Doch als ich das Gebäude mich vorsichtig immer wieder um blickend zu umrunden begann, hatte ich schon bald eine Möglichkeit entdeckt hineinzukommen. Ich kniete vor der kleinen vergitterten Öffnung, die gerade groß genug war, dass so eine schmale Person wie ich es war hindurch kriechen konnte, und zerrte an den Gitterstäben. Zu meiner großen Freude gelang es mir das Gitter zu entfernen. Ich legte es beiseite und zögerte nur einen winzigen Moment, bevor ich mich rückwärts durch die so entstandene Öffnung zwängte. Kapitel 2: Time for one more daring dream ----------------------------------------- Einen Moment lang hing ich mit meinen Füßen in der Luft bis ich auf etwas stieß, dass stabil genug schien um mein Gewicht zu tragen. Vorsichtig ließ ich mich hinunter und vergaß nicht das Gitter wieder anzubringen, damit niemand auf die Idee kam, dass sich jemand heimlich Zutritt zur Oper verschafft hatte. Als ich sicher stand, drehte ich mich um und versuchte in der herrschenden Dunkelheit etwas zu erkennen. Es dauerte eine Weile bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, aber dann konnte ich Einzelheiten wahrnehmen. Ich befand mich auf einem Tisch, der offenbar zu so einer Art Abstellkammer gehörte. Soweit ich das erkennen konnte, standen überall Besen, beschädigte Instrumente und alte, ausrangierte Requisiten herum. Ich stieg vom Tisch herunter und bahnte mir vorsichtig einen Weg zur Tür, da ich keine Lust verspürte in diesem engen, voll gestellten Raum zu bleiben. Wenn ich es schon gewagt hatte die Opéra Garnier nach allem was sich vor sieben Jahren hier zugetragen hatte zu betreten, konnte ich mich auch umschauen und vielleicht das eine oder andere Geheimnis ergründen. Ehe ich allerdings die Tür erreichen konnte, stolperte ich über den Saum meines nassen Kleides und fiel mit einem unterdrückten Aufschrei in einen Stapel Decken. Staub wirbelte um mich herum auf und ich musste mehrmals niesen. Als ich mich mühsam aufrappelte, stieß ich mit den Fingern gegen etwas Metallenes. Ich nahm es in die Hand und stellte fest, dass es ein dreiarmiger Kerzenständer aus Messing war, in dem noch halb abgebrannte Kerzen steckten. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Jetzt konnte ich ein wenig Licht in die Dunkelheit bringen. Schnell griff ich in die eingenähte Tasche meines Kleides und holte eine Schachtel Zündhölzchen hervor. Glücklicherweise waren diese trotz des strömenden Regens draußen trocken geblieben. Vorsichtig entzündete ich eins der kleinen Hölzchen und steckte die Kerzen damit an. Sogleich war ich umgeben von einem Kreis aus Licht. Ich nahm den Kerzenständer in die linke Hand und öffnete die Tür, durch welche ich in die riesige Eingangshalle der Oper gelangte. Mich ehrfürchtig um blickend schritt ich auf die breite Marmortreppe zu, die mit vergoldetem Stuck und goldenen Statuen verziert war. Einst musste diese Halle sehr prachtvoll und beeindruckend gewesen sein mit dem herrlich gefliesten Boden, den mächtigen Säulen, den glitzernden Kristalllüstern, den fein gearbeiteten Statuen und dem ganzen Gold. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich alles in seiner ganzen Pracht vor mir sehen und spürte die Vorfreude und Erwartung, welche die feinen Herrschaften beim Hinaufschreiten der Treppe erfasst hatte. Jetzt war die Eingangshalle zwar immer noch beeindruckend, aber die Jahre, in der das Opernhaus nun schon leer stand, waren auch an ihr nicht spurlos vorbei gegangen. Überall lag eine zentimeterdicke Staubschicht, die Statuen wirkten trüb und hatten ihren einstigen goldenen Glanz eingebüßt und von den Kristalllüstern hingen Spinnweben. Langsam erklomm ich Stufe für Stufe der eleganten Marmortreppe und betrat durch die linke Flügeltür das Herzstück der Oper: den Aufführungssaal. Auch hier verweilte ich einen Moment lang und nahm das, was ich erblickte, in mir auf. Dann ging ich zielstrebig auf die Bühne zu, kletterte hinauf und wandte mein Gesicht dem Zuschauerraum mit seinen mit rotem Samt bezogenen Sitzen und den zahlreichen prunkvollen Logen zu. Ich schloss die Augen und öffnete mich für die Empfindungen, die auf mich ein zu strömen begannen. Ich fühlte die maßlose Begeisterung des Publikums, welches die Darbietungen mit wohlverdientem Applaus honorierte. Ich konnte das Glück und die Zufriedenheit der Sänger und Sängerinnen spüren, die sich voller Stolz über ihre soeben erbrachten Leistungen vom Publikum bejubeln ließen. Doch da war noch etwas anderes. Hinter diesen starken Emotionen konnte ich noch etwas anderes wahrnehmen. Dieses Gefühl war nur sehr schwach vorhanden, aber es war unleugbar da: Angst. Ich fühlte eine mir unbegreifliche Angst unter all dem Ruhm, die immer allgegenwärtig war. Doch wovor hatten diese Menschen sich gefürchtet? Weswegen waren sie dermaßen besorgt, dass sie selbst im Augenblick des Triumphs nicht ganz vergessen konnten? Lag es etwa am Phantom der Oper? Bei diesem Gedanken öffnete ich die Augen wieder und schaute mich aufmerksam um. Ich durfte nicht vergessen, dass ich möglicherweise nicht allein im Opernhaus war. Das Phantom konnte überall sein und mich insgeheim beobachten. Dieser Gedanke behagte mir nicht sonderlich, also beschloss ich mir einen Raum zu suchen, wo ich mich ein wenig ausruhen konnte. Außerdem musste ich endlich aus meinem feuchten Kleid und dem nassen Cape heraus, bevor ich mich noch erkältete. Ich ging hinter die Bühne und begann nach einem geeigneten Raum zu suchen. Auf meiner Suche stieß ich auf ein großes Zimmer, in dem etliche wuchtige Schränke standen. Als ich die Türen eines Schrankes aufmachte, schnappte ich erstaunt nach Luft bei dem Anblick, der sich mir bot. Auf einer Kleiderstange hingen mehrere Dutzende Kostüme, eines schöner als das andere. Ein Kleid stach zwischen all dem Samt und Brokat besonders ins Auge. Es war aus cremefarbener Seide mit langen Ärmeln und mit weißer Spitze abgesetzt. Atemlos berührte ich es. Wenn man bedachte, das es nun schon sieben Jahre lang hier hing, war es in einem hervorragenden Zustand und in mir kam der Wunsch auf es anzuziehen. Bedächtig nahm ich es aus dem Schrank und legte es über die Lehne eines Stuhls. ich stellte den Kerzenständer auf einen Tisch und begann mein Cape abzulegen. Ich würde das Seidenkleid anziehen. Niemanden würde es kümmern. Und schließlich wollte ich es nicht behalten, sondern nur solange tragen bis mein eigenes Kleid aus Baumwolle wieder trocken war. Ich schlüpfte aus meinem feuchten Kleid und stand einen Moment nur mit meinem dünnen Hemdchen bekleidet da. Mein langes braunes Haar floss in sanft glänzenden Wellen über meine bloßen Schultern. Dann griff ich nach dem schimmernden Kleid und streifte es über. Es passte wie angegossen. Ich blickte mich nach einem Spiegel um, konnte aber nirgends einen entdecken. Merkwürdig. Hier hatten doch sicher Spiegel gestanden, oder nicht? Was war aus denen geworden? Gut, dann würde ich mich eben nicht betrachten können. Seufzend nahm ich meine Kleidungsstücke und den Kerzenständer und setzte meinen Weg durch die finsteren Gänge hinter der Bühne fort. Ich wanderte vielleicht noch eine halbe Stunde herum ehe ich endlich das fand was ich suchte. Das Zimmer, das ich nun betrat, war größer als alle bisherigen und mit kostbarem Mobiliar ausgestattet. Ich schloss die Tür und legte meine Sachen auf einen herrlich geschnitzten Stuhl. Dann sah ich mich um. Das erste was mir auffiel war der große Wandspiegel und mir stockte der Atem, als ich darin mein Spiegelbild erblickte. War die schöne Frau in diesem Traum aus Spitze und Seide wirklich ich? Langsam drehte ich mich um die eigene Achse ohne den Blick vom Spiegel zu nehmen. Es war einfach unglaublich wie sehr mich dieses Kleid veränderte. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so wunderschön und elegant aussehen könnte. Eine Welle des Glücks durchströmte mich und ich lächelte mein Spiegelbild an. Schließlich löste ich mich und sah mich weiter um. Gegenüber des Frisiertisches stand eine lange Chaiselongue. Dort konnte ich mich hinlegen und ein wenig schlafen. Die überstürzte Flucht, die viele Rennerei und die ständige Angst jeden Moment gefunden zu werden, hatten mich mehr erschöpft als mir bewusst gewesen war. Ich stellte den Kerzenständer auf den Frisiertisch und entdeckte dabei eine längst verwelkte Rose, die von einem schwarzen Satinband umschlungen war. Ich nahm die Rose in beide Hände und strich sacht über die vertrockneten Blütenblätter. Aus irgendeinem Grund erfasste mich plötzlich eine tiefe Traurigkeit und meine Augen füllten sich jäh mit Tränen. Warum sandte diese Rose solch traurige Schwingungen aus? Welch Schicksal hatte den Überbringer dieses vergessenen Geschenks so unglücklich werden lassen? Ich brachte es nicht übers Herz die Blume wieder beiseite zu legen, also nahm ich sie mit, als ich mich hinlegte. Kaum hatte ich es sich auf der Chaiselongue bequem gemacht, als mir auch schon die Lider zufielen. Die Rose hielt ich fest in beiden Händen. *** Ich fand mich auf der Bühne des Opernhauses wieder. Eine wunderschöne brünette Frau stand dort und sang. Als sie endete, gab es tosenden Applaus und Blumen flogen auf die Bühne. Ein blonder junger Mann applaudierte besonders enthusiastisch. Dann war ich auf einmal in dem Raum mit dem hohen Spiegel. Die brünette Frau saß dort vor dem Frisiertisch und kämmte ihre Haare, als eine Männerstimme zu singen begann. Doch es war weit und breit niemand zu sehen. Schließlich erkannte ich, dass die Stimme hinter dem Spiegel hervorkam. Gefangen von diesem betörenden Gesang schritt ich darauf zu genauso wie die unbekannte Frau. Ein dunkelhaariger Mann mit einer weißen Halbmaske erschien und reichte der Frau seine Hand. Es war mir unmöglich den Blick von ihm zu wenden und so folgte ich den beiden durch den Spiegel immer tiefer in die unterirdischen Gewölbe der Oper bis in das geheime Versteck des Mannes, wo er so herzergreifend und voller Zärtlichkeit sang, dass mir das Herz weh tat. Dann sah ich mit an wie die Frau in eine tiefe Bewusstlosigkeit sank. Behutsam hob der maskierte Mann sie auf seine Arme und trug sie zu einem mit rotem Stoff bezogenen Bett, auf das er sie sanft niederlegte. Als er zärtlich ihre Wange liebkoste und Christine flüsterte, fühlte ich all die Hoffnung und Liebe, die er in diesem Moment empfand und ich schloss gerührt die Augen. Ein wütender Schrei ließ mich meine Augen wieder aufreißen. Christine lag am Boden, die weiße Halbmaske in ihrer Hand, ein stummes Zeugnis für das, was sie getan hatte. Und plötzlich wusste ich wer dieser geheimnisvolle Mann war, der sein Gesicht hinter einer Maske verbarg. Er war das Phantom! Und nun stand er da, darauf bedacht sein Gesicht hinter seinen Händen zu verstecken durchströmt von Wut und Enttäuschung über Christines ungeheuerliche Tat. Auf einmal fand ich mich im Freien wieder. Weiße Schneeflocken sanken sacht auf das Dach der Oper, auf dem ich stand. Direkt vor mir sah ich Christine mit dem blonden jungen Mann, den sie Raoul nannte. Sie küssten sich innig und schworen sich gegenseitig ihre Liebe. Doch anstatt Glück darüber zu empfinden, fühlte ich einen unsagbaren Schmerz und in dem Moment wusste ich, dass das Phantom auch anwesend war. Es war sein Schmerz über Christines Verrat, der mich durchzuckte. Als das Liebespaar verschwunden war, trat er aus dem Schatten hervor, kniete nieder und hob eine blutrote Rose auf, die von einem schwarzen Satinband umschlungen war. Er hielt sie an sein Gesicht und ich sah wie sich eine einsame Träne seine unbedeckte Wange hinunter stahl. Voller Mitgefühl streckte ich meine Hand nach ihm aus und machte einen Schritt in seine Richtung um ihn zu trösten, doch da wechselte die Szenerie auf einmal wieder. Nun befand ich mich in der prachtvollen Eingangshalle der Oper, in der anscheinend gerade ein Maskenball stattfand. In einer Ecke sah ich Christine und Raoul, die verstohlen einen Kuss austauschten. Um Christines Hals hing an einer Kette ein Ring und das konnte nur heißen, dass die beiden sich heimlich verlobt hatten. Diese Erkenntnis versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Plötzlich erloschen die Lichter im Saal und wie aus dem Nichts tauchte das