Einsamer Engel von YvaineLacroix ================================================================================ Kapitel 4: The Truth beneath the rose ------------------------------------- In dem Moment hatte das Boot das andere Ufer erreicht und ich wurde jäh aus meinen Gedanken gerissen, als das Phantom meine Hand ergriff und mir ans Ufer half. Während er noch damit beschäftigt war das Boot zu vertäuen, sah ich mich in seinem Versteck um. Überall brannten Kerzen, deren tanzende Schatten von den Wänden aus Stein wiedergegeben wurden. Ich schritt drei schmale Stufen hinauf und erblickte eine Orgel, auf der jede Menge Schriftstücke und Notenblätter ausgebreitet lagen. Als mit lautem Getöse ein Metallgitter hinter dem Boot hinunter sauste, fuhr ich erschrocken herum. Das Phantom stand nur wenige Schritte hinter mir und musterte mich mit seinen grauen Augen voller Misstrauen. Verstört erwiderte ich seinen durchdringenden Blick und fragte mich was als nächstes passieren würde. Eine ganze Weile standen wir einfach nur da und sahen uns schweigend an, bis er das Schweigen durch eine barsche Frage brach. „Wo hast du dieses Kleid her?“ verlangte er zu wissen und an seinem grimmigen Tonfall merkte ich, dass es besser war ihm schnell zu antworten. „Ich habe es in einem Schrank gefunden.“ Meine Stimme war belegt und nicht mehr als ein Flüstern. „Ich habe noch nie ein so wunderschönes Gewand gesehen und da mein eigenes Kleid vom Regen völlig durchnässt war, habe ich es angezogen. Es tut mir leid.“ fügte ich hinzu und senkte meinen Blick. So entging mir, dass sich seine Miene zunehmend verfinsterte. „Es gehörte ihr. Du hattest kein Recht es anzuziehen,“ knurrte er zornig. Ich musste einen Schmerzensschrei unterdrücken, als er mich grob am Handgelenk packte und zu dem großen mit rotem Stoff bezogenen Bett zerrte, das in einer Nische verborgen lag. Er hat von Christine gesprochen, dachte ich benommen. Ob er nach all diesen Jahren noch etwas für sie empfand? Versunken in meinen Grübeleien merkte ich zu spät was er tat. Verwirrt registrierte ich, dass ich mittlerweile auf dem Bett lag und dass er dabei war meine Hände mit schwarzen Bändern aus Satin an die Pfosten zu fesseln. „Warum tun Sie das?“ fragte ich erschrocken. Er ging nicht auf meine Frage ein, sondern fuhr seelenruhig mit seiner Arbeit fort. Dann setzte er sich neben mich auf das Bett, berührte leicht eine Locke meines Haares und betrachtete mich stumm. Sein Zorn war zwar immer noch vorhanden, aber im Moment wurde er von einem anderen Gefühl überdeckt: Sehnsucht. Ich lag ganz still, als er die Haarlocke gedankenverloren an seine Lippen hob und einen Kuss darauf hauchte. Ich wagte kaum zu atmen. Mein Herz raste und ich konnte den Blick nicht von seinem Gesicht losreißen. Er schmiegte seine Wange an die seidige Strähne meines Haares und meinte mit leiser Stimme: „Du siehst ihr sehr ähnlich.“ Und ganz plötzlich war der kurze Moment der Sehnsucht und Zärtlichkeit verflogen, so als hätten seine eigenen Worte ihn zurück in die Gegenwart geholt. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und wurde zunehmend düsterer. „Wie heißt du?“ Ich brauchte einen Augenblick um seine Aussage ich sähe Christine ähnlich zu verarbeiten, bevor ich imstande war ihm zu antworten. „Emilie,“ hauchte ich. Er erhob sich und baute sich vor dem Bett auf. Im sanften Kerzenlicht wirkte er mit seinem schwarzen Umhang und dem weißen halboffenem Hemd wie ein gefallener Engel, der sich in die allertiefste Dunkelheit zurückgezogen hatte. Finster starrte er auf mich hinab. „Du weißt sicher wer ich bin, nicht wahr?“ Ich nickte langsam. „Ja, Sie sind das Phantom der Oper.“ „Wenn du das weißt, dann frage ich mich wieso du dich nicht vor mir fürchtest. Du hast doch sicher Geschichten von dem mordenden Monster gehört, dass sein unsagbar hässliches Antlitz hinter einer Maske verbirgt und in den Kellergewölben der Opéra Garnier haust.“ In seiner Stimme lag soviel Bitterkeit, dass mir der Atem stockte. Die sieben einsamen Jahre in der Finsternis seines Versteckes waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Seine Verbitterung war weitaus stärker geworden seitdem Christine ihn für immer verlassen hatte, um ein glückliches Leben mit Raoul zu führen. Mühsam schluckte ich die Tränen hinunter, die unweigerlich in mir aufstiegen, wenn ich daran dachte wie unendlich einsam er all die Jahre gewesen sein musste. „Sie sind kein Monster,“ flüsterte ich schließlich. Er zog erstaunt die Augenbraue hoch, die nicht von der Maske verdeckt wurde. „Ach nein?“ meinte er zynisch. „Was bin ich denn dann in deinen Augen?“ Ich zögerte keinen Moment lang, bevor ich ihm eine Antwort gab: „Sie sind ein verzweifelter, einsamer Mann, dem das Schicksal einen grausamen Streich gespielt hat und der sich in seiner Einsamkeit nach einem Menschen sehnt, der ihn aufrichtig liebt so wie er ist.“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen wünschte ich, dass ich es nicht getan hätte. Sprachlos stand er da und starrte mich einen Augenblick einfach nur an. Noch ehe sich seine grauen Augen drohend verdunkelten, fühlte ich die Woge des Zorns, die über ihn hereinbrach. Ohne jegliche Vorwarnung kam er zu mir und beugte sich über mich. Sein Gesicht war vor Wut über meine kühnen Worte verzerrt und seine kräftigen Hände legten sich um meinen schlanken Hals. Doch er drückte nicht zu. „Du weißt gar nichts über mich!“ fuhr er mich an. Obwohl ich am liebsten panisch aufgeschrien und geschluchzt hätte, zwang ich mich ruhig zu bleiben. Ohne jede erkennbare Furcht stellte ich mich seinem wutentbrannten Blick. „Das werden Sie nicht tun,“ sagte ich und ärgerte mich sogleich, dass meine Stimme nicht so fest klang wie sie eigentlich sollte. „An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher,“ meinte er grimmig. Aber ich hatte das Gefühl als hätte sich der Griff um meine Kehle ein wenig gelockert. Also fuhr ich tapfer fort: „Ich fühle, dass Sie eine Frau niemals verletzen könnten. Vor allem nicht, wenn sie so aussieht wie Ihre... Christine.“ Ich wusste, dass ich ein enormes Risiko einging, wenn ich ihn an seine unerfüllte Liebe zu Christine erinnerte. Alles was mit ihr zu tun hatte machte ihn unendlich wütend und ich konnte nicht ausschließen, dass er nicht doch zudrücken würde. Aber er tat es nicht. Seine Hände lösten sich von meinem Hals und glitten langsam zu meinen Schultern, wo sie verharrten. Ein wohliger Schauer durch rieselte mich als seine warmen Finger über meine nackte Haut streiften. An dem kurzen Aufglimmen in seinen Augen erkannte ich, dass er es bemerkt hatte. Und das schien seinen Zorn zu besänftigen. „Woher weißt du von Christine?