Phantom auf. Es trug eine Totenschädelmaske und war mit einer Paradeuniform aus dunkelrotem Samt bekleidet. Es verkündete den entsetzten Anwesenden des Balls, dass es eine Oper geschrieben habe und verlangte, dass diese mit Christine in der Hauptrolle aufgeführt werde. Ich spürte die Freude dieses rätselhaften Mannes über sein gelungenes Auftreten, doch der Schmerz, der ihn gequält hatte, war immer noch vorhanden. Er hatte sich tief in sein Herz gegraben. Dann verschwand das Phantom wieder und mit ihm die ganze Szenerie. Mit einem Mal stand ich wieder auf der Bühne der Oper. Ich ahnte, dass nun der Abend der Entscheidung gekommen war. Christine betrat als unschuldiges Blumenmädchen verkleidet die Bühne. Von hinten näherte sich ihr ein Mann in einem schwarzen Anzug und begann mit verführerischer Stimme eine Arie zu singen. An seiner unvergleichlichen Stimme erkannte ich ihn: es war das Phantom. Bald stimmte Christine in den Gesang mit ein und ich konnte nur da stehen und atemlos zu sehen. Zwischen Christine und dem Phantom war soviel Leidenschaft, dass ich nicht wusste ob das ganze nun gespielt war oder ob es die Wirklichkeit widerspiegelte. Ich fragte mich ob Christine überhaupt wusste mit wem sie da sang. Auf dem Höhepunkt der Arie geschah es schließlich und ich konnte nicht fassen, dass Christine so grausam war das vor aller Augen zu tun. Sie riss dem Phantom seine schwarze Maske vom Gesicht und entblößte so das schreckliche Geheimnis, das dieser Mann mit sich trug. Seine linke Gesichtshälfte war furchtbar entstellt und zerfetzt. Augenblicklich durchfluteten mich die Wut und die tiefe Verzweiflung, die das Phantom empfand. Als es Christine packte und vor aller Augen mit ihr in der Tiefe verschwand, zögerte ich keine Sekunde. Ich folgte den beiden. Ich konnte nicht anders. Dann stand ich plötzlich im unterirdischen Versteck des Phantoms und musste mit ansehen wie das verzweifelte Geschöpf ein Lasso um Raouls Hals legte, bereit ihn zu erhängen. Es stellte Christine, die hilflos zu sehen musste, vor die Wahl. Wenn sie ihren Geliebten retten wolle, müsse sie für immer bei ihm bleiben, wenn sie das nicht tat, würde Raoul sterben. Dann tat Christine etwas mit dem ich in diesem Moment am allerwenigsten gerechnet hatte. Sie ging auf das Phantom zu, nahm sein entstelltes Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. Die Intensität der Gefühle, die daraufhin auf mich einströmten, zwang mich in die Knie. Ich war ebenso überrascht wie das Phantom selbst und verspürte dessen Freude und Dankbarkeit darüber, dass er einmal wie ein Mensch und kein Monstrum behandelt wurde. Als Christine zu Raoul eilte um ihn zu befreien und das Phantom überwältigt von der Zärtlichkeit ihres Kusses da stand, unfähig die Tränen zurückzuhalten, konnte ich den Blick nicht von ihm wenden. Ich litt mit ihm, fühlte wieder all den Schmerz und ohne es überhaupt zu bemerken, liefen auch mir die Tränen über die Wangen. Es zerriss mir fast das Herz, als dass Phantom Christine und Raoul wegschickte. Zitternd erhob ich mich wieder und musste tatenlos mit ansehen wie dieser einsame Mann verzweifelt und wütend sämtliche Spiegel mit einem Kerzenständer zertrümmerte, weil er seinen eigenen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Wieso nur musste er dieses grauenhafte Schicksal erleiden? Er würde niemals jemanden haben, der sein Leben mit ihm verbrachte. Er würde bis zu seinem Tod allein sein, die Einsamkeit sein einziger Gefährte. Ich wurde jäh aus meinen traurigen Gedanken gerissen als das Phantom zu singen begann: „Du hast Licht in meine Welt gebracht. So stirbt mein Lied und die Musik der Nacht!“ „N e i n!“ schrie ich mit tränenerstickter Stimme. Das durfte er nicht tun! Er konnte doch nicht seine Musik aufgeben! Das einzige was ihm außer der Einsamkeit noch geblieben war. Sein Gesang hatte mich zutiefst berührt. Ich wollte ihn wieder singen hören, mich noch einmal von seiner unglaublichen Stimme betören lassen und deshalb konnte ich es nicht zulassen, dass er seine Musik sterben ließ. Bei meinem Schrei drehte er sich langsam um und sah mir direkt in die Augen. Mir stockte der Atem, als ich sein schmerzverzerrtes Gesicht erblickte. Aus seinen Augen sprach eine solch tiefe Verzweiflung und eine so unendliche Traurigkeit, dass ich einfach nicht anders konnte. Während mir selbst die Tränen über die Wangen rollten, schritt ich bedächtig auf ihn zu und streckte meine Hand nach seiner entstellten Gesichtshälfte aus. „Es wird alles gut,“ flüsterte ich beschwörend und wollte tröstend über seine Wange streichen. Doch ehe meine Finger seine Haut berührten, verschwand er und ich blieb mit all den schmerzenden Gefühlen allein in der Dunkelheit zurück... Kapitel 3: Taken by a stranger ------------------------------ Ich schlug die Augen auf und bemerkte verwirrt, dass mein Gesicht tränennass war. Ich richtete mich auf und fragte mich was da gerade eben mit mir passiert war. Das konnte unmöglich nur ein Traum gewesen sein, dazu war alles zu intensiv und detailliert gewesen. Außerdem hatte ich noch nie zuvor so starke Gefühle in einem Traum gespürt. Ich musste im Schlaf eine Art Vision gehabt haben, bei der ich die Erlebnisse der Vergangenheit noch einmal hatte aufleben lassen. Doch wie war so etwas möglich? Mit gerunzelter Stirn starrte ich auf meine Hände. Erst jetzt merkte ich, dass ich die verwelkte Rose immer noch fest umklammert hielt. Im Schlaf musste ich diese wohl sehr stark gedrückt haben, denn mittlerweile waren die trockenen Blütenblätter fast alle abgefallen. Die einst so schöne Rose war nun nur noch ein verblasster Schatten von damals. Nicht mehr und nicht weniger. Und da bemerkte ich etwas, was mir eigentlich schon viel früher hätte auffallen müssen. Von der toten Blume in meinen Händen gingen keinerlei Schwingungen mehr aus. Die tiefe Traurigkeit, die ich beim Anfassen verspürt hatte, war verschwunden. Konnte es sein, dass die Rose mir die Vision beschert hatte? Immerhin war diese Blume einst ein Geschenk des Phantoms an Christine gewesen und im Traum hatte ich schließlich immer nur seine Empfindungen wahrgenommen. Als Empathin hatte ich schon immer die Gefühle und Stimmungen meiner Mitmenschen gespürt, aber so eindringlich wie vorhin war es bisher noch nie gewesen. Die Rose musste die starken Emotionen, die in ihr versiegelt gewesen waren, im Schlaf an mich weitergegeben haben. Das mochte absurd klingen, aber anders konnte ich es mir einfach nicht erklären. Gedankenverloren erhob ich mich und legte die Überreste der toten Blume zurück auf die Kommode. Ich lehnte mich an die Wand gegenüber vom Spiegel und dachte über den einsamen Mann nach, der sein schrecklich entstelltes Gesicht hinter einer Maske verbarg. Aufgrund dessen was mir gerade widerfahren war, konnte ich mir das Phantom einfach nicht als das Monster vorstellen, zu dem ganz Paris ihn machen wollte. In meinen Augen war er einfach nur ein unendlich einsamer Mann, der mit seinem grausamen Schicksal ganz allein leben musste. Ohne jemanden, der ihm zur Seite stand, sich um ihn kümmerte und ihn so liebte und akzeptierte wie er war. War es da verwunderlich, dass er verbittert war und seine Wut und Verzweiflung an seinen Mitmenschen ausließ? Und dann war da noch seine unglückliche Liebe zu Christine und der damit verbundene Schmerz. Für ihn, der niemals hoffen durfte die aufrichtige Liebe einer Frau zu gewinnen und der es trotz dieses Wissens versucht hatte, musste die Zurückweisung eine zutiefst bittere Enttäuschung gewesen sein. Ich seufzte traurig. Auf merkwürdige Art und Weise fühlte ich mich mit ihm verbunden. Wie einsam er in den letzten Jahren gewesen sein musste. Ich würde ihm gerne begegnen und mit ihm reden; ihm zeigen, dass es auch einen Menschen gab, der ihn verstand und bei seinem Anblick nicht von Abscheu erfüllt wurde. Zögernd trat ich zu dem großen Wandspiegel. In meinem Traum hatte ich ganz deutlich gesehen wie dieser Spiegel sich wie ein Tür öffnen ließ und ich wusste, dass der dahinter liegende Gang ins unterirdische Versteck des Phantoms führte. Mit meinen Fingern tastete ich vorsichtig am Rahmen entlang bis ich den verborgenen Griff entdeckte. Als ich leicht daran zog, öffnete sich die als Spiegel getarnte Tür. Ich nahm den Kerzenständer von der Anrichte und leuchtete in den finsteren Gang. Ob ich es wagen sollte diesem Tunnel zu folgen und irgendwann auf das Phantom zu stoßen? Wie er wohl reagieren würde, wenn ich sein Reich betrat? Sollte ich wirklich gehen? Unschlüssig stand ich vor der offenen Spiegeltür. Doch noch ehe ich mich entscheiden konnte, vernahm ich ganz in der Nähe gedämpfte Stimmen und Schritte, die schnell näher kamen. Entsetzt wirbelte ich herum und starrte zur Tür. Oh nein! Das durfte nicht wahr sein! Victors Männer! Wie hatten die mich bloß gefunden? Jetzt war alles vorbei. Meine ganze Flucht war umsonst gewesen. Panisch sah ich mich nach einem Versteck um, doch ich sah nicht ein einziges. Ich saß in der Falle. Wie gelähmt blieb ich stehen und lauschte den Stimmen, die nun deutlich zu vernehmen waren. „Sie muss hier irgendwo sein!“ Mein Atem stockte, als ich die zornige Stimme erkannte. Victor! Er war höchstpersönlich gekommen um mich zurückzuholen. Plötzlich packte mich eine Hand von hinten und zog mich hinter die Spiegeltür. Vor Schreck hätte ich beinahe den Kerzenleuchter fallengelassen und den Schrei, der meiner Kehle entschlüpfen wollte, konnte ich gerade noch unterdrücken. Ich prallte unsanft gegen eine harte Männerbrust und ehe ich mich versah wurde mir der Kerzenleuchter beinahe schon grob aus der Hand gerissen. Furchtsam blickte ich hoch und konnte gerade noch eine weiße Halbmaske erkennen ehe die Kerzen erloschen. Ich brauchte einen Moment um zu begreifen, wen ich da vor mir hatte. Das Phantom der Oper stand leibhaftig vor mir. Ohne zu überlegen riss ich mich los und versuchte wieder durch die geschlossene Spiegeltür zu eilen, doch das Phantom ergriff mich und drückte mich eng an sich. Ich wollte empört aufschreien, doch eine große, in einem schwarzen Lederhandschuh steckende Hand, legte sich auf meinen Mund. „Sei still!“ zischte er leise. „Oder willst du, dass man uns entdeckt?“ Er verbarg mein helles Kleid hinter seinem schwarzen Umhang und zog sich mit mir in die Dunkelheit zurück, um durch den Spiegel nicht gesehen zu werden. Kaum waren wir im Schatten verborgen, öffnete sich die Tür und Victor trat ein. Mein Herz pochte wie verrückt, als ich den hochgewachsenen blonden Mann direkt vor den Spiegel treten sah. Sein Blick schien geradewegs auf mich gerichtet zu sein und ich wagte nicht auch nur das kleinste Geräusch von mir zu geben oder mich auch nur minimal zu bewegen aus Angst er könnte mich dann bemerken. Ich fühlte seinen maßlosen Zorn durch mich hindurch strömen und bekam eine Gänsehaut. Sollte er mich jemals wieder in seine Gewalt bekommen, dann würde es mir nicht gut ergehen, das spürte ich. Er würde mich dafür leiden lassen, dass ich ihm weggelaufen war und seine Pläne zunichte gemacht hatte. Und er würde jeden Augenblick davon genießen. Ich zitterte und drängte mich Schutz suchend näher an den Mann, der mich festhielt. Das Phantom versteifte sich jäh und lockerte den Griff um meine Körpermitte. Die behandschuhte Hand sank herunter und ballte sich zu einer Faust. Ich achtete jedoch nicht weiter darauf und beobachtete atemlos was Victor als nächstes tat. Ein Mann war hinter ihn getreten. Er umklammerte nervös seine Baskenmütze und sagte dann untertänig: „Mein Herr, sie ist nicht hier. Wir haben alles durchsucht, aber keine Spur von ihr gefunden.“ „Sie muss einfach hier sein! Durchsucht alles noch mal, aber diesmal noch gründlicher! Und Gnade euch Gott, wenn ihr sie dann noch immer nicht gefunden habt!“ brüllte Victor wutentbrannt und der Mann zuckte unwillkürlich zusammen. „Ja, mein Herr,“ murmelte er zaghaft und eilte davon. Victor wandte sich wieder dem Spiegel zu und betrachtete mit grimmiger Miene sein Spiegelbild. „Ich finde dich. Und dann wirst du bitter dafür büßen, dass du es gewagt hast mir zu entfliehen.