“ wollte er wissen. Ich beschloss, dass es das beste war, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Auch wenn er sie wahrscheinlich nicht glauben würde. „Ich weiß alles was damals passiert ist. Oben in dem Zimmer hatte ich einen Traum. Es war als wäre ich zurück in die Vergangenheit versetzt. Ich habe gesehen wie Sie Christine mit Ihrem wunderbaren Gesang von der Musik der Nacht hierher gebracht und verzaubert haben. Sie liebte aber nicht Sie, sondern einen jungen Mann namens Raoul. Auf dem Dach der Oper haben die beiden sich ihre Liebe gestanden ohne zu bemerken, dass Sie sich auch dort aufhielten. Der Maskenball...“ „Genug!“ befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ich verstummte augenblicklich. „Wie ist das nur möglich?“ fragte er mit leiser Stimme. „Wie kannst du das alles wissen?“ „Ich weiß es nicht,“ gab ich ehrlich zu und sah ihm fest in die Augen. Er erwiderte meinen Blick und plötzlich wurde ich mir bewusst wie nah er mir war und dass seine Hände immer noch auf meinen bloßen Schultern ruhten. Ein leichtes Flattern machte sich in mir breit und mein Herzschlag beschleunigte sich. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem meinem entfernt und ich spürte wie sein warmer Atem meine Wange streifte. Auch er schien für einen Moment wie verzaubert zu sein. Doch dann erhob er sich, ließ von mir ab und ich blieb mit einer mir unerklärlichen Sehnsucht liegen. Seine Miene, die kurzzeitig verwirrt und verletzlich ausgesehen hatte, wirkte nun hart und völlig ausdruckslos. „Vielleicht verrätst du mir endlich was du in meiner Oper zu suchen hast.“ Ich seufzte einmal leise. „Ich wollte mich verstecken.“ „Vor wem? Etwa vor diesem Mann?“ fragte er. Ich nickte. „Ja, ich dachte hier würde er mich niemals vermuten. Und wenn doch, so hatte ich gehofft, dass er und seine Männer sich nicht hinein wagen würden.“ Misstrauisch musterte er mich mit blitzenden grauen Augen. „Wieso läufst du vor ihm davon? Warum fürchtest du dich so sehr vor ihm?“ Verschreckt senkte ich den Blick. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“ Das Blut schoss mir in die Wangen und ich wusste, dass es ihm nicht entging. Es wäre wahrscheinlich besser, wenn ich ihm alles erzählen würde über Victor, seinen unberechtigten Besitzansprüchen mir gegenüber und seiner Neigung zur Gewalt. Vor allem aber sollte ich ihm über meine Gabe aufklären, die mir allerdings die meiste Zeit eher wie ein Fluch vorkam. Durch die Empathie war ich schon immer eine Außenseiterin gewesen, was hauptsächlich daran lag, dass ich wahnsinnige Angst vor größeren Gruppen von Menschen hatte. Ich wurde mit den unzähligen Empfindungen, die bei einer großen Menschenansammlung wie etwa einem Fest auf mich einströmten nicht fertig und bekam schreckliche Panikattacken aus Angst unter den vielen Gefühlen mein Selbst zu verlieren. Victor war der Geschäftspartner meines geliebten verstorbenen Vaters gewesen und hatte schnell von meiner Gabe erfahren. Nach dem Tode meines Vaters vor fünf Jahren hatte er mich arme Waise bei sich aufgenommen und mir vor geheuchelt sich um mich kümmern zu wollen bis ich alt genug war um zu heiraten. In Wirklichkeit aber hatte er die ganze Zeit selber vorgehabt mich zu ehelichen sobald ich volljährig wurde. Nicht nur wegen meiner empathischen Fähigkeiten, von denen er sich erhoffte sie zu seinem Vorteil nutzen zu können, sondern auch, weil ich das Ebenbild meiner Mutter war, für die Victor ein leidenschaftliches Faible entwickelt und die er damals an meinen Vater verloren hatte. Am Anfang hatte ich gar nicht mitbekommen was Victor wirklich im Schilde führte, da der Verlust des geliebten Vaters mich sehr mitgenommen hatte, so dass meine Empfänglichkeit gegenüber den Gefühlen anderer dadurch sehr eingeschränkt war. Und als ich endlich mitbekam was er beabsichtigte war es schon zu spät. Er hatte bereits dafür gesorgt, dass ich nicht fliehen konnte. Und doch war mir die Flucht letztendlich noch rechtzeitig gelungen und ich hatte seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als eine Hand nach meinen Handgelenken griff und begann die Fesseln zu lösen, die mich an das Bett banden, kam ich wieder zu mir. Verwundert blickte ich in die schönen grauen Augen des Phantoms. „Ich verstehe. Jemanden wie mir kann man so etwas nicht anvertrauen.“ meinte er verbittert und machte Anstalten zu gehen. „Warten Sie!“ rief ich, sprang auf und umklammerte seinen Arm. Er rührte sich nicht mehr, sondern starrte lediglich auf meine schmalen Hände, die auf seinem Arm ruhten. „So habe ich das nicht gemeint,“ beschwerte ich mich und runzelte die Stirn, als ich seine Unsicherheit spürte. Ich begann allmählich zu verstehen warum er die meiste Zeit über so schroff zu mir war. Er wollte nicht noch einmal so verletzt werden wie vor sieben Jahren. Und doch sehnte er sich insgeheim nach Zuneigung und Liebe, auch wenn er sich vehement dagegen wehrte, weil er der festen Überzeugung war, dass derartige Gefühle für eine Kreatur wie ihn nicht bestimmt seien. Ich beschloss ihm zu zeigen, dass er sich irrte. „Warum tun Sie das?“ fragte ich mit leiser Stimme und blickte ihm tief in die Augen. Er antwortete nicht, sondern begegnete wortlos meinem durchdringenden Blick. Ich fühlte seinen inneren Aufruhr mehr als das ich ihn sah. „Ich weiß nicht wovon du sprichst,“ sagte er schließlich und blickte mich mit finsterer Miene an. „Doch, das wissen Sie.“ Meine Stimme war leise und voller Mitgefühl. Sanft legte ich meine Hand auf seine unmaskierte Wange und spürte die Wärme, die von ihr ausging. Bei meiner sachten Berührung versteifte er sich und die widerstreitensden Gefühle durchfuhren ihn: Angst, Sehnsucht, Misstrauen, Staunen. Sein Blick drückte einen kurzen Moment lang tiefe Verwirrung aus, bevor es ihm gelang seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Seine Miene wurde wieder undurchdringlich, doch ich spürte wie ein winziges Fünkchen Hoffnung in ihm aufzukeimen begann. Ich war auf dem richtigen Weg. „Ich weiß, dass Sie es wissen. Sie glauben, dass nie jemand aufrichtige Gefühle für Sie entwickeln kann und dass niemand Ihnen genügend Vertrauen entgegen bringen könnte um Ihnen ein Geheimnis anzuvertrauen.“ Ich hielt kurz inne um seine Reaktion auf meine Worte abzuwarten. Er starrte mich an und schwieg. Also fuhr ich fort: „Ich werde Ihnen nun mein größtes Geheimnis anvertrauen. Und danach werden Sie wissen, dass ich im Grunde genommen ebenso einsam bin wie Sie.“ Ich wusste nicht woher ich auf einmal diese Kühnheit besaß so mit ihm zu sprechen, doch mir war ebenso bewusst, dass es keinen anderen Weg gab um zu ihm vorzudringen. Ich holte tief Luft und sagte dann: „Ich bin eine Empathin. Ich durchlebe die Gefühle von anderen Menschen als wären es meine eigenen. Und deshalb...“ Weiter kam ich nicht, denn das Phantom lachte harsch. Ich zuckte zusammen bei diesem fast unmenschlichen Laut und schaute ihn mit großen Augen an. Was war nur in ihn gefahren? Plötzlich packte er mich und zog mich so nah an sich heran, dass ich seinen warmen Atemhauch auf meiner Wange spüren konnte. Er beugte sich zu mir hinunter und sagte mit trügerisch sanfter Stimme: „Du lügst.