“ Seine Stimme klang eiskalt und ich schauderte unwillkürlich. Schließlich drehte Victor sich um und verließ den Raum. Ich tat einen zittrigen tiefen Atemzug und wandte mich dann an das Phantom. „Vielen Dank für Ihre Hilfe,“ brachte ich leise hervor. Ich wollte mich abwenden und gehen, doch seine Hand umklammerte eisern mein Handgelenk. „Du kommst mit mir.“ sagte er leise, aber so bedrohlich, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich versuchte nicht noch einmal seiner Gegenwart zu entfliehen und ließ mich widerstandslos durch dunkle Gänge in die untersten Gewölbe der Oper führen. Ich war nervös, weil ich nicht wusste was er nun mit mir vorhatte. Doch auch wenn ich keine Ahnung hatte was er mit mir tun würde, wenn wir sein geheimes Versteck erreicht hatten, glaubte ich keine Sekunde lang, dass er mich in irgendeiner Weise verletzen würde. Er war verzweifelt, verbittert, einsam und im Moment auch noch wütend, doch wegen des sonderbaren Traums, den mir die verwelkte Rose beschert hatte, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass jemand, der so betörend und mit ganzer Seele sang wie er, einer Frau weh tun konnte. Zögernd hob ich den Blick, den ich die ganze Zeit auf meine Füße geheftet hatte, und starrte auf seinen Rücken. Er hingegen drehte sich kein einziges Mal zu mir um, sondern zerrte mich lediglich schweigend hinter sich her. Mittlerweile war es nicht mehr so dunkel, da vereinzelt Fackeln an den Wänden befestigt waren, die ein wenig Licht spendeten. Ich sah, dass das Phantom einen schwarzen Umhang trug, der dank seiner ausgreifenden Schritte leicht hinter ihm her flatterte. Darunter hatte er offenbar einen dunklen Anzug an. Schließlich erreichten wir einen großen unterirdischen See. Er drehte sich zu mir um und im Schein der Fackeln konnte ich deutlich das von einer weißen Halbmaske verborgene Gesicht erkennen, das ich in meinem Traum gesehen hatte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Der Mann, der vor mir stand und mir die Hand hinhielt, war das legendäre Phantom der Oper. Ohne den Blick meiner großen grünen Augen von ihm zu reißen, ergriff ich seine Hand und ließ mir in das Boot helfen, das am Ufer des Sees vertäut war. Ich fühlte die Verwirrung, die ihn daraufhin ergriff. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ihm meine Hand tatsächlich geben würde. Doch kaum stand er hinter mir im Boot und begann uns über den See zu bringen, war dieser flüchtige Moment der Verwirrung auch schon wieder vorbei und all sein Zorn trat wieder an dessen Stelle. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als ich spürte wie seine Wut zurückkehrte. Ich wusste nicht ob diese Wut ausschließlich gegen mich gerichtet war, aber allmählich begann ich mir doch ein wenig zu fürchten. Er hatte mich vollkommen in seiner Gewalt. Ich war ihm hilflos ausgeliefert und konnte nur hoffen, dass ich mit meinem Gefühl recht behielt und er einer Frau wirklich nichts zu leide tun konnte. Furchtsam starrte ich auf die Oberfläche des Sees, auf der dichter Nebel herum waberte. Es war etwas gespenstisch hier unten, aber irgendwie fand ich es gleichzeitig auch faszinierend. Ich war tatsächlich tief unten im Reich des Phantom der Oper. Das hatte ich doch gewollt. Oder? Kapitel 4: The Truth beneath the rose ------------------------------------- In dem Moment hatte das Boot das andere Ufer erreicht und ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als das Phantom meine Hand ergriff und mir ans Ufer half. Während er noch damit beschäftigt war das Boot zu vertäuen, sah ich mich in seinem Versteck um. Überall brannten Kerzen, deren tanzende Schatten von den Wänden aus Stein wiedergegeben wurden. Ich schritt drei schmale Stufen hinauf und erblickte eine Orgel, auf der jede Menge Schriftstücke und Notenblätter ausgebreitet lagen. Als mit lautem Getöse ein Metallgitter hinter dem Boot hinunter sauste, fuhr ich erschrocken herum. Das Phantom stand nur wenige Schritte hinter mir und musterte mich mit seinen grauen Augen voller Misstrauen. Verstört erwiderte ich seinen durchdringenden Blick und fragte mich was als nächstes passieren würde. Eine ganze Weile standen wir einfach nur da und sahen uns schweigend an, bis er das Schweigen durch eine barsche Frage brach. „Wo hast du dieses Kleid her?“ verlangte er zu wissen und an seinem grimmigen Tonfall merkte ich, dass es besser war ihm schnell zu antworten. „Ich habe es in einem Schrank gefunden.“ Meine Stimme war belegt und nicht mehr als ein Flüstern. „Ich habe noch nie ein so wunderschönes Gewand gesehen und da mein eigenes Kleid vom Regen völlig durchnässt war, habe ich es angezogen. Es tut mir leid.“ fügte ich hinzu und senkte meinen Blick. So entging mir, dass sich seine Miene zunehmend verfinsterte. „Es gehörte ihr. Du hattest kein Recht es anzuziehen,“ knurrte er zornig. Ich musste einen Schmerzensschrei unterdrücken, als er mich grob am Handgelenk packte und zu dem großen mit rotem Stoff bezogenen Bett zerrte, das in einer Nische verborgen lag. Er hat von Christine gesprochen, dachte ich benommen. Ob er nach all diesen Jahren noch etwas für sie empfand? Versunken in meinen Grübeleien merkte ich zu spät was er tat. Verwirrt registrierte ich, dass ich mittlerweile auf dem Bett lag und dass er dabei war meine Hände mit schwarzen Bändern aus Satin an die Pfosten zu fesseln. „Warum tun Sie das?“ fragte ich erschrocken. Er ging nicht auf meine Frage ein, sondern fuhr seelenruhig mit seiner Arbeit fort. Dann setzte er sich neben mich auf das Bett, berührte leicht eine Locke meines Haares und betrachtete mich stumm. Sein Zorn war zwar immer noch vorhanden, aber im Moment wurde er von einem anderen Gefühl überdeckt: Sehnsucht. Ich lag ganz still, als er die Haarlocke gedankenverloren an seine Lippen hob und einen Kuss darauf hauchte. Ich wagte kaum zu atmen. Mein Herz raste und ich konnte den Blick nicht von seinem Gesicht losreißen. Er schmiegte seine Wange an die seidige Strähne meines Haares und meinte mit leiser Stimme: „Du siehst ihr sehr ähnlich.“ Und ganz plötzlich war der kurze Moment der Sehnsucht und Zärtlichkeit verflogen, so als hätten seine eigenen Worte ihn zurück in die Gegenwart geholt. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und wurde zunehmend düsterer. „Wie heißt du?“ Ich brauchte einen Augenblick um seine Aussage ich sähe Christine ähnlich zu verarbeiten, bevor ich imstande war ihm zu antworten. „Emilie,“ hauchte ich. Er erhob sich und baute sich vor dem Bett auf. Im sanften Kerzenlicht wirkte er mit seinem schwarzen Umhang und dem weißen halboffenem Hemd wie ein gefallener Engel, der sich in die allertiefste Dunkelheit zurückgezogen hatte. Finster starrte er auf mich hinab. „Du weißt sicher wer ich bin, nicht wahr?“ Ich nickte langsam. „Ja, Sie sind das Phantom der Oper.“ „Wenn du das weißt, dann frage ich mich wieso du dich nicht vor mir fürchtest. Du hast doch sicher Geschichten von dem mordenden Monster gehört, dass sein unsagbar hässliches Antlitz hinter einer Maske verbirgt und in den Kellergewölben der Opéra Garnier haust.“ In seiner Stimme lag soviel Bitterkeit, dass mir der Atem stockte. Die sieben einsamen Jahre in der Finsternis seines Versteckes waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Seine Verbitterung war weitaus stärker geworden seitdem Christine ihn für immer verlassen hatte, um ein glückliches Leben mit Raoul zu führen. Mühsam schluckte ich die Tränen hinunter, die unweigerlich in mir aufstiegen, wenn ich daran dachte wie unendlich einsam er all die Jahre gewesen sein musste. „Sie sind kein Monster,“ flüsterte ich schließlich. Er zog erstaunt die Augenbraue hoch, die nicht von der Maske verdeckt wurde. „Ach nein?“ meinte er zynisch. „Was bin ich denn dann in deinen Augen?“ Ich zögerte keinen Moment lang, bevor ich ihm eine Antwort gab: „Sie sind ein verzweifelter, einsamer Mann, dem das Schicksal einen grausamen Streich gespielt hat und der sich in seiner Einsamkeit nach einem Menschen sehnt, der ihn aufrichtig liebt so wie er ist.“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen wünschte ich, dass ich es nicht getan hätte. Sprachlos stand er da und starrte mich einen Augenblick einfach nur an. Noch ehe sich seine grauen Augen drohend verdunkelten, fühlte ich die Woge des Zorns, die über ihn hereinbrach. Ohne jegliche Vorwarnung kam er zu mir und beugte sich über mich. Sein Gesicht war vor Wut über meine kühnen Worte verzerrt und seine kräftigen Hände legten sich um meinen schlanken Hals. Doch er drückte nicht zu. „Du weißt gar nichts über mich!“ fuhr er mich an. Obwohl ich am liebsten panisch aufgeschrien und geschluchzt hätte, zwang ich mich ruhig zu bleiben. Ohne jede erkennbare Furcht stellte ich mich seinem wutentbrannten Blick. „Das werden Sie nicht tun,“ sagte ich und ärgerte mich sogleich, dass meine Stimme nicht so fest klang wie sie eigentlich sollte. „An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher,“ meinte er grimmig. Aber ich hatte das Gefühl als hätte sich der Griff um meine Kehle ein wenig gelockert. Also fuhr ich tapfer fort: „Ich fühle, dass Sie eine Frau niemals verletzen könnten. Vor allem nicht, wenn sie so aussieht wie Ihre... Christine.“ Ich wusste, dass ich ein enormes Risiko einging, wenn ich ihn an seine unerfüllte Liebe zu Christine erinnerte. Alles was mit ihr zu tun hatte machte ihn unendlich wütend und ich konnte nicht ausschließen, dass er nicht doch zudrücken würde. Aber er tat es nicht. Seine Hände lösten sich von meinem Hals und glitten langsam zu meinen Schultern, wo sie verharrten. Ein wohliger Schauer durch rieselte mich als seine warmen Finger über meine nackte Haut streiften. An dem kurzen Aufglimmen in seinen Augen erkannte ich, dass er es bemerkt hatte. Und das schien seinen Zorn zu besänftigen. „Woher weißt du von Christine?“ wollte er wissen. Ich beschloss, dass es das beste war, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Auch wenn er sie wahrscheinlich nicht glauben würde. „Ich weiß alles was damals passiert ist. Oben in dem Zimmer hatte ich einen Traum. Es war als wäre ich zurück in die Vergangenheit versetzt. Ich habe gesehen wie Sie Christine mit Ihrem wunderbaren Gesang von der Musik der Nacht hierher gebracht und verzaubert haben. Sie liebte aber nicht Sie, sondern einen jungen Mann namens Raoul. Auf dem Dach der Oper haben die beiden sich ihre Liebe gestanden ohne zu bemerken, dass Sie sich auch dort aufhielten. Der Maskenball...“ „Genug!“ befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich verstummte augenblicklich. „Wie ist das nur möglich?“ fragte er mit leiser Stimme. „Wie kannst du das alles wissen?“ „Ich weiß es nicht,“ gab ich ehrlich zu und sah ihm fest in die Augen. Er erwiderte meinen Blick und plötzlich wurde ich mir bewusst wie nah er mir war und dass seine Hände immer noch auf meinen bloßen Schultern ruhten. Ein leichtes Flattern machte sich in mir breit und mein Herzschlag beschleunigte sich. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem meinem entfernt und ich spürte wie sein warmer Atem meine Wange streifte. Auch er schien für einen Moment wie verzaubert zu sein. Doch dann erhob er sich, ließ von mir ab und ich blieb mit einer mir unerklärlichen Sehnsucht liegen. Seine Miene, die kurzzeitig verwirrt und verletzlich ausgesehen hatte, wirkte nun hart und völlig ausdruckslos. „Vielleicht verrätst du mir endlich was du in meiner Oper zu suchen hast.“ Ich seufzte einmal leise. „Ich wollte mich verstecken.“ „Vor wem? Etwa vor diesem Mann?“ fragte er. Ich nickte. „Ja, ich dachte hier würde er mich niemals vermuten. Und wenn doch, so hatte ich gehofft, dass er und seine Männer sich nicht hinein wagen würden.“ Misstrauisch musterte er mich mit blitzenden grauen Augen. „Wieso läufst du vor ihm davon? Warum fürchtest du dich so sehr vor ihm?“ Verschreckt senkte ich den Blick. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Das Blut schoss mir in die Wangen und ich wusste, dass es ihm nicht entging. Es wäre wahrscheinlich besser, wenn ich ihm alles erzählen würde über Victor, seinen unberechtigten Besitzansprüchen mir gegenüber und seiner Neigung zur Gewalt. Vor allem aber sollte ich ihm über meine Gabe aufklären, die mir allerdings die meiste Zeit eher wie ein Fluch vorkam. Durch die Empathie war ich schon immer eine Außenseiterin gewesen, was hauptsächlich daran lag, dass ich wahnsinnige Angst vor größeren Gruppen von Menschen hatte. Ich wurde mit den unzähligen Empfindungen, die bei einer großen Menschenansammlung wie etwa einem Fest auf mich einströmten nicht fertig und bekam schreckliche Panikattacken aus Angst unter den vielen Gefühlen mein Selbst zu verlieren. Victor war der Geschäftspartner meines geliebten verstorbenen Vaters gewesen und hatte schnell von meiner Gabe erfahren. Nach dem Tode meines Vaters vor fünf Jahren hatte er mich arme Waise bei sich aufgenommen und mir vor geheuchelt sich um mich kümmern zu wollen bis ich alt genug war um zu heiraten. In Wirklichkeit aber hatte er die ganze Zeit selber vorgehabt mich zu ehelichen sobald ich volljährig wurde. Nicht nur wegen meiner empathischen Fähigkeiten, von denen er sich erhoffte sie zu seinem Vorteil nutzen zu können, sondern auch, weil ich das Ebenbild meiner Mutter war, für die Victor ein leidenschaftliches Faible entwickelt und die er damals an meinen Vater verloren hatte. Am Anfang hatte ich gar nicht mitbekommen was Victor wirklich im Schilde führte, da der Verlust des geliebten Vaters mich sehr mitgenommen hatte, so dass meine Empfänglichkeit gegenüber den Gefühlen anderer dadurch sehr eingeschränkt war. Und als ich endlich mitbekam was er beabsichtigte war es schon zu spät. Er hatte bereits dafür gesorgt, dass ich nicht fliehen konnte. Und doch war mir die Flucht letztendlich noch rechtzeitig gelungen und ich hatte seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als eine Hand nach meinen Handgelenken griff und begann die Fesseln zu lösen, die mich an das Bett banden, kam ich wieder zu mir. Verwundert blickte ich in die schönen grauen Augen des Phantoms. „Ich verstehe. Jemanden wie mir kann man so etwas nicht anvertrauen.“ meinte er verbittert und machte Anstalten zu gehen. „Warten Sie!“ rief ich, sprang auf und umklammerte seinen Arm. Er rührte sich nicht mehr, sondern starrte lediglich auf meine schmalen Hände, die auf seinem Arm ruhten. „So habe ich das nicht gemeint,“ beschwerte ich mich und runzelte die Stirn, als ich seine Unsicherheit spürte. Ich begann allmählich zu verstehen warum er die meiste Zeit über so schroff zu mir war. Er wollte nicht noch einmal so verletzt werden wie vor sieben Jahren. Und doch sehnte er sich insgeheim nach Zuneigung und Liebe, auch wenn er sich vehement dagegen wehrte, weil er der festen Überzeugung war, dass derartige Gefühle für eine Kreatur wie ihn nicht bestimmt seien. Ich beschloss ihm zu zeigen, dass er sich irrte. „Warum tun Sie das?“ fragte ich mit leiser Stimme und blickte ihm tief in die Augen. Er antwortete nicht, sondern begegnete wortlos meinem durchdringenden Blick. Ich fühlte seinen inneren Aufruhr mehr als das ich ihn sah. „Ich weiß nicht wovon du sprichst,“ sagte er schließlich und blickte mich mit finsterer Miene an. „Doch, das wissen Sie.“ Meine Stimme war leise und voller Mitgefühl. Sanft legte ich meine Hand auf seine unmaskierte Wange und spürte die Wärme, die von ihr ausging. Bei meiner sachten Berührung versteifte er sich und die widerstreitensden Gefühle durchfuhren ihn: Angst, Sehnsucht, Misstrauen, Staunen. Sein Blick drückte einen kurzen Moment lang tiefe Verwirrung aus, bevor es ihm gelang seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Seine Miene wurde wieder undurchdringlich, doch ich spürte wie ein winziges Fünkchen Hoffnung in ihm aufzukeimen begann. Ich war auf dem richtigen Weg. „Ich weiß, dass Sie es wissen. Sie glauben, dass nie jemand aufrichtige Gefühle für Sie entwickeln kann und dass niemand Ihnen genügend Vertrauen entgegen bringen könnte um Ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen.“ Ich hielt kurz inne um seine Reaktion auf meine Worte abzuwarten. Er starrte mich an und schwieg. Also fuhr ich fort: „Ich werde Ihnen nun mein größtes Geheimnis anvertrauen. Und danach werden Sie wissen, dass ich im Grunde genommen ebenso einsam bin wie Sie.“ Ich wusste nicht woher ich auf einmal diese Kühnheit besaß so mit ihm zu sprechen, doch mir war ebenso bewusst, dass es keinen anderen Weg gab um zu ihm vorzudringen. Ich holte tief Luft und sagte dann: „Ich bin eine Empathin. Ich durchlebe die Gefühle von anderen Menschen als wären es meine eigenen. Und deshalb...“ Weiter kam ich nicht, denn das Phantom lachte harsch. Ich zuckte zusammen bei diesem fast unmenschlichen Laut und schaute ihn mit großen Augen an. Was war nur in ihn gefahren? Plötzlich packte er mich und zog mich so nah an sich heran, dass ich seinen warmen Atemhauch auf meiner Wange spüren konnte. Er beugte sich zu mir hinunter und sagte mit trügerisch sanfter Stimme: „Du lügst.“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Sie glauben mir nicht?“ wollte ich fassungslos von ihm wissen. „Sie glauben ich lüge?“ Zorn regte sich in mir. Wie konnte er es wagen anzunehmen, dass ich ihn belog, wenn ich ihm doch gerade von meiner verhassten Gabe, meinem Fluch erzählt hatte? Wütend versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien, doch er ließ mich nicht los. „Lassen Sie mich sofort los!“ zischte ich erbost. Ich fühlte seine Verunsicherung. Offenbar hatte er mit so einer Reaktion von meiner Seite nicht gerechnet, da ich ihm wohl wie ein scheues, sanftmütiges Geschöpf erschienen war. Nun ich konnte durchaus auch anders sein. „Nein.“ antwortete er. Dieses Wort verblüffte mich so sehr, dass ich aufhörte mich zu wehren. „Wenn ich dich freigebe, dann wirst du sicherlich versuchen mir zu entfliehen. Und das möchte ich nicht. Ich hatte schon lange mehr keine so interessante Unterhaltung.“ meinte er mit einem zynischem Lächeln. „Wieso sollte ich denn davonlaufen?“ fragte ich. „Ich bin Ihnen zwar böse, weil Sie mir nicht glauben, dass ich Empathin bin, aber ich werde ganz sicher nicht versuchen zu fliehen. Wie könnte ich auch wo Sie doch das Fallgitter heruntergelassen haben.“ fügte ich spöttisch hinzu. Als sein Griff etwas fester wurde und seine Augen sich drohend verdunkelten, meinte ich ohne die geringste Spur von Furcht: „Sie sind jetzt sehr zornig, weil Sie denken ich würde mich über Sie lustig machen. Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Ich würde mich niemals über einen Menschen amüsieren, der soviel durchgemacht hat wie Sie. Das wäre grausam.“ Traurig blickte ich ihn an. Wenn er doch nur verstehen würde, dass ich im Grunde meines Herzens genauso einsam war wie er. Seit dem Tod meines Vaters hatte ich keinen Menschen mehr, der sich richtig mit mir unterhielt und mir half meine Fähigkeit zu akzeptieren. Es war als wäre ich eine Gefangene meine besonderen Begabung. Er schwieg beharrlich, doch an seinem durchdringenden Blick erkannte ich, dass er über meine Worte nachdachte. „Und du verlangst wirklich von mir, dass ich dir glaube, dass du eine Empathin bist und die Gefühle von anderen Menschen miterlebst?“ Der misstrauische Klang seiner Stimme durchbrach schließlich die zunehmend unangenehmer werdende Stille. Ich versuchte in den silbernen Tiefen seiner Augen seine Gedanken zu ergründen. Ich hatte meinen Blick keine Sekunde lang von seinem Gesicht abwenden können so sehr war ich gebannt von seiner innerlichen Zerrissenheit. Er wagte es einfach nicht mir zu glauben, denn das hätte bedeutet, dass er mir Vertrauen entgegenbrachte, was er wiederum nicht beabsichtigte. „Sie müssen es mir nicht glauben, wenn Sie nicht wollen.“ sagte ich mit ruhiger Stimme. „Aber haben Sie vielleicht eine andere Erklärung dafür wieso ich soviel über ihre Vergangenheit weiß? Wieso ich ihre Gefühlsregungen spüren kann? Und das ich das tue lässt sich nicht leugnen.“ Er schwieg. Ich sah, dass ich ihn erneut zum Nachdenken gebracht hatte und fuhr unbeirrt fort von meiner verhassten Fähigkeit zu sprechen. „Wissen Sie, ich habe noch nie jemanden davon erzählt. Ich fürchtete mich vor den Reaktionen meiner Mitmenschen. Alles Ungewöhnliche und Andersartige ruft bei ihnen Argwohn, Angst und Unverständnis hervor. Sie hätten mich nicht verstanden, mich gemieden und wie ein interessantes aber zugleich auch abstoßendes Insekt behandelt. Einzig und allein mein lieber Vater wusste von meiner... Gabe. Doch auch ihm habe ich es nie gesagt, er hat es von allein bemerkt und mir geholfen damit umzugehen.“ Bei dem Gedanken an meinen Vater füllten sich ihre Augen unweigerlich mit Tränen. Meine Stimme zitterte leicht als ich weitersprach: „Ich habe mich immer so gut es ging von anderen Menschen ferngehalten, damit sie nicht mitbekamen, dass ich anders bin. Ich hatte große Angst davor auf mehrere Menschen gleichzeitig zu treffen und mich mit all den Empfindungen und Gefühlen, die auf mich einströmen würden, auseinander zu setzen. Ich fürchtete mich panisch davor mein Selbst zu verlieren. Mein Vater hat mich immer beruhigt, wenn ich von einer meiner... Panikattacken heimgesucht wurde und mir das Gefühl gegeben nicht allein zu sein. Mit ihm konnte ich über meinen Fluch reden. Denn das ist es. Ein Fluch. Ich hasse meine Gabe, denn durch sie bin ich zu einem Leben in der Einsamkeit verdammt. Und nun habe ich nicht einmal mehr meinen Vater...“ Meine Stimme brach und eine einzelne Träne rann mir über die rosige Wange. Ich hatte den Blick gesenkt, doch blickte überrascht wieder hoch als das Phantom seine Hand zu meinem Gesicht hob und mit seinem Daumen sanft die Träne beiseite wischte. Er ließ seine Hand an meiner weichen Wange ruhen und starrte fasziniert auf die Stelle wo seine Finger die samtige Haut berührten. In mir breitete sich eine wohlige Wärme aus und ich spürte wie ich errötete als ich die unterdrückte Leidenschaft fühlte, die von ihm ausging. Ich fühlte mich fiebrig bei dem Gedanken, dass er mich wohl möglich begehren könnte. Noch nie zuvor war ein Mann mir so nah gewesen und ich wünschte mir er möge mir noch viel näher kommen. Plötzlich riss er sich von mir los und wandte sich ab. „Es tut mir leid.“ murmelte er. Ich stand verwirrt da und vermisste schmerzlich die Wärme seiner Hand auf meiner Wange. „Was meinen Sie?“ wollte ich vorsichtig wissen. Bei meiner Frage verspannten sich seine breiten Schultern und ich hörte wie er scharf die Luft einsog, bevor er mir schließlich eine Antwort gab. „Es tut mir leid wie ich dich bisher behandelt habe. Ich bin den...Umgang mit anderen Menschen nicht gewohnt.“ Mir entging der Zynismus nicht, der diese Bemerkung begleitete. Stumm sah ich mit an wie er zu einer Nische in der Wand trat und dort einen Schalter umlegte. Ich war nicht weiter überrascht, als das Metallgitter sich ächzend erhob. Umso überraschter war ich dafür über die nachfolgenden Worte des Phantoms. „Du kannst gehen. Ich werde dich nicht aufhalten.“ Mit großen Augen starrte ich seinen breiten Rücken an. Ich spürte wie schwer es ihm gefallen war diese Worte auszusprechen, denn er wollte nicht das ich ging. Aber da er wahrscheinlich dachte, dass es seine Pflicht war mich gehen zu lassen, würde er tatsächlich nichts unternehmen, falls ich mich entschloss ihn und die Katakomben der verfallenen Oper für immer zu verlassen. Doch das hatte ich durchaus nicht vor. Ich würde hier bleiben. Bei ihm. Vielleicht gelang es mir irgendwann diesen mysteriösen und unsäglich misstrauischen Mann für mich einzunehmen. „Nein.“ sagte ich entschlossen. „Ich werde bleiben.“ Kapitel 5: Forgive the adoring beast ------------------------------------ Er schien sich kurz zu verkrampfen, als er meine Worte vernahm und drehte sich schließlich bedächtig zu mir um. Mir stockte der Atem, als ich für einen kleinen Moment lang einen Funken der Freude in den silbernen Tiefen seiner Augen aufglimmen sah. „Hast du dir das auch gut überlegt?“ wollte er von mir wissen. „Ich bin nicht wirklich das, was man einen guten Gesellschafter nennt.“ Ich lächelte ihn zaghaft an. „Ja, das habe ich.“ Bildete ich mir das lediglich ein oder hatte ich wirklich den Anflug eines Lächelns auf seinen Gesichtszügen erblickt? Fragend schaute ich ihn an, als er näher trat und meine kleine Hand ergriff. „Komm,“ sagte er. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Er führte mich zu der Orgel und bat mich Platz zu nehmen. Während er die Partituren und Schriftstücke durchstöberte, war ich mir seiner Nähe überdeutlich bewusst. Was waren das für Empfindungen gewesen, die ich verspürt hatte, als seine Hand auf meiner Wange ruhte? Als er meine Haarlocke durch seine Finger gleiten ließ und einen Kuss darauf hauchte? Mir war ganz anders zumute gewesen und ich hatte gebannt darauf gewartet was als nächstes geschehen würde. Am liebsten wäre es mir gewesen, dass besagte Momente der Zärtlichkeit ewig gedauert hätten. Es mochte merkwürdig klingen, aber ich fühlte mich sehr zu diesem mysteriösen Mann hingezogen. Vielleicht weil ich mich ihm so verbunden fühlte, vielleicht aber auch weil ich mehr als nur Mitleid für ihn empfand. Ich wusste es nicht und war innerlich vollkommen aufgewühlt. Dieses Gefühl der Verwirrung an mir selbst wahrzunehmen, war etwas gänzlich Neues für mich. Was er mir wohl zeigen mochte? Verstohlen betrachtete ich seine Hände, die systematisch die Schriftstücke sortierten. Es waren unheimlich kräftige Hände und als ich mich daran erinnerte wie sich diese Hände um meine Kehle geschlossen hatten, fröstelte ich leicht. Mit diesen Händen hatte er getötet. Ich kannte die Geschichten, die sich um ihn rankten, doch bisher hatte ich nie geglaubt, dass sie tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Nun musste ich mir eingestehen, dass nicht alles, was man sich über ihn erzählte, erfunden war. „Ah! Hier ist es.“ Seine Stimme riss mich jäh aus meinen Gedanken und erschrocken blickte ich hoch in seine durchdringenden, silbernen Augen. Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte er sich neben mich auf die Bank und ordnete eine Partitur in dem Notenhalter vor sich an. Obwohl er streng darauf achtete mich nicht zu berühren, durch rieselte mich ein wohliger Schauer, denn auch ohne Körperkontakt war ich mir der unmittelbaren Nähe seines männlichen Körpers nur zu gut bewusst. Und als er dann zu spielen begann, war ich vollends verloren. Seine Finger flogen über die Tasten der Orgel und entlockten dem Instrument so zauberhafte Klänge, dass ich hingerissen lauschte und die Augen schloss. Es war die wundervollste Musik, die ich jemals gehört hatte. Ich konnte regelrecht spüren wie die Töne mich durchdrangen und mein Innerstes förmlich zum Vibrieren brachten. Manchmal schlug er die einzelnen Töne nur ganz sacht an, so dass sie sich zu einer lieblichen Melodie verbanden und einen Moment zart in der Luft schwebten, bevor sie verklangen. Doch dann gab es wiederum schnellere Passagen, in denen eine ungeheuerliche Leidenschaft ihren Ausdruck fand. Diese Passagen waren ungezähmt und voller Emotionen, von denen ich unweigerlich fortgeschwemmt wurde. Seine widerstreitenden Empfindungen strömten in einer solchen Intensität auf mich ein, dass mir ganz schwindelig wurde. Hass auf sein ungerechtes Schicksal, verschmähte Liebe, ein unbändiger Zorn auf die Menschheit und eine unendliche Einsamkeit, waren nur einige davon. Ich keuchte unter der Wucht seiner Gefühle auf. Noch nie hatte ich mich mit so vielen unterschiedlichen Emotionen auf einmal auseinandersetzen müssen und es war eine grauenhafte Erfahrung. Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht auf welche Empfindung ich mich zuerst konzentrieren sollte. Gleichzeitig schien mein Selbst kleiner und kleiner zu werden, bis ich es kaum noch wahrnehmen konnte. Meine eigenen Gefühle rückten mehr und mehr in den Hintergrund. Da waren nur noch sein Zorn, sein Hass, seine Einsamkeit, die sich wie kalter Stahl in mein Bewusstsein bohrten. Allmählich begann ich zu vergessen wer ich war und verlor mich immer mehr in seiner gepeinigten Gefühlswelt. Was geschah nur mit mir? Das musste aufhören! Sofort! Sonst war ich verloren! Ich schrie gequält auf und hielt mir die Ohren zu. Panisch sprang ich auf und wollte davon eilen, nur fort von diesen fatalen Klängen, die mein Selbst zu zerstören drohten. Ich strauchelte und stürzte zu Boden. Noch ehe ich aufschlug, konnte ich vernehmen, dass die Musik abrupt in einem disharmonischen Akkord endete und erhaschte einen flüchtigen Blick auf das Phantom, welches entsetzt auf mich hinunter blickte. Dann umfing mich samtene Schwärze, als mir die Sinne endgültig schwanden. *** Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem mit rotem Stoff bezogenen Bett. Das Phantom hatte eine dünne Decke über mir ausgebreitet, damit ich nicht fror. Vorsichtig versuchte ich mich aufzurichten, doch mir war immer noch schwindelig und so ließ ich mich erschöpft zurück in die weichen Kissen sinken. Ich schloss die Augen und dachte darüber nach, was vorhin mit mir geschehen war. Es war beängstigend wie viele Emotionen des Phantoms in seine Partitur eingeflossen waren. Er musste seine ganze Seele in dieses Stück gelegt haben und durch sein gefühlvolles Orgelspiel hatte er alles freigesetzt. Als die Töne erklangen, wurden all diese starken Gefühle entfesselt und fanden ihren Weg zu der einzigen Person, die sie aufnehmen konnte: mir. Ich schauderte bei dem Gedanken an all die Empfindungen, die sich wie die Krallen eines Raubvogels in meinen Geist gekrallt hatten. Mit jeder Note, die das Phantom spielte, wurden es mehr und mit jeder einzelnen blitzte ein Erlebnis aus seiner Vergangenheit vor meinem inneren Auge auf. Nun kannte ich ihn so, wie kein anderer ihn kannte. Ich wusste alles über ihn, denn ich hatte die dunkelsten Abgründe seiner Seele gesehen. Die Morde, die er begangen hatte, das Leid das ihm zugefügt wurde, der glühende Hass der in ihm brodelte, all dies hatte ich vorhin im ganzen schrecklichen Ausmaß durchlebt. Und auch wenn es grauenvoll gewesen war und es mich beinahe alles gekostet hätte, war ich irgendwie auch froh, dass es geschehen war. Jetzt verstand ich ihn. Wer als Junge in einem schmutzigen Käfig hausen musste und wie ein wildes Tier der gaffenden Menge als Ausgeburt der Hölle präsentiert wurde, wer so viele traurige und schmerzvolle Erfahrungen durchmachen musste, der wurde unweigerlich zu solch einem verzweifelten Geschöpf wie das Phantom es war. „Verzeihung.“ Erschrocken öffnete ich die Augen, als ich seine Stimme vernahm und blickte direkt in seine silbernen Augen. Er sah ein wenig besorgt aus und trug ein kleines Tablett, auf dem ein Glas Wasser und ein Becher mit einer undefinierbaren Flüssigkeit stand. „Geht es dir wieder etwas besser?“ fragte er mich und stellte das Tablett neben dem Bett auf der Kommode ab. Er nahm den dampfenden Becher in die Hand und setzte sich auf die Bettkante. Ich nickte matt. Langsam richtete ich mich auf und dieses Mal gelang es mir gegen das Schwindelgefühl anzukämpfen. Als ich aufrecht saß, reichte er mir den Becher. „Hier trink das. Das wird dir gut tun.“ Ich ergriff den dargebotenen Behälter und beäugte skeptisch die braune, trübe Brühe, die sich darin befand. Von dem Geruch der aufstieg wurde mir beinahe übel. Es roch einfach widerlich. Ich verzog das Gesicht. „Was ist das? Das riecht ekelerregend.“ Er unterdrückte ein Schmunzeln. „Es ist eine Mixtur, die ich aus verschiedenen Kräutern hergestellt habe,“ erklärte er. „Mag sein, dass es nicht gerade nach Rosen duftet, aber es wird dir helfen dich besser zu fühlen. Also trink.“ Sein Blick war wieder ernster geworden und er schaute mich streng an. Ich gehorchte und leerte unter seinem wachsamen Blick artig den ganzen Becher. Erstaunlicherweise roch das Gebräu schlimmer, als es tatsächlich schmeckte. Es war zwar ziemlich bitter, ähnelte aber vage dem Geschmack von dem Tee, den ich so gerne trank. Dankbar ließ ich die warme Flüssigkeit durch meine Kehle rinnen und fühlte mich gleich ein wenig besser. „Danke,“ sagte ich und strich mir mit der einen Hand eine verirrte Haarsträhne aus der Stirn. Schweigend nahm er mir die Tasse aus der Hand und stellte sie zurück auf das Tablett. Dann wandte er sich wieder mir zu. Eine Weile betrachtete er mich einfach nur ohne ein Wort zu sagen. Ich errötete unter seinem forschenden Blick und begann nervös an der Decke herum zu zupfen. Seine Stimme war sanft, als er schließlich die Stille durchbrach. „Was ist da gerade eben mit dir geschehen?“ Ich seufzte einmal leise, bevor ich antwortete. „Ich weiß es nicht genau,“ gab ich dann zu. „Ich weiß nur, dass es mich beinahe vernichtet hätte.“ „Vernichtet?“ Seine unbedeckte Augenbraue schoss in die Höhe. „Du meinst, du wärst vorhin beinahe gestorben?“ Ich nickte und musste schlucken, als ich daran dachte wie nahe ich dem Tod gewesen war. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und meine empathischen Fähigkeiten hätten mich das Leben gekostet. Ich schauderte und schlang die Arme um meinen schmalen Körper. Das Phantom sah mich mitfühlend an. Das er nach all dem, was er durchmachen musste, noch so etwas wie Mitgefühl aufbringen konnte, erfüllte mich mit einem Hoffnungsschimmer. Ich wusste, dass er die meisten seiner Verbrechen aus schierer Verzweiflung und blankem Hass begangen hatte, dass er durch die grausame Behandlung, die ihm in seinem Leben widerfahren war, fast schon dazu getrieben wurde. Trotz allem, schien seine Vergangenheit ihn noch nicht vollkommen zerstört zu haben. Es gab entgegen all der aneinander gereihten schrecklichen Erlebnisse in seinem Leben immer noch etwas Gutes in ihm. Und das bestärkte mich in meinem Vorhaben. Ich wollte ihm zeigen wie es war ein guter Mensch zu sein mit angenehmen Gefühlen wie Freundschaft, Güte, Frohsinn und... Liebe. Langsam hob ich den Blick. „Ja, ich denke, dass wäre fast mit mir geschehen. Ich war dabei mein Selbst gänzlich zu verlieren. Alles was mich als Person ausmacht, hätte sich beinahe in Luft aufgelöst, so als hätte es nie existiert,“ versuchte ich zu erklären. „In der Partitur, die Sie mir vorgespielt haben, sind all Ihre Empfindungen beim Komponieren in einem unvorstellbaren Ausmaß mit eingeflossen. Und als Sie es dann mit ebenso viel Gefühl vorgespielt haben, wurden all diese intensiven Emotionen wieder heraufbeschworen. Das war einfach zu viel für meinen Geist. Mit jeder neuen Note durchdrang mich ein weiteres Bruchstück Ihrer Erinnerungen, die eng mit Ihren Gefühlen verknüpft sind und ich durchlebte alles als wäre ich Sie. Die Intensität Ihrer Empfindungen hat mich mehr und mehr vereinnahmt, bis mein eigenes Selbst nur noch ein flackernder kleiner Funke war, der zu erlischen drohte. Wenn ich letztendlich nicht das Bewusstsein verloren hätte, wer weiß, was dann mit mir passiert wäre?“ Ich machte eine anmutige Geste mit meinen Händen, bevor ich diese sittsam über der dünnen Decke faltete. Erwartungsvoll blickte ich das Phantom an. Man sah ihm deutlich an, dass ihm meine Erzählung nicht sonderlich behagte. Er hatte seine Augen leicht zusammengekniffen und schien vor sich hin grübeln. Schließlich suchte und fand er meinen Blick. „Du hast also durch mein leidenschaftliches Spiel einen Einblick in die entferntesten Winkel meiner Seele gewonnen?“ Ich hatte befürchtet, dass ihn diese Tatsache wütend machen würde, doch er wirkte eher gefasst und nachdenklich. Von Zorn keine Spur. „Ja,“ antwortete ich ruhig. „Und was wirst du nun mit diesem Wissen anstellen... Emilie?“ Er beugte sich über mich und sein Blick schien den meinen festzuhalten, denn ich vermochte nicht beiseite zu schauen. Es war das erste Mal, dass er meinen Namen aussprach und er tat es langsam, bedächtig, so als kostete er den Klang jeder Silbe aus. In meinen Ohren klang es wie Musik. Meine Wangen röteten sich und ich wollte verlegen den Blick senken, doch das ließ er nicht zu. Er umfasste mein Kinn und zwang mich sanft aber bestimmt ihm weiterhin direkt in die Augen zu sehen. Mein Herz pochte wie wild bei dieser Berührung. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Er war mir so nahe, dass ich die feinen Linien in seinen Augenwinkeln erkennen konnte, welche mich an die zarten Fäden eines Spinnennetzes erinnerten. Aufmerksam sah das Phantom mich an und schwieg. Er wartete auf eine Antwort. „Ich werde es lediglich verwenden, um dich besser zu verstehen... Erik.“ In den silbernen Tiefen seiner Augen regte sich etwas, als er den Klang seines Namens vernahm. Sein Blick wurde weicher und ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Ich war gebannt von diesem Lächeln. Es veränderte sein Gesicht vollkommen und zeigte eine ganz andere Seite des einsamen, verzweifelten Mannes. Eine freundliche, liebenswerte Seite. Eine Seite, die ich immer und immer wieder sehen wollte. „Es ist schön einmal wieder mit seinem Namen angesprochen zu werden,“ sagte er leise und hielt meinen Blick mit seinem fest. Ich verlor mich völlig in dem sanften Glühen seiner Augen und hielt den Atem an, als er sein Gesicht langsam dem meinen näherte. Er wollte mich küssen! Meine Atmung beschleunigte sich und mein Herzschlag wurde noch schneller als er ohnehin schon war. Ein wohliger Schauer durch rieselte mich, als er seine Hand auf meine Wange gleiten ließ und zart über die samtige Haut strich. Ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als endlich seine Lippen auf den meinen zu spüren und mich in diesem ersten Kuss vollends zu verlieren. Noch nie zuvor war ich geküsst worden. Selbst Victor hatte niemals versucht mir einen Kuss aufzuzwingen, so dass ich in dieser Hinsicht noch gänzlich unschuldig war. Wie es sich wohl anfühlen mochte? Ob seine Lippen so weich waren wie sie aussahen? Ich würde es gleich erfahren. Ich schloss die Augen und wartete atemlos. Doch kurz bevor unsere Lippen sich endgültig berührten, zerriss ein schrilles Geräusch die Stille. Ich riss meine Augen erschrocken wieder auf und Erik erhob sich hastig vom Bett. „Eindringlinge,“ knurrte er wütend und bei dem unheilvollen Klang dieses Wortes zuckte ich unwillkürlich zusammen. Er war wieder der von Zorn und Hass über sein grauenvolles Schicksal zerfressene Mann. Jegliche Spur seines liebenswerten Ichs war von ihm gewichen was ich unheimlich bedauerte. Traurig sah ich mit an wie er aus einem Schrank zwei im Kerzenlicht kalt schimmernde Pistolen hervorholte und sie an seiner Hose befestigte. Ein aufgerolltes Lasso fand ebenfalls an seinem Gürtel seinen Platz. Ich fröstelte und legte die Arme schützend um meinen Oberkörper. Mir schwante nichts Gutes und ich wünschte er würde nicht gehen, sondern stattdessen bei mir bleiben. Sein Lächeln war eisig, als er sich schließlich mir zu wandte. „Ich muss dich eine Weile allein lassen, um mich um deine Freunde zu kümmern. Ich bin bald zurück.“ Er wollte sich umdrehen, um fortzugehen, doch ich hielt ihn durch meinen jähen Ausruf zurück. „Geh nicht!“ flehte ich inständig und streckte die Hand nach ihm aus. In meinen grünen Augen schimmerten ein paar Tränen, die ich mühsam zurückhielt. „Du brauchst keine Angst zu haben, Emilie. Ich werde schon zurückkommen. Mir wird in meinem Opernhaus nichts geschehen. Also sorge dich nicht um mich.“ Für einen flüchtigen Moment huschte ein Schimmer Wärme über seinen ansonsten stahlharten Blick und ich verspürte kurz ein Gefühl der Freude darüber, dass ich um sein Wohlergehen besorgt war. Dann drehte er sich um und ging. „Pass auf dich auf,“ flüsterte ich in die bedrückende Stille hinein. Ich ließ meine ausgestreckte Hand wieder sinken. Eine einsame Träne rann meine Wange hinab und tropfte auf meine Hände, die verkrampft die dünne Decke umklammerten. Hoffentlich kam er wirklich unversehrt zurück. Kapitel 6: One light for each tear ---------------------------------- ch versuchte zunächst etwas Schlaf zu finden. Doch es gelang mir vor lauter Sorge um Erik nicht. Unruhig wälzte ich mich in dem großen Bett hin und her. Schreckliche Bilder plagten mich, sobald ich die Augen schloss: Die leblose Gestalt des Phantoms auf dem Boden und ein hässlich grinsender Victor, der mit einer rauchenden Pistole in der Hand breitbeinig da stand und auf den soeben getöteten Mann hinab starrte. Keuchend richtete ich mich schließlich auf. Offenbar war ich doch für einen kurzen Augenblick eingeschlafen und war dann von diesem entsetzlichen Traumbild heimgesucht worden, dass mir nun immer noch gestochen scharf vor Augen stand. Ich schüttelte energisch den Kopf um diesen grauenhaften Anblick zu verscheuchen und erhob mich dann aus dem Bett. Sorgfältig strich ich die Falten aus dem Seidenkleid, bevor ich überlegte was ich nun tun sollte. Ich musste mich irgendwie ablenken, um nicht ständig an das Phantom und Victor zu denken, die sich vielleicht gerade in diesem Moment gegenüber standen. Ziellos schritt ich aus der Nische in das große Gewölbe und blickte mich dabei um. Hinter der Orgel entdeckte ich einen schmalen Durchgang, durch den ich neugierig schlüpfte. Entzückt blieb ich stehen, als ich die vielen Bücherregale entdeckte, die vollgestopft mit Hunderten von Büchern waren. Ich näherte mich einem der Regale und fuhr liebevoll mit den Fingern über die leicht verstaubten ledernen Buchrücken. Ich liebte Bücher seit ich ein kleines Mädchen war. Lesen hatte schon immer eine große Faszination auf mich ausgeübt. Wenn ich in die Welt des geschriebenen Wortes eintauchte, dann blieb ich größtenteils von den Gefühlen anderer Menschen verschont und konnte mich voll und ganz mit meiner eigenen Gefühlswelt beschäftigen. Hin und wieder blitzte zwar eine vereinzelte Emotion des Autors in mir auf, welche ihn beim Schreiben sehr bewegt haben musste, aber das war nichts im Vergleich zu der Intensität der Empfindungen, denen ich sonst immer ausgesetzt war. Das Lesen erlaubte mir folglich eine Art Erholung von meinen empathischen Fähigkeiten und sooft es mir möglich war, nutzte ich diese Gelegenheit und floh in die fantasievollen Welten, die sich unter einem Buchdeckel verbargen. Interessiert musterte ich die Titel, die auf den Buchrücken prangten. Ich fand bedeutende Werke und Autoren der französischen Literatur darunter wie zum Beispiel Flaubert, Stendhal oder Balzac. Doch Erik verfügte auch über eine beachtliche Sammlung englischer, deutscher und italienischer Literatur. Ich geriet immer wieder ins Staunen, über die Vielzahl der Dichter und literarischen Strömungen, die hier durch nahezu all ihre wichtigen Werke vertreten waren, während ich ehrfürchtig an den Regalen vorbei schlenderte. Schließlich nahm ich mir eine Ausgabe von Victor Hugos „Les Misérables“, das ich schon seit einiger Zeit hatte lesen wollen, setzte mich in einen bequem aussehenden Sessel und vertiefte mich in die Geschichte um den verhärmten Jean Valjean. Bald schon war ich so gefesselt von dem Buch, dass meine unguten Gefühle und Sorgen um Erik für den Moment in den Hintergrund rückten. Die Zeit verging und ich las und las. Das Geräusch von Schritten, die schnell näher kamen, ließ mich schließlich aufhorchen. Mein Herz pochte wie wild und das Buch glitt mir aus den zittrigen Fingern, als ich aufsprang. War Erik etwa zurückkehrt? Ich wollte schon loslaufen, um nachzusehen ob es ihm gut ging, als mir plötzliche ein anderer Gedanke durch den Kopf schoss, der mich an Ort und Stelle verharren ließ. Was wenn es nicht das Phantom war sondern Victor oder einer seiner Männer? Ich wollte unter keinen Umständen zurück in die Fänge dieses abscheulichen Mannes, der nur wegen meiner besonderen Begabung und der Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Mutter so besessen von mir war. An mir selbst lag ihm nicht das Geringste und er würde mich hart dafür bestrafen, dass ich ihm so kurz vor der geplanten Hochzeit entkommen war. Ich erinnerte mich noch gut an die eisigen Worte, die ich hinter der Spiegeltür vernommen hatte: „Ich finde dich. Und dann wirst du bitter dafür büßen, dass du es gewagt hast mir zu entfliehen.“ Als ich erneut daran dachte, lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter und ich wich in den Schatten der hohen Bücherregale zurück. Ängstlich presste ich mir eine Hand auf die Brust, um mein ungestüm klopfendes Herz zu beruhigen, und lauschte. Die Schritte schienen immer näher zu kommen und ich hielt furchtsam den Atem an, als ein großer Schatten in den Raum fiel. Ich wagte nicht mich zu rühren aus Angst mich durch die kleinste Bewegung zu verraten. „Emilie? Bist du hier irgendwo?“ Die ruhige Stimme Eriks durchbrach die atemlose Stille und ließ mich vor Erleichterung auf seufzen. Ich trat aus meinem Versteck hervor und meinte mit leiser Stimme: „Ich bin hier.“ Er drehte sich zu mir um und trat näher. In seinen Augen flackerte es belustigt und er sah mich fragend an. „Warum versteckst du dich denn?“ Meine Wangen färbten sich augenblicklich rot und ich senkte verlegen den Blick. „Ich dachte vielleicht hätten Victor und seine Männer einen Weg hier her gefunden. Ich wollte es nicht riskieren, dass er mich letztendlich doch bekommt und mich... mich“ Meine Stimme brach und mit einem Aufschluchzen verbarg ich mein Gesicht in den Händen. Ich hatte schreckliche Angst zurück zu Victor zu müssen und wollte lieber sterben, als mich seinen Grausamkeiten erneut auszuliefern. Plötzlich schlangen sich zwei starke Arme um meinen Körper und wiegten mich sanft hin und her. „Scht,“ machte das Phantom und strich mir beruhigend über den Rücken. „Ich werde nicht zulassen, dass er dir etwas antut. Bitte weine nicht. Ich werde dich beschützen.“ Bei seinen Worten durchfuhr mich ein angenehmes Gefühl der Wärme. Meine Tränen versiegten und mit einem leichten Seufzen schmiegte ich meinen Kopf vertrauensvoll an seine Schulter. Da war sie wieder seine zärtliche Seite, von der ich so sehr gehofft hatte, dass sie erneut zum Vorschein kommen möge. Wenn er solch ein warmes Glühen in den Augen hatte wie jetzt und mich liebevoll in seinen Armen hielt, konnte ich die Welt um mich herum vollkommen vergessen. Dann existierten nur noch wir beide und alles andere war nicht mehr länger von Bedeutung. Ich spürte wie sich sein Körper kurz vor Verwunderung verkrampfte, als ich mich enger an ihn schmiegte. Er konnte offenbar immer noch nicht so recht glauben, dass jemand ihn nicht als abstoßend empfand. Wenn er wüsste was für starke Gefühle ich mittlerweile für ihn hegte, wäre er sicher noch erstaunter. Trotz all der abscheulichen Verbrechen, die er begangen hatte und seines anfänglichen rüden Verhaltens mir gegenüber, bedeutete er mir inzwischen mehr als ich es mir eingestehen wollte. Ich wollte ihm mein Herz schenken und ihn aus seiner tiefen Verzweiflung herausholen. „Ich bin so froh, dass dir nichts geschehen ist,“ wisperte ich in den Stoff seines Hemdes. Er strich weiterhin sacht über meinen Rücken, sagte aber vorerst nichts. Ich fühlte jedoch was in ihm vorging. Er war sehr glücklich über meine Worte und voller Staunen darüber, dass er mir überhaupt etwas bedeutete. Seine zerschundene Seele wagte noch immer nicht vollends zu glauben aus Furcht er könne wieder verletzt werden. Doch das Fünkchen Hoffnung, dass ich in ihm geweckt hatte, begann allmählich immer größer zu werden und heller zu leuchten. Ich wusste, dass er eines Tages glauben würde. Und diesen Tag sehnte ich schon jetzt herbei. Schließlich löste er sanft die Umarmung auf und blickte mir in die grünen Augen, die ihn voller Wärme anstrahlten. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl er würde wieder versuchen mich zu küssen und mein Puls begann sich vor Vorfreude zu beschleunigen. Doch zu meiner großen Enttäuschung drehte er sich schließlich einfach um. Wenn ich nicht genau gespürt hätte wie sehr er innerlich um seine Beherrschung kämpfte, wäre ich sehr betrübt gewesen. „Ich wollte dir noch berichten, dass du dir zunächst einmal keine Sorgen mehr um Victor und seine Schergen machen musst. Zumindest für heute haben sie mein Opernhaus verlassen. Ich habe mit einem kleinen Trick ein wenig nachgeholfen und hoffe, dass es ausreicht um sie eine Weile von hier fernzuhalten,“ sagte er ohne sich wieder mir zu zuwenden. Stattdessen hob er das heruntergefallene Exemplar von „Les Misérables“ wieder auf und stellte es zurück an seinen Platz im Regal. Wehmütig betrachtete ich seinen Rücken. Ich vermisste seine Nähe bereits schmerzlich. Diese Distanziertheit, die er zwischen uns schuf, behagte mir ganz und gar nicht. Wenn ich mich trauen würde, dann würde ich einfach zu ihm gehen und mich an seinen Rücken schmiegen. Doch das wagte ich nicht. Stattdessen fragte ich vorsichtig: „Es wurde also niemand verletzt?“ Bei meiner Frage drehte er sich dann doch zu mir um. „Zumindest nicht ernsthaft,“ erwiderte er und ein gefährliches Funkeln erschien in seinen Augen. Bestürzt blickte ich ihn an. Was hatte er nur getan? Er wandte sich von mir ab und sein Umhang flatterte unheilvoll hinter ihm her, als er Anstalten machte den Raum zu verlassen. „Warte!“ Ich hastete zu ihm und umklammerte seinen Arm. „Du musst mir sagen was du getan hast!“ Sein Blick bohrte sich in meinen. „Wieso willst du das wissen?“ fragte er scheinbar ruhig, doch mir entging der eisige Unterton nicht, der in seiner Frage mitschwang. „Ich möchte nicht, dass meinetwegen jemand verletzt wird,“ murmelte ich unglücklich und hielt seinem stechendem Blick stand. „Und was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass Victor dir nie wieder Schwierigkeiten machen wird?“ fragte er mit betont gleichgültiger Stimme und einem kalten Glitzern in den silbergrauen Augen. Es dauerte einen Moment bis ich den Sinn seiner Worte erfasst hatte. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen und ich wich einen Schritt von ihm zurück. „Du hast ihn doch nicht etwa... getötet?“ hauchte ich fassungslos und schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Egal wie sehr ich Victor und seine grauenvollen Taten verabscheute seinen Tod wünschte ich nicht. Erik machte einen Schritt in meine Richtung und ich musste mich zusammenreißen, um nicht erneut vor ihm zurückzuweichen. So wie er jetzt da stand, mit dem düsteren Blick und dem harten Zug um seine Mundwinkel, flößte er mir ein wenig Angst ein, doch das wollte ich ihn auf keinen Fall wissen lassen. Aber anscheinend hatte er bemerkt wie bedrohlich er auf mich wirkte, denn seine Miene wurde ein wenig weicher, als er sagte: „Nein, das habe ich nicht. Aber ich hätte es gekonnt und wenn du es möchtest, dann werde ich es für dich tun.“ Mir stockte der Atem. Er war bereit für mich zu töten und würde es zweifellos auch tun, wenn ich nur das geringste Zeichen an Zustimmung erkennen lassen würde. Ich fröstelte und starrte blicklos auf den massiven Bogen aus Stein, der über seiner Gestalt aufragte. Ich musste ihm klar machen, dass ich das nicht wollte. Niemand sollte für mich sterben. Selbst Victor nicht. „Ich möchte das nicht, Eric. Du darfst niemanden für mich umbringen!“ erklärte ich und sah ihn beschwörend an. Eine ganze Weile schauten wir uns wortlos an und ich suchte in den silbernen Tiefen seiner Augen nach einem Anzeichen dafür, dass er meinen Wunsch akzeptierte. Doch ich fand nichts was mich beruhigte. Schließlich beugte er sich vor, ergriff meine Hand und hauchte einen zarten Kuss darauf, bei dem ich ein sanftes Kribbeln in der Magengrube verspürte. „Wir werden sehen,“ sagte er und schenkte mir einen glutvollen Blick, der seinen inneren Aufruhr verriet. Dann drehte er sich abrupt um und ließ mich mit meinen Gedanken und Ängsten zurück. Ich seufzte und ließ mich in den Sessel sinken. Während ich die Knie wie ein kleines Mädchen anwinkelte und mit meinen Armen umschlang, dachte ich nach. Wieso konnte er nicht verstehen warum ich nicht wollte, dass jemand meinetwegen starb? Das war einfach nicht richtig! Es wäre Mord und das konnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ich musste unter allen Umständen verhindern, dass es jemals soweit kam, dass er sich berechtigt fühlte für mich zu morden. Doch wie sollte ich das anstellen? Eine böse Vorahnung sagte mir, dass ich mich nicht ewig hier beim Phantom vor Victor verstecken konnte. Irgendwann würde er mich finden und da Erik geschworen hatte mich zu beschützen, würden die beiden Männer sich wahrscheinlich ein Duell auf Leben und Tod liefern. Bei dem Gedanken schauderte ich unwillkürlich. Ich legte den Kopf auf meine Knie und wiegte mich sacht vor und zurück, um mich zu beruhigen. Als Kind hatte mir das immer geholfen, wenn ich aufgewühlt war und auch jetzt hatte es eine beruhigende Wirkung auf mich. Doch die Furcht vor dem was noch geschehen würde blieb und nagte weiterhin unerbittlich an meiner Seele. Kapitel 7: Devil dressed in White --------------------------------- Lange Zeit saß ich so da und ließ meine Gedanken schweifen. Ich hatte Angst vor der in meinen Augen unweigerlichen Begegnung zwischen Victor und dem Phantom. Was wenn Erik dabei etwas zustieß? Wenn er starb, dann würde ich mir das nie verzeihen. Dafür bedeutete er mir viel zu viel. Natürlich wusste ich, dass er meisterlich mit jeder Art von Waffen umgehen konnte und sich im Opernhaus auskannte wie kein anderer. Und es war durchaus kein Gerücht, dass noch nie jemand der tödlichen Schlinge seines Zauberlassos entkommen war. Doch ich wusste auch, dass Victor hervorragend mit dem Degen und seiner Pistole umgehen konnte. Und er würde eiskalt abdrücken, wenn sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Ich erbebte bei dem Gedanken an Victor. Er hatte mich wiederholt geschlagen, um meinen Willen zu brechen und mir bis ins kleinste Detail erzählt, was er mit mir anstellen würde, wenn ich endlich seine Frau geworden war. Er begehrte mich und wollte mich besitzen, da ich das Ebenbild meiner Mutter war, die er über alles geliebt, aber niemals bekommen hatte. Ich hasste die lüsternen Blicke, die er mir immer zuwarf. Doch ich war unendlich erleichtert, dass er niemals versucht hatte sich mir auf unsittliche Art und Weise zu nähern. Wenn er gewollt hätte, dann wäre ich nun schon lange nicht mehr unberührt und er hätte mich sicher immer wieder benutzt um seine Lust zu befriedigen. Schnell verscheuchte ich diese scheußlichen Gedanken. Ich wollte nicht an diesen brutalen Mann denken, der in mir keinen Mensch sah, sondern lediglich ein wertvolles Objekt, das ihm mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten von großem Nutzen sein würde und mit dem man seinen Spaß haben konnte. Schließlich erhob ich mich seufzend und machte mich auf die Suche nach Erik. Ich fühlte mich hungrig und wollte ihn fragen ob er eine Kleinigkeit zu essen für mich hatte. Als ich aus dem Raum heraus trat, legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. Vor Schreck zuckte ich zusammen, woraufhin die Hand sofort wieder zurückgezogen wurde. „Ich wollte dich nicht erschrecken, Emilie,“ vernahm ich die wohlklingende Stimme des Phantoms. Er blickte mich entschuldigend an und ich meinte abwehrend: „Ist nicht weiter schlimm.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich galant vor mir verbeugte und mir die Hand entgegen streckte. „Darf ich Sie um die Ehre bitten mit mir zu dinieren?“ fragte er formvollendet. Verblüfft starrte ich ihn einen Moment lang an. Dann lachte ich. Er hob indigniert seine Augenbraue und ließ seine Hand wieder sinken. „Darf ich erfahren was daran so komisch sein soll?“ wollte er leicht verärgert wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun ja,“ meinte ich schließlich lächelnd. „Ich lache, weil du offenbar meine Gedanken erraten hast. Ich wollte dich gerade suchen, um dich nach etwas Essbarem zu fragen.“ Nun musste auch er lachen und mir wurde ganz warm ums Herz bei diesem voll tönenden Klang. Es war unglaublich wie sehr ihn so etwas Einfaches wie ein Lachen verändern konnte. Er wirkte gelöst und seine Augen hatten wieder dieses unglaublich sanfte Glühen, welches ich so anziehend fand. Ich wusste, dass er in seinem bisherigen Leben nicht viel zu lachen gehabt hatte und fand es deshalb umso schöner, dass er sich in meiner Gegenwart so entspannt und erheitert geben konnte. Freudig hakte ich mich bei ihm unter. „Wie war das nun mit dem Dinner?“ fragte ich keck und strahlte ihn an. Er erwiderte mein Lächeln und meinte dann: „Lass dich überraschen.“ Gemeinsam schritten wir in die geräumige Nische, in der sich das Bett befand und mir stockte jäh der Atem, bei dem Anblick, der sich mir bot. In der Nähe des Bettes hatte Erik einen Tisch mit zwei Stühlen aufgestellt, der üppig gedeckt war. Dutzende Kerzen spendeten ihr Licht und legten einen sanften Schimmer einem Schleier gleich über den Raum. Ich trat näher und staunte über die vielen Köstlichkeiten, unter denen sich die silbernen Teller und Platten förmlich zu biegen schienen. Da gab es einen goldbraun gerösteten Fasan garniert mit in Honig glasierten Möhrchen, herrlich saftig aussehende Schweinemedaillons, die auf einem Beet aus grünen Bandnudeln ruhten, zarten Lachs in einer cremigen Sauce umgeben von goldgelben Petersilienkartoffeln und mehr Süßspeisen, als ich jemals zuvor an einem Ort gesehen hatte. „Wo hast du das alles her?“ wollte ich verwundert von ihm wissen und fuhr mit den Fingern sacht über die blütenweiße Tischdecke aus Damast. Ich hatte mit einer kleinen Mahlzeit gerechnet und nicht mit einem so opulenten Mahl. Wo mochte er bloß all diese delikat aussehenden Speisen her haben? Er lächelte mich geheimnisvoll an, als ich schließlich den Blick hob. „Das bleibt mein Geheimnis.“ Ganz der vollendete Gentleman zog er mir einen der Stühle zurück, so dass ich mich setzen konnte. „Vielen Dank,“ murmelte ich und schenkte ihm ein Lächeln. Insgeheim war ich jedoch ein wenig enttäuscht darüber, dass er meine Frage so geschickt beantwortet hatte ohne dabei irgendetwas preiszugeben. Ich hätte gerne gewusst woher die Speisen stammten und wie er sie beschafft hatte. Nachdenklich nagte ich an meiner Unterlippe, eine Angewohnheit aus meiner Kindheit, die ich nie ganz abgelegt hatte. Ich war so sehr in meinen Gedanken versunken, dass mir entging mit was für einem begehrlichen Blick er auf meine volle Unterlippe starrte, die ich zwischen meinen Zähnen gleichmäßig hin- und herschob. Hätte ich es gesehen, hätten meine Wangen sicherlich vor Verlegenheit geglüht, denn ich war solch offensichtliche Bekundungen des männlichen Wohlwollens nicht gewohnt. Als seine heftige Gefühlswallung schließlich bis in mein Innerstes drang, sah ich irritiert auf und ließ von meiner Unterlippe ab. Er räusperte sich einmal um sich wieder zu fangen und fragte dann brüsk: „Wolltest du nun etwas essen oder nicht?“ Meine Wangen verfärbten sich bei seinen harschen Worten jäh rot. „Entschuldige bitte, ich war in Gedanken,“ erklärte ich leise. „Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich wollte dich nicht so anfahren. Bitte verzeih mir,“ bat er mich sogleich und überrascht schaute ich in seine grauen Augen, die seine ehrliche Reue offenbarten. Diese einfache Entschuldigung für die etwas unhöfliche Art, mit der er seine durchaus berechtigte Frage hervor gebracht hatte, zauberte wieder ein Lächeln auf mein Gesicht. Er schien in meiner Gegenwart sehr darum bemüht höflich und zuvorkommend zu sein und darüber freute ich mich sehr. Wenn er so freundlich war wie jetzt und seine Augen mich voller Wärme betrachteten, dann konnte ich alles um mich herum vergessen und fühlte mich unglaublich wohl und geborgen. „Ich bin dir nicht böse, Erik. Ist schon in Ordnung.“ Meine Augen leuchteten im Kerzenschein in einem intensiven Grün und ich hatte keine Ahnung welch verheerende Wirkung dieser unschuldige Blick auf sein Seelenheil hatte. Schließlich löste er den Blick von meinem Gesicht und meinte leichthin: „Wollen wir dann jetzt speisen?“ Mir entging jedoch der leicht raue Tonfall nicht, der in seiner Stimme mitschwang und ich fragte mich woher das kam. Da ich viel zu sehr mit meinen eigenen verwirrenden Empfindungen, die mich in seiner unmittelbaren Nähe überkamen, beschäftigt war, bekam ich von seinen inneren Aufruhr dieses Mal nichts mit. Ich nickte unfähig ein Wort zu sagen. Schweigend tat ich mir etwas von dem verführerisch duftenden Lachs und den Petersilienkartoffeln auf meinen Teller. Ich piekste ein kleines Stück Fisch auf meine Gabel und führte es zum Mund. Erik beobachtete mich aufmerksam und ich war mir seines durchdringenden Blickes überdeutlich bewusst. >Warum er mich wohl so merkwürdig ansieht?< fragte ich mich noch, bevor ich das Stückchen Fisch bedächtig in meinen Mund schob. Das zarte Filet zerging mir förmlich auf der Zunge und es schmeckte wahrhaftig noch besser als es ausgesehen hatte. Ich schloss genießerisch die Augen und seufzte wohlig. So etwas Fantastisches hatte ich schon sehr lange nicht mehr gegessen und ich würde jeden weiteren Bissen gewiss ebenso genießen wie den ersten. Sein leises Lachen ließ mich die Augen jäh wieder aufreißen. Meine Wangen wurden vor Verlegenheit rot, als ich sah, dass er sich köstlich auf meine Kosten amüsierte. Mit gesenktem Haupt nahm ich einen kräftigen Schluck von dem Wein, den er mir zuvor eingegossen hatte. Der Alkohol floss langsam meine Kehle hinab und nach ein paar weiteren Schlucken breitete sich eine angenehme Wärme in meinen Gliedern aus. Dieser Wein war wirklich vorzüglich wie alles andere auch was er mir vorgesetzt hatte. Doch woher hatte er all diese Dinge? Diese Frage ließ mir keine Ruhe und ich überlegte wie ich ihm eine zufriedenstellende Antwort entlocken konnte. „Es scheint als würden dir das Essen und der Wein schmecken. Das freut mich.