“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Sie glauben mir nicht?“ wollte ich fassungslos von ihm wissen. „Sie glauben ich lüge?“ Zorn regte sich in mir. Wie konnte er es wagen anzunehmen, dass ich ihn belog, wenn ich ihm doch gerade von meiner verhassten Gabe, meinem Fluch erzählt hatte? Wütend versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien, doch er ließ mich nicht los. „Lassen Sie mich sofort los!“ zischte ich erbost. Ich fühlte seine Verunsicherung. Offenbar hatte er mit so einer Reaktion von meiner Seite nicht gerechnet, da ich ihm wohl wie ein scheues, sanftmütiges Geschöpf erschienen war. Nun ich konnte durchaus auch anders sein. „Nein.“ antwortete er. Dieses Wort verblüffte mich so sehr, dass ich aufhörte mich zu wehren. „Wenn ich dich freigebe, dann wirst du sicherlich versuchen mir zu entfliehen. Und das möchte ich nicht. Ich hatte schon lange mehr keine so interessante Unterhaltung.“ meinte er mit einem zynischem Lächeln. „Wieso sollte ich denn davonlaufen?“ fragte ich. „Ich bin Ihnen zwar böse, weil Sie mir nicht glauben, dass ich Empathin bin, aber ich werde ganz sicher nicht versuchen zu fliehen. Wie könnte ich auch wo Sie doch das Fallgitter heruntergelassen haben.“ fügte ich spöttisch hinzu. Als sein Griff etwas fester wurde und seine Augen sich drohend verdunkelten, meinte ich ohne die geringste Spur von Furcht: „Sie sind jetzt sehr zornig, weil Sie denken ich würde mich über Sie lustig machen. Doch das entspricht nicht der Wahrheit. Ich würde mich niemals über einen Menschen amüsieren, der soviel durchgemacht hat wie Sie. Das wäre grausam.“ Traurig blickte ich ihn an. Wenn er doch nur verstehen würde, dass ich im Grunde meines Herzens genauso einsam war wie er. Seit dem Tod meines Vaters hatte ich keinen Menschen mehr, der sich richtig mit mir unterhielt und mir half meine Fähigkeit zu akzeptieren. Es war als wäre ich eine Gefangene meine besonderen Begabung. Er schwieg beharrlich, doch an seinem durchdringenden Blick erkannte ich, dass er über meine Worte nachdachte. „Und du verlangst wirklich von mir, dass ich dir glaube, dass du eine Empathin bist und die Gefühle von anderen Menschen miterlebst?“ Der misstrauische Klang seiner Stimme durchbrach schließlich die zunehmend unangenehmer werdende Stille. Ich versuchte in den silbernen Tiefen seiner Augen seine Gedanken zu ergründen. Ich hatte meinen Blick keine Sekunde lang von seinem Gesicht abwenden können so sehr war ich gebannt von seiner innerlichen Zerrissenheit. Er wagte es einfach nicht mir zu glauben, denn das hätte bedeutet, dass er mir Vertrauen entgegenbrachte, was er wiederum nicht beabsichtigte. „Sie müssen es mir nicht glauben, wenn Sie nicht wollen.“ sagte ich mit ruhiger Stimme. „Aber haben Sie vielleicht eine andere Erklärung dafür wieso ich soviel über ihre Vergangenheit weiß? Wieso ich ihre Gefühlsregungen spüren kann? Und das ich das tue lässt sich nicht leugnen.“ Er schwieg. Ich sah, dass ich ihn erneut zum Nachdenken gebracht hatte und fuhr unbeirrt fort von meiner verhassten Fähigkeit zu sprechen. „Wissen Sie, ich habe noch nie jemanden davon erzählt. Ich fürchtete mich vor den Reaktionen meiner Mitmenschen. Alles Ungewöhnliche und Andersartige ruft bei ihnen Argwohn, Angst und Unverständnis hervor. Sie hätten mich nicht verstanden, mich gemieden und wie ein interessantes aber zugleich auch abstoßendes Insekt behandelt. Einzig und allein mein lieber Vater wusste von meiner... Gabe. Doch auch ihm habe ich es nie gesagt, er hat es von allein bemerkt und mir geholfen damit umzugehen.“ Bei dem Gedanken an meinen Vater füllten sich ihre Augen unweigerlich mit Tränen. Meine Stimme zitterte leicht als ich weitersprach: „Ich habe mich immer so gut es ging von anderen Menschen ferngehalten, damit sie nicht mitbekamen, dass ich anders bin. Ich hatte große Angst davor auf mehrere Menschen gleichzeitig zu treffen und mich mit all den Empfindungen und Gefühlen, die auf mich einströmen würden, auseinander zu setzen. Ich fürchtete mich panisch davor mein Selbst zu verlieren. Mein Vater hat mich immer beruhigt, wenn ich von einer meiner... Panikattacken heimgesucht wurde und mir das Gefühl gegeben nicht allein zu sein. Mit ihm konnte ich über meinen Fluch reden. Denn das ist es. Ein Fluch. Ich hasse meine Gabe, denn durch sie bin ich zu einem Leben in der Einsamkeit verdammt. Und nun habe ich nicht einmal mehr meinen Vater...“ Meine Stimme brach und eine einzelne Träne rann mir über die rosige Wange. Ich hatte den Blick gesenkt, doch blickte überrascht wieder hoch als das Phantom seine Hand zu meinem Gesicht hob und mit seinem Daumen sanft die Träne beiseite wischte. Er ließ seine Hand an meiner weichen Wange ruhen und starrte fasziniert auf die Stelle wo seine Finger die samtige Haut berührten. In mir breitete sich eine wohlige Wärme aus und ich spürte wie ich errötete als ich die unterdrückte Leidenschaft fühlte, die von ihm ausging. Ich fühlte mich fiebrig bei dem Gedanken, dass er mich wohl möglich begehren könnte. Noch nie zuvor war ein Mann mir so nah gewesen und ich wünschte mir er möge mir noch viel näher kommen. Plötzlich riss er sich von mir los und wandte sich ab. „Es tut mir leid.“ murmelte er. Ich stand verwirrt da und vermisste schmerzlich die Wärme seiner Hand auf meiner Wange. „Was meinen Sie?“ wollte ich vorsichtig wissen. Bei meiner Frage verspannten sich seine breiten Schultern und ich hörte wie er scharf die Luft einsog, bevor er mir schließlich eine Antwort gab. „Es tut mir leid wie ich dich bisher behandelt habe. Ich bin den...Umgang mit anderen Menschen nicht gewohnt.“ Mir entging der Zynismus nicht, der diese Bemerkung begleitete. Stumm sah ich mit an wie er zu einer Nische in der Wand trat und dort einen Schalter umlegte. Ich war nicht weiter überrascht, als das Metallgitter sich ächzend erhob. Umso überraschter war ich dafür über die nachfolgenden Worte des Phantoms. „Du kannst gehen. Ich werde dich nicht aufhalten.“ Mit großen Augen starrte ich seinen breiten Rücken an. Ich spürte wie schwer es ihm gefallen war diese Worte auszusprechen, denn er wollte nicht das ich ging. Aber da er wahrscheinlich dachte, dass es seine Pflicht war mich gehen zu lassen, würde er tatsächlich nichts unternehmen, falls ich mich entschloss ihn und die Katakomben der verfallenen Oper für immer zu verlassen. Doch das hatte ich durchaus nicht vor. Ich würde hier bleiben. Bei ihm. Vielleicht gelang es mir irgendwann diesen mysteriösen und unsäglich misstrauischen Mann für mich einzunehmen. „Nein.“ sagte ich entschlossen. „Ich werde bleiben.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)