“ Er lehnte sich zufrieden zurück und schwenkte den Inhalt seines Weinglases leicht hin und her. „Ja, es schmeckt wirklich ausgezeichnet. Vielen Dank.“ Ich schenkte ihm ein scheues Lächeln. „Mich würde nur interessieren, woher du...“ Als ich seine Miene sah, die sich bei jedem meiner Worte zunehmend verdüsterte, brach ich mitten im Satz ab und biss mir auf die Zunge. Er war zornig, weil ich es wagte wieder nach etwas zu fragen, dass er nicht verraten wollte. „Entschuldige,“ wisperte ich dann, um ihn zu besänftigen. „Ich wollte nicht so unverschämt sein.“ Verstohlen betrachtete ich ihn unter meinen langen Wimpern hindurch und war erleichtert, als seine Gesichtszüge wieder weicher wurden und sein plötzlicher Zorn verrauchte. „Schon gut. Wenn du nicht weiter danach fragst, werde ich es dir vielleicht eines Tages erzählen,“ winkte er ab und nahm einen Schluck von seinem Wein. Danach stellte er das Glas beiseite. „Lass uns nun aber mit dem Essen fortfahren, bevor alles kalt wird.“ Dem war nichts mehr hinzuzufügen und so widmete ich mich wieder den Köstlichkeiten auf meinem Teller. Nach dem Lachs probierte ich noch etwas von dem Fasan und den glasierten Möhrchen, die so verlockend aussahen. Nachdem ich zum Abschluss genüsslich eine kleine Portion Mousse au Chocolat verzehrt hatte, fühlte ich mich angenehm gesättigt und zufrieden, ganz so wie ein Kätzchen, das den Sahnetopf hatte leer schlecken dürfen. Ich stieß einen leisen Seufzer aus, bevor ich mich dann behaglich ein wenig zurücklehnte. Seitdem ich das Dessert gegessen hatte, spürte ich Eriks Blicke unablässig auf mir und das mir schon wohlbekannte Kribbeln in der Magengrube war zurückkehrt. Normalerweise hätte mich seine ungeteilte Aufmerksamkeit nervös gemacht, doch ich hatte zwei Gläser Wein getrunken und mein Verstand war leicht benebelt, so dass es mich nicht weiter störte. Ganz im Gegenteil. Ich genoss es sogar so von ihm betrachtet zu werden. Es war ein herrliches Gefühl und momentan wollte ich es nicht missen. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass du mich endlich darüber aufklärst warum dieser Victor hinter dir her ist. Meinst du nicht auch?“ Seine Stimme drang in mein Bewusstsein und riss mich aus dem Zustand wohliger Trägheit, in dem ich mich befand. Einen Moment lang runzelte ich irritiert die Stirn, dann erfasste ich den Sinn seiner Worte und setzte mich wieder aufrecht hin. Ich suchte seinen Blick und fand ihn. Er musterte mich voller Interesse und wartete auf eine Antwort auf seine Frage. „Das ist eine lange Geschichte,“ begann ich vorsichtig. Er ließ ein kurzes amüsiertes Lachen ertönen. „Wir haben Zeit,“ meinte er dann schlicht und ich wusste natürlich, dass er recht hatte. Es war wirklich besser, wenn er über die Hintergründe meiner Flucht und Victors entschlossener Verfolgung meiner Person Bescheid wusste. Er hatte jedes Recht dazu, denn er steckte bereits tief mit drin. Zögernd begann ich ihm alles zu erzählen; zunächst noch etwas stockend, aber je länger ich sprach desto einfacher wurde es und schließlich sprudelten die Worte nur so aus mir hervor. „Ich war 15 Jahre alt als mein Vater starb. Victor, einer seiner langjährigen Geschäftspartner, ging oft bei uns Zuhause ein und aus. Nach der Beerdigung bot er mir an mich bei sich aufzunehmen und für mich zu sorgen. Schließlich kannte er meinen Vater schon sein ganzes Leben lang und die beiden waren befreundet. Zumindest glaubte mein Vater das. Ich jedoch hatte ihn noch nie besonders leiden können, weil ich spürte, dass das alles lediglich Fassade war. Doch da er testamentarisch auf Wunsch meines Vaters zu meinem gesetzlichen Vormund bestimmt worden war, blieb mir keine andere Wahl. Ich willigte ein. Und das war, wie ich später schmerzlich erfahren musste, ein großer Fehler.“ Ich hielt inne und meine Augen glänzten feucht, bei den Erinnerungen, die meine Worte heraufbeschworen. „Wenn ich mich damals nur nicht so sehr von meiner unsäglichen großen Trauer hätte leiten lassen, dann hätte ich seine Absichten gespürt und wäre die letzten fünfeinhalb Jahre nicht seine Gefangene gewesen.“ Erik schien aufzuhorchen. „Was willst du damit sagen?“ fragte er und beugte sich ein Stück vor. „Dass er dich weggesperrt hat?“ „Ja,“ antwortete ich schlicht. „Er hat mich wie einen Vogel in einem goldenen Käfig behandelt. Ich war auf seinem Anwesen gefangen und konnte das Grundstück nicht verlassen. Überall hatte er seine Männer postiert, die mit Argusaugen jeden meiner Schritte beobachteten. Es war furchtbar. Und das alles nur, weil er mich wollte.“ Ich sah wie sich seine Augenbraue hob. „Ich bin anscheinend das Ebenbild meiner Mutter, die Victor aufs Heftigste begehrt hat, obwohl er genau wusste, dass er nie eine Chance bei ihr haben würde. Sie hatte nur Augen für meinen Vater und er selbst war damals etliche Jahre zu jung für sie. Sobald er also merkte, dass ich meiner Mutter immer mehr zu ähneln begann, stellte er mir nach und umwarb mich auf scheinbar ehrenwerte Art und Weise. Ich dachte das ungute Gefühl, welches mich in seiner Gegenwart immer beschlich, wäre auf meine Antipathie ihm gegenüber zurückzuführen, aber da hatte ich mich geirrt. Er verstand es wirklich gut seine wahren Absichten zu verbergen, so dass ich zunächst völlig im Dunkeln tappte. Ich traute ihm zwar nicht, aber begann mich an seine Art zu gewöhnen und somit ließ auch meine Wachsamkeit ihm gegenüber nach. Und das war ein großer Fehler.“ An dieser Stelle machte ich eine Pause und spielte gedankenverloren mit dem Stil meines Weinglases. Meine Finger zitterten leicht und so legte ich meine Hand schließlich auf das makellose weiße Tischtuch, um das Glas nicht aus Versehen zu zerbrechen. Den Blick hielt ich gesenkt, da ich nicht wollte, dass Erik die Tränen sah, die in meinen Augen schimmerten. Ich wusste nicht wie ich mit meiner Erzählung fortfahren sollte. Es wühlte mich enorm auf wieder an die Zeit zu denken, in der ich Victor hilflos ausgeliefert war. Er hatte mich zwar niemals angerührt, um sich an mir zu vergehen, aber es gab auch noch genug andere Wege einem Menschen Schmerz zuzufügen wie ich bitterlich am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Als sich eine warme Hand über meine legte, hob ich doch den Blick und sah geradewegs in Eriks Augen, die mich voller Mitgefühl betrachteten. Zart begann er mit dem Daumen über meinen Handrücken zu streichen und diese unschuldige Berührung jagte angenehme kleine Schauer durch meinen ganzen Körper. „Was hat er dir angetan, Emilie?“ fragte er nach einer Weile sanft und zog seine Hand langsam wieder zurück, um einen Schluck von seinem Wein zu nehmen. Ich starrte auf meine nunmehr unbedeckte Hand und schien einen Moment lang nicht in der Lage auch nur einen Ton herauszubringen. Erst als ich einen zittrigen Atemzug tat, wurde ich wieder etwas ruhiger und konnte ihm eine Antwort geben. „Nachdem er testamentarisch die Gewalt über mich gewonnen und mich in seine Villa gebracht hatte, offenbarte Victor mir was er nun mit mir vorhatte. An meinem 21. Geburtstag wollte er mich zu seiner Frau nehmen. Bis es soweit war durfte ich mich nur auf seinem Grund und Boden bewegen und keinen Kontakt mehr zur Außenwelt haben. Diese Eröffnung war ein großer Schock für mich und ich war ohnmächtig vor Wut darüber, dass meine Sinne zu sehr von der Trauer um meinen Vater benebelt waren, so dass ich nicht gespürt hatte, was er plante. Noch in derselben Nacht unternahm ich meinen ersten Fluchtversuch, doch ich kam nicht sehr weit. Victor hatte überall Wachen aufstellen lassen und als sie mich zu ihm brachten, waren seine Gesichtszüge vor Wut verzerrt über meine ungehörige Tat. Und die volle Wucht seines Zorns ließ er mich auch spüren. Er stieß mich brutal zu Boden, holte etwas aus seinem Schrank heraus und dann... dann...“ Meine Stimme versagte und mein Körper begann unkontrolliert zu beben. Ich konnte nichts dagegen tun, dass mir Tränen die Wangen hinab liefen und unaufhörlich auf meine Hände tropften, die sich in den Stoff meines Kleides gekrallt hatten. Die Erinnerung an das, was Victor mir damals angetan hatte, war einfach zu schrecklich, als das ich hätte gelassen bleiben können. Schutzsuchend schlang ich die Arme um meinen Körper und begann mich sacht vor- und zurückzuwiegen, um mich wieder zu beruhigen. Es half ein wenig und als ich es schließlich wieder wagte Erik anzusehen, bemerkte ich, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Und obwohl ich eindeutig fühlte, dass meine Worte ihn in Rage versetzt hatten, bemühte er sich seine nächste Frage in ruhigem Tonfall zu stellen. „Was war dann, Emilie?“ Mir ging es sehr nahe, dass er eine so heftige Reaktion auf meinen Bericht zeigte. Verstört schloss ich die Augen und überlegte wie ich ihm beibringen konnte was Victor getan hatte, ohne dass er die Kontrolle über seinen Zorn verlor. Wenn er jetzt schon dermaßen aufgebracht war, wie würde er dann erst reagieren, wenn er erfuhr auf welche Art und Weise Victor mich misshandelt hatte? Ich schluckte einmal schwer, bevor ich meine Augen wieder öffnete und mit leiser Stimme die drängende Frage des Phantoms beantwortete: „Dann hat er mir das Kleid vom Rücken gerissen und mich... ausgepeitscht.“ Vor meinem inneren Auge sah ich wieder Victors teuflisches Grinsen, als er mit der Peitsche ausholte und diese mit voller Wucht auf meinen Rücken niedersausen ließ. Ich hörte mich schreien, spürte den brennenden Schmerz und die ersten Blutstropfen, die hervorquollen als meine zarte Haut aufplatzte. Zwischen den einzelnen Hieben hatte ich ihn angefleht er möge aufhören, doch er kannte kein Erbarmen und hatte immer und immer wieder zugeschlagen bis ich vor Schmerzen die Besinnung verlor. Schaudernd rieb ich über meine Schläfen, um die grauenhafte Erinnerung zu verscheuchen. Erik verfolgte jede meiner Bewegungen mit seinen Blicken. Sein ganzer Körper war angespannt wie eine Bogensehne und seine grauen Augen funkelten unheilvoll. „Dieser elende Bastard! Für diese Tat werde ich ihn umbringen.“ Ich erschrak über die Eiseskälte und Entschlossenheit mit der er diese Worte hervorbrachte und ich zweifelte keine Sekunde lang, dass er auch tun würde was er sagte. Aber das durfte er nicht! Das war nicht richtig! Ich wollte protestieren, doch er gebot mir mit einer resoluten Bewegung seiner Hand zu schweigen. „Nein, nichts was du sagen willst kann mich davon abhalten diesen Bastard seiner gerechten Strafe zukommen zu lassen. Er wird eines Tages durch meine Hand sterben und dafür büßen was er dir angetan hat. Ob es dir nun gefällt oder nicht, so wird es sein.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verließ die Nische. Sein Umhang flatterte hinter ihm her, als er davon eilte und die plötzliche Bewegung der Luft brachte ein paar Kerzen zum Flackern. Ich saß wie gelähmt auf meinem Stuhl und starrte blicklos auf die Reste des opulenten Mahls, welches Erik mir aufgetischt hatte. Was hatte ich nur getan? Jetzt würde Erik nichts unversucht lassen, um seine Worte in die Tat umzusetzen und die offene Konfrontation mit Victor war nun nur noch eine Frage der Zeit. Ich stöhnte gequält auf und barg mein Gesicht in den Händen. Ich hatte keinen Racheengel gewollt, der stellvertretend für mich Vergeltung übte. Alles was ich wollte war ein Mann, der mich beschützte und nicht zuließ, dass Victor mir jemals wieder etwas Vergleichbares antun konnte. Gab es denn wirklich keinen Weg dies zu erreichen, der frei von jeglicher Gewalt war? Es dauerte lange bis ich mich wieder regte. Von den vielen Grübeleien und den zwei Gläsern Wein war ich auf einmal unendlich müde und so erhob ich mich und ließ mich erschöpft in die weichen Kissen des Bettes sinken